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Channel: Ausgabe 27 (Dez. 2014) - bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik - online
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Berufsorientierung im hessischen Pilotprojekt „Gestufte Berufsfachschule“

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1 Ausgangslage

Der Deutsche Ausbildungsstellenmarkt weist im Juli 2014 eine markante Konvergenz zwischen unversorgten Bewerbern und freien Ausbildungsplätzen auf. Trotz 161.841 unbesetzter Ausbildungsstellen ist gleichzeitig die Zahl der unversorgten Bewerbern mit 153.696 vergleichsweise hoch (Statistik der Bundeagentur für Arbeit 2014, 5). Dieses Phänomen wird seitens der Wirtschaft und der Bundesagentur für Arbeit u. A.. mit einem qualifikatorischen Mismatch (Bundesagentur für Arbeit 2014, 25) (Passungsproblematik) begründet, es wird konstatiert, dass für die vielen unbesetzten Ausbildungsplätze zu wenig geeignete BewerberInnen zur Verfügung stünden (DIHK-Deutscher Industrie und Handelskammertag e.V. 2013, 16). Dies führt dazu, dass gerade Jugendliche mit Hauptschulabschluss immer seltener eine geeignete Ausbildungsstelle finden können und den Umweg „Übergangsystem“ einschlagen müssen, um beispielsweise einen höheren Abschluss (mittlerer Bildungsabschluss) zu erwerben. Belegt werden kann dies mit dem jüngsten Berufsbildungsbericht, demzufolge 2012 42,7% der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss in das Übergangssystem einmündeten, während bei den Jugendlichen mit mittlerem Abschluss nur 16% und mit (Fach-)Hochschulreife nur 2,6% (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014) diesen Weg einschlugen. 2012 waren demzufolge auch nur 28,2% aller Neuzugänge des dualen Ausbildungsmarktes Jugendliche mit Hauptschulabschluss, während 44,9% der Neuzugänge Jugendliche mit mittlerem Abschluss und 23,3% Jugendliche mit (Fach-)Hochschulreife ausmachten (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014). Vor allem junge MigrantInnen mit Hauptschulabschluss haben es schwer, eine geeignete duale Ausbildungsstelle zu finden. Treten rund 47% der deutschen Jugendlichen unmittelbar nach dem Hauptschulabschluss eine duale Ausbildung an, schaffen dies nur 33,6% der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, sodass sich prozentual deutlich mehr dieser Jugendlichen (56,5%) im Übergangsystem befinden, als deutsche (40,6%) (Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014, 2014). Von den 133.474 Jugendlichen mit Hauptschulabschluss, die in das Übergangssystem einmünden, besuchen fast die Hälfte (61.849) eine Berufsfachschule, die zu keinem beruflichen Abschluss, sondern in aller Regel zu einem höheren allgemeinen Schulabschluss (mittlerer Bildungsabschluss) führt. Damit wird einmal mehr unterstrichen, dass das duale System seine ursprüngliche Stärke, bildungsbenachteiligte bzw. bildungsschwächere Jugendliche beruflich zu integrieren, deutlich eingebüßt hat (Weishaupt 2012, 27). Entsprechend ist es auch wenig verwunderlich, dass Jugendliche, die maximal über einen Hauptschulabschluss verfügen, häufig eine weitere schulischen Laufbahn, zum Beispiel zum Erwerb eines höheren Schulabschlusses (Eberhard et al. 2013) präferieren, um ihre Chancen auf dem Ausbildungsmarkt signifikant zu erhöhen, da innerhalb der Bewerbervorauswahl sowohl die Schulabschlüsse als auch die Noten für die Ausbildungsbetriebe, auch aufgrund fehlender zusätzlicher Informationen bezüglich der Stärken und Schwächen der Jugendlichen, als einzige Indizien für die Leistungsfähigkeit und im weiteren Sinne für das Arbeits- und Sozialverhalten herangezogen werden könnenEberhard et al. (2011): Perspektiven beim Übergang Schule-Berufsausbildung. Methodik und erste Ergebnisse aus der BIBB-Übergangsstudie 2011, 52.

Neben dem qualifikatorischen Mismatch wird als weiterer gewichtiger Grund für die aktuelle Problemlage seitens der Wirtschaft eine mangelnde Ausbildungsreife bei vielen Jugendlichen als großes Ausbildungshemmnis angeführt (DIHK-Deutscher Industrie und Handelskammertag e.V. 2013, 26). Diese drücke sich u. A. in einer geringen Motivation sowie defizitären Sozialkompetenzen aus, aber auch in Mängeln im Bereich der Allgemeinbildung (DIHK-Deutscher Industrie und Handelskammertag 2013). Gemäß der aktuellen Statistik der Bundeagentur für Arbeit gehen damit Defizite in der beruflichen Orientierung einher, welche sich an erster Stelle in rudimentären Kenntnissen über die Vielfalt interessanter und dabei auch erreichbarer Ausbildungsberufe niederschlagen. Als eine maßgebliche Folge wird hierbei festgestellt, dass sich die Bewerbungen bei einer geringen Zahl von bekannten Ausbildungsberufen ballen, während bei vielen unbekannten Ausbildungsberufen Bewerbermangel herrscht (Statistik der Bundeagentur für Arbeit 2014, 20). Geschlechterspezifisch verstärkt wird dieser Effekt im Bereich des Handwerkes bzw. der Technik, da junge Frauen im Vergleich zu jungen Männern an einer Ausbildung in beiden Bereichen deutlich weniger interessiert sind (Statistik der Bundeagentur für Arbeit 2014, 20), und daher diesem für die Gesamtkohorte der Hauptschulabgänger quantitativ größten Bereich des Ausbildungsmarktes kaum zur Verfügung stehen.

Wie die Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014 feststellt, wirkt sich mangelnde Ausbildungsreife nicht nur in der Akquise eines Ausbildungsplatzes aus, sondern in hohem Maße auch noch dann, wenn ein solcher definitiv angetreten wurde. Hierfür werden Defizite in der beruflichen Orientierung der Jugendlichen verantwortlich gemacht, explizit falsche Vorstellungen über die Tätigkeiten, deren Bedingungen und Kontexte. Häufig wird dann die Ausbildung schon in der Probezeit abgebrochen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014, 110ff). Die Abbrecherquote bei Jugendlichen mit Hauptschulabschluss in handwerklichen Berufen liegt mit ca. 30% fast doppelt so hoch wie bei Jugendlichen mit mittlerem Bildungsabschluss (ca. 13%) und fast drei mal so hoch wie bei Jugendlichen mit Fachhochschulreife (ca. 18%) (s. Abb. 1). Dies gilt insbesondere für Jugendliche mit Migrationshintergrund: Hier liegt der Dropout mit ca. 28% fast ein Drittel über dem Niveau der deutschen Auszubildenden (ca. 21%) (Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014, 111). Für die Jugendlichen bedeutet eine Vertragsauflösung nicht nur eine berufsbiografische Stagnation und das Zurückfallen ins Übergangssystem; sie ist ein klares Misserfolgserlebnis, verbunden mit Ängsten, Zweifeln und Demotivation (Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014, 110). Aus betrieblicher Perspektive bedeutet ein Ausbildungsabbruch – unabhängig ob Großbetrieb oder kleines und mittelständisches Unternehmen (KMU) – in jedem Falle einen Verlust von Ressourcen im Sinne einer „Fehlinvestition“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014, 110). Zudem hinterlässt er (temporär) eine unbesetzte Ausbildungsstelle und erhöht damit das stetig anwachsende  Defizit im Bereich des Fachkräftenachwuchses, verbunden mit der Gefahr eines Rückzugs der betroffenen Betriebe vom Ausbildungsmarkt (DIHK-Deutscher Industrie und Handelskammertag e.V. 2013, 16).

Der aktuell feststellbare beinahe bundesweite Fachkräftemangel (Fachkräfteengpass) in den Bereichen Mechatronik, Automatisierungstechnik, Energietechnik sowie Sanitär-/Heizungs- und Klimatechnik steht absehbar in Zusammenhang mit den vorausgehend angeführten Ursächlichkeiten (Bundesagentur für Arbeit 2014, 13ff). Er muss gesamtgesellschaftlich im Hinblick auf die demografische Entwicklung als Indiz für einen mittelfristigen Trend (Geburtendefizit im Bundesdurchschnitt -2,4%, Quelle: Statista GmbH) sehr ernst genommen werden. Die alternde Belegschaft vieler Betriebe tritt sukzessive in die Nacherwerbsphase ein, wodurch dem Arbeitsmarkt erfahrene Fachkräfte verloren gehen. (Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014, 4).

Eine verbesserte Integration bildungsbenachteiligter Jugendlicher in die Ausbildung ist damit für die kommenden Jahre aus zwei zentralen Gründen dringend erforderlich: Zum einen, um den Rückbau des Übergangssystems voran zu treiben und damit die Gefahr eine Präkariats im Vorfeld des Erwerbslebens junger Menschen zu verringern. Die Gefahr in ihrem Leben von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein ist mit 19% bei Jugendlichen ohne Beruf fast 4 mal so hoch, wie bei Personen mit beruflichen Bildungsabschluss (5%). (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2013, 3). Zum anderen gilt es, den bereits eintretenden Fachkräftemangel möglichst weit einzugrenzen und damit einhergehende negative Folgen für die Wirtschaft zu verringern. Letztlich gilt es, unsere „Warteschleifen“ an der I. Schwelle im Übergang Schule-Beruf abzubauen und gleichzeitig viel Energie darauf zu verwenden, möglichst viele Jugendliche beruflich zu orientieren, ihre Ausbildungsreife zu fördern und sie in eine passende Ausbildung zu vermitteln.

Ein diesbezüglicher Ansatz der Hessischen Landesregierung bezieht sich auf eine Reform der zweijährigen Berufsfachschule und wurde 2013 auf den Weg gebracht. Zentrale Intention ist hier, den Warteschleifen-Effekt dieses Bildungsformats zu reduzieren und über ein Stufen-Modell möglichst viele BerufsfachschülerInnen ohne den „Umweg“ über den Mittleren Bildungsabschluss und den damit verbundenen schulischen Dropout in die duale Berufsausbildung zu integrieren (Hessisches Kultusministerium, 2013). Dieser Pilotansatz einer Gestuften Berufsfachschule, in dem die Zulassungsvoraussetzungen gegenüber dem bisherigen Konzept reduziert wurden (Hauptschulabschluss unabhängig vom Notendurchschnitt), ist modular aufgebaut, und adressiert schwerpunktmäßig die Ausbildungsvorbereitung. Die beiden Schuljahre entsprechen nicht mehr der bisherigen Abfolge relativ homogener Curricula mit überwiegend allgemein bildenden Inhalten, sondern unterscheiden sich in ihrer Zielorientierung grundlegend: der planmäßige Ausstieg soll für die Mehrzahl der SchülerInnen bereits während oder nach dem ersten Schuljahr (Stufe 1) in eine duale Ausbildung vollzogen werden, mit der Perspektive, den Mittleren Bildungsabschluss ausbildungsbegleitend zu erreichen (Hessisches Kultusministerium 2013) (Abb. 1). Das zweite Schuljahr (Stufe 2) soll jenen SchülerInnen vorbehalten sein, die entweder eine Ausbildung anstreben, für die ein Mittlerer Bildungsabschluss formelle Grundvoraussetzung ist, oder ein Studium.

2 Pilotansatz einer Gestuften Berufsfachschule in Hessen

Auf Grundlage der Vorgaben des hessischen Kultusministerium unter der Kultusministerin Nicola Beer (2012-2014) wurde in Zusammenarbeit mit der TU-Darmstadt, Arbeitsbereich Technikdidaktik, ein Konzept zur Umsetzung der Gestuften Berufsfachschule erarbeitet, welches seit dem Schuljahr 2013/2014 an drei hessischen Pilotschulen erprobt und bis zum Schuljahr 2015/2016 evaluationsgestützt weiterentwickelt wird. Dabei vertritt die Eduard-Stieler-Schule in Fulda die Fachrichtung „Gesundheit und Soziales“, die Ludwig-Geißler-Schule in Hanau die Fachrichtung „Technik“ und die Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Schule in Fritzlar die Fachrichtung „Wirtschaft und Ernährung“.

2.1 Stufe I

Gemäß den Vorgaben gelten als neue Zielgruppe für die Gestufte Berufsfachschule alle Jugendliche mit Hauptschulabschluss, unabhängig vom Notenbild, da im ersten Jahr (Stufe I) nicht mehr der mittlere Bildungsabschluss zentrales Ziel ist, sondern die Chancen der noch unversorgten Jugendlichen auf dem Ausbildungsmarkt zu steigern. Daher wird in der Stufe I in erster Linie die Ausbildungsreife der Jugendlichen gefördert, welche (wie bereits dargestellt) als größtes Hemmnis für die Akquise einer Ausbildung gilt. Ausbildungsreife wird in Anlehnung an den Kriterienkatalog des Expertenkreises (Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland) wie folgt definiert: „Eine Person kann als ausbildungsreif bezeichnet werden, wenn sie die allgemeinen Merkmale der Bildungs- und Arbeitsfähigkeit erfüllt und die Mindestvoraussetzungen für den Einstieg in die berufliche Ausbildung mitbringt“ (Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs 2009, 13).  In Umsetzung dieses Kriterienkatalog werden an der Gestuften Berufsfachschule zentral die Merkmalsbereiche 1. der schulischen Basiskenntnisse, 2. der psychologischen Merkmale des Arbeitsverhaltens und 3. der Berufswahlkompetenz ( s. Ratschinski & Steuber, 2012) in unterschiedlicher Ausprägung und angepasstem Design fokussiert und entsprechend weiterentwickelt.

Abbildung 1: Konzept der Gestuften BerufsfachschuleAbbildung 1: Konzept der Gestuften Berufsfachschule

2.1.1 Umfassende Individualisierung in den allgemeinbildenden Fächern

Im Merkmalsbereich der schulischen Basiskenntnisse werden die Jugendlichen in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch gemäß Modellkonzept in leistungsdifferenzierten Gruppen zu je ca. 13 Schülerinnen und Schülern  entsprechend ihres individuellen Leistungsstandes unterrichtet und somit zunächst der Abbau von Defiziten fokussiert. Den Schülerinnen und Schülern soll durch auf den „Einzelnen“ abgestimmte Methoden, welche unterschiedliche Lernzugänge und -geschwindigkeiten berücksichtigen, ein individueller Kompetenzzuwachs ermöglicht werden. Dabei werden Inhalte thematisiert, „die es den Schülerinnen und Schülern ermöglichen sollen, sich in einer äußerst heterogenen Gesellschaft sowie leistungsorientierten Arbeitswelt zu orientieren und positionieren“ (Bergmann/Tenberg 2014).

Insbesondere im Fach Englisch erfolgt im Rahmen der leistungsdifferenzierten Aufteilung der Lernenden eine verbesserte Vorbereitung auf einen ausbildungsbegleitenden Erwerb des Mittleren Bildungsabschlusses. SchülerInnen, welche im Fach Englisch die dafür erforderlichen Voraussetzung gemäß §9 Absatz 2 der  „Verordnung über die Berufsschule“ (vom 09. September 2002 zuletzt geändert durch die Verordnung vom 11. Juli 2011) bisher nicht erfüllen konnten, haben damit eine verbesserte Chance, dies durch einen am Schuljahresende abschließenden Test nachzuholen.

Die drei Pilotschulen haben im Bereich der schulischen Basiskenntnisse unterschiedliche Differenzierungsansätze bzw. Differenzierungskonzepte erarbeitet, im Laufe des Schuljahres 2013/2014 erprobt und weiterentwickelt. Im Schuljahr 2014/2015 gilt es die unterschiedlichen Ansätze und Konzepte der Pilotschulen maßgeblich zu vereinheitlichen und – soweit erforderlich und möglich – auf curricularer Ebene anzugleichen.

2.1.2 Konkretisierung und Rückmeldung überfachlicher Kompetenzen

Im Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife (Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs 2006, 11) werden folgende Aspekte als psychologische Merkmale des Arbeitsverhaltens angeführt: 1. Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz, 2. Kommunikationsfähigkeit, 3. Konfliktfähigkeit, 4. Kritikfähigkeit, 5. Leistungsbereitschaft, 6. Selbstorganisation/Selbstständigkeit, 7. Sorgfalt, 8. Teamfähigkeit, 9. Umgangsformen, 10. Verantwortungsbewusstsein und 11. Zuverlässigkeit. Innerhalb der Pilotstudie werden alle hier erwähnten Faktoren adressiert, die auf psychischer Ebene auf ein berufliches Leben vorbereiten, insbesondere jedoch die Aspekte 2., 6., 7., 8., 9. und 10. Dies erfolgt mit Hilfe des Einsatzes einer stufenbasierten überfachlichen Kompetenzmatrix (Abb. 2), in welcher die einzelnen Kompetenzbereiche jeweils mit spezifische Verhaltensankern so weit präzisiert sind, dass SchülerInnen ebenso wie LehrerInnen in der Lage sind, den individuellen Entwicklungsstand für jeden Teilaspekt zu klären. Schülerinnen und Schüler macht diese überfachliche Kompetenzmatrix häufig zum ersten Mal transparent und nachvollziehbar, was von Ihnen im Hinblick auf eine berufliche Ausbildung erwartet wird. Den Lehrpersonen steht damit ein Instrument zur Verfügung, mit dem sie die kriterial ebenso wie kategorial unscharfe Taxierung solcher Kompetenzen mittels „Kopfnoten“ überschreiten können.

Abbildung 2: Überfachliche KompetenzmatrixAbbildung 2: Überfachliche Kompetenzmatrix

Das Verhalten der Schülerinnen und Schüler wird mit der überfachlichen Kompetenzmatrix in regelmäßigen Abständen von den einzelnen Lehrkräften  entsprechend der einzelnen Kompetenzbereiche eingestuft. Die von den unterschiedlichen Lehrkräften ausgefüllten Kompetenzmatrizen führen zunächst zu einem differenzierten Bild bzgl. der überfachlichen Kompetenzen jedes einzelnen Jugendlichen. Zudem bilden sie die Grundlage für individuelle Gespräche mit den Jugendlichen, um ihm persönliche Stärken und konkrete Entwicklungsräume aufzeigen zu können. In aggregierter Form gehen die abschließenden Bewertungen der überfachlichen Kompetenzen der SchülerInnen in die Zeugnisse ein.

2.1.3 Profilgruppen

Damit die Schülerinnen und Schüler trotz des modularisierten Unterrichts und den damit einhergehenden inkonsistenten Lerngruppen sowie den häufig wechselnden Lehrkräften verbindliche und tragfähige Beziehungen sowohl untereinander als auch zu einer Lehrkraft aufbauen können, sieht das Konzept der Gestuften Berufsfachschule sog. Profilgruppen vor. Diese kollektiven Einheiten sind feste Gruppen von ca. 13 SchülerInnen, welche sich ein mal pro Woche für 2 festgeschriebene Stunden treffen. Betreut werden diese von sog. ProfilgruppenlehrerInnen, indem sie sich allgemein allen individuellen Fragen und Problemen zuwenden, in der Entwicklung der überfachlichen Kompetenzen beraten und unterstützen, bei der Praktikums- bzw. Ausbildungsplatzsuche behilflich sind. Jede Pilotschule hat diesbezüglich ein eigenes Curriculum erarbeitet, welches im Jahr 2013/2014 erprobt wurde. Im Schuljahr 2014/2015 werden diese Konzepte integriert und übergreifend curricular verankert.

2.1.4 Berufswahlkompetenz

Die Entwicklung von Berufswahlkompetenz kann als eine komplexe Anlage-Umwelt-Interaktion verstanden werden, die aktiv vom Heranwachsenden zu gestalten ist (Ratschinski & Steuber 2012). Die Prämisse „aktiv“ beinhaltet hierbei zwei bedeutsame Facetten, zum einen die Reduzierung bzw. Überwindung einer Außenorientierung in der Berufswahl (Einfluss der Eltern oder Peers), zum anderen die Aufnahme von konkreten Handlungen an Stelle abstrakter Überlegungen. Davon ausgehend, wird im Konzept der Gestuften Berufsfachschule in hohem Maße auf vielfältige und dabei einschlägige praktische Erfahrungen gesetzt, welche die Jugendlichen in entsprechenden fachrichtungsspezifischen Schwerpunkten der Berufsfachschule sammeln können. Im unmittelbaren Vollzug berufstypischer Tätigkeiten können sie eigene Interessen, Potentiale und Ressourcen kennenlernen bzw. entwickeln. Die beruflichen Erfahrungsräume werden dabei so authentisch wie möglich ausgestattet, die dabei umzusetzenden Aufgaben und Tätigkeiten entsprechen nicht den im Bereich der Ausbildungsvorbereitung üblichen „Grundübungen für Anfänger“ sondern sind berufstypisch ausgewählt. Dabei wird bewusst ein Mangel an Basisbefähigungen in Kauf genommen, mit dem Gewinn eines authentischen Einblicks in die Berufe. Die drei Pilotschulen haben in diesem Bereich entsprechend der unterschiedlichen Fachrichtungen sehr divergente Ansätze entwickelt. Dabei wird zusätzlich (moderat), entlang der praktischen Einblicke und Erfahrungen in angemessenem Umfang und Schwierigkeitsgrad fachspezifisches Wissen vermittelt.

Im Bereich Technik durchlaufen die Jugendlichen seit dem Schuljahr 2014/2015 beispielsweise sechs Schwerpunkte (Elektrotechnik, Metalltechnik, Chemietechnik, Holztechnik, Datentechnik und Anlagentechnik) und lernen dort im vierwöchigem Turnus die (beruf-) typischen Kontexte der unterschiedlichen Schwerpunkte mit Hilfe von integrativen Projekten kennen. Flankierend begleitet werden die Schülerinnen und Schüler aller Pilotschulen in der Phase der beruflichen Orientierung durch individuelle Gespräche, in denen die Jugendlichen über ihre berufsbezogenen Erfahrungen berichten und sich mit diesen reflexiv auseinandersetzen können. Dazu stehen neben den Fachlehrern auch die ProfilgruppenlehrerInnen oder erfahrene BerufsberaterInnen zur Verfügung, die die Jugendlichen dabei unterstützen, eigene Interessen wahrzunehmen, eine eigene Selbstwahrnehmung aufzubauen und zu stärken, Selbstwirksamkeit zu erfahren und letztlich Selbstvertrauen zu gewinnen, was für die Entwicklung einer Berufswahlkompetenz als entscheidend erachtet wird (Bergmann/Tenberg 2014). Um die Schülerinnen und Schüler individuell beraten und unterstützen zu können, wird in diesem Bereich auf die Bewertung mittels Noten verzichtet und stattdessen mit einer stufenbasierten (in Anlehnung an das VQTS (Vocational Qualification Transfer System)-Modell) Kompetenzmatrix auf Basis eines technikdidaktischen Kompetenzmodells gearbeitet (Abb. 3). Diesem Instrument liegen detaillierte Kompetenzbeschreibungen zu Grunde, die dem Unterricht auch als curriculare Basis dienen, indem sie die spezifischen Zusammenhänge von Wissen und Können konkretisieren (Tenberg 2011).

Abbildung 3: Fachliche Kompetenzraster-Fachrichtung Technik-Schwerpunkt MetalltechnikAbbildung 3: Fachliche Kompetenzraster-Fachrichtung Technik-Schwerpunkt Metalltechnik

Im Schuljahr 2014/2015 wird auch innerhalb der beiden anderen Fachrichtungen „Gesundheit und Soziales“ sowie „Wirtschaft“ die Bewertung mittels stufenbasierter Kompetenzmatrix implementiert. Wie die überfachliche Kompetenzmatrix sind auch die fachlichen Kompetenzmatrizen Bestandteil des Zeugnisses.

Das Konzept der Gestuften Berufsfachschule sieht generell ein vierwöchiges Praktikum für die Stufe I vor, welches an den drei Pilotschulen jedoch in sehr unterschiedlicher Art und Weise organisiert ist. Z. B. wird an der Schule mit dem technischen Schwerpunkt das Praktikum in 2 zweiwöchige Abschnitte aufgeteilt, um zwischen diesen betrieblichen Phasen eine Schwerpunktbildung zu ermöglichen. Nach dem 1. Teil des Praktikums haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit sich in einem Schwerpunkt der Fachrichtung Technik  zu „spezialisieren“ und bis zum Ende des Schuljahres einschlägige berufliche Basiskompetenzen zu erwerben, um deren Chancen auf dem Ausbildungsmarkt steigern. Innerhalb dieser Zeit findet ein weiteres zweiwöchiges Praktikum statt und dient damit zur Überprüfung der bisherigen Berufswahlentscheidung. Seit dem Schuljahr 2014/2015 ist ein erfolgreich absolviertes vierwöchiges Praktikum versetzungsrelevant.

Die Gestufte Berufsfachschule hält eine gesicherte Infrastruktur in Form von Betriebskontakten bereit, welche es den SchülerInnen leicht macht, angemessene Praktikumsplätzen zu akquirieren. Wenn ein Betrieb schon während des Praktikums Ausbildungsambitionen bezüglich einer/s PraktikantIn signalisiert, kann diese/r für zwei Tagen pro Woche freigestellt werden und ein „Langzeitpraktikum“ antreten; Grundbedingung ist dabei der Abschluss eines Vor-Ausbildungsvertrags, um die Jugendlichen vor Ausnutzung zu schützen. Gelingt ein Langzeitpraktikum, ergeben sich für die Jugendlichen und die Betriebe gleichermaßen Vorteile. Den Jugendlichen fällt der Übergang in die Ausbildung leichter, wenn sie den Ausbildungsbetrieb und die Kollegen bereits kennen und sich langsam an das „Arbeitsleben“ gewöhnen können. Die Betriebe haben so die Chance, die Jugendlichen „im Alltag“ längerfristig zu beobachten, sie dabei in die betrieblichen Strukturen einzuarbeiten und auf die bevorstehende Ausbildung vorzubereiten.

2.1.5 Portfolio an Stelle eines Zeugnisses

Gemäß einer DIHK-Unternehmensbefragung (DIHK-Deutscher Industrie und Handelskammertag e.V. 2013) wünschen sich viele ausbildende Betriebe mehr Informationen über die Stärken und Schwächen der Bewerber und Bewerberinnen. Um die Chancen der Schülerinnen und Schüler der Gestuften Berufsfachschule auf dem Ausbildungsmarkt zu erhöhen, wurde dieser Wunsch der ausbildenden Betriebe umgesetzt und das sogenannte Qualifikationsportfolio eingeführt. Dieses Portfolio dient zur Sammlung aussagekräftiger Materialien, welche die SchülerInnen selbst zusammenstellen können, z. B. durch Dokumentation gelungener „praktischer Arbeiten“ oder Belege für außerschulische Aktivitäten (soziales Engagement, ehrenamtliche Tätigkeiten, Übungsleitertätigkeiten, Bewerbungstraining). Von schulischer Seite werden für das Qualifikationsportfolio die bewerteten fachlichen Kompetenzmatrizen incl. Kompetenzbeschreibungen bereit gestellt, die aggregierte Form der überfachlichen Kompetenzmatrizen sowie Zeugnisse und Praktikumsbeurteilungen.

2.2 Stufe II

In der Stufe II der Gestuften Berufsfachschule steht – anders als in Stufe I – der mittlere Bildungsabschluss im Fokus. Daher werden im Bereich Deutsch, Mathematik und Englisch im Vergleich zur Stufe I doppelt so viele Stunden gegeben, um die für den Mittleren Abschluss benötigten Inhalte anstelle von zwei Jahren in einem Jahr zu vermitteln. Der Unterricht findet in Stufe II nicht mehr in sehr kleinen differenzierten Lerngruppen zu ca. 13 Jugendlichen statt, sondern in Lerngruppen zu ca. 25 Schülerinnen und Schülern.

Als Novum des Schuljahres 2014/2015 werden nur die Jugendlichen in Stufe II versetzt, die gemäß Abschlusszeugnis der Stufe I in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch ein Notenbild von 3/3/4 oder besser aufweisen. Dies ist notwendig, um die Jugendlichen vor unerfüllbaren Erwartungen und Hoffnungen auf einen erfolgreichen Erwerb des Mittleren Abschlusses in der Berufsfachschule zu schützen. Es hat sich im Schuljahr 2013/2014 gezeigt, dass viele Schülerinnen und Schüler, die aufgrund der gelockerten Zugangsvoraussetzungen den Weg in die Berufsfachschule einschlagen konnten, keineswegs intendierten nach der Stufe I in Ausbildung zu gehen und sich entsprechend auch nicht um einen Ausbildungsplatz bemühten. Stattdessen sehen viele Jugendliche eine (unrealistische) Chance den Mittleren Bildungsabschluss mit dem erfolgreichen Abschluss der Stufe II zu erreichen. Leider verkennen viele Jugendliche dabei, dass die Inhalte, die zum Mittleren Abschluss führen, fast ausschließlich in der Stufe II vermittelt werden, während Stufe I überwiegend zum Abbau der Defizite dient.

Im beruflichen Bereich, der im Vergleich zur Stufe I nur halb so viel Unterricht umfasst, erwerben die Jugendlichen in einem selbst gewählten Schwerpunktbereich Grundqualifikationen, die in einer z. T. gestreckten Abschlussprüfung geprüft und zertifiziert werden. Diese erworbenen beruflichen Qualifikationen sollen den Jugendlichen gegenüber „normalen“ Realschülern einen Vorteil bei der Ausbildungsplatzsuche bringen und ihnen den Übergang in eine hochwertige duale Ausbildung erleichtern. In diesem Bereich ist für den Fall, dass die Gestufte Berufsfachschule in den Regelbetrieb übergeht vorgesehen, die bereits bestehenden Qualifikationsbausteine des Handwerkes zu implementieren.

3 Wissenschaftliche Begleitung

Die für die Pilotphase der Gestuften Berufsfachschule in Hessen einbezogene wissenschaftliche Begleitung verfolgt den Grundansatz einer gestaltungsorientierten Forschung (vgl. Euler 2011). Das Hessische Kultusministerium intendiert in Verantwortung für die Implementationsstudie ein hochwertiges Evaluationskonzept, welches vielfältige Daten aus den Pilotschulen für die laufenden Modifikationen und Optimierungen des Gesamtansatzes sowie dessen vielfältiger Teilbereiche liefern soll. Die wissenschaftliche Begleitung intendiert zudem Befunde, welche über den spezifischen Einzelzusammenhang hinaus wissenschaftlich tragfähig sind, also in theoriefundierten Zugängen unter den Standards der empirischen Sozialforschung erhoben und analysiert werden. „Forschung und Entwicklung werden als zirkulärer, iterativer Prozess konzipiert; Bildungsforschung und -praxis wirken kooperativ zusammen, wobei die Interessen und Ziele klar getrennt bleiben und die Handlungsschwerpunkte variieren können“ (Euler/Sloane 2014, 8).

3.1 Design

Die Evaluation der Pilotstudie ist rein introspektiv angelegt und erfolgt in Form von vielfältigen Befragungen aller Beteiligten. Insbesondere die involvierten Lehrpersonen und SchülerInnen der drei Pilotschulen werden hier bezüglich ihrer Wahrnehmungen, Einschätzungen, Bewertungen und Prognosen schriftlich aber auch mündlich befragt. Ergänzt wird dies mit Fragebogenerhebungen oder auch Interviews bei direkt beteiligten Betrieben (Praktika, Ausbildungsverträge) sowie bei den regionalen zuständigen Stellen (Kammern, Innungen, ...) und einschlägigen Behörden (Beratungsstellen, Arbeitsagenturen, ...). Über die Evaluation hinaus erfolgt eine Erhebung des soziodemographischen Querschnitts aller beteiligten SchülerInnen als Monitor über die gesamte Pilotphase mit 3 Querschnitten, wobei hier Teilaspekte (Berufswunsch, Eigenverantwortlichkeit) über die letzten beiden Pilotjahre als Längsschnitt (fallspezifisch) erhoben werden. Zudem ist geplant, Wirkungsaspekte wie die Berufswahlkompetenz, fachliche und überfachliche Kompetenzen in hypothesenfundierten, Ansätzen zu erheben. Diese Tests können jedoch erst im letzten Pilotjahr zu überzeugenden Ergebnissen führen, da bis zu diesem Zeitpunkt das Gesamtkonzept sowie alle didaktisch-methodischen Teilsegmente weiterentwickelt werden. Im Hinblick auf die große Heterogenität der Versuchskohorte (Schulen mit unterschiedlichsten beruflichen Profilierungen, unterschiedliche Bildungsregionen und Ausbildungsinfrastrukturen, erheblicher Gradient in den allgemeinen Schulabschlüssen) kann diesen Befunden jedoch nur eine untergeordnete Bedeutung beigemessen werden. Die im Folgenden referierten Zugänge und Befunde beziehen sich ausschließlich auf das erste Projektjahr und damit ausschließlich auf die Stufe I.

3.2 Evaluation

Alle Instrumente der Evaluation werden in enger Kooperation der beteiligten Pilotschulen, des Hessischen Kultusministeriums sowie der wissenschaftlichen Begleitung entwickelt. Sie werden so angelegt, dass sie schulübergreifend eingesetzt werden können, um in jedem Falle Vergleiche möglich zu machen.

3.2.1 Herangehensweise in der SchülerInnenbefragung

Die SchülerInnenbefragung erfolgte mittels eines standardisierten Fragebogens, in welchem (neben soziodemographischen Grunddaten) folg. Aspekte geklärt wurden: Die Intentionen der Schülerinnen und Schüler die Gestufte Berufsfachschule zu besuchen, die Bewertung der verstärkten Förderung von Berufswahlkompetenz, die Bewertung der Einführung von überfachlichen und fachlichen Kompetenzmatrizen, die Bewertung der Differenzierungskonzepte im allgemeinen Unterricht, die Bewertung des Profilgruppenkonzepts und die Bewertung der Qualifikationsportfolios. Zum Halbjahr des Schuljahres 2013/2014 wurden diesbezüglich an den drei Pilotschulen insgesamt 193 Schülerinnen und Schüler der Gestuften Berufsfachschule befragt. Die Ergebnisse dieses ersten Zugangs können zusammenfassend als positiv festgestellt werden, indem sie das Grundkonzept und seine charakteristischen Merkmale weitgehend bestätigen:

3.2.2 Ausgewählte Ergebnisse in der SchülerInnenbefragung

Anhand der Befunde der Schülerbefragung an den drei Pilotschulen lässt sich feststellen, dass trotz der geänderten Ausrichtung die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler im Schuljahr 2013/2014 den Mittleren Abschluss durch den Besuch der Berufsfachschule intendiert. Dies ist allerdings wenig verwunderlich, da sich die Jugendlichen im Schuljahr 2013/2014 aufgrund der Anmeldefrist (31. März) nicht zur Gestuften Berufsfachschule angemeldet haben, sondern zur ursprünglichen Berufsfachschule. Unabhängig davon, ob die Jugendlichen den Mittleren Bildungsabschluss mit dem Besuch der Gestuften Berufsfachschule verfolgen oder aber eine Vermittlung in eine Ausbildung anstreben, sind die Jugendlichen mehrheitlich davon überzeugt, dass die Berufsfachschule sie sicher an ihre individuellen beruflichen Ziele bringen wird und dabei helfen, fachrichtungsspezifische Erfahrungen zu sammeln, eigene Fähigkeiten bzw. Fertigkeit zu erkennen und in Folge dessen eine geeignete Berufsrichtung zu finden.

Die Betriebspraktika empfinden die befragten Jugendlichen als wichtigen Rahmen, sich beruflich zu orientieren. Dabei stellen sie fest, dass die einzelnen Praktika sich erkennbar an den Fachunterricht anschließen, was als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass einige der durchgeführten fachrichtungsabhängigen Projekte berufstypische und realitätsnahe Prozesse und Arbeitsweisen abbilden und damit zur beruflichen Orientierung beitragen können. Zudem sind die meisten Jugendlichen davon überzeugt, dass sie in den Praktika gute Möglichkeiten haben, die eigenen Fähigkeiten und Potentiale offenzulegen und damit auch bessere Chancen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.

Bezüglich der überfachlichen Kompetenzmatrix gaben 67% der befragten Schülerinnen und Schüler an, dass diese ihnen dabei hilft zu erkennen, was von ihnen im Betrieb bzw. der Schule diesbezüglich erwartet wird. 50% der Befragten stellen zu diesem Zeitpunkt fest, ihr persönliches Verhalten bereits zum Teil geändert zu haben. 68% der befragten Schülerinnen und Schüler schätzen die Bewertung mittels überfachlicher Kompetenzmatrix als weitgehend fair bzw. hochgradig fair ein. Bezüglich der fachlichen Kompetenzmatrix empfindet die Mehrheit der befragten Schülerinnen und Schüler die mit ihr durchgeführte Bewertung im Fachunterricht besser als mit Schulnoten, da auch hier wiederum besser erkannt werden würde, was im Einzelnen erwartet wird und zudem die Leistungen differenzierter abgebildet werden könnten.

Den Einsatz und das Handling der fachlichen Kompetenzmatrizen wird von den Schülerinnen und Schülern gut angenommen. Sie empfinden die Bewertung mittels Kompetenzmatrizen gegenüber traditionellen Noten als transparenter und nachvollziehbarer und bevorzugen dieses neue Verfahren.

Die umfassenden Differenzierungsmaßnahmen im allgemeinen Lernbereich werden von den Jugendlichen überwiegend positiv bewerten. Dies bezieht sich dabei sowohl auf den individuellen Kompetenzzuwachs als auch auf die Notengebung. Das Konzept der Profilgruppen findet bei den befragten Schülerinnen und Schüler ebenfalls mehrheitlich Zustimmung, was zeigt, dass die Jugendlichen die ehemaligen Klassenstrukturen nicht dezidiert vermissen und ihre Ansprüche an eine Bezugsperson hier weitgehend erfüllt werden. Im Qualifikationsportfolio sieht die Mehrzahl der befragten Schülerinnen und Schüler eine gute Möglichkeit unabhängig von Zeugnisnoten das individuelle Profil und die persönlichen Stärken abzubilden, um die Ausbildungsplatzsuche zu unterstützen.

3.2.3 Herangehensweise in der LehrerInnenbefragung

Die LehrerInnenbefragung erfolgte z.T. in mündlicher als auch in schriftlicher Form mittels standardisierter Fragebögen, in welchen folg. Aspekte geklärt wurden: Die Bewertung des fachlichen Niveaus gegenüber der ursprünglichen BFS, die Bewertung der verstärkten Förderung von Berufswahlkompetenz, die Bewertung der Einführung von überfachlichen und fachlichen Kompetenzmatrizen, die Bewertung der Differenzierungskonzepte im allgemeinen Unterricht. Zum Halbjahr des Schuljahres 2013/2014 wurden diesbezüglich an den drei Pilotschulen insgesamt 76 LehrerInnen der Gestuften Berufsfachschule befragt.

3.2.4 Ausgewählte Ergebnisse in der LehrerInnenbefragung

Die befragten Lehrkräfte stellen übergreifend fest, dass den mit dem Gestuften Konzept veränderten Zugangsvoraussetzungen zur Gestuften Berufsfachschule und damit der reduzierten Leistungsfähigkeit der SchülerInnen durch eine Reduktion des fachlichen Niveaus Rechnung getragen wurde.

Durchweg positiv wird von den Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit der engen Verzahnung von Theorie und Praxis sowie die flexibel handhabbare Verknüpfung von Theorie und Praxis empfunden, die durch die gleichzeitige Besetzung mit Theorielehrern und Praxislehrern konzeptionell vorgegeben ist und in Verbindung mit kleinen Lerngruppen nach Auffassung der Lehrkräfte ein unerlässlicher Aspekt innerhalb der Kompetenzvermittlung auch in Hinblick auf die Heterogenität der Adressaten darstellt.  Zudem sind die befragten Lehrkräfte überwiegend der Meinung, dass durch die Neustrukturierung innerhalb des Fachunterrichtes realitätsnahe Inhalte und fachliche Kernkompetenzen schülernah und interessant vermittelt werden können.

Der Einsatz der fachlichen Kompetenzmatrizen, sowie deren Erarbeitung und Handhabung hat zunächst dazu geführt, dass interne Diskrepanzen über Lernziele und -inhalte reduziert wurden. Die zu vermittelnden Fachkompetenzen mussten genau definiert werden, d. h. welche diesbezüglichen Tätigkeiten einschlägig sind und welches Wissen damit korrespondiert. Von Vorteil sehen die Lehrkräfte ebenfalls die Tatsache, dass durch die Kompetenzmatrix eine inhaltliche Unterrichtsstruktur vorgegeben ist, die es den Jugendlichen im Rahmen ihrer Möglichkeiten erlaube, eigenständig und selbstverantwortlich zu planen, da sie wüssten, was innerhalb der vier Unterrichtswochen von ihnen erwartet werden würde. Positiv wurde ebenfalls bewertet, dass aufgrund der Struktur der Matrix früh ein optischer Eindruck bzgl. der Fähigkeiten der Jugendlichen entstünde und auf den ersten Blick festgestellt werden könne, in welchen Bereichen die Fähigkeiten und Ressourcen des Jugendlichen besser bzw. schlechter ausgeprägt sind. Ebenfalls als positiv wird von den Lehrkräften festgestellt, dass durch den regelmäßigen Einsatz der Kompetenzmatrizen eine detaillierte Bewertung des Einzelnen durch ein Lehrerteam möglich werde und der aktuelle Kompetenzstand eines Schülers/einer Schülerin besser, gerechter, transparenter und nachvollziehbarere abgebildet würde, als dies mit einer Note möglich wäre, was nach Meinung der meisten Lehrkräfte zu einer größeren Objektivität führe. Trotzdem setzen noch nicht alle Lehrpersonen die fachlichen Kompetenzmatrizen sicher und überzeugt ein. Als Schwäche dieses Instruments wird der Zusatzaufwand angeführt, welcher als ungewohnt und nicht unerheblich beschrieben wird, die Praxistauglichkeit und Reliabilität des Bewertungsinstrumentes aber dennoch nicht negiert.

Die Einführung einer überfachlichen Kompetenzmatrix wird im Allgemeinen sehr positiv bewertet. Sie wird als Ergänzung empfunden, die die bereits vorhandenen überfachlichen Kompetenzen der SchülerInnen besser dokumentiert und eine genauere, differenziertere und konkretere Betrachtung des Einzelnen ermöglicht. Die Lehrkräfte gaben an, dass die überfachliche Kompetenzmatrix überwiegend als Gesprächs- und Argumentationsgrundlage genutzt wird und dabei helfen soll, die Entwicklung der überfachlichen Kompetenzen in den einzelnen Bereichen sichtbar zu machen. Zudem stellt die Matrix die Bewertung der überfachlichen Kompetenzen durch die unterschiedlichen Lehrkräfte auf eine gemeinsame Grundlage. Bei richtiger Handhabung wird die überfachliche Kompetenzmatrix überwiegend als praxistauglich und geeignet eingestuft, obwohl sie einen hohen Arbeits- bzw. Verwaltungsaufwand mit sich bringt.

Die Einteilung in leistungsdifferenzierte Lerngruppen in den allgemeinbildenden Fächern empfindet die Mehrheit der Lehrkräfte als positiv, da diese das Lernklima positiv beeinflussen und dem einzelnen Schüler bzw. der einzelnen Schülerin besser gerecht werden. Dem entgegen stehen jedoch auch einige Lehrkräfte, welche die heterogenen Lerngruppen bevorzugen würden. Dies wird teilweise mit dem hohen und ungewohnten kollegialen Koordinationsaufwand begründet, den das leistungsdifferenzierte Konzept in Vorbereitung und Organisation mit sich bringt. Die Lehrpersonen sehen die Zusammenarbeit im Kollegium zwar grundsätzlich als bereichernd an, nehmen sie aber trotzdem auch als zusätzliche Belastung wahr.

3.2.5 Herangehensweise in der Betriebsbefragung

Die Befragung der Betriebe erfolgte im Rahmen des Praktikums. Insgesamt wurden 101 Betriebe mittels eines standardisierten Fragebogens zu folgenden Aspekten befragt: Die Bekanntheit des Gestuften Berufsfachschulmodells, die Erwartungen durch Praktikum geeignete Auszubildende zu finden, die Bewertung der neuen Konzeption in Bezug auf Berufsorientierung, die Bewertung der neuen Konzeption in Bezug auf einen ausbildungsbegleitender Erwerb der Mittleren Reife, die Bewertung der neuen Konzeption in Bezug auf die Bewertung mittels Kompetenzmatrizen und die Bewertung der Einführung eines Qualifikationsportfolios.

3.2.6 Ausgewählte Ergebnisse in der Betriebsbefragung

Nach Auswertung der Daten wird deutlich, dass die ausbildende Wirtschaft bisher wenig Kenntnis von dem Modell der Gestuften Berufsfachschule hat. Von den befragten Betrieben gaben lediglich 23% an, Kenntnis von der neuen Ausrichtung der Gestuften Berufsfachschule zu haben. Zudem wünschten sich rund 44% der Betriebe (weiterführende) Informationen.

Unabhängig davon bewerten 80% der befragten Betriebe die berufliche Orientierung und 88% die Vermittlung von beruflichen Basiskompetenzen in einer Fachrichtungen (z. B. Technik) anstelle eines Berufsfeldes (z. B. Elektrotechnik) als positiv. Auch die neue Ausrichtung bezogen auf den ausbildungsbegleitenden Erwerb des Mittleren Bildungsabschlusses empfinden ca. 65% der Betriebe als wünschenswert. Die Bewertung der SchülerInnen mittels Kompetenzmatrizen wird mehrheitlich (60%) positiv eingeschätzt, sowie die Einführung des Qualifikationsportfolios.

3.2.7 Interpretation der Evaluation und Konsequenzen

Innerhalb dieser zusammenfassend dargestellten Befunde zeigt sich ein übergreifend befürwortender Trend bzgl. des neuen Ansatzes der BFS. Unabhängig davon wurden mit diesem Zugang vielfältige und bzgl. der einzelnen Schulen und der darin arbeitenden Kollektive sehr differenzierte Rückmeldungen eingeholt, welche inzwischen in vielfältige Modifikationen zum Beispiel in den schulspezifischen Differenzierungsansätzen, bei der Handhabung der Kompetenzmatrizen oder bei der Ausgestaltung der Profilgruppenstunden überragen wurden. Ziel dieser Evaluation ist auch nicht – wie im Qualitätsmanagement – einen „Optimalzustand“ zu erreichen, sondern schnelle und direkte Rückmeldungen kurzzyklisch in den Prozess einspeisen zu können. Der nun anstehende 2. Evaluationsdurchgang wird zeigen, ob sich der positive Trend bestätigt und, ob die Modifikationen gegriffen haben.

3.3 Soziodemografische Erhebung

Im Schuljahr 2013/2014 wurde mittels eines theoriebasierten Instruments ein soziodemografischer Querschnittes der Schülerschaft erhoben. Dies erfolgte zum einen, um genauere Kenntnisse über die Schülerschaft zu gewinnen (Querschnitt), zum anderen, um diesbezügliche Veränderungen im Verlaufe der 3 Pilotjahre feststellen zu können (Monitor). Dabei wurden allgemeine Daten wie Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund, aber auch Daten zum „sozialen Kapital“ erhoben (genau und umfassend dargestellt in Tenberg 2014).

Zusammengefasst belegen die Daten, dass die Profile der SchülerInnen aller 3 Pilotschulen deutlich der Gruppe der Bildungsbenachteiligten zuzuordnen sind. Dies wird sowohl durch die überproportional hohe MigrantenInnen-Quote (zwischen 39% und 65%) deutlich, als auch durch das geringe soziale Kapital. 16% der Familien sind ohne Erwerbseinkommen, 1/3 der Jugendlichen wird von nur einem Elternteil erzogen, 11% der Eltern verfügen über keinen Schulabschluss. Die dabei erkennbaren deutlichen Schwankungen an den drei Pilotschulen können sehr schlüssig mit den von ihnen jeweils adressierten Berufsbereichen, sowie deren regionalem Kontext begründet werden. Insgesamt können die soziodemographischen Befunde dieses ersten Querschnitts als nachträglicher Beleg für die Notwendigkeit der Reform der zweijährigen Berufsfachschule festgestellt werden. Sie zeigen deutlich, wie weit entfernt viele dieser SchülerInnen von den ehemaligen Adressaten dieses Schultyps sind, und damit gleichermaßen wie wenige von ihnen das Potenzial für den unmittelbaren Erwerb des Mittleren Bildungsabschlusses haben.

4 Diskussion

Im Call for Papers dieser Ausgabe der bwp@ werden drei zentrale Gründe für die große Bedeutung der Berufsorientierung in unserer Gesellschaft angeführt: 1. Der Einzelne soll Einblicke in Anforderungen und Aufgaben von Arbeit und Beruf erhalten um eine seinen Neigungen und Interessen entsprechende Berufsentscheidungen treffen zu können. 2. In Wahrnehmung einer sozialstaatlichen Verantwortung sollen Zugänge zu Arbeit und Beruf eröffnet werden, um soziale Teilhabe zu ermöglichen. 3. Der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt soll mit beruflich qualifiziertem Nachwuchs versorgt werden. Diese Prämissen sind auch die Ausgangspunkte der hier beschriebenen Reform der zweijährigen Berufsfachschule in Hessen. Im Weiteren wird in diesem Call for Papers vertieft auf die Berufsorientierungsproblematik im Übergangssystem sowie auf vielfältige diesbezüglich ausgerichtete Forschungsprogramme der zurückliegenden Jahre hingewiesen. Die hier vorliegende Studie bezieht sich auf ein schulorganisatorisches Konzept mit komplexen didaktischen und methodischen Spezifika, welches sich in hohem Maße auf die wissenschaftlichen Befunde und Erkenntnisse dieser Programme stützt. Dies zeigen nicht zuletzt seine Kernelemente „Stufenkonzept“, „Ausbildungsvorbereitung und –anbahnung“, „Differenzierung und Modularisierung“, „Kompetenzorientierung in Didaktik und Diagnostik“ und „Qualifikationsportfolio“. An dieser Aufzählung erkennt man zum einen, welche Ansprüche sich das Konzept der Gestuften Berufsfachschule gesetzt hat, zum anderen aber auch, welcher umfassende Wandel damit verbunden ist.

Dieser Wandel wirkt sich insbesondere auf die involvierten Lehrpersonen aus, denn zum einen wurde nicht weniger als das Gesamtziel der Schulart korrigiert, von einem allgemeinen Abschluss auf eine erfolgreiche Aufnahme einer Berufsausbildung. Zum anderen gilt es, in veränderten äußeren und inneren Strukturen einen Unterricht ausgestalten, der sich an neuen didaktischen und methodischen Prämissen orientiert. Durch den Versuchsstatus kommt hinzu, dass die Lehrpersonen zwar experimentell arbeiten, dabei jedoch in jedem Falle verantwortlich gegenüber den SchülerInnen handeln. Ressourcen, um die Lehrpersonen ein wenig zu entlasten, sind minimal. Hinzu kommt die Unsicherheit darüber, ob dieses Konzept in der geplanten (und damit von ihnen ausgestalteten) Form flächendeckend umgesetzt wird und damit ihre konzeptionelle Arbeit zumindest nicht umsonst war und weiter geführt werden kann.

Die bisherigen Befunde bestätigen bislang deutlich sowohl das Grundkonzept, als auch dessen Ausgestaltung in den drei schulischen Varianten. So zeigen die Ergebnisse der soziodemographischen Erhebung, dass es sich über alle beteiligten Schulen nur zu einem geringen Prozentsatz um potenzielle RealschülerInnen handelt, die Reform der zweijährigen Berufsfachschule also dringend erforderlich ist. Mit jedem weiteren Querschnitt der hier erhoben wird, können diese Daten verbreitert, präzisiert und schließlich auch längsschnittlich analysiert werden. Zudem werden in den kommenden 6 Monaten Vergleichsdaten sowohl im Ausbildungsvorbereitungssektor als auch in Haupt- und Realschulen erhoben, welche die Aussagekraft dieses Monitors noch verbessern werden.

Die Ergebnisse der Evaluation bestätigen die vielfältigen Maßnahmen, welche im Zuge der Umsetzung des neuen Konzepts erfolgten bzw. geben Anhaltspunkte für weitere Modifikationen. Besonders bedeutsam sind dabei die Einschätzungen der Schüler sowohl in Fragen der Differenzierung und Berufsorientierung, als auch in der neuen Kollektivierung und Diagnostik. Bei den Lehrpersonen gibt es diesbezüglich einen ähnlichen Tenor, jedoch deutlich schwankender und differenzierter. Dies erscheint im Hinblick auf den hier zu vollziehenden umfassenden Wandel nachvollziehbar, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die geringen Ressourcen, mit welchen dieses Gesamtvorhaben ausgestattet ist. Im kommenden Jahr stehen zentral zwei Prozesse an: zum einen müssen jene Aspekte konsolidiert werden, die von allen Protagonisten befürwortet werden, dabei jedoch noch von Effizienzproblemen behaftet sein können. Zum anderen müssen durch gemeinsame Überlegungen, gegenseitigen Austausch an den Pilotschulen und Know-How-Transfer die unterschiedlichen Entwicklungsstände der Pilotschulen angeglichen werden, ohne diese dabei aber zu nivellieren. Parallel dazu sind bereits aus ganz Hessen assoziierte Schulen involviert, die sich über die Pilotstudie informieren, um bei einer Gesamtimplementierung der Gestuften Berufsfachschule schnell handlungsfähig zu sein.

Der eigentliche Prüfstein für die Gestufte Berufsfachschule wurde jedoch bislang noch nicht erörtert: die Quote der Vermittlung von BerufsfachschülerInnen in eine Ausbildung während bzw. zum Ende der 1. Stufe. Aus den bisherigen Erhebungen gibt es dazu nur unzuverlässige jedoch durchaus positive Daten – die Bilanz der einzelnen Schulen wird aktuell eingebracht. Angesichts der (u. A. durch die Evaluation festgestellten) geringen betrieblichen Wahrnehmung dieser Reform würden hier hohe Quoten jedoch erstaunen. Obwohl in den zurückliegenden Monaten vielfältige Versuche unternommen wurden, diese Innovation bei der Wirtschaft publik zu machen, (Infoflyer per e- Mail an alle potenziellen Ausbildungsbetriebe einer Region, Informationsabende mit personalisierten Einladungen an alle Handwerksbetriebe, Informationsstand am Tag des Handwerkes, Werkstattleitertreffen, Obermeistertreffen...) äußert sich hier ein typisches Schnittstellen-Problem des Wandels. Die Betriebe haben sich über Jahrzehnte auf wenige spezifischen Zugangsmodi ihrer Auszubildenden eingestellt (typischerweise Initiativbewerbungen im Schuljahr vor dem Abgang an Haupt- und Realschulen, zudem noch über Vermittlung der Arbeitsagenturen aus dem Maßnahmenbereich, in Mangelbereichen durch aktives Marketing an Schulen und in Ausbildungsvorbereitungsklassen). In diesen Modi spielte die zweijährige Berufsfachschule bislang keine Rolle. Sie nun in diesen aktuellen Strukturen des Ausbildungsmarketings und Recruitings zu verankern, ist daher zum einen ein Problem der Information, zum anderen auch eines der Überzeugung. Dies erfordert noch weiteren Aufwand, aber auch Zeit und Geduld, mit der Folge, dass die Gestufte Berufsfachschule sicher noch einige Jahre benötigen wird, um ihr volles Wirkungspotenzial zu entfalten. Ist dies einmal der Fall, könnte sie jedoch den Jugendlichen und den Betrieben gleichermaßen helfen und damit einen erheblichen Teilbeitrag leisten, den demographischen Wandel für unsere Gesellschaft und Wirtschaft produktiv zu gestalten.

Literatur

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Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014 (2014): Bildung in Deutschland 2014. Bielefeld.

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Weishaupt, H. (2012): Optimierung des Übergangsbereichs in Hessen. DIPF (Hrsg.) Frankfurt a. M.


Berufsorientierung im Netz. Wie rezipieren Jugendliche berufswahlrelevante Informationen im Internet?

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1 Internetnutzung bei der Berufs- und Studienwahl als Forschungsgegenstand

Das Internet hat zweifelsohne die Art und Weise, wie wir heute unseren Informationsbedarf befriedigen, revolutioniert. Für die jüngeren Altersgruppen gilt schon, „dass die Informationsbeschaffung über das Internet gegenüber der Recherche in Printmedien eine herausragende Stellung einnimmt und vielfach als exklusiver Weg eingeschlagen wird“(Gapski/Tekster 2009, 30). , Die Im Internet Informationen recherchieren zu können ist damit „zu einer zentralen Kulturtechnik geworden“ (Schetsche et al. 2005. 17). Dass diese Medienrevolution nicht ohne Einfluss auf den Informationsprozess im Vorfeld einer Studien- und Berufswahlentscheidung (Berufsorientierungsprozess) geblieben ist, liegt nahe und bildet Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags. Wie greifen Jugendliche auf die online verfügbaren Informationen zu, wenn sie für sich die Frage nach dem passenden Ausbildungsberuf oder Studiengang beantworten möchten? Welche Erwartungen tragen sie an die angebotenen Informationen heran? Zeigen sich spezifische Vorteile der Informationsquelle Internet gegenüber klassischen Medien wie beispielsweise die unkomplizierte Verbreitung wichtiger Informationen über Soziale Netzwerke?

Obwohl Jugendliche seit Jahren eine stetig wachsende Zeit pro Woche online verbringen und die multimedialen Angebotsformen von berufswahlrelevanten Informationen im Internet weit verbreitet sind, lässt sich eine nachhaltige Verringerung von Orientierungsschwierigkeiten bei der Studien- und Berufswahl nicht beobachten. In Studien zum Informationsverhalten bei der Studien- und Berufswahl wird von den Studienberechtigten ein halbes Jahr vor Erwerb der Hochschulreife das Internet als die häufigst genutzte Informationsquelle genannt (Heine/Willich/Schneider 2010). Die fortschreitende Ausdifferenzierung des digitalen Informationsangebots beheben die Informationsdefizite bei Studienanfängern aber nicht und trotz verbesserter Informationsinfrastruktur bleiben Defizite in der subjektiv empfundenen Informiertheit. „Lediglich ein gutes Drittel, nämlich 35 % der angehenden Studierenden, 37 % der Schüler_innen mit Berufsausbildungsabsicht sowie 44 % derjenigen mit Doppelqualifikationsabsicht fühlen sich umfassend auf die anstehende Entscheidung vorbereitet“ (Heine/Willich/Schneider 2010, 18). Indem der Beitrag versucht die Alltagspraktiken der Informationssuche verschiedener Schülergruppen aufzuzeigen, geht er wesentlich über diesen klaren Befund hinaus und will Ansatzpunkte liefern, diesen zu erklären. In den Blick geraten so die Problematik des Matching zwischen nachgefragten und angebotenen Informationen, der Qualität letzterer sowie der Medien- und Informationskompetenz der Schülerinnen und Schüler.

Das Nutzerverhalten von Jugendlichen und der Nutzen digitaler Medien für die Studien- und Berufsorientierung ist bereits in einigen Studien wissenschaftlich untersucht worden (vgl. Beinke 2008, Heinke/Ehrenthal/Ulrich 2003, Struwe 2010). Es zeigt sich, dass Mediennutzung und Medienkompetenz Jugendlicher in Abhängigkeit zu sozialen Merkmalen, wie Alter, Geschlecht oder Schulform stark differieren (vgl. Kommer 2010), die Verfügbarkeit und die individuelle Nutzung digitaler Medien bei jüngeren Nutzern tägliche Praxis ist und die Online-Netzwerke von Jugendlichen vorwiegend zur privaten Kommunikation genutzt werden (vgl. BITKOM 2013a). Analysen, die nach bereichsspezifischem Nutzen fragen, stehen auf der Agenda und die Effekte beruflicher Karriereplanung bei dauernder medialer Ko-Präsenz geraten stärker in den Blick (vgl. Gehrau/Jo vom Hofe 2013).

Unter Berufsorientierung wird idealtypisch der Prozess bezeichnet, in dem Jugendliche die Aufgabe der Berufswahl oder der Entscheidung für eine Ausbildung oder Studienrichtung kognitiv und biografisch antizipieren, sich um dafür relevante Informationen bemühen und ein der schlussendlichen Entscheidung zugrundeliegendes Präferenzsystem ausbilden, bzw. ein solches bereits Grundlage des Orientierungsverhaltens darstellt. „Berufsorientierung ist ein Prozess der Annäherung und Abstimmung zwischen Interessen, Wünschen, Wissen und Können des Individuums auf der einen und Bedarf und Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt auf der anderen Seite“ (Famulla 2007, 231). Berufsorientierung ist demnach ein „lebenslanger Prozess“ (Butz 2008, 50), in dem Berufswahl, Karriereplanung und flexible Anpassung an die Veränderungen der Arbeitswelt zur Daueraufgabe werden. Merkmale der Studien- und Berufswahl und individuelle Präferenzbildungen von SEKII­Schüler_innen sind bisher wenig untersucht (vgl. Kracke et al. 2013), aber hinsichtlich neu zu gewichtender Einflussfaktoren, wie gegenwärtigen Wertorientierungen, einer digitalisierten Berufswelt, regionale Ungleichgewichte in der Berufsausbildung, u.v.m. von besonderem Interesse.

Wie Jugendliche nun das erweiterte Angebot digital verfügbaren Informationen nutzen, ist in einer Studie der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA) in den zwei Bundesländern Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern nachgegangen worden. Wie beeinflussen Online-Angebote das Studien- und Berufswahlverhalten? Werden Entscheidungskriterien durch die Rezeption digitaler Medien entwickelt und worin bestehen eventuelle Limitierungen?

2 Methodisches Vorgehen

Obwohl Medien- und Medienkompetenz sowie die Internetnutzung Jugendlicher in den letzten Jahren Forschungsgegenstand in unterschiedlichen Disziplinen ist, bleiben eine Reihe methodischer Fragen offen, wie z.B. wo genau der Forschungsraum zu lokalisieren ist, eher online oder offline. In der genannten Studie ist der Fragestellung nach der Mediennutzung in der Berufs- und Studienorientierung von SEKII-Schüler_innen offline und mit einer Mixed-Method-Strategie nachgegangen worden. Mit Schüler_innen der SEK II sind Gruppendiskussionen durchgeführt worden, um Nutzerverhalten und Nutzerbewertung während der Berufs- und Studienwahl zu erheben. Außerdem wurden Gruppendiskussionen mit Studierenden im ersten Fachsemester unterschiedlicher Fachrichtungen an Hochschulen in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern durchgeführt, um die Nutzungspraxis retrospektiv zu erfassen. Desweitern wurde im Zeitraum von Oktober 2013 bis Mai 2014 eine Befragung Studierender zur Nutzungspraxis digitaler Medien und des Internets bei der Studien- und Berufsorientierung online gestellt (https://www.soscisurvey.de/), an der sich insgesamt 860 Studierende unterschiedlicher Fachgruppen in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern beteiligten. Ausgewählte Schüler_innen der SEK II wurden zudem mit einem paper- und pencil-Fragebogen zu ihren Nutzungsgewohnheiten befragt.

Die Auswahl der Gruppendiskussionsmethode lag nahe, da diese den Diskussionsteilnehmer_innen den Aufbau eines eigenen Bedeutungsrahmens in Abhängigkeit von den Vorgaben des Diskussionsleiters gestattet (vgl. Bohnsack 2008, Przyborski 2004, Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008). Dominante Darstellungsmodi, Diskussionsablauf, Themenbearbeitung, die Thematisierung beruflicher Zukunftsvorstellungen und die darauf bezogenen Nutzungsgewohnheiten digitaler Medien in den Gruppendiskussionen konnten so beobachtet und im Audio-Format zur Auswertung aufgezeichnet werden. Varianten der in den Diskussionen entwickelten dominanten Darstellungslinien in den Diskussionsgruppen zeigen das Entscheidungsverhalten während der Berufs- und Studienorientierung.

Die Kombination quantitativ-standardisierter und qualitativ-interpretierender Verfahren ergab einen guten Überblick über die Praxis der Handhabung digitaler Medien zur Studien- und Berufswahl. Mittels der schriftlichen Online-Befragung der Studierenden und der Schüler_innen der SEK II konnten häufig genutzte Internetplattformen identifiziert werden, die Hinweise zu alters- und geschlechtsspezifischen wie auch fachspezifischen Präferenzen enthalten. Da in der Online-Befragung immer auch gefragt wurde, welche Informationen nützlich waren, kann auf erfahrungsbasierte Haltungen rückgeschlossen werden, die in Bezug auf spezifische Merkmale auch generalisierbar sind, so z.B. der Bekanntheits- und Nutzungsgrad bestehender Online-Angebote und die Erfahrung im Umgang damit.

Die Auswertung der verbalen Daten in den Gruppendiskussionen erfolgte entsprechend der grounded theory (vgl. Strauss/Corbin 1996), d.h. die Datenauswertung begann unmittelbar nach Start des Projekts und es erfolgte eine Inhalte explizierende und ordnende Analyse (vgl. Flick 2007). Die Wissensbestände zu digitalen Medien, der praktische Umgang damit und die subjektive Bewertungen der Schüler_innen konnten so herausgearbeitet werden. Stärker selbstläufige Diskussionspassagen wurden gesondert ausgewertet, um die analytischen Kategorien zu sättigen (vgl. Bohnsack 2008, 2010a, 2010b).

Im Folgenden werden Ergebnisse aus Gruppendiskussionen mit SEK II-Schüler_innen an Berufsgymnasien in den Mittelpunkt gestellt. In dieser Untersuchungsgruppe wurden elf Gruppendiskussionen an Berufsgymnasien durchgeführt, von denen neun ausgewertet worden sind - sechs Schüler_innen-Gruppendiskussionen der Jahrgangstufen 11 und 13 (Sachsen) und drei Schüler_innen-Gruppendiskussionen der Jahrgangstufe 12 (Mecklenburg-Vorpommern). Berufsgymnasien gehören zu den Beruflichen Schulen und werden in einigen Bundesländern als berufliches Gymnasium (z.B. Sachsen), in anderen als Fachgymnasium (z.B. Mecklenburg-Vorpommern) bezeichnet. Der dreijährige vollzeitschulische Bildungsgang (Kl. 11-13) beinhaltet neben den allgemeinbildenden Fächern ein berufsbezogenes Profilfach, das die Schüler_innen auf dem Weg zum Abitur vor Beginn der 11. Klasse bereits gewählt haben (Profilfächer Gesundheit und Soziales, Pädagogik und Psychologie). Anders als Schüler_innen an gymnasialen Oberstufen an allgemeinbildenden Schulen haben diese Schüler_innen also bereits einen ersten fachlichen oder beruflichen Orientierungsprozess durchlaufen, der die Fachspezifik der gewählten Oberstufe begründet. Welche digitalen Informationsquellen nutzen diese Schüler_innen zur weiteren beruflichen Orientierung?

3 Informationsbedarf und Mediennutzung

Wenn Berufsorientierung und die folgende Berufs- und Studienwahl unter dem Blickwinkel der Informationssuche und -verarbeitung betrachtet werden, wird die Vielzahl unterschiedlicher Quellen, aus denen Jugendliche berufswahlrelevante Informationen beziehen, deutlich: Printmedien, Berufsinteressentests, Homepages, Praktika und Gespräche mit Familienangehörigen sind die am häufigsten genannten. Digitale Medien sind weder die alleinige noch die dominierende Informationsquelle, dennoch zeigen auch andere Studien, dass vor allem von den Studienberechtigten fast alle in irgendeiner Form das Internet im Rahmen der Berufsorientierung nutzen (vgl. Beinke 2008; Heine/Willich/Schneider 2010). Das Internet nimmt unter den Informationsquellen wegen seiner ubiquitären Verbreitung und leichten Zugänglichkeit eine Sonderstellung ein, auch weil Printmedien, Einzeldaten und auch personengebundene Informationen im Netz (z. B. in Foren) zur tieferen Recherche abgerufen werden können.

3.1 Das Internet als catch all-Medium

Drei Aspekte sind hinsichtlich der Einbindung des Internets in den Berufsorientierungsprozessen herauszuheben. Erstens ein quantitatives Wachstum und die Differenzierung der Informationsangebote: Es gibt nicht nur immer mehr Übersichtsseiten über Studiengänge oder Ausbildungsberufe, sondern gleiches auch für spezielle Berufsfelder und Brancheninformationen oder Seiten auf denen ausgewählte Studiengänge präsentiert werden, wie u.a. der intensiv umworbene Bereich der MINT-Berufe. Inzwischen ist jede Hochschule, auch jedes private Bildungsinstitut mit einer, die jeweiligen Aus- oder Weiterbildungsangebote aufweisenden, Homepage online vertreten. Zweitens ist das Internet ein Medium für Informationsangebote, die oftmals auch offline existieren, die dort aber nicht gebündelt zur Verfügung stehen.Im Internet sind Textinformationen, Videos, Interessentests verknüpft und per Klick abrufbar. Drittens stellt das Internet dieses Wissen zentralisiert auf jedem internetfähigen PC, Notebook, Tablet oder Smartphone jederzeit und überall zur Verfügung und bietet so die Möglichkeit zeitlich und örtlich entgrenzter Informationssuche. Effekte im Berufsorientierungsprozess ergeben sich u.a. durch die Art und Weise der Produktion und der Darbietung der Informationen sowie aus deren Auffindbarkeit mittels der genutzten Suchmaschine und durch die individuell-technische Kompetenz der Nutzer_innen, die Informationen zu strukturieren.

Über alle Altersgruppen hinweg schält sich ein deutliches Profil der Internetnutzung zur Berufs- und Studienorientierung heraus: Im Mittelpunkt steht die Suche nach Sachinformationen, d. h. die Inhalte von Studiengängen, an welchen Universitäten kann was studiert werden, wie hoch ist der Numerus Clausus. Es werden gezielt Internetseiten angesteuert, die einen breiten Überblick über Ausbildungsberufe und Studiengänge bieten, wie der Online-Auftritt der Bundesagentur für Arbeit.

Informationen zum Berufs- oder Studienalltag, welche in den Augen der Schüler_innen Einblicke in jene Alltagswirklichkeit hinter den formalen Beschreibungen von Berufsbildern und Studiengängen ermöglichen und die üblicherweise in Face-to-face-Interaktionen vermittelt werden, sind besonders geschätzt, werden aber im Internet wenig recherchiert. Um Einblicke in die Studien- und Ausbildungsrealität zu gewinnen, werden eher Bildungsmessen oder Tage der offenen Tür aufgesucht, wo persönliche Gespräche mit Berufstätigen, Auszubildenden und Studierenden über deren Erfahrungen möglich sind. Das Internet bietet eine ähnliche Informationsvermittlung in Foren, in denen persönliche Erfahrungen berichtet und konkrete Anfragen beantworten werden sowie auch mittels Videos, die Arbeitsabläufe in Werkshallen, bei der Bundeswehr oder im Handwerk zeigen. Diese Angebote werden aber selten genutzt und der Verbreitungsgrad scheint noch relativ gering zu sein. Die Foren und Informationen, die einen Blick in alltagsnahe Abläufe des Studiums und in den Betrieb bieten, werden in der Regel sehr positiv bewertet. Foren, in denen Studierende über ihre Erfahrungen in den jeweiligen Studiengängen berichten, finden sich jedoch nicht an jeder Hochschule und zu jedem Studiengang. Zudem besteht die Überzeugung, dass die Aufbereitung der Informationen durch das Medium begrenzt ist.

„Ich glaube, manche Berufe kann man auch gar nicht filmen“(GD 4:216).

Mehrfach machen die Schüler_innen deutlich, dass Internetangebote, verknüpfend und ergänzend zu Hochschultagen und Bildungsmessen oder Printmedien, wiederholt genutzt werden, mit dem entscheidenden Vorteil, diese Suchzeiten flexibel in den Alltag einbauen zu können.

„Also ich hab das immer so gemacht, dass ich am Wochenende immer abends so wenn ich im Bett liege oder so einfach mal mit dem Handy geguckt habe oder so. Einfach mal überall rum und wenn du das jedes Wochenende machst, dann kommt schon was bei raus“ (GD 13:138-140).

Das Potential des Internets, unterschiedliche Informationsarten in den jeweiligen Medienformaten gebündelt zu vermitteln und zur individuellen Nutzung anzubieten, wird als Vorteil geschätzt, obwohl systematische Suchvorgänge wenig belegt werden können - wenn dann häufig im Zuge von Bewerbungen oder vor der unmittelbaren Entscheidung für einen spezifischen Studiengang.

3.2 Handlungsleitende Orientierungen in Bezug auf digitale Medien

Die Schüler_innen unterscheiden nicht nur zwischen den Informationsformaten, sie haben auch klar artikulierte Ansprüche an die Qualität der Informationen. Aktualität wird dabei eher vorausgesetzt. Kritisch hinterfragt werden die Authentizität, die Neutralität und die Individualität der online verfügbaren Informationen.

Authentizität

Die Nutzung digitaler Medien zur Rezeption berufs- oder studienwahlrelevanter Informationen wird häufig zu einer direkten, d.h. Face-to-face-Darstellung erlebter Berufstätigkeit kontrastiert. Einen hohen Stellenwert besitzt die Authentizität der Information.

„… also es kann nach außen hin immer alles ganz schön wirken und dann geht man hin und sagt‚oh Gott, hätte ich das bloß nicht gemacht!“ (GD 1:155-156).

In den Gruppendiskussionen wird das persönliche Gespräch als besonders wichtig eingestuft, da der direkte Kontakt Urteilsmöglichkeiten über die Authentizität der berichteten Erfahrungen, wie auch konkrete Nachfragemöglichkeiten, bietet. Nicht nur aus der Werbewelt ist den Jugendlichen ganz offenbar die Divergenz zwischen medialem Schein und der Wirklichkeit vertraut; auch im Berufsorientierungsprozess selbst machen sie die Erfahrungen, dass Informationen zu einseitig und zu positiv dargestellt werden, bzw. aus den Textinformationen auf Homepages (oder auch Printmedien) nicht auf die damit beschriebene Alltagswirklichkeit in einem Studiengang oder Ausbildungsbetrieb geschlossen werden kann.

„Man weiß jetzt aber gar nicht, ob das so richtig gut ist. Also welche Seite die beste ist. (…) Ja. Und dass man da irgendwie reinfällt“(GD 13:16-20).

Mehrheitlich besteht die Auffassung, dass es zur Studien- und Berufsorientierung besser sei, durch Personen informiert zu werden, die von ihrer Tätigkeit und aus ihrem Berufsalltag berichten oder über ihre Ausbildung bzw. Studium erzählen.

„Ich finde, das hilft einem viel mehr als wenn man jetzt so vor dem Computer sitzt und der spuckt dann irgendwelche Ergebnisse aus“(GD 1:252-254).

Die Informationen aus dem Netz scheinen demgegenüber diffus und dekontextualisiert. Daher werden – neben den in Praktika gewonnenen persönlichen Erfahrungen – Einblicke in die Arbeits- und Studienwirklichkeit, die durch Dritte bezeugt werden, besonders geschätzt, wenn auch häufig vermisst.

„Ich finde auch, dass die Uni-Seiten, wo richtig die Uni vorgestellt wird, dass da auch mehr so zu jedem Studiengang sollte ma irgendwie ein Student das sagen, wie er das findet was so passiert. B: Das wäre gut“ (GD 13:71-73).

Erfahrungen aus der Arbeitswelt und Beispiele aus dem Berufs- und Studienalltag fehlen in den Studienprofilen häufig, so dass Informationen nicht nachvollzogen werden können.

Neutralität

Ein zweites wichtiges Kriterium zur Handlungsorientierung bei der Nutzung digitaler Medien ist die Neutralität der berufs- und studienwahlrelevanten Information. Ganz generell besteht zwar Interesse an den aktuellen Entwicklungen des regionalen Arbeits- und Ausbildungsmarktes, aber die Schüler_innen wünschen sich hierzu neutrale Informationen.

Ganz offenbar besitzen die Schüler_innen ein ausgeprägtes Gespür dafür, wenn Informationsangebote auch als Werbebotschaften zu dekodieren sind, d. h. es sich um intentional gesteuerte und damit auch selektive Informationsvermittlung handelt.

„Ich glaube, da wird auch viel aufgehübscht da (…) dass Vieles halt dann gestellt wird, dass es halt nicht wirklich () und ich denke, dass dann nur die schönen Seiten gezeigt werden und nicht unbedingt so das, was halt alltäglich ist und knallhart abläuft“ (GD 4:201-205).

Das gilt auch für das Online-Angebot der Bundesagentur für Arbeit. Dementsprechend werden institutionelle Vertreter_innen in Schulveranstaltungen zur Berufsorientierung und Gruppenberatungen auf ihre Neutralität hin hinterfragt. Artikuliert werden bestehende Zweifel an der Neutralität der Berater_innen dahingehend, dass in den Schulveranstaltungen und Gruppenberatungen der Bundesagentur für Arbeit die individuellen Interessen des Ratsuchenden nicht im Mittelpunkt stehen. Mit Blick auf die Informationsangebote in der Sekundarstufe Iwird der Eindruck thematisiert, bestimmte Berufe und Berufsfelder seien prioritär behandelt worden, andere nicht und das Angebot hätte sich zu stark an den als beschränkt wahrgenommenen Möglichkeiten des regionalen Arbeitsmarktes orientiert. In den Gruppendiskussionen lässt sich u.a. beobachten, dass eine positive Bewertung dieser Angebote diskursiv nicht durchsetzungsfähig ist. 

Interessanterweise wird dieses geforderte Objektivitätsgebot nicht in gleichem Maße an persönliche Erfahrungsberichte in Face-to-face-Kommunikationen herangetragen; es konzentriert sich vielmehr auf Text- und Videoformate. Offenbar bieten diese keine hinreichende Möglichkeit, Authentizität und Neutralität hinreichend zu prüfen, wie dies ersichtlich für direkte Kommunikation möglich zu sein scheint.

Individualität

Individualität der Information ist ein drittes zentrales Kriterium, an welchem die digitalen Informationen gemessen werden. Jegliche weitergehende Informationssuche in der Berufsorientierung erfolgt auf einem gegebenen Stand individueller Orientiertheit. Die Informationssuche folgt subjektiven, teils situationsspezifischen Präferenzmustern und zielt jeweils auf eine als „passend“ empfundene Informationen, die als Fortschritt, interessante Anregung etc. erfahren werden kann. Hier wird deutlich, wie wenig letztlich die Informationssuche von der Identitätsfindung innerhalb des Berufsorientierungsprozesses loszulösen ist. Der rein sachliche Informationsgehalt über Studiengänge oder Ausbildungsberufe stellt immer nur eine Ebene dar, die sich hauptsächlich auf individuelle Passung zu den wahrgenommen Fähigkeiten und Interessen bezieht. Die hohe Wertschätzung persönlich vermittelter Erfahrungen von Auszubildenden oder Studierenden ist hingegen eng mit Identitätsbildungsprozessen gekoppelt und erklärt das hohe Interesse am Einblick in das soziale Miteinander im Ausbildungsbetrieb oder an Hochschulen und den typischen Kommunikations- und Handlungsformen dort. Immer geht es um die Fragen: Passt das zu mir? Will ich auch dazugehören?

Mit antizipierten Interessen- und Fähigkeitsprofilen sind diese Überlegungen zwar eng verwoben, dennoch zeigt sich unabhängig davon, dass bei vielen Schüler_innen vor jedem spezifischen Interesse für ein Fachgebiet oder für einen Studiengang, oftmals eine apodiktische Entscheidung für oder gegen ein Hochschulstudium postuliert wird. Diese Entscheidungen sind teils bereits beim Wechsel von der Realschule auf das berufliche Gymnasium getroffen worden und werden in der Oberstufe weiterverfolgt. Von daher erschließt sich auch die zentrale Bedeutung der Authentizität und Neutralität der Informationsangebote. Von fremden (Be-)Wertungen und Vorselektionen befreit sollen sie nur Material liefern für Verarbeitungsprozesse, in denen nach subjektiven Kriterien Pläne entworfen und letztlich Entscheidungen getroffen werden, meist explizit mit dem Anspruch verbunden, durch „richtige“ Entscheidungen, Ausbildungs- oder Studienabbrüche zu vermeiden.

„Na ja, also ich hätte gerne eine richtig intensive Berufsberatung (…) ich hätte gern jemanden, der sich meinem Problem annimmt, weil das ist ja schon ein echt großes Problem (…). Und ich denke, das wäre der direkteste Weg und der hilfreichste“ (GD 5:129-135).

Besonders deutlich wird das Individualitätskriterium bei den angebotenen Interessen- oder Berufsorientierungstests, die sowohl online im Internet als auch durch die Bundesagentur für Arbeit oder in Schulen durchgeführt und in den Gruppendiskussionen häufig thematisiert werden, ohne dabei explizit zwischen Online- und offline-Interessenstest zu differenzieren. Die Erfahrungen mit Interessenstests haben eine langandauernde Wirkung und werden meist kritisch diskutiert.

„Ich hatte auch schon mal so einen Test gemacht, aber das war noch in der Mittelschule, aber da hab ich schlechte Erfahrungen damit gemacht (), ich sollte dann Maurerin werden –das ist doch ein bisschen abwegig gewesen, dass ich seit dem, also seit gut drei Jahren, sowas nicht mehr gemacht hab“ (GD 5:101-104).

Es ist interessant zu sehen, dass gerade die hohe Validität der Tests und der Anspruch der Wissenschaftlichkeit in den Testverfahren, die paradoxe Wirkung erzielt, dass die Test selten wiederholt werden, wenn die Ergebnisse als zur Person unpassend erlebt worden sind.

„Komischerweise kam bei mir immer Berufskraftfahrer raus und seitdem habe ich da ein bisschen Abstand von genommen“ (GD 4:120-121).

Die erzielten Ergebnisse der Interessentests werden in den Gruppendiskussionen auch insofern kritisch thematisiert, dass z.B. die dargebotenen Informationen dekontextualisiert erscheinen und Verknüpfungen von Interesse und Ergebnis der Tests in vereinfachender Weise vorgenommen werden

„Ich mag Tiere, will aber kein Tierarzt werden“ (GD 1:305).

Zum einen regen die Ergebnisse der Tests zu Reflexionen an, zum andere können Ergebnis mit den individuellen Präferenzen nicht in Einklang gebracht werden oder individuelle Präferenzen nicht erkannt werden.

„Weil einfach in jeder Spalte ‚geeignet‘ stand“ (GD 1:240).

Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen bereits, wie wenig von den genutzten Informationsangeboten auf Orientierungseffekte, Wissensakkumulation und Entscheidungsfindung geschlossen werden kann. Güte und Nützlichkeit aber auch die Limitierungen und Schwierigkeiten von Online-Angeboten werden an subjektiven Kriterien bzw. individuellen Voraussetzungen und Erfahrungen der Informationssuche gemessen.

4 Grenzen der Online-Berufsorientierung

Die Medienkompetenz von Schüler_innen im Berufsorientierungsprozess erfordert eine differenzierte Betrachtung.So wie Lesen nicht heißt, Buchstabenfolgen als Wörter und Sätze zu entziffern, sondern Textinhalte zu verstehen, so kann Medienkompetenz nicht auf das Einschalten des PCs und Aufrufen des Browsers reduziert werden. Aber anders als Lesen zu lernen, ist Informatik bis heute nicht deutschlandweit ein Pflichtfach in den allgemeinbildenden Schulen (ausgenommen Sachsen und Bayern). Kenntnisse von Programmiersprachen und der Umgang mit Software- und Internetanwendungen ist noch nicht in dem Maße Bestandteil des Allgemeinwissens, wie es der Branchenvertreter BITKOM angesichts steigender Bedeutung dieser Kompetenzen in Beruf und Alltag seit längerem fordert (vgl. BITKOM 2013b). Zwar gewinnt die Online-Informationssuche mehr und mehr Raum im Schulunterricht (vgl. Feierabend 2012), aber Schüler_innen aller Altersgruppen nutzen das Internet jedoch hauptsächlich zur Kommunikation (Chatten, E-Mail, Soziale Netzwerke) und zur Unterhaltung (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2012).

4.1 Vom Suchen und Finden

In den Gruppendiskussionen wird der Umgang mit den online verfügbaren Informationsangeboten vielfältig thematisiert. Besonders positiv wird meist implizit zum Ausdruck gebracht, dass das Internet eine leicht handhabbare, zielführende, d. h. den individuellen Informationsbedarf hinreichende Suche ermöglicht. Als Einstiegsportal für Informationen zu Studium und Beruf wird am häufigsten der Online-Auftritt der Bundesagentur für Arbeit genannt. Die Website verfügt über einen hohen Bekanntheitsgrad.

Online-Quellen genießen einen gewissen Vertrauensvorschuss hinsichtlich der Präzision und der Aktualität der Informationen.

„Ja also die Aufnahmeprüfung ist erst mal in Köln und von da aus kann man dann halt an jede Uni wo man dann Sport studieren kann. Und das war jetzt halt übers Internet. Da gibt es so ne Seite, da sind alle Schulen aufgelistet und Unis“ (GD 12:92-94).

Der Suchvorgang kann dabei sehr unterschiedlich vor sich gehen: zum einen werden gezielt Homepages von Universitäten und Fachhochschulen aufgerufen, ebenso jene von Unternehmen, zum anderen aber auch Informationsportale, welche einen Überblick über sämtliche Studiengänge oder Ausbildungsbereiche bieten.

„Und hätte ich jetzt das Internet zum Beispiel nicht genutzt, hätte ich zum Beispiel auch gar nicht erfahren, dass bei meinen Studienfächern auch Aufnahmeprüfungen dabei notwendig sind. (…) Sowas steht in dem Studienkompass einfach nicht drin. Deswegen nutze ich eigentlich das Internet vorrangig“ (GD 5:66-70).

Die Qualität des Studiums oder das Renommee einer Hochschule oder Universität sind zumindest für die Teilnehmer_innen an diesen Gruppendiskussionen keine relevanten Suchkriterien.

Ist insgesamt die Einschätzung des Internets als Informationsmedium sehr positiv, so gibt es jedoch auch eine nicht geringe Anzahl kritischer Thematisierungen, die allerdings nur zum Teil auf das Medium selbst zurückzuführen sind. In erster Linie bezieht sich die Kritik auf die Selektion der Informationsfülle, vor allem wenn Suchmaschinen genutzt werden und diese eine lange Trefferliste generieren.

„Aber das finde ich sowieso nervig, dass es da 100 verschiedene Internetseiten gibt. Da habe ich für mich noch nicht so die perfekte gefunden, die mir da so super Auskunft gibt und die mir da am übersichtlichsten erscheint“ (GD 6:407-409).

Auch Informationsportale werden als zu überladen wahrgenommen und es werden fachbereichsspezifische Überblicksseiten gewünscht.

„Also ich würd mir halt wünschen, dass es ne Internetseite gibt, die komplett oder wenigstens ne Internetseite, wo denn wenigstens ein Abteil ist wo man wirklich speziell nach pädagogischen und psychologischen Berufen suchen kann (GD 14:238-240).

Entsprechende Angebote werden online nicht gefunden. Dahinter steht die kaum zu durchdringende Vielzahl an möglichen Studiengängen der Hochschulen in Deutschland. Eines der bekanntesten Portale, www.hochschulkompass.de, erarbeitet und betreut von der Stiftung zur Förderung der Hochschulrektorenkonferenz, listet allein 9.642 grundständige Studiengänge auf (zusammen mit den weiterführenden sind es 17.454 unterschiedliche Studienangebote). Hier bildet das Internet die Angebotsfülle direkt ab. Zwar bieten Suchmasken und Filterfunktionen anders als vergleichbare Printmedien Möglichkeiten, die Suchanfragen zu präzisieren bzw. Suchergebnisse selektiv auszuwerten, die Grundproblematik der Unübersichtlichkeit bleibt aber bestehen. Viele Studiengänge haben bei unterschiedlicher Bezeichnung ähnliche Inhalte, die Differenzen liegen im Detail, zum Beispiel in den Kombinationsmöglichkeiten mit einer begrenzten Fächerauswahl, was von den Schüler_innen kritisch registriert wird. Offensichtlich orientiert sich die Suche sehr stark an den Bezeichnungen der Studiengänge bzw. deren Kurzbeschreibung, so dass wichtige Unterschiede nicht klar hervortreten. Die Verarbeitungsleistung medialer Informationen kann im Einzelfall nur mit Hilfe Dritter geleistet werden.

Suchmaschinen werden in den Gruppendiskussionen selten erwähnt. Welche Rolle einzelne Suchmaschinen wie Googleim Online-Informationsprozess spielen, wird insofern nicht deutlich, im Unterschied zu direkten Zugriffen auf Homepages und die Erfahrung damit. Zur erfolgreichen Suche ist eine Suchstrategie erforderlich, d. h. die Handhabung der Suchbegriffe oder die Auswahl der Art der gewünschten Informationen.

Also ich find´s auch irgendwie total den schlechten Weg einfach zu googeln. Ich google meinen Studiengang und find da, ja, da findet man halt nichts“ (GD 13:93-94).

Es kann jedoch auch nicht davon ausgegangen werden, dass unter den Schülern ein mehrheitlich geteiltes Wissen über Informationsportale existiert.Außer dem Online-Auftritt der Bundesagentur für Arbeit werden relativ wenige Portale direkt genannt. Häufig kann der Name der genutzten Internetseiten nicht erinnert werden. Dennoch stellt der Einstieg über Suchmaschinen eine Zugangsweise zum Online-Informationsangebot dar oder es wird darüber die Suche nach aus anderen Quellen gewonnenem Wissen fortgesetzt oder spezifiziert.

„Also ich hab in diesem Berufe-Buch nachgeguckt, aber ich weiß jetzt nicht wie das heißt. Und hab mir dann die Studienbezeichnungen angesehen und diese dann gegoogelt und dann halt geguckt, wo man das studieren kann und halt ja genau“ (GD 13:5-7).

Viele Schüler_innen in Mecklenburg-Vorpommerns antizipieren, für eine Ausbildung oder ein Studium die Region zu verlassen, weil entweder das gewünschte Studienfach regional nicht angeboten wird, oftmals jedoch ganz bewusst als Entscheidung für die Fremde oder unter dezidierter Abkehr von der regionalen Hochschullandschaft. Lassen sich die Studienangebote der Universitäten und Hochschulen online sehr gut recherchieren, gelingt es über Google kaum, einen ‚authentischen‘, bzw. hinreichend informativen Eindruck von den Universitätsstädten selbst zu gewinnen.

„Ich wüsste, wenn ich jetzt zum Beispiel nach Bayern gehen würde, wüsste ich gar nicht wo ich da anfangen soll zu gucken nach irgendwas. Auch Internet find ich da nicht so hilfreich“ (GD 13:86-87).

Hieran wird deutlich, dass unspezifische Informationsanfragen online nicht erfolgreich umgesetzt werden können. Suchmaschinen verlangen ein ‚Wissen-Wollen‘ buchstäblich auf den Begriff zu bringen. Zusätzlich von Bedeutung ist die gezielte Suche nach bestimmten Medienformaten: wird ein Eindruck von einer Universität oder Großstadt gewünscht, sind Textinformationen wenig aufschlussreich und es werden Videos oder interaktive Rundgänge über den Campus oder durch das städtische Zentrum gewünscht.

4.2 Social Media

Die interaktiven Potentiale des Web 2.0 werden zumindest auf Anbieterseite in immer stärkerem Ausmaß genutzt. Immer mehr Homepages sind mit Tags versehen, welche zur jeweiligen Präsenz in Facebook, Google+ oder anderen Sozialen Netzwerken führen, bzw. über die ein Besuch der Webseite auf der eigenen Profilseite sichtbar gemacht werden kann. Hochschulen, Unternehmen und teilweise auch öffentliche Arbeitgeber erweitern dadurch ihre Webpräsenz und ermöglichen es innerhalb der privaten Strukturen der Sozialen Netzwerke auch in Kommunikationen über berufs- und studienwahlrelevante Themen eingebunden zu werden. Gerade Facebook, gegenwärtig quasi Monopolist unter den Sozialen Netzwerken macht zumindest technisch einen umfangreichen Austausch von Informationen, hilfreichen Homepages oder Portalen sowie Veranstaltungshinweisen zwischen den Schüler_innen möglich. Die Nutzungsquoten von Facebook liegen in den entsprechenden Altersgruppen bei beiden Geschlechtern deutlich über 80%.

Umso erstaunlicher ist der Befund, dass bezogen auf die Studien- und Berufsorientierung offenbar nahezu keine Kommunikation über Soziale Netzwerke stattfindet. Was nicht heißt, dass Jugendliche dieses Thema nicht intensiv mit Freunden, Mitschüler_innen, Geschwistern und Eltern besprechen: sie tun es aber primär offline.

„Wenn dann, dann unterhalten wir uns darüber und die sagen dann, die und die Seite ist gut oder so. Aber es ist nicht so, dass die mir dann einfach mal so einen Link schicken“ (GD 6:358-360).

Gilt dieser Befund mit einzelnen Ausnahmen für die meisten Beteiligten an den Gruppendiskussionen, so legen die nur vereinzelten Thematisierungen folgende Erklärung dafür nahe. Facebook wird beinahe ausschließlich dazu genutzt, Nachrichten zu versenden und andere an den Aktivitäten teilhaben zu lassen. Durchgesetzt wird dabei die Norm der strikten Trennung zwischen persönlichen und privaten Informationen und der beruflichen Sphäre. Aufgrund der deutlichen Akzentuierung der Persönlichkeitsdarstellung und Freizeitausgestaltung weicht eine Thematisierung der Studien- und Berufswahl z.B. über Facebook von dieser Norm ab. .

„In sozialen Netzwerken macht man das ja eigentlich nicht so“ (GD 14:174).

Implizite Normen regulieren, wie in Peergroups und im Freundeskreis über die Berufsfindungsproblematik kommuniziert wird. Dabei werden auch Grenzen gezogen.

„Also ich glaube, es ist eher so ein kleines Tabuthema, wenn man sich jetzt noch nicht so richtig auf einen Zweig wenigstens festgelegt hat. (…) Also ich habe da Probleme damit. Wenn mich jemand fragt, was ich denn mal machen möchte und ich muss sagen, dass ich es noch nicht weiß, dann ist das für mich schon eher unangenehm“ (GD 5:240-245).

Die Schüler_innen untereinander informieren sich nicht über den jeweiligen Stand der Berufs- und Studienorientierung, es sei denn Mitschüler_innengehören zur Kategorie Freundin oder Freund. Es dominieren in der allgemeinen Wahrnehmung diejenigen, die bereits fest konturierte Berufswünsche äußern können. All jene, die diesbezüglich noch wesentlich uninformierter oder unsicherer sind, kommen eher in eine Position der diskursiven Unterlegenheit. Zu wissen, was man (beruflich) im Leben will, kann als Statusposition in der Oberstufe angesehen werden.

Das ist natürlich immer schöner, wenn man schon einen konkreten Plan hat, den man dann darlegen kann. Und ich denke, dass es auch genug von meinen Freunden gibt, die schon seit einem Jahr oder zwei auch oder schon seit der Kindheit wissen, was sie machen wollen. Dass man da halt ein bisschen abgestempelt wird“ (GD 5:252-255).

Unsicherheit und Orientierungslosigkeit wird demgegenüber als Schwäche erlebt, weshalb diese Thematik eher in vertraulichen Freundschafts- und Familienbeziehungen angesprochen wird. So zeigt sich, dass Soziale Netzwerke wie Facebook auch Plattformen des Identitätsmanagement sind (vgl. Goffman 2003), d. h. einer bewusst selektiven Enthüllung privater Informationen, orientiert am normativen Erwartungshorizont des potentiellen Publikums.

5 Fazit

Wie lässt sich die Nutzung des Internets im Rahmen der Berufsorientierung durch Jugendliche an Beruflichen Gymnasien insgesamt einschätzen? Den größten Nutzen bringen Online-Quellen bei der Suche nach Sachinformationen. Aus der Logik der Suchmaschinen ergibt sich: ohne Suchbegriff kein Ergebnis. Je präziser Suchbegriffe gehandhabt werden können, umso leichter sind Informationen auffindbar. Zumindest bei den älteren Schüler_innen ist das Internet konkurrenzlos das bevorzugte Medium, während bei jüngeren (11. Klasse und früher) Printmedien, wie die kostenlos verfügbaren Handbücher über Ausbildungsberufe und Studienmöglichkeiten, intensiv genutzt werden. Besonders bei dieser Altersgruppe wird deutlich, dass das Internet kaum zur Exploration möglicher beruflicher Entwicklungswege genutzt wird und bei fehlender Einweisung und Übung kaum sinnvoll genutzt werden kann. Das gilt in gleichem Umfang auch für online zugängliche Interessen- oder Eignungstests.

Das größte Potential besitzt das Internet in der Verknüpfung verschiedener Medienformate in einem Zugriff (Videos, Grafiken, Interessen- oder Eignungstests zusätzlich zu Textangeboten und Suchfunktionen). Ein exploratives Suchen wird so erleichtert. Für die Studien- und Berufsorientierung und die Entwicklung beruflicher Zukunftsentwürfe sind direkte Einblicke in den Arbeits- oder Studienalltag hoch bedeutsam und werden für einen emotionalen Zugang zur Berufswelt häufig unterschätzt.

Neben den Printmedien rangieren bei Schüler_innen der Vorabschlussklassen der Oberstufe Praktika und der Besuch von Bildungsmessen bzw. Angebote der Berufsberatung an erster Stelle. Digitale Medien fügen sich in die bestehende Informationslandschaft ein; es gibt keine Ansatzpunkte zu vermuten, dass eine Face-to-face-Unterstützung der Berufs- und Studienorientierung durch Online-Informationsquellen ersetzt werden kann. Neben den unbestreitbaren Vorteilen von Online-Informationen hinsichtlich ihrer Aktualität, Vollständigkeit und Differenziertheit werden klassische Printmedien ihre Bedeutung behalten. Zum einen, weil in den Schulen digitale Medien in der Berufs- und Studienorientierung im Unterricht (noch) wenig eingesetzt werden und didaktische Konzepte weitgehend fehlen. Zum anderen aber sicherlich auch, weil die SchülerInnen im Rahmen institutionalisierter Berufsorientierungsangebote in den Schulen und in der Bundesagentur für Arbeit mit Printmedien in Kontakt kommen. Empfohlen werden kann, das Training und die Unterstützung der Informationssuche in digitalen Medien weiter auszubauen.

In den Gruppendiskussionen wird deutlich, dass die Informationsfülle des Internets mit besseren Suchstrategien effektiver genutzt werden könnte. Defizite in der Medienkompetenz zeigen sich hier primär wenn auch nicht ausschließlich bei Schülern der 11. und 12. Klasse. Wer sich aus dieser Altersgruppe nicht bereits vor dem Wechsel auf das Berufliche Gymnasium intensiv über Ausbildungsberufe informiert hat, verfügt noch über kein oder wenig Wissen zur Arbeitswelt. Weitestgehend noch unbekannt ist auch der Bereich der akademischen Bildung. Für eine effektive Nutzung der zahlreichen Informationsmöglichkeiten im Internet ist dagegen ein gewisses Vorwissen, d. h. eine Vororientierung, unabdingbar. Insofern finden gegenwärtig alle Internet-Angebote der Berufsorientierung eine deutliche Beschränkung darin: wer ohne wenigstens in Ansätzen spezifizierte Vorstellung von einem passenden Ausbildungsberuf oder Studiengang online recherchiert, wird vergleichsweise wenig Informationen finden, die ihm oder ihr bei der Entdeckung oder Spezifizierung von Interessen und Fähigkeiten weiterhelfen. Berufsinteressentests im Internet stellen dann meist das einzige Angebot zur Orientierung dar, mit den oben beschriebenen ambivalenten Effekten. Die Initialzündung für einen Berufswunsch ist online also kaum zu finden. Umgekehrt kann aber auch festgestellt werden, dass digitale Medien Orientierungsschwierigkeiten weder erzeugen noch die Berufs- und Studienwahl signifikant erschweren.

Literatur

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Transnationale Mobilität in der beruflichen Erstausbildung – Beeinflussende Faktoren in der Phase der Berufsorientierung für eine grenzüberschreitende Mobilität

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1 Ausgangslage und Fragestellung

Im Übergang von der Schule in die berufliche Ausbildung und später von dort in die Arbeitswelt (erste und zweite Schwelle) haben die jungen Menschen Entscheide zu treffen, bei denen neben persönlichen Interessen, Stärken und Neigungen im Hinblick auf einen Wunschberuf bzw. Wunscharbeitsplatz auch ihre privaten Lebensplanungen bzgl. Lebens- und Arbeitsort abgewogen werden müssen. Insbesondere letztere spielen dabei eine wesentliche Rolle (Kalisch 2012, 228f.). Aktuell besteht wenig gesicherte Klarheit darüber, in wie weit Aspekte vorwiegend geographischer Mobilität in der Phase der Berufsorientierung von Jugendlichen in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Auch in bisherigen Modellen und Berufswahltheorien wurde der Aspekt der Mobilität zu beruflichen Ausbildungszwecken kaum berücksichtigt.

Die meisten Jugendlichen entscheiden sich für eine berufliche Ausbildung bzw. schulische Anschlusslösung im eigenen Land und trotz hoher Ausbildungsqualität eher selten für Möglichkeiten im Nachbarland. Dies trifft insbesondere auch für Jugendliche zu, die in unmittelbarer Grenznähe wohnen und für die der geographische Weg in einen Betrieb im Nachbarland nicht länger sein muss, als zu einem Ausbildungsbetrieb im eigenen Land.

In diesem Zusammenhang berichtet das Bundesinstitut für Berufsbildung BIBB in einer Pressemitteilung vom August 2014 von einer selber durchgeführten Betriebsbefragung. Demnach würden kleine und mittlere Unternehmen (KMU) ein großes Interesse am Thema „Ausbildungsmobilität“ zeigen. Sie schätzen die räumliche Mobilität von Jugendlichen als wichtig ein und sehen in der Rekrutierung von Auszubildenden aus entfernteren Regionen ein zunehmend an Bedeutung gewinnendes Instrument zur Deckung ihres Fachkräftebedarfs. 82.5 % von etwa 1'200 Befragten meinen, dass Mobilität in fünf Jahren ein wichtiges Instrument zur Fachkräftesicherung sein wird (BIBB 2014).

Weil zu erwarten ist, dass sich aufgrund demographischer Entwicklungen der Konkurrenzkampf zwischen Betrieben um Auszubildende verschärfen wird und sich deshalb der Suchradius nach Auszubildenden räumlich und in Grenzregionen auch grenzüberschreitend erweitern wird, ist es von Bedeutung, mehr über die Motive und Kriterien in Bezug auf (transnationale) Mobilität im Rahmen der Berufsorientierung von Jugendlichen mit Wohnsitz in Grenznähe zu wissen.

Es bestehen bereits jetzt in Europa und in der Schweiz Strategien, die Mobilität in der beruflichen Bildung auch international zu fördern. Eine Zielgruppe solcher Mobilitätsförderungsprojekte stellen Grenzpendler/-innen dar. Wie spezielle bilaterale Austauschprogramme sowie regionale Ausbildungs- und Arbeitsmarktprojekte aktuell zeigen, können Schulen und Unternehmen in Grenzregionen ein gemeinsames Interesse an Markttrends und Grundlagenwissen haben.

Grenzüberschreitende berufliche Erstausbildung bildete zwar bereits mit unterschiedlichen Interessensschwerpunkten den Inhalt von Untersuchungen. Dabei wurden allerdings die Jugendlichen nicht zur grenzüberschreitenden Mobilität und allfälligen Motiven dazu befragt (z.B. Hitzelsberger et al. 2002; Geppert 2004; Frommberger et al. 2005). Bisherige empirische Studien zur Thematik fokussieren vorwiegend auf beeinflussende Faktoren im Zusammenhang mit Berufspraktika im Ausland, die während einer beruflichen Ausbildung durchgeführt werden (z.B. WSF 2007; van Brakel et al. 2007; Friedel et al. 2003; Geppert/Schiffmann 2003) bzw. auf die Mobilität zwischen verschiedenen Bundesländern in Deutschland (z.B. Wolf et al. 2004; Schaade 2007; Kropp et al. 2007).

Betrachtet man die große und aktuelle Aufmerksamkeit sowie die hohen finanziellen Beiträge, die der Förderung beruflicher Mobilität ganz allgemein und insbesondere zu Lernzwecken in Europa zukommen, so stellt sich die folgende Frage, die in diesem Beitrag behandelt wird:

  • Welche personalen Faktoren von Jugendlichen haben einen Einfluss in der Phase der Berufsorientierung, sich für oder gegen eine berufliche Ausbildung im benachbarten Ausland zu entscheiden?

2 Theoretische Grundlage

Als theoretische Basis für die hier vorliegende Forschungsarbeit dienen das Rahmenmodell von Bußhoff (1989), das mehrere Berufswahltheorien aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Blickwinkeln zusammenfasst, das Modell von Ng et al. (2007) und die Korrelate zur Mobilität von Otto (2004) aus der Arbeits- und Organisationspsychologie sowie Modelle, die die Berufswahl in Phasen beschreiben (z.B. Herzog et al. 2006; Neuenschwander/Hartmann 2011).

In Anlehnung an Hirschi (2007) wird hier bei Faktoren, die den Berufsorientierungsprozess beeinflussend, zwischen Faktoren der Umwelt und Faktoren der Person unterschieden. Zu den Faktoren der Umwelt werden gezählt: Wirtschaftsbedingungen, gesellschaftliche Besonderheiten, Branchenunterschiede und die Personalpolitik in der Organisation (Ng et al. 2007) sowie Demographie, Kultur, Sprache, Bildungssystem, Erreichbarkeit, geographische Lage, soziales Umfeld etc.

In der Folge findet eine Fokussierung auf die Faktoren der Person und den Entscheidungsprozess statt. Dabei werden in Anlehnung an Hirschi (2007) und Ng et al. (2007) die drei Bereiche Personale Eigenschaften, Berufswahlkompetenz und Kenntnisse vertieft betrachtet. Diese prägen den eigentlichen Entscheidungsprozess wesentlich.

2.1 Faktoren der Person

2.1.1 Personale Eigenschaften

Physische und psychische Merkmale eines Menschen lassen sich kaum vollständig erfassen und beschreiben. Bestimmte personale Eigenschaften beeinflussen maßgeblich den Entscheid für einen Beruf bzw. für eine berufliche Ausbildung oder einen Ausbildungsbetrieb (Kalisch 2012, 224). In der Folge werden physische und psychische Merkmale sowie die Herkunft und intellektuellen Fähigkeiten vertieft betrachtet.

Körper und Alter

Das erste äußerlich erkennbare personale Eigenschaftsmerkmal ist der Körper eines Menschen. Körperbau und spezifische Merkmale wie Gesundheit, Beherrschung (Motorik) und Belastbarkeit (z.B. Wetterresistenz) prädestinieren eine Person für einen Beruf oder können einen bestimmten beruflichen Weg erschweren bzw. verhindern.

Im Hinblick auf das Mobilitätsverhalten haben Studien gezeigt, dass das Alter auf das Mobilitätsverhalten und –interesse einen Einfluss hat. Krewerth/Bökmann (2011) stellen beispielsweise fest, dass ältere Bewerber/-innen sich eher über Ausbildungsmöglichkeiten im Ausland informieren als jüngere. In der Befragung von Betriebsakteuren der Région Alsace (2010, 18f) zeigte sich, dass für sie Mobilitätsprogramme mit jungen Auszubildenden mit mehr Aufwand verbunden sind, weil das Publikum jung, nicht vollständig autonom und manchmal noch sehr unreif ist.

Offenheit, Haltungen

Ein wichtiges Merkmal, ob sich Jugendliche beruflicher transnationaler Mobilität zeigen oder sich dafür interessieren, hängt mit ihrer Offenheit gegenüber dem Ausland zusammen. So stellen z.B. Friedel et al. (2003) fest, dass Jugendliche, die Europa als Chance sehen, mobiler sind als solche, die das nicht ausgeprägt tun. Auch Otto (2004, 38) beschreibt in ihrer Untersuchung positive Zusammenhänge zwischen Offenheit für Erfahrungen, Ungewissheitstoleranz sowie Selbstwert und der Bereitschaft, geografisch mobil zu sein: Je stärker die Auszubildenden die wirtschaftliche Globalisierung befürworten, je höher ihre Unwissenheitstoleranz ausgeprägt war und je positiver sie die Einstellung des Umfelds zu geographischen Mobilität wahrnehmen, desto eher waren sie bereit, geographisch mobil zu sein.

Geschlecht

Verschiedene Untersuchungen zur Mobilität von jungen Erwachsenen innerhalb Deutschlands kommen zum Schluss, dass weibliche Jugendliche mobiler sind als ihre männlichen Kollegen (Wolf et al. 2004; Kotte/Stöckmann 2008; Kotte 2007; Kropp et al. 2007). Demgegenüber stehen die Ergebnisse anderer Studien, in denen sich junge Männer als bundeslandübergreifend mobiler erweisen (z.B. Kotte 2008; Otto 2004, 38) äußert nach der Berücksichtigung verschiedener Studien die Erwartung, dass Männer über eine höhere geographische Mobilitätsbereitschaft und Frauen über eine höhere berufliche Mobilitätsbereitschaft verfügen. Sie unterstreicht damit die Ambivalenz der Zusammenhänge zwischen den Geschlechtern und Mobilität, die auch Krewerth/Bökmann (2011) in Bezug auf Mobilitätsinteresse feststellen.

Intellektuelle Leistungsfähigkeit

In Bezug auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit hat sich in Studien im Zusammenhang mit beruflichen Auslandpraktika während der Ausbildung weitgehend einheitlich gezeigt, dass Jugendliche mit höheren Schulabschlüssen überproportional häufig daran teilnehmen (z.B. Friedrich/Körbel 2011; Friedel et al. 2003). Zudem informieren sich Jugendliche mit guten Schulnoten eher über Ausbildungsmöglichkeiten im Ausland als ihre Kolleg/-innen mit tiefen, wie Krewerth/Bökmann (2011) festgestellt und beschrieben haben.

Herkunft

Friedel et al. (2003) haben die Mobilitätsbereitschaft nach ausländischer bzw. deutscher Herkunft untersucht, aber dabei keinen relevanten Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen festgestellt. In der Studie von WSF (2007) wird aufgeführt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund, die an beruflichen Mobilitätsprojekten partizipieren, keine repräsentative Gruppe darstellen, da sie von ihrer Herkunft her, eher zu privilegierten Gruppen gehören. Dies wird als Erklärung beigezogen, weshalb es in der Studie zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund keine signifikanten Unterschiede im Hinblick auf die Teilnahme an Mobilitätsprojekten gibt.

2.1.2 Kenntnisse

In der Vorstellung, dass Entscheidungsprozesse vorwiegend rational ablaufen, sind solche an Kriterien, Alternativen und mit Strategien für einen Entscheid verbunden. Bußhoff (1989, 58) nennt diese Aspekte Entscheidungsprämissen. Sie bilden die Grundlage für Handlungspräferenzen und Realisierungserwartungen im Hinblick auf einen Berufswahlentscheid. Im Verlaufe des Berufsorientierungsprozesses werden schrittweise neue Kriterien berücksichtigt mit dem Ziel, eine möglichst große Passung zwischen Individuum, Beruf und Betrieb zu erreichen (Herzog et al. 2006). Damit alle diese prüfenden, vergleichenden und abschätzenden Prozesse durchlaufen werden können, müssen die Jugendlichen über Wissen verfügen. Dieses kann sowohl (berufs-)praktischer als auch theoretischer Natur sein. Dieses Wissen wird hier mit dem Begriff Kenntnisse bezeichnet und als immaterielles Gut gesehen, das durch ausgebildete Berufswahlkompetenzen (vgl. 2.1.3) beschafft, beurteilt, verglichen und eingeschätzt werden kann. Frommberger et al. (2005, 8) zeigen sich überzeugt, dass Menschen relativ wenig über Europa und die Nachbarländer wissen und im Rahmen ihrer Bildung- und Ausbildungswege sowie der beruflichen Biographie wenig Erfahrungen mit dem Ausland erwerben können. In diesem fehlenden Wissen sehen die Autoren u.a. eine Erklärung für die verhältnismäßig geringe Mobilität und Mobilitätsbereitschaft selbst in grenznahen Regionen.

2.1.3 Berufswahlkompetenz

Rosen & Schubiger (2013, 41) bezeichnen in Anlehnung an Weinert (2001, 27f) Kompetenzen als „Dispositionen, die Personen befähigen, bestimmte Arten von Problemen erfolgreich zu lösen. Sie sind auf komplexe Anforderungssituationen bzw. Aufgaben bezogen und umfassen kognitive, motivationale, volitionale und sozial-kommunikative Elemente.“ Diese Definition passt zur Vorstellung von Busshoff (1989), der davon ausgeht, dass im Zusammenspiel von individuellen Selbst- und Umweltkonzepten Problemlösungsmethoden reifen. Dies sind erlernte Handlungsfähigkeiten und emotionale Dispositionen, die im beruflichen Entscheidungsprozess angewendet werden.

In der Phase der Berufsorientierung und der Entscheidung für eine berufliche Ausbildung haben Berufswählende sechs Lern- und Entwicklungsaufgaben zu leisten (Egloff/Jungo 2009; Hirschi 2007) und müssen sich in den folgenden Bereichen entwickeln bzw. in diesen Kompetenzen erlangen: Ich-Bildung oder Persönlichkeitsbildung, Aufbau Selbstbild zur Erkennung persönlicher Entscheidungskriterien, Erkundung des Arbeits- und Berufsfelds, Zuordnung der Person zur Berufswelt, Entscheidung aufgrund von Vergleichen und Bewertungen sowie Realisierung durch Bewerbungsverhalten und Bewältigen von Widerständen und Konflikten. Berufswahlkompetent sind Jugendliche, die Strategien zur Beschaffung von Informationen über die Berufswelt und Ausbildungsmöglichkeiten anwenden und diese zur Analyse der persönlichen Situation einsetzen.

Zusammenfassend werden hier Berufswahlkompetenzen als die Fähigkeiten und Voraussetzungen gesehen, den Entscheidungsprozess (erfolgreich) zu durchlaufen.

2.2 Entscheidungsprozess

Im Prozess zu einer Berufswahlentscheidung geht es für Jugendliche also darum, die erlangten Berufswahlkompetenzen anzuwenden. So ist es für die Berufswahl Voraussetzung, die eigene Person in einen Berufskontext versetzen zu können und dabei eigene Stärken, persönliche Interessen und Werte erfüllt zu sehen. Zudem braucht es die Weitsicht, Einschätzungen über mögliche Situationen in der Zukunft und deren Auswirkungen auf die eigene Befindlichkeit und Kompetenzen tätigen zu können (Neuenschwander et al. 2012).

Es wird hier davon ausgegangen, dass der Berufsorientierungsprozess in der Regel nicht rein linear im Sinne einer eindeutigen Reihenfolge von Prozessschritten vom ersten Entscheid für einen Beruf bis zur eigentlichen Umsetzung verläuft. Er findet ihn Phasen statt, die durchaus mehrmals durchlaufen werden können, wenn z.B. Jugendliche Rückschläge zu verarbeiten haben bzw. sich neuorientieren (Herzog et al. 2006; Neuenschwander/Hartmann 2011). Es wird Herzog et al. (2005, 23) gefolgt, die sich ebenfalls überzeugt zeigen, dass Berufswahl von irrationalen Momenten geprägt und nach dem Zufallsprinzip erfolgen kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn keine Bemühungen unternommen werden, die eigene Interessen zu klären, erforderliche Informationen einzuholen, Alternativen abzuwägen, Risiken und Chancen zu prüfen und die Meinung anderer anzuhören.

Am Ende dieses Vergleichs- und Abwägungsprozesses steht idealerweise ein Entscheid für einen Beruf bzw. eine Ausbildungsstelle.

2.3 Zusammenfassung

Die Phase der Berufsorientierung und schließlich der Abschluss des Berufswahlentscheidungsprozesses werden von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Es handelt sich dabei um Faktoren der Umwelt (Wirtschaftsbedingungen, Kontakte, gesellschaftliche Besonderheiten, Branchenunterschiede, soziales Umfeld, Kultur, Sprache etc.) sowie Faktoren der Person. Bei letzteren handelt es sich um personale Eigenschaften wie Körper, Alter, Geschlecht, Offenheit, Haltungen, intellektuelle Leistungsfähigkeiten, Kenntnisse praktischer und theoretischer Natur, die als Grundlage für rationale Entscheide Voraussetzung sind und als immaterielles Gut betrachtet werden. Damit ist es erst möglich Berufswahlkompetenz anzuwenden und z.B. Strategien zur Informationsbeschaffung zu entwickeln, die der Analyse der persönlichen Situation sowie der Beschaffung von Wissen über die Berufswelt und Ausbildungsmöglichkeiten dienen. Die Berufswahlkompetenz wird als die weitgefasste Fähigkeit gesehen, den Berufsorientierungsprozess erfolgreich zu durchlaufen und abzuschließen. Dieser Entscheidungsprozess wird allerdings nicht ausschließlich durch rational ablaufende Entscheide charakterisiert. Der Berufswahlprozess kann von irrationalen Momenten geprägt sein und nach dem Zufallsprinzip erfolgen.

3 Mobilität und deren Förderung

Bevor weiter in die Thematik eingetaucht wird, erfolgt hier eine Begriffsklärung zu Mobilität. Mit dem Wechsel vom Schüler/-instatus in den Status des/der Auszubildenden vollziehen Jugendliche verschiedene Formen von Mobilität. Sie wechseln den sozialen Status vom Kind zum jungen Erwachsenen, was hier und aus Sicht der beruflichen Entwicklung als vertikale soziale Mobilitätsbewegung gesehen wird. Geographische Mobilität ist deshalb verlangt, weil die Jugendlichen in der Regel für Ausbildungsstelle und Berufsschule neue Wege in Kauf nehmen müssen. Dabei ist vorwiegend von regionaler Mobilität (einfach erreichbare Distanzen) auszugehen. Mit dem Ende der obligatorischen Schulzeit und dem Beginn einer beruflichen Ausbildung vollziehen die Jugendlichen also immer soziale Mobilität und in der Regel geographische Mobilität. Dies ist unabhängig davon, ob die Jugendlichen ihre berufliche Ausbildung im In- oder Ausland absolvieren. Den Spezialfall des Grenzpendelns (tägliche Rückkehr ins eigene Land) zu Ausbildungszwecken wird auch als transnationale Mobilität I bezeichnet (Krewerth/Bökmann, 2011).

Wie in der Beschreibung der Ausgangslage erwähnt, werden berufliche Mobilität und die Mobilität zu Lernzwecken sowohl von der Europäischen Union als auch von der Schweiz gefördert. So hat z.B. die Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2009, 2) ein Grünbuch mit dem Titel „Die Mobilität junger Menschen zu Lernzwecken fördern“ verabschiedet. Der Mobilität zu Lernzwecken werden von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2009, 3) positive Eigenschaften zugesprochen. Die Teilnehmenden an (internationalen) Mobilitätsaktivitäten erhalten u.a. Zugang zu neuem Wissen, können ihre Sprachkenntnisse erweitern und interkulturelle Kompetenzen erlangen. Ferner erhöht internationale Mobilität zu Lernzwecken die Verbreitung von Wissen, welches der Schlüssel zu Europas wissensgestützter Zukunft ist. Sie darf demnach nicht die Ausnahme sein, wie dies gegenwärtig der Fall ist. So fordert die Kommission, dass sie vielmehr ein fester Bestandteil der europäischen Identität und eine Chance sein sollte, die allen jungen Menschen in Europa offensteht.

Auch der Bundesrat der Schweiz [Anm. Regierung] sieht die Notwendigkeit, transnationale berufliche Ausbildungen in den Grenzregionen zu ermöglichen. So werden beispielsweise spezifische Programme unterstützt und angelegt, Stipendien vergeben und die Mobilität durch Austauschaktivitäten und –projekte gefördert (Bundesrat 2010).

4 Methode

4.1 Stichprobe und Datenerhebungen

In der Folge werden Daten aus Fragebogenerhebungen bei 50 Lehrpersonen (Deutschland (D)=19, Österreich (A)=7, Schweiz (CH)=24) und 622 Schüler/-innen (D=255, A=35, CH=332) aus der Bodenseeregion ausgewertet. Die Lehrpersonen unterrichteten die befragten Schüler/-innen. Die Datenerhebungen erfolgten 2011 bis 2013 in den Bundesländern Baden-Württemberg und Bayern (D), Vorarlberg (A) und in den Schweizer Grenzkantonen St. Gallen, Thurgau und Zürich. Die Jugendlichen wurden zweimal befragt. Die erste Befragung (t1) erfolgte ein Jahr vor Abschluss der Schulzeit, die zweite Befragung (t2) ein Jahr später kurz vor Ende der obligatorischen Schulzeit. Bei der ersten Datenerhebung hatten sich die Jugendlichen in der Schule mehrheitlich mit Aspekten der Berufsorientierung auseinander gesetzt. Zum zweiten Zeitpunkt stand für den größten Teil der Jugendlichen die Anschlusslösung an die Sekundarstufe I fest. Die Lehrpersonen wurden einmal befragt und zwar zum Zeitpunkt der zweiten Schüler/-innenbefragung.

In Ergänzung zu den quantitativen Schüler/-innendaten wurden 22 Interviews mit Jugendlichen (D=5, A=5, CH=12) durchgeführt, die kurz vor Abschluss ihrer obligatorischen Schulzeit standen. Im Zentrum standen jeweils beide Seiten der Grenzen Deutschland-Schweiz und Österreich-Schweiz. Auf eine Untersuchung der Grenze Deutschland-Österreich wurde verzichtet, weil für diese Arbeit vor allem die beiden typischen Übergänge für Grenzgänger im Bodenseeraum (D-CH; A-CH) interessieren und diese materiell exemplarisch für andere Grenzregionen behandelt werden.

Zudem wurden 28 freiwillige Lehrpersonen (D=12, A=5, CH=11) interviewt, die allesamt bereits in die Fragebogenerhebung einbezogen waren.

4.2 Beschreibung der quantitativen Instrumente

Fragebögen Jugendliche

Die für die vorliegende Untersuchung relevanten Fragen im Fragebogen wurden in allen Ländern grundsätzlich gleich aber begrifflich an die Länder adaptiert gestellt. Beispiele für solche Adaptionen sind die Auswahl des besuchten Schultyps oder die Aufzählung der Nachbarländer.

U.a. mussten die Jugendlichen die zwei folgenden Fragen einschätzen:

  • Ich kann mir sehr gut vorstellen, eine Lehre / schulische Ausbildung im benachbarten Ausland zu machen.
  • Ich werde mich auch im benachbarten Ausland nach einer Lehrstelle / einer weiterführenden Schule umsehen.

In einer weiteren Fragegruppe ging es um die Einschätzung und Nennung möglicher Hindernisse und Hemmnisse für eine berufliche oder schulische Ausbildung im benachbarten Ausland, auch wenn eine tägliche Heimkehr möglich wäre. Die Jugendlichen mussten im Hinblick auf die Faktoren der Person die folgenden sieben möglichen Hindernisse und Hemmnisse beurteilen:

  • Unbekannte Erwartung von Berufsschule: Ich weiß nicht, was eine Berufsschule / weiterführende Schule im benachbarten Ausland von mir erwartet.
  • Unbekannte Erwartung Ausbildungsbetrieb: Ich weiß nicht, was ein Lehrbetrieb im benachbarten Ausland von mir erwartet.
  • Familie & Freund/-innen: Ich möchte nicht zu weit weg von meiner Familie oder meinen Freunden arbeiten oder zur Schule gehen.
  • Unbekannte Umgebung: Ich würde mich in der unbekannten Umgebung nicht wohl fühlen.
  • Unterstützung: Ich weiß nicht, wer mir helfen könnte, eine Lehrstelle / weiterführende Schule im benachbarten Ausland zu suchen.
  • Weiter Weg: Ich wohne zu weit weg von der Grenze. Der Weg ist zu weit. 
  • Sprache/Dialekt: Ich verstehe den Dialekt nicht oder zu wenig gut.

Zudem konnte unter einem weiteren Punkt „Anderes“ eine individuelle Antwort abgegeben werden. Als Antwortkategorien standen bei allen bisher aufgeführten Fragen zur Verfügung: stimmt überhaupt nicht (1), stimmt eher nicht (2), stimmt (3), stimmt völlig (4), kann ich nicht beantworten.

Die aufgeführten Hindernisse und Hemmnisse begründen sich teilweise auf Erkenntnissen aus Studien z.B. von Wolf et al. (2004), Friedrich/Körbel (2011) und Friedel et al. (2003).

Weiter wurden die Jugendlichen gebeten, eine Einschätzung zur Qualität der beruflichen Ausbildung in den Nachbarländern im Vergleich zum eigenen Land abzugeben. Für jedes der Bodenseeländer (D/Fürstentum Liechtenstein (FL)/A/CH) musste eine Beurteilung erfolgen. Es wird hier nicht davon ausgegangen, dass diese Beurteilung von den Jugendlichen anhand weitgehend objektiver Kriterien erfolgte. Die Einschätzungen geben aber einen Eindruck, welches Bild die Jugendlichen von der Qualität der beruflichen Ausbildung im Nachbarland haben und ob dadurch Anreize geschaffen werden bzw. Hemmnisse bestehen.

Zudem wurden verschiedene Fragen zur Person und Lebenssituation gestellt, um allfällige Zusammenhänge zwischen persönlichen Verhältnissen und dem Verhalten in der Berufsorientierung herauszuarbeiten.

Fragebögen Lehrpersonen

Den Lehrpersonen wurde im Fragebogen u.a. die folgende Frage gestellt: „Welche Hindernisse oder Hemmnisse sehen Sie für eine Lehre/schulische Ausbildung im benachbarten Ausland (D/FL/A/CH), auch wenn die Schüler/-innen täglich nach Hause fahren könnten?“. Im Hinblick auf die Faktoren der Personen mussten die folgende Items eingeschätzt werden:

  • Unkenntnisse Beratungsangebote: Unkenntnisse über Unterstützungs- und Beratungsangebote für Lehrstellen / weiterführende Schule im benachbarten Ausland (D/FL/A/CH) zu suchen.
  • Unbekannte Erwartungen Berufsschule: Unbekannte Erwartungen von Berufsschulen / weiterführenden Schule im benachbarten Ausland (D/FL/A/CH)
  • Unbekannte Erwartungen Ausbildungsbetrieb: Unbekannte Erwartungen von Lehrbetrieben im benachbarten Ausland (D/FL/A/CH).
  • Geogr. Distanz zu Familie & Freund/-innen: Geographische Distanz zu Familie und Freund/-innen
  • Weiter Weg: Geographische Distanz zur Grenze. Der Weg ist zu weit
  • Unwohl in unbekannter Umgebung: Unwohlsein in unbekannter Umgebung
  • Sprache/Dialekt: Verständnisprobleme wegen unterschiedlichen Dialekten

Als Antwortkategorien standen ebenfalls zur Verfügung: stimmt überhaupt nicht (1), stimmt eher nicht (2), stimmt (3), stimmt völlig (4), kann ich nicht beantworten.

Interviews Jugendliche

Die Interviews mit den Jugendlichen erfolgten halbstandardisiert. Dabei war primäres Kriterium, dass die Jugendlichen noch keinen oder noch nicht lange einen Ausbildungsplatz in einer beruflichen Ausbildung hatten. Dabei war der angestrebte Beruf bzw. die gewünschte Ausbildungsbranche kein Auswahlkriterium. Die meisten Fragen wurden „offen“ gestellt, so dass die Interviewten Antworten oder Erklärungen mit ihren eigenen Worten formulieren konnten (Trautmann, 2010). Mit Hilfe von vier fiktiven Situationen (Stellenangebote im In- und Ausland) wurden Kriterien für oder gegen einen Entscheid zur beruflichen Ausbildung im direkt benachbarten Ausland erfragt.

Interviews Lehrpersonen

Die Befragung der Lehrpersonen erfolgte als standardisiertes Interview (Bortz/Döring 2009) nach einem exakten und verbindlichen Ablauf bzw. „Drehbuch“. Unter anderem wurden den Lehrer/-innen die folgenden Fragen gestellt: „Wie stehen Sie zur Möglichkeit, dass Jugendliche als Grenzgänger eine Berufsausbildung im Ausland absolvieren? Und wo sehen Sie gegebenenfalls Probleme?“

Auswertung

Bei der quantitativen Befragung der Jugendlichen wurden die folgenden Kriterien detailliert ausgewertet: Land (D, A, CH), Geschlecht, Leistungsniveau der besuchten Klasse und Fremdsprachigkeit. Die Daten der Fragebogenerhebungen wurden auf ihre Normalverteilung hin überprüft und anschließend mit deskriptiven Analysen und Verfahren der schließenden Statistik (T-Test und Varianzanalyse) ausgewertet. Bei der Analyse im Ländervergleich wurde die Bonferronikorrektur angewandt, womit die Signifikanzniveaus der Situation mit drei Paarvergleichen (D-A, D-CH, A-CH) angepasst werden konnte.

Die Auswertung der Interviewdaten orientierte sich am Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010). Demnach wird aufgrund der Theorie deduktiv ein Kategoriensystem entwickelt. Dieses wird mit neuen Kategorien ergänzt, die bei der Analyse des konkreten Datenmaterials als sinnvoll erachtet wurden (induktiv). Beispiele deduktiver Kategorien sind personale Faktoren wie Geschlecht, Alter, intellektuelle Leistungsfähigkeit, Fremdsprachigkeit. Induktive Kategorien sind z.B. fremd fühlen im Ausland, Respekt vor zusätzlichem Aufwand für Bewerbungen im Ausland.

5 Ergebnisse

In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der Untersuchungen vorgestellt. Dabei werden zuerst die von den Jugendlichen und Lehrpersonen im Rahmen der Fragebogenerhebungen eingeschätzten Hemmnisse und Hindernisse für eine berufliche Ausbildung im benachbarten Ausland vergleichend dargestellt. Die quantitativen Ergebnisse werden mit Resultaten aus der mündlichen Befragung ergänzt. Dabei wird ein Schwerpunkt auf Aspekte der personalen Faktoren gelegt, die in der Folge vertieft behandelt werden.

Abbildung 1 stellt einen Vergleich der verschiedenen Items dar, die die Jugendlichen als Hemmnisse und Hindernisse zu beurteilen hatten (vgl. Kapitel 7.2). Werte in den Zeilen t1 und t2 sind Mittelwerte. „n“ steht für die Anzahl Antwortende (n=t1/t2; ntotal=622).

Abbildung 1:  Jugendliche: Vergleich Hemmnisse und HindernisseAbbildung 1: Jugendliche: Vergleich Hemmnisse und Hindernisse

Der direkte Vergleich der verschiedenen Items verdeutlicht, dass die Unkenntnisse über die Erwartungen von Berufsschule und Ausbildungsbetrieb sowie die geographische Distanz zu Familie und Freund/-innen die einzigen drei Bereiche darstellen, die von mehr als der Hälfte der befragten Jugendlichen als Hemmnis bzw. Hindernis erkannt werden. Das Dialektverständnis stellt die kleinste Hürde für eine Ausbildung im Ausland dar. Die Inhalte der anderen Items sind für die Mehrheit der Befragten keine relevanten Hemmnisse bzw. Hindernisse.

Die zweite Abbildung (Abbildung 2) stellt die Ergebnisse der Lehrpersonenbefragung vergleichend dar. Es wurden insgesamt 50 Lehrpersonen befragt.

Abbildung 2:  Lehrpersonen: Vergleich Hemmnisse und Hindernisse (nD=19, nA=7, nCH=24)Abbildung 2: Lehrpersonen: Vergleich Hemmnisse und Hindernisse (nD=19, nA=7, nCH=24)

Auch die Lehrpersonen schätzen mit hohen Werten die unbekannten Erwartungen von Berufsschule und Ausbildungsbetrieben als hemmend und hinderlich ein. Dazu kommt allerdings mit den höchsten Werten die Einschätzung zum Item Unkenntnisse Beratungsangebote (z.B. Berufsberatung). Weitere Items, die von der Mehrheit der Lehrpersonen als hemmend eingeschätzt wurden sind geographische Distanz zu Familie & Freund/-innen sowie weiter Weg.

Kenntnisse

Die Ergebnisse der beiden Fragebogenerhebungen bei den Jugendlichen zeigen, dass die unbekannten Erwartungen von Berufsschule und unbekannten Erwartungen von Lehrbetrieben als die beiden größten Hemmnisse im Hinblick auf eine transnationale berufliche bzw. schulische Ausbildung gesehen werden. Diese beiden Aspekte werden auch von den Lehrpersonen als wichtige Hemmnisse erkannt. So belegen die unbekannten Erwartungen der Berufsschule und der Ausbildungsbetriebe hinter den Unkenntnissen über Beratungs- und Unterstützungsangeboten die Plätze zwei und drei der abgefragten möglichen Hemmnissen und Hindernissen für eine berufliche bzw. schulische Ausbildung im Ausland.

Nicht nur über mögliche Erwartungen an die Jugendlichen seitens der Betriebe und Berufsschulen bestehen Unkenntnisse. Auch über den Ablauf von Ausbildungen im benachbarten Ausland wissen die meisten Jugendlichen und Lehrpersonen wenig. So geben in beiden Befragungen 10% (t1 und t2) der Jugendlichen und 11% der Lehrpersonen im positiven Bereich an, viel über die berufliche bzw. schulische Ausbildungen im benachbarten Ausland zu wissen.

In den Interviews präzisieren die Lehrpersonen, dass im Zeitmangel ein Grund darin liegt, sich vertieft mit dem Ausland und dessen (Berufs-)Bildungssystemen auseinanderzusetzen. Es wird als anspruchsvoll genug erachtet, im eigenen Land den Überblick über Entwicklungen im Angebot der beruflichen Ausbildung und weiterführenden Schulen zu behalten. Drei mündlich befragte Lehrpersonen stellen fest, dass Möglichkeiten von Ausbildungen im Ausland bei Jugendlichen und Erwachsenen zu wenig bzw. nicht bekannt seien. Wäre mehr Wissen zu diesem Thema vorhanden, könnte es den Schüler/-innen von Lehrpersonen, Eltern und Betrieben näher gebracht werden. Konkret nennen weitere Lehrpersonen Wissenslücken zu Berufsausbildungssystem, Ausbildungsstellensituation, weiterführenden Schulen und rechtlichen Gegebenheiten im Ausland.

In den Interviews mit den Jugendlichen zeigte sich, dass es fast allen Befragten an Kenntnissen bzw. genügend Informationen mangelt, um ihre persönlichen Entscheidungskriterien auf die Passung möglicher Angebote hin zu überprüfen. So erklären auch die meisten Interviewpartner/-innen, dass sie nichts über die berufliche Ausbildung im direkt benachbarten Land wüssten. Die Jugendlichen wussten aber um Differenzen zwischen den Schulsystemen und nennen folgende Unterschiede zwischen den Ländern: Schulnotensystem, unterschiedliche Entschädigung während und nach der Ausbildung, Dauer der Arbeitszeiten, Blockunterricht statt wöchentlicher Unterricht in der Berufsschule etc. Weiter nennen die Jugendlichen folgenden Bereiche, in denen ihnen Informationen und Kenntnisse fehlen: Erwartungen von Betrieben und Berufsschulen, Unkenntnisse über Berufsbilder, Bewerbungsverfahren, Örtlichkeiten sowie Dauer, Ablauf und Durchführung von beruflichen Ausbildungen. und keine eigenen Erfahrungen mit Praktika.

Alter, Reife, Kompetenz und Erfahrung

Die mündlich befragten Jugendlichen und Lehrpersonen bezeichnen das jugendliche Alter als Hinderungsgrund für eine Ausbildung im benachbarten Ausland. Damit verbunden wurden Aspekte wie mangelnde Reife, enge Bindungen an Familie und Freunde, eingeschränkte Mobilitätsmöglichkeiten (z.B. Autofahren) sowie intellektuelle Fähigkeiten. Diese Sichtweise wird durch das Ergebnis der schriftlichen Befragung der Jugendlichen gestützt. Die geographische Distanz zu Familie und Freund/-innen erweist sich in der Befragung als drittgrößtes Hemmnisse für eine Ausbildung im benachbarten Ausland.

Bei guten Schüler/-innen können sich die interviewten Lehrpersonen vorstellen, dass sie eine Ausbildung im benachbarten Ausland machen können, bei schwächeren weniger. Selbständigkeit und die Voraussetzung, sich von zu Hause „abnabeln“ zu können, werden dabei als wichtige Grundbedingungen gesehen.

Unbekannte Erwartungen und Wohlfühlen in unbekannter Umgebung

Bei der Auswertung des Items „Ich würde mich in der unbekannten Umgebung nicht wohl fühlen.“ zeigt sich, dass die unbekannte Umgebung für knapp mehr als die Hälfte der Jugendlichen kein bedeutendes Hindernis oder Hemmnis für eine Ausbildung im benachbarten Ausland darstellt;. Die fremdsprachigen Jugendlichen (MWt1=2.62; MWt2=2.64) gewichten die unbekannte Umgebung signifikant als größeres Hemmnis bzw. Hindernis als ihre deutschsprachigen Kolleg/-innen (MWt1=2.36, , MWt2=2.33; pt1=.014; pt2=.007).

In den Interviews sprechen die Jugendlichen von Heimatgefühlen und –verbundenheit, die sie daran hindern würden, im Ausland eine berufliche Ausbildung anzustreben. Das eigene Land gibt ihnen Sicherheit, denn sie sind sich an die bekannten Verhältnisse gewohnt. Zudem befürchten einzelne Befragte, sie würden im Nachbarland als Ausländer verstoßen werden. Hingegen zeigen sich auch mehrere Jugendliche gegenüber einer Ausbildung im Ausland aufgeschlossen.

Berufswahlkompetenz

Um einen Berufswahlentscheid im Zusammenhang mit transnationaler Mobilität fällen zu können, müssen die Jugendlichen die Qualität der beruflichen Ausbildung im benachbarten Ausland beurteilen können. Im Ländervergleich zeigt sich, dass die deutliche Mehrheit (ca. 85%) der Jugendlichen in allen Ländern der Überzeugung ist, ihr Land biete eine vergleichbar gute oder (eher) bessere berufliche Ausbildung als die Nachbarländer.

Ein ähnliches Bild zeigen die Befragungen der Lehrpersonen. Auch bei ihnen lässt sich zusammenfassend sagen, dass der größte Teil (ca. 90%) der Meinung ist, die berufliche Ausbildung im eigenen Land sei gleich gut oder (eher) besser als in den Nachbarländern.

Mehrere Jugendliche erklärten in den Interviews, dass sie im Ausland eine Alternative bzw. Lösung sehen, wenn sie im eigenen Land keinen Ausbildungsplatz erhalten oder diese vergleichsweise mehr Sinn macht als eine Ausbildung in der Heimat. Zudem nennen Jugendliche in den Interviews als hemmende Gründe: Faulheit, Unklarheit über die berufliche Zukunft bzw. geringe Attraktivität beruflicher Ausbildungen und der Eindruck im eigenen Land sei es einfach besser.

In den Interviews wird von Lehrpersonen im Hinblick auf Berufswahlkompetenz und transnationale Mobilität mehrfach die Metapher „Grenzen im Kopf“ bzw. „Grenze im eigenen Denken“ gebraucht. Obwohl die zwischenstaatlichen Grenzen im Bodenseeraum faktisch offen seien, bleibe der Fokus der Beteiligten auf Ausbildungsmöglichkeiten im eigenen Land. Diese Feststellung wird im Zusammenhang mit Grenzgebieten mit besonders offenen, grenzdurchlässigen bzw. besonderen geographischen Verhältnissen (z.B. Enklaven) anders gesehen. Vereinzelte Lehrpersonen erzählen von ihren Beobachtungen in solchen Gebieten, dass eine Entwicklung in Richtung Öffnung und Abbau von Vorbehalten geht.

Entscheidungsprozess und transnationale Mobilität

Insgesamt können sich rund zwei Fünftel („stimmt völlig / stimmt eher“; t1=41%, t2=39%) der befragten Jugendlichen vorstellen, im Ausland eine Ausbildung zu machen. Die weiblichen Jugendlichen (MWt1=2.45; MWt2=2.33) zeigen dabei eine signifikant höhere Bereitschaft (pt1=.000; pt2=.001) als ihre männlichen Kollegen (MWt1=2.16; MWt2=2.06). Ein signifikanter Unterschied besteht auch im Ländervergleich zwischen Jugendlichen aus Österreich (pA-CH-t1=.004, pA-CH-t2=.004) sowie Deutschland (pD-CH-t1=.001) im Vergleich zu ihren Kolleg/-innen aus der Schweiz zu. Die Schweizer/-innen können sich weniger häufig vorstellen, eine Ausbildung im benachbarten Ausland zu machen.

Etwa ein Fünftel der Jugendlichen gibt an, sich im benachbarten Ausland nach einer Ausbildungsstelle oder einer weiterführenden Schule umzusehen („stimmt völlig / stimmt eher“; t1=20%, t2=12%). Signifikant unterscheiden sich die deutschen und die schweizerischen Jugendlichen im Ländervergleich (pD-CH-t1=.001; pD-CH-t2=.008). Wiederum zeigen die Befragten aus Deutschland eine größere Bereitschaft, sich im Ausland nach einer beruflichen Ausbildungsstelle bzw. weiterführenden Schule umzusehen (MWD-t1= 1.98; MWD-t2= 1.65), als jene aus der Schweiz (MWCH-t1= 1.72; MWD-t2= 1.47).

Im Zusammenhang mit dem Berufsorientierungsprozess und transnationaler Mobilität interessiert, ob die Jugendlichen im Ausland eine „Schnupperlehre“, bzw. ein berufliches Praktikum absolviert haben. Vier deutsche Jugendliche stimmten dem zu. Zwei davon schnupperten in der Schweiz, je eine Person in Österreich und Frankreich. Von 29 Schweizer/-innen absolvierten zwei in Deutschland und 27 in Liechtenstein ein berufliches Praktikum. Eine Person aus Österreich hat in der Schweiz „geschnuppert“.

Nach der Vorstellung, eine Ausbildung im Ausland absolvieren zu können, der Absicht sich dort danach umzusehen und ein Praktikum zu absolvieren, ist es von Interesse, ob sich denn Jugendliche aus der Stichprobe im Ausland beworben haben. Von allen Befragten haben sich insgesamt 25 Jugendliche – alles Schweizer/-innen – auf eine berufliche Ausbildung im Ausland beworben. 24 davon wohnen grenznah zu Liechtenstein und haben sich dorthin um eine Ausbildung bemüht. Eine Jugendliche bewarb sich in Deutschland auf eine Ausbildungsstelle. Schließlich haben sieben männliche Jugendliche eine Ausbildungsstelle in Liechtenstein gefunden. Sechs Jugendliche absolvieren eine Ausbildung im technisch-mechanischen Bereich und einer in der Lebensmittelbranche.

Bei der Befragung der Lehrpersonen zeigen sich vergleichbare Ergebnisse wie bei den Jugendlichen. In Deutschland (MWD=3.72) und Österreich (MWA=3.83) können sich alle Lehrpersonen vorstellen, dass ihre Schüler/-innen im Ausland eine berufliche Ausbildung absolvieren. In der Schweiz liegt dieser Wert bei zwei Dritteln (MWCH=2.82). Bei der Frage, ob sich ihre Schüler/-innen nach einer Ausbildungsstelle oder einer weiterführenden Schule im Ausland umsehen, ist der Anteil in Deutschland (MWD=1.69) und der Schweiz (MWCH=1.71) deutlich kleiner. In Österreich – mit einer kleinen Stichprobe – liegt dieser Wert etwas höher (MWA=2.60). In den Interviews erkennt es eine deutsche Lehrperson als förderlich für berufliche Praktika, wenn bereits Verwandte im Nachbarland arbeiten.

6 Diskussion

In der abschließenden Diskussion wird betrachtet, welche Faktoren der Person in der Phase der Berufsorientierung Einfluss auf den Entscheid im Hinblick auf geographische Mobilität haben.

Kenntnisse

Die Untersuchungsergebnisse zeigen auf, dass eine berufliche Ausbildung im Ausland derzeit nur für eine kleine Minderheit von Jugendlichen im Grenzgebiet eine zu prüfende und zu verwirklichende Option darstellt. Somit bestätigt die vorliegende Untersuchung Ergebnisse von früheren Studien mit ähnlichen Themen. Zu stark beeinflussen von den Jugendlichen vermutete hemmende und hindernde Faktoren sowie auch Unkenntnisse über Möglichkeiten den Entscheidungsprozess. Zudem sind bei den Jugendlichen und Lehrpersonen zu wenig Kenntnisse zu Aspekten transnationaler Mobilität festzustellen. Woher das fehlende Wissen kommt bzw. das nötige Wissen eben nicht kommt, lässt sich nicht einfach lokalisieren. Es ist aber erkennbar, dass der Weg zu einer beruflichen Ausbildung im Ausland zu wenig häufig gewählt wird, um eine größere Menge von Beteiligten mit der Thematik zu konfrontieren und dadurch auf einen bedarfsgerechten Informationsstand zu bringen. Soll der Kenntnisstand erhöht werden, so sind Anstrengungen nötig. Einerseits müssen Informationen von Fakten gut zugänglich sein und allenfalls gezielt bei möglichen Akteuren verbreitet werden. Andererseits sollen auch im Bereich persönlicher und praktischer Erfahrungen Möglichkeiten und Angebote geschaffen werden. Doch wird hier die Meinung vertreten, dass reines Faktenwissen ergänzt mit Erfahrungen vermutlich nicht reichen, um deutlich mehr Jugendliche im Ausland eine berufliche Ausbildung zu bringen. Vielmehr nehmen auch schwer definierbare bzw. erkennbare Emotionen und Werthaltungen sowie das soziale Umfeld einen wichtigen und hemmenden Einfluss.

Alter und damit verbundene Einschränkungen der Mobilität

Als wichtiger personaler Einflussfaktor hat sich in der Untersuchung das jugendliche Alter (ca. 15 – 16 Jahre) der Befragten herausgestellt. Damit verbunden ist in der Regel eine enge Bindung an familiäre Bezugspersonen, was sich alleine schon durch die vorherrschende Wohnsituation bei den Eltern ausdrückt. Bis auf wenige Ausnahmen wohnen alle befragten Jugendlichen zu Hause. Somit steht die Ablösung bzw. der Schritt in die vollständige Selbständigkeit erst noch an. Mit dem Alter verbunden ist zudem das Fehlen von vertieften und selbständig erlangten Alltagserfahrungen im Ausland. Das Nachbarland wird auch in Grenznähe vorzugsweise im Familienkontext oder in der Freizeit und damit in ganz anderen Tätigkeiten als im Zusammenhang mit beruflicher Arbeit und Ausbildung besucht. Zudem sind die Jugendlichen in der Regel noch nicht volljährig und können über ihren beruflichen Weg rechtlich nicht selbständig entscheiden. Sie sind somit auch auf dieser Ebene an das Elternhaus gebunden. Auch in ihrer individuellen Mobilität (z.B. Autofahren) sind die Jugendlichen eingeschränkt. Dieser Nachteil ließe sich aber durch günstige Bedingungen bzw. einen ideal gelegenen Standort des Betriebs kompensieren. An dieser Stelle wird aber angezweifelt, ob Jugendliche der Sekundarstufe I auch unter angepassten und optimierten Rahmenbedingungen für eine berufliche Erstausbildung ins Ausland gehen würden. Eine Ausnahme bildet dabei vermutlich die Grenze zwischen der Schweiz und Liechtenstein, die für Jugendliche auf beiden Seiten des trennenden Rheins sehr durchlässig und eine Ausbildungsstelle im Nachbarland unkompliziert zu erhalten ist.

Berufswahlkompetenz und Umsetzung transnationaler Mobilität

Wie bereits beschrieben, brauchen Jugendliche entsprechende Berufswahlkompetenzen, um sich für eine berufliche Ausbildung im Ausland entscheiden zu können. Die Anforderungen an diese Kompetenz sind im Zusammenhang mit transnationaler Mobilität wesentlich höher als im eigenen Land. Es gilt zusätzliche Entscheidungskriterien (z.B. Arbeitsweg über die Grenze, unbekannte Bildungssysteme und soziales Umfeld) einzubeziehen. Um solche Kompetenzen aufbauen zu können, brauchen die Berufswählenden neben reinem Faktenwissen Erfahrungen und entsprechende persönliche Reife (Busshoff, 1989). Mit diesen Komponenten wird das Selbstbild geprägt, das einen entscheidenden Faktor im Zusammenhang mit der Berufswahlkompetenz darstellt. Zudem sollte den Jugendlichen für den Berufswahlkompetenzaufbau ein Feld eröffnet werden, in dem sie persönlich abwägen können, ob sie sich für oder gegen eine Ausbildung im Ausland entscheiden wollen. Es sollen ihnen verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt bzw. von ihnen ergründet werden können. Dies braucht Hinweise und Unterstützung aus der Erwachsenenwelt (Eltern, Lehrpersonen, Betriebsakteure, professionelle Beratungsangebote), denn ohne Hilfe können Jugendliche den Aufbau einer ausgeprägten Berufswahlkompetenz kaum leisten. Ist es seitens der Politik ein ernsthaftes Anliegen, die bestehenden strategischen Mobilitätsziele auch im Bereich der transnationalen beruflichen Erstausbildung zu erreichen, so steht auch sie in der Pflicht.

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„Ich muss mich noch informieren (lassen).“ Berufsorientierungsprozesse im Zusammenspiel von individuellem Handeln und institutioneller Unterstützung

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1 Einleitung

Nach wie vor spielt die Entscheidung für einen Beruf oder einen Tätigkeitsbereich eine wichtige Rolle in der Biographie junger Menschen. Über das Erwerbsleben werden für die Mehrheit der Bevölkerung Status sowie gesellschaftliche Teilhabe gesichert. Insofern hat eine getroffene Berufswahl oftmals langfristige und nicht selten lebenslange Konsequenzen. Sie hat eine identitätsstiftende Funktion und bestimmt mit über materielle Sicherheit und soziales Prestige. Damit erweist sich die Entscheidung darüber, welchen weiteren Bildungs- und Berufsweg Jugendliche einschlagen wollen, als eine zentrale Anforderung des Jugendalters. Dabei treffen junge Menschen auf eine komplexer gewordene Ausbildungs- und Arbeitswelt. Sie stehen einer schier unübersichtlichen Anzahl beruflicher Optionen und möglicher Zugangswege gegenüber. Zugleich unterliegen die Bildungswege einer gewachsenen Ausdifferenzierung. Auszeiten, Zwischenschritte und Umorientierungen werden zunehmend zur Normalität (Lex/Zimmermann 2011; Walther 2013; Stauber/Walther 2002).

Aus der Sicht der Jugendlichen lassen sich die Konsequenzen einer getroffenen Berufswahlentscheidung immer weniger absehen. Trotz der sich ändernden Rahmenbedingungen wird ihnen jedoch ein größeres Maß an Eigenverantwortlichkeit im Prozess der beruflichen Zukunftsplanung abverlangt. „Verschiedene Berufswahltheorien betonen, dass die Informationsgewinnung in einer sich vielfältig und rasch verändernden Arbeitswelt eine große Herausforderung für die Jugendlichen darstellt. Um zwischen ihren individuellen Voraussetzungen und der Vielfalt von Berufen und postobligatorischen Ausbildungsmöglichkeiten Entsprechungen erkennen zu können, sind die Jugendlichen sowohl auf personale wie auf soziale Ressourcen angewiesen“ (Wannack/Herzog/Neuenschwander 2005, 1).

Ob der gestiegenen Anforderungen bei der Planung des Ausbildungs- und Erwerbsweges ist das Thema der Berufsorientierung in den letzten Jahren ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt (Brüggemann/Rahn 2013; Mahl/Lippegaus-Grünau/Stolz 2010). Zum einen hat es in der praktischen Umsetzung von Prozessen der Berufsorientierung eine Reihe vielfältiger Entwicklungen gegeben. Es wurden beispielsweise Programme ins Leben gerufen, die insbesondere Schülerinnen und Schüler mit schlechteren Startchancen in diesem Prozess unterstützen sollen. Somit wird Berufsorientierung auch zu einer zentralen Aufgabe von Schulen und professionellen Akteuren[1]. Zum anderen hat auch die theoretische Auseinandersetzung mit Berufsorientierungsprozessen einen Aufschwung genommen (Hirschi 2013; Beinke 2012; Beinke 2013).

Analog zu jüngeren, am Agency-Konzept orientierten, Übergangstheorien (Schröer et al. 2013; Pohl/Stauber/Walther 2011; Furlong 2013) kann auch für die Prozesse der beruflichen Zukunftsgestaltung ein Verständnis von Jugendlichen als Akteure ihrer eigenen Berufsbiografie beobachtet werden, die im Rahmen struktureller Gegebenheiten und unter Einbindung externer Akteure unterschiedliche Entscheidungen treffen. Der vorliegende Beitrag möchte die Forschungslücke schließen helfen, die sich in der Verschränkung von selbstinitiierten und selbstbestimmten mit durch institutionelle, professionelle Akteure unterstützten Berufsorientierungsprozessen beobachten lässt. Auf der Basis einer qualitativen Längsschnittstudie sollen Berufsorientierungsprozesse sowie die tatsächlichen beruflichen Bildungs- und Ausbildungswege betrachtet werden, wobei die Wechselwirkungen von individuellem Handeln und institutionellen Einflüssen aus Sicht der Jugendlichen in den Blick genommen werden.

2 Hintergrund

Empirische Befunde haben gezeigt, dass das Vorhandensein beruflicher Zukunftsperspektiven sowie konkreter Berufswünsche am Ende der Schulzeit einen längerfristig wirkenden Einfluss auf den weiteren Bildungs- und Ausbildungsverlauf von Jugendlichen hat. So haben Schulabsolventinnen und -absolventen mit Hauptschulbildung ohne konkrete Berufswünsche oder berufliche Zukunftspläne ein deutlich größeres Risiko in prekäre Übergangsverläufe zu geraten (Gaupp et al. 2011). Dies unterstreicht noch einmal die wichtige Rolle beruflicher Orientierung. Allerdings ist festzustellen, dass trotz der gestiegenen Aufmerksamkeit, die Berufsorientierungsprozesse auch in theoretischen Auseinandersetzungen erfahren haben, sich kaum ein einheitliches Verständnis von beruflicher Orientierung ausmachen lässt. Zumeist werden jedoch beide Seiten, die der Jugendlichen und die der Arbeitswelt, in den Blick genommen, so auch in folgender Bestimmung: „Berufsorientierung lässt sich definieren als ein lebenslanger Prozess der Annäherung und Abstimmung zwischen Interessen, Wünschen, Wissen und Können des Individuums auf der einen und den Möglichkeiten, Bedarfen und Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt auf der anderen Seite“ (Butz/Deeken 2014, 101).

In der theoretischen Debatte um Berufsorientierungsprozesse wird das Verhältnis zwischen individuell bestimmten Entscheidungen und gesellschaftlich-strukturell bestimmten Einflussfaktoren (u. a. Ressourcenausstattung oder arbeitsmarktliche Rahmenbedingungen) immer wieder ausgelotet (Oechsle et al. 2009; Schober 1997). Dabei finden sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen (Müller 2009). So konzentrieren sich entwicklungspsychologisch ausgerichtete Ansätze auf die individuellen Interessen sowie die Ausprägung bzw. Entwicklung von Fähigkeiten, Bedürfnissen oder das Selbstkonzept. Soziologische Ansätze betonen die soziostrukturellen Faktoren (z. B. Geschlecht, soziale und ethnische Herkunft), die Berufsorientierungs- und Bildungsprozesse beeinflussen. Eine dritte – makrosoziologische – Ausrichtung sieht berufliche Orientierungsprozesse insbesondere durch die äußeren Rahmenbedingungen – v. a. des Arbeitsmarktes – geprägt. Ebenfalls finden sich Richtungen, die diese Ansätze miteinander zu kombinieren versuchen. Die Berufswahl wird sowohl von persönlichen als auch von ökonomischen und sozialen Determinanten beeinflusst. „Grundsätzlich betrachten wir die berufliche Orientierung somit als aktiven und konstruktiven Prozess, der aus den Lernerfahrungen und Wahrnehmungen Jugendlicher hervorgeht und sich in einem unterschiedlich offenen Raum von Möglichkeiten abspielt“ (Müller 2009, 37f.). Diesem „soziokognitiven Modell der beruflichen Orientierung“ (Müller 2009, 38) ist auch empirisch ein hohes Maß an Gültigkeit nachgewiesen worden.

Weitere Zugänge zum Thema der Berufsorientierung behandeln vor allem deren Prozesscharakter. Übereinstimmend wird dabei der Berufswahlprozess bei Jugendlichen als in verschiedenen Phasen und in zunehmender Fokussierung ablaufend bestimmt. Unterschieden werden etwa in den entwicklungstheoretischen Ansätzen aufeinander aufbauende Phasen der Exploration, der Kristallisation und der Spezifikation (Bulmahn 2007, 21). Andere Modelle unterscheiden die Phasen diffuse Berufsorientierung, Konkretisierung des Berufswunsches, Suche nach einem Ausbildungsplatz, Konsolidierung der Berufswahl, Berufsausbildung und Eintritt ins Berufsleben (Wannack/Herzog/Neuenschwander 2005, 2ff.).

Andere Untersuchungen zeigen, dass in verschiedenen Phasen der beruflichen Orientierung auch unterschiedliche Personen und Institutionen einen wichtigen Bezugspunkt und Einfluss darstellen. Aus Sicht der Jugendlichen werden innerhalb der Schulzeit vor allem die Eltern sowie weitere Familienmitglieder des Nahraums als wichtigste Personen benannt. Im weiteren Verlauf von Orientierungsprozessen übernehmen Peers, Lehrkräfte oder professionelle Akteure (z. B. Berufsberater der Bundesagentur für Arbeit oder Berufsbegleiter) Beratungsfunktionen. So werden Akteure unterschiedlichen Räumen zugeordnet: dem privaten Bereich, dem Nahbereich und dem öffentlichen Raum (Pelka 2010a und 2010b; Genrich/Pelka 2012). Aktives Suchen (beispielsweise über die Angebote der Bundesagentur für Arbeit oder direkt im Internet) wird oftmals erst in einer späteren Phase sowie stärker durch Jugendliche höherer schulischer Bildungsgänge praktiziert (Beierle 2013; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2011).

„Die soziologische Lebenslaufforschung bezeichnet Akteurlnnen, v. a. Institutionen und Fachkräfte sozialer und erzieherischer Berufe, die quasi als Pförtnerinnen an den zentralen Übergängen postiert sind, als ‚Gate-Keeper‘ (Heinz 1992; Behrens/Rabe-Kleberg 2000). Sie haben die Aufgabe, die Individuen durch diesen Übergang zu geleiten und gleichzeitig sicher zu stellen, dass sie dort landen, wo sie entsprechend der gesellschaftlichen Arbeitsteilung nach Alter, Geschlecht, Zugehörigkeit oder Bildung auch landen sollen“ (Walther 2013, 20). Gatekeeper können für junge Menschen im Prozess der beruflichen Orientierung sowie der Realisierung von Bildungs- und Ausbildungswegen Türen öffnen, aber auch verschließen. Die Rolle von Gatekeepern wird vorrangig in Bezug auf institutionelle Akteure diskutiert (vgl. v.a. Struck 2001). Zunehmend gerät aber auch die Gatekeeperrolle von Personen des sozialen Nahbereichs, vor allem von Familienmitgliedern, in den Fokus (Behrens/Rabe-Kleberg 2000; Gaupp 2013).

Im Prozess der Berufsorientierung sind Gatekeeper darauf angewiesen, „dass Individuen sie als Ko-Produzentlnnen für ihre subjektive Lebensbewältigung und Identitätsarbeit nutzen, die sie damit gleichzeitig beeinflusst und prägt“ (Walther 2013, 21). Bezüglich der Wahrnehmung und Beurteilung institutioneller Angebote durch Jugendliche wird allerdings eine Forschungslücke konstatiert (vgl. u. a. Oechsle 2009, 25f.).

Diesen Überlegungen folgend, steht die Rezeption und Verarbeitung institutioneller Einflussnahme im Mittelpunkt der folgenden Analysen. Es wird analysiert, wie Jugendliche selbst die Rolle von Institutionen vor dem Hintergrund der eigenen Funktionszuschreibung definieren und welchen Raum sie ihnen im eigenen Übergangsgeschehen geben. Folgende Fragestellungen sollen dabei betrachtet werden:

  • Welche Aufgabe weisen Jugendliche im Berufsorientierungsprozess Institutionen vor dem Hintergrund der wahrgenommenen Eigenrolle zu?
  • Wie wird die institutionelle Einflussnahme reflektiert?
  • In welcher Weise greifen Jugendliche auf institutionelle Unterstützung zurück und wie binden sie diese in ihren Orientierungsprozess ein?

3 Daten und Methode

Bei der vorliegenden Analyse wurde auf Daten einer laufenden qualitativen Längsschnittuntersuchung[2] zurückgegriffen, in der Haupt- und Realschulabsolventen einer westdeutschen Großstadt zu ihren Handlungsstrategien beim Übergang von der Schule in die Berufsausbildung befragt wurden.

In drei jährlichen Befragungswellen (2012: n=92; 2013: n=55 und 2014: n=33) wurden mit Jugendlichen problemzentrierte Interviews durchgeführt (Witzel/Reiter 2012; Witzel 2000). Die Befragungsteilnehmer mit und ohne Migrationshintergrund waren bei der ersten Befragung zwischen 16 und 20 Jahre alt. Die Wahl prozessbegleitender Interviews (vgl. Dimbath 2012) ermöglicht es, „einen mutmaßlichen Prozess aufeinander bezogener und ineinander verketteter Handlungen zu begleiten“ und Entwicklungsverläufe von Berufsorientierungsprozessen über den allgemeinbildenden Schulabschluss nachzuvollziehen.

In die vorliegende Analyse wurden 33 Jugendliche (14 weibliche und 19 männliche, 10 Haupt- und 23 Realschulabsolventen) einbezogen, die an allen Interviewwellen teilgenommen hatten. Die Auswertung der qualitativen Interviews erfolgte in Anlehnung an Hopf et al. (1995). Zunächst wurden deduktive und induktive Kodierkategorien entwickelt und das Datenmaterial computergestützt kodiert. Die Kodierkategorien orientierten sich am Kapitalienansatz von Bourdieu (1983) mit der Unterscheidung von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital sowie an einem in der Längsschnittforschung entwickelten heuristischen Handlungsmodell bestehend aus den Elementen Aspirationen, Realisierungen und Bilanzierungen (ARB-Modell, vgl. Witzel/Kühn 2000). Ergänzend wurden induktive Kategorien aus dem Material selbst entwickelt, die im Zusammenhang mit der Fragestellung standen (z.B. wahrgenommene eigene Handlungsmacht).In einem nächsten Schritt wurden in einer vergleichenden fallübergreifenden Analyse Muster in den Wahrnehmungen und Handlungsstrategien im Kontext von Berufsorientierungsprozessen herausgearbeitet, erneut am empirischen Material geprüft und schließlich anhand von vertiefenden Fallanalysen in ihrer biografischen Einbettung und längsschnittlichen Dynamik dargestellt.

4 Ergebnisse

In der Übergangsberatung „stehen die zum Teil noch unbestimmten individuellen Such- und Orientierungsprozesse Jugendlicher, die für den Übergang von der Schule ins (Berufs-)Bildungssystem charakteristisch sind, im Vordergrund und verlangen ein unterschiedlich hohes Maß an Begleitung, Unterstützung und Orientierungshilfe“ (Walter/Hirschfeld 2013, 115). Institutionelle Akteure übernehmen neben weiteren begleitenden Akteuren verschiedene Funktionen in diesen Prozessen. Gaupp hat sieben Funktionen von privaten und institutionellen Interaktionspartnern identifiziert: Türöffner und Türschließer, Motivierung und Demotivierung, sicherer Hafen, Ratgeber und Tandempartner (2013).

Im vorliegenden Kontext interessieren uns Institutionen, also im Sinne der von Behrens/Rabe-Kleberg vorgenommenen Typisierung Organisationsangehörige und -repräsentanten (Behrens/Rabe-Kleberg 2000, 110), die von den Jugendlichen als bedeutungsvoll für den eigenen Berufsorientierungsprozess reflektiert werden. Wie Institutionen diese Prozesse beeinflussen, hängt auch von der Art und Weise ab, wie Jugendliche Beratungsangebote und Entscheidungen institutioneller Akteure bewerten und damit umgehen. Bei der Analyse der diesbezüglichen Begründungszusammenhänge in den Interviewaussagen wird deutlich, dass Jugendliche korrespondierend mit der eigenen Rollenwahrnehmung bestimmte Funktionszuschreibungen an Institutionen und daraus resultierende Bewertungen institutioneller Aktivitäten zeigen, die sich in ihren Berufswahlstrategien in unterschiedlicher Weise niederschlagen.

Zunächst werden die für die Funktionszuschreibungen zentral verantwortlichen Dimensionen der Berufsorientierung auf Einstellungs- und Handlungsebene vorgestellt. In einem nächsten Schritt werden die Rollenerwartungen an Institutionen und die wahrgenommene Eigenrolle zu drei Formen korrespondierender Funktionszuschreibungen zusammengeführt und anschließend anhand zweier Fallanalysen illustriert.

4.1 Relevante Dimensionen der Berufsorientierung für die Entwicklung korrespondierender Funktionszuschreibungen

Die Jugendlichen unseres Samples haben im Zuge ihrer beruflichen Orientierung sehr divergierende Erwartungen an begleitende Institutionen. Diese Unterschiede lassen sich auf eine Reihe von Dimensionen auf Einstellungs- und Handlungsebene zurückführen (vgl. hierzu auch die von Bußhoff genannten persönlichen und Umweltfaktoren, ders. 1998), die die Grundlage für die Entwicklung von korrespondierenden Funktionszuschreibungen gebildet haben und hier zunächst vorgestellt werden sollen.

Auf der Einstellungsebene (Haltungen, Bewertungen, Motivationen) ist es zunächst die wahrgenommene eigene Handlungsmacht, vor deren Hintergrund Jugendliche Institutionen ihren Platz im eigenen Berufswahlprozess zuweisen. Die Bewertung der eigenen Spielräume offenbart sich unter anderem in der Einschätzung der Ausbildungsplatzlage, in der Bewertung der rahmenden Strukturen und der empfundenen Einflussmacht weiterer Akteure.

Eng verknüpft mit dieser Einschätzung des eigenen Aktionsraumes ist die Verantwortungszuschreibung für Übergangsereignisse. So führen manche Jugendliche beispielsweise das Scheitern eines Berufswunsches auf strukturelle Barrieren, Ausbildungsmarktbedingungen oder mangelnde Unterstützung zurück, während andere ihre Bildungsressourcen verantwortlich machen oder Handlungsbedarf beim Abgleich der eigenen Fähigkeiten und Wünsche mit den verfügbaren Optionen sehen. Ausgehend von diesen Zuschreibungen sehen die Jugendlichen für bestimmte Aufgaben vor allem sich selbst und für andere Aufgaben eher die Institutionen oder sonstige Akteure in der Pflicht.

Auf der Handlungsebene sind die Be- und Verwertungsmodi institutioneller Unterstützung zunächst eingebettet in Berufsorientierungsstrategien wie den Zeitpunkt der Berufswahl und die Reflektiertheit von Berufswünschen, die Einbindung von Praxiserfahrungen und Auswahlstrategien. Je nachdem, inwiefern beispielsweise Jugendliche selbst bereits klare Vorstellungen haben oder ob sie eher sich bietende Gelegenheiten wahrnehmen, sind sie für institutionelle Vorschläge verschieden empfänglich, nehmen sie an oder wenden sich von ihnen ab. Eine für die Frage nach der institutionellen Rolle zentrale Berufsorientierungsstrategie bezieht sich auf die Suche nach und den Umgang mit Informationen. Dazu gehört der Informationsstand zu beruflichen Möglichkeiten und deren Zugangsvoraussetzungen, aber auch das Wissen um die Verfügbarkeit und Einbindung verschiedener Informationsquellen und die Überprüfung von Informationen. Entsprechend werden Institutionen als Informationsinstanzen unterschiedlich wahrgenommen und genutzt.

Wie bedeutend Institutionen für individuelle Berufsorientierungsprozesse werden, hängt nicht zuletzt von den weiteren begleitenden Akteuren der Jugendlichen in dieser Phase ab. So sind Familienmitglieder und Peers zentrale Ansprechpartner und Referenzfiguren für die berufliche Verortung Jugendlicher. Inwiefern sie verfügbar sind und welchen Raum Jugendliche diesen Akteuren im eigenen beruflichen Orientierungsprozess geben, bestimmt institutionelle Spielräume entscheidend mit. „Je nachdem welche anderen Unterstützungsleistungen und Beratungen verfügbar sind, reiht sich die Übergangsberatung in dieses Netzwerk ein“ (Walter/Hirschfeld 2013, 127).

4.2 Eigene Rollenwahrnehmung und institutionelle Rollenerwartung:
Korrespondierende Funktionszuschreibungen

Mourad, ein Jugendlicher unseres Samples (siehe erstes Fallbeispiel unten) hat metaphorisch den Begriff des Puzzles verwendet, um das Zusammenspiel von eigenem Handeln und dem Handeln institutioneller Akteure zu illustrieren. Die Puzzlemetapher ist gut geeignet, um die Dualität der Funktionszuschreibungen zu verdeutlichen. In den Interviews kommt zum Ausdruck, dass die Jugendlichen unterschiedliche Vorstellungen davon haben, welche Puzzlestücke Institutionen zu liefern haben und für welche sie selbst zuständig sind. Entsprechend werden institutionelle Hilfepotenziale bewertet und verwertet. Im Folgenden werden die Funktionszuweisungen der Jugendlichen unseres Samples an die Institutionen entlang der zuvor beschriebenen Dimensionen charakterisiert und im Sinne von drei korrespondierenden Funktionszuschreibungen an der sich selbst zugewiesenen Rolle gespiegelt.

4.2.1 Institutionen als Informanten und anlassbezogene Unterstützer

Jugendliche, die sich hier verorten lassen, sehen sich selbst als handlungsmächtige Designer ihrer Wege. Sie haben (oft auf der Basis einer frühzeitigen Berufsorientierung) klare Vorstellungen von ihren beruflichen Zielen. Dabei greifen sie unter Nutzung eines breiten Informationspools gezielt auf das Wissen institutioneller und privater Akteure sowie das Internet zurück. Sie sehen sich primär in der Verantwortung, sich aktiv zu beruflichen Möglichkeiten zu informieren und ihre Wünsche mit ihren persönlichen Voraussetzungen und den sich bietenden Ausbildungsmarktchancen zu reflektieren. Wie der überwiegende Teil der Interviewpartner bewerten auch diese Jugendlichen die Ausbildungsplatzlage eher kritisch, aber nehmen die Vielfalt der heutigen Arbeitswelt auch als Chance wahr und sehen einen möglichen Platz darin für sich. Wenn die gewünschten Wege verschlossen sind, orientieren sie sich um und verfolgen einen häufig parallel existierenden Plan B.

Institutionelle Akteure werden als kompetente Informanten verstanden und frühzeitig und anlassbezogen (z. B. zu Beginn der Berufsorientierung, bei anstehenden Wechseln, Umorientierungen und drohenden Brüchen) eingebunden. Dabei verlassen sich diese Jugendlichen nicht auf institutionelle Ratschläge, sondern reflektieren sie mit eigenen Überlegungen, binden beruflich als kompetent bewertete Personen des privaten Netzwerks ein und nutzen die Wege anderer Jugendlicher als Referenzrahmen. Zu diesem Funktionspaar lassen sich auch einige Jugendliche zuordnen, die über begrenzte familiale Ressourcen verfügen, beispielsweise weil ihre Eltern eine Zuwanderungsgeschichte haben und dadurch nicht über eigene Erfahrungen mit dem deutschen Berufssystem verfügen. Hier nutzen die Jugendlichen Institutionen gezielt zur Kompensation dieser Ressourcenlücken. Darüber hinaus belegen Jugendliche dieses Funktionspaars oft zusätzlich zu den schulischen Pflichtpraktika freiwillige Praktika oder Probetage, um ihre Berufswünsche an der Arbeitsrealität zu überprüfen.

Großteils zeigen diese Jugendlichen stabile Verläufe und bleiben im gewählten Berufsfeld oder entwickeln sich dort beruflich weiter (beispielsweise durch ein einschlägiges Fachstudium). Teilweise werden aber auch nach erfolgtem Berufsabschluss noch einmal berufliche Veränderungen angestrebt, oder nach Abbrüchen (die oft in der mangelnden Passfähigkeit mit eigenen Vorstellungen begründet liegen) werden Umorientierungen nötig, bei denen Institutionen wieder verstärkt eingebunden werden.

4.2.2 Institutionen als Wegweiser und Begleiter

Jugendliche, die zu dieser Funktionszuschreibung an Institutionen tendieren, haben anfangs oft keine oder nur unspezifische, unausgereifte berufliche Vorstellungen. Entweder sind für sie zum üblichen Zeitpunkt schulischer Berufsorientierung entsprechende Fragen noch nicht relevant, oder sie sind überfordert mit den an sie gestellten Orientierungsanforderungen, wobei ihre Kenntnisse zu möglichen Wegen beschränkt sind und auf Peerbeobachtungen sowie auf den Aussagen privater und institutioneller Akteure basieren. Informationsdefizite werden eher im persönlichen Austausch und weniger durch eigene Recherchen zu schließen versucht. Teilweise kommt es auch vor, dass begleitende Problemlagen (Krankheit, Konflikte in der Familie) berufliche Fragen stören oder in den Hintergrund drängen.

Eigene Handlungsspielräume beurteilen diese Jugendlichen als eher eingeschränkt. Dazu trägt eine pessimistische Einschätzung der Ausbildungsmarktlage und der teilweise als unfair empfundenen (institutionellen) Verteilungsmechanismen sowie eine ungünstige Prognose der eigenen Platzierungschancen, vor allem angesichts von als unzureichend eingeschätzten eigenen schulischen Leistungen, bei.

Bei vielen dieser Jugendlichen zählt „Hauptsache Ausbildung“. Sie verlassen sich auf Gelegenheitsstrukturen im sozialen Nahraum oder treffen Ausschlussentscheidungen. Sie entwerfen und verwerfen verschiedene, teilweise inkonsistente Ideen und treffen oft erst unter dem Druck drohender Anschlusslosigkeit späte Entscheidungen. Der erstrebte Ausbildungsstatus stellt Fragen der Passfähigkeit beruflicher Wege mit eigenen Interessen in den Hintergrund. Andere Jugendliche entscheiden sich für den weiteren Schulbesuch, um Chancen zu verbessern, um den Bewerbungsbarrieren des Ausbildungsmarktes auszuweichen oder um sich im Sinne einer Verzögerungstaktik von Entscheidungsdruck zu entlasten.

Jugendliche, die sich hier verorten lassen, greifen Impulse von außen bereitwillig auf, wobei Hilfe oft erst spät und bei akutem Handlungsdruck angefragt wird. Sie sehen Institutionen als wissensmächtige Wegweiser, von denen sie sich konkrete berufliche Vorschläge erhoffen. Darüber hinaus erwarten sie Einmündungshilfen, wenn Eigenbemühungen keine berufliche Anschlussposition gebracht haben, sowie intensive Begleitung bei Problemen im Übergang. An Arbeitgeber richten sie den Appell, auch Jugendlichen mit schlechteren schulischen Startbedingungen einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen. Institutionen wirken teilweise als Korrektive unrealistischer Berufsvorstellungen und Berufsvorbereitungsmaßnahmen fungieren als Auffangmaßnahmen. Sich selbst sehen die Jugendlichen eher in der Rolle des Empfängers und darin, Vorschläge umzusetzen und sich dabei leistungsbereit zu zeigen.

Familienmitglieder sind auch für diese Gruppe sehr wichtig und übernehmen bei manchen Jugendlichen die dominierende Wegweiserrolle. Gleichzeitig kommt die bereits im vorigen Funktionspaar angesprochene kompensatorische Rolle von Institutionen für mangelnde familiale Unterstützungspotenziale auch hier wieder zum Tragen. Jugendliche, die zu diesen Zuschreibungsmodi tendieren, weisen Familienmitgliedern und Institutionen eine hohe Informationsmacht zu und tendieren zu stark unhinterfragter Übernahme von Vorschlägen im Vertrauen darauf, dass die Akteure für sie die passfähigen Optionen auswählen.

Die anschließenden, oft stark institutionengesteuerten Verläufe zeigen, dass diese Strategien teilweise zu prekären Situationen führen (z. B. Nichteinmündung, Abbrüche), weil spätestens anhand der Praxiserfahrungen in der Ausbildung unreflektiert beschrittene Wege korrigiert werden. Auch gefährdete Schulabschlüsse lassen bisherige berufliche Pläne scheitern. So kommt es häufig zu einer der Schulzeit nachgelagerten und erneuten Berufsorientierungsphase. Es zeigt sich, dass viele Jugendliche bei diesem zweiten Anlauf reflektierter entscheiden, vergleichbar mit dem ersten Funktionspaar ihr bereits erworbenes Wissen zu Ausbildungssystemen gezielt erweitern und externe Vorschläge kritischer spiegeln, wobei nun auch verstärkt das Internet als Quelle genutzt wird. Die Jugendlichen bleiben weiter in hohem Maße kompromissbereit und münden häufig in mit Arbeitsmarktvoraussetzungen kompatiblere Alternativwege ein. Von diesen „Spätstartern“ sind diejenigen Jugendlichen zu unterscheiden, die auch im zweiten Anlauf in einer passiven Rolle verbleiben. Dort verläuft die Neuorientierung unspezifisch, eine Einmündung in den Ausbildungsmarkt ist zum letzten Befragungszeitpunkt größtenteils nicht erfolgt.

4.2.3 Institutionen als marginale Akteure

In den bisherigen Funktionszuschreibungen werden Institutionen umfassende Aufgaben und Verantwortlichkeiten zugeschrieben. Das ist beim hier darzustellenden Funktionspaar anders. Hier liegt die Verantwortungswahrnehmung auf eigenen Bemühungen und privaten Akteuren, während an Institutionen keine oder nur sehr punktuell Unterstützungserwartungen formuliert werden, was sich aber nicht zwangsläufig auf alle Institutionen, sondern teilweise nur auf einzelne Akteure bezieht.

Die Gruppe dieser Jugendlichen ist sehr heterogen bezüglich der dargestellten Aspekte der Berufsorientierung. So gibt es Jugendliche, die angesichts einer sehr klaren Berufsorientierung und eines problemlosen Übergangs (beispielsweise Einstieg in den Familienbetrieb), oft gekoppelt mit kompetenten Unterstützern des privaten Umfelds, nicht auf Institutionen angewiesen sind. Gründe für eine Abwendung von Akteuren können aber auch enttäuschte Rollenerwartungen oder Negativerfahrungen mit Institutionen sein. Ein Beispiel sind Jugendliche, die zu Beginn des Übergangs im Sinne des zweiten Funktionspaars stark adaptiv waren und sich später ablehnend verhalten, wenn sich die Strategie des Verlassens auf Institutionen nicht als erfolgreich erweist. Die nachgelagerte Berufsorientierung erfolgt dann ohne Rückgriff auf Institutionen unter stärkerer Aktivierung persönlicher Ressourcen und Netzwerke. Eine schwer zu erfassende Gruppe sind diejenigen, die Hilfebedarf signalisieren, aber nicht wissen, an welche Adressaten sie ihn richten sollen und schon im Hilfesuchprozess an der „unübersichtlichen Vielfalt institutionalisierter beraterischer Antwortmöglichkeiten“ (Weinhardt 2013, 39) scheitern. Zudem lockern sich mit der biografischen Entfernung von Schule die Berührungspunkte zu Institutionen, die in nachgelagerten Orientierungsprozessen dann als potenzielle Unterstützungsinstanzen für Jugendliche weniger sichtbar oder schwerer greifbar sind. Jugendliche unseres Samples, die sich von Institutionen abwenden, haben teilweise auch Diskriminierungserfahrungen gemacht oder Institutionen als „Türschließer“ erlebt, z. B. durch Schullaufbahnempfehlungen von Lehrkräften.

Die dargestellten Funktionszuschreibungen spiegeln zunächst den Erwartungshorizont der Jugendlichen an Institutionen wider und entsprechen nicht zwangsläufig den im Berufsorientierungsprozess tatsächlich eingenommenen Rollen von Institutionen. Es zeigt sich, dass vor allem Jugendliche, die Institutionen gezielt und anlassbezogen einbinden, institutionelle Hilfe positiv einschätzen. Sie berichten von zielführender Berufsorientierung, die insbesondere die Information zu Optionen, Zugangsmodi und Chancen, die Vermittlung von Praxiserfahrungen und Kontakten, aber auch Möglichkeiten des Interessen- und Kompetenzassessments beinhaltet. Andere schätzen Institutionen als Impulsgeber, als Moderatoren zwischen eigenen Orientierungen und verfügbaren Optionen und als Auffangnetze (z. B. durch vorbereitende Maßnahmen).

Negative Beurteilungen von institutionellem Handeln finden sich vermehrt, aber nicht ausschließlich, bei den Jugendlichen des zweiten Funktionspaars, die aufgrund eigener diffuser Orientierungen umfassende Unterstützung einfordern. Hierbei ist zu beachten, dass sie die Rolle der Institutionen auch unter dem Eindruck der eigenen problematischen Verläufe betrachten. Sie berichten unter anderem von fehlgeschlagener oder unzureichender Berufsorientierung, von fehlenden Anlaufstellen, von Cooling-Out-Prozessen (vgl. u. a. Skrobanek/Kuhnke 2010), von institutionellen Barrieren und verwehrten Zugängen. Auch für die in der Literatur stark präsente Problematik institutioneller Diskriminierung (vgl. u. a. Neuenschwander/Grunder 2010; Hormel/Scherr 2010) finden sich in unserem Sample Beispiele.

Diese negativen Erfahrungen führen teilweise dazu, dass sich Jugendliche institutionellen Ratschlägen widersetzen oder sich im Sinne des zuletzt beschriebenen Funktionspaars sogar vollständig abwenden. Ein Teil der Jugendlichen setzt dennoch weiterhin auf institutionelle Begleitung und bleibt stark adaptiv.

Die in diesem Kapitel dargestellten drei Formen von Funktionszuschreibungen sind das Ergebnis einer systematischen, fallübergreifenden Annäherung an die Rolle institutioneller Akteure im Übergangsgeschehen. Sie sollen im Folgenden anhand von zwei vertiefender Fallanalysen veranschaulicht werden. Diese Einzelfallbetrachtungen ermöglichen es außerdem, die Haltungen und Bewertungen der Jugendlichen bezüglich begleitender Institutionen und daraus folgende Handlungsumsetzungen in ihren berufsbiografischen Kontext zu stellen und, insbesondere im zweiten Fallbeispiel, in ihrer längsschnittlichen Dynamik zu betrachten.

4.3 Fallanalysen

4.3.1 Mourad – „gibt man sozusagen das fehlende Puzzle-Teil immer dazu!“

Im folgenden Fallbeispiel von Mourad nehmen Institutionen im Sinne der ersten oben genannten Form korrespondierender Funktionszuschreibungen in der Berufsorientierungsphase eine ergänzende Rolle als Unterstützer ein, während der Jugendliche als Hauptakteur seiner Bildungsbiografie berufliche Orientierungsprozesse überwiegend selbst gestaltet.

Im Alter von drei Jahren zog Mourad mit seiner Familie von Marokko nach Deutschland. Nach der Zuwanderung ging sein Vater zeitweise einer ungelernten Erwerbsarbeit nach, während die Mutter Hausfrau war. Beim ersten Interview ist Mourad 18 Jahre alt und lebt zusammen mit seinen Eltern und mehreren jüngeren Geschwistern in einer deutschen Großstadt.

Mourad setzt sich bereits frühzeitig im 7. und 8. Schuljahr intensiv mit beruflichen Fragen auseinander und entwickelt konkrete Vorstellungen. „Also was mir dann auf jeden Fall klar wurde, also ich wollte auf jeden Fall so Richtung, also in die Wirtschaft rein, sprich: Bankkaufmann, Bürokaufmann, also in der Richtung. Ja, also war mir halt viel früher bewusst, also auch als bei meinen Freunden, […] die haben sich halt über ganz andere Dinge Sorgen gemacht“ (2476_1_7). An diese beruflichen Vorstellungen schließen sich erste Überlegungen zu den notwendigen Umsetzungsschritten an. „Ich will einen guten Beruf später haben. Ja. Und deswegen hab ich gesagt, um einen guten Beruf später zu haben, was mache ich da am besten? Ja, erst mal den Realschulabschluss natürlich sehr gut!“ (2476_1_189).

Mourad nimmt sich in der Gestaltung seines beruflichen Orientierungsprozesses als handlungsmächtig wahr und registriert vielfältige berufliche Möglichkeiten. Diese Vielfalt deutet er gleichzeitig als Chance auf einen maßgeschneiderten Beruf und als Herausforderung zur Information und Selbstreflexion: „Weil umso mehr Berufe, umso mehr kann sich jeder mit seinen Eigenschaften da hineinpassen! Und das find ich auch einerseits gut, aber andererseits ist es so, wenn man halt selbst noch nichts weiß, da muss man sich halt überlegen […], man muss sich halt sehr gut auskennen“ (2476_3_109).

Während der Realschulzeit absolviert Mourad zwei Betriebspraktika in unterschiedlichen Berufsbereichen, die ihn zur Revision seiner ersten Berufsvorstellungen veranlassen und ihm gleichzeitig neue berufliche Ideen liefern.

Mourad plant zunächst den direkten Übergang in eine berufliche Ausbildung im Anschluss an den Realschulabschluss. Als sich im Laufe des letzten Schuljahres abzeichnet, dass seine schulischen Leistungen dafür ausreichen, entschließt er sich jedoch für den vorgelagerten Besuch einer Fachoberschule. Davon verspricht er sich verbesserte Chancen auf dem Ausbildungsmarkt. Im Rahmen seines Jahrespraktikums im ersten Fachoberschuljahr erhält er vertiefte praktische Einblicke, die seinen Berufswunsch festigen. Der Besuch der Fachoberschule übernimmt aus seiner Sicht die Funktion eines  der die infrage kommende Berufslücke nach und nach verkleinert. „Ja, aber dann, wo ich halt das Fach-Abi dann genommen hab in Wirtschaft und Verwaltung, hat man dann natürlich so, sag ich mal, ist die Lücke kleiner geworden, und dann konnte man sich am Ende dann schon ein Ziel setzen“ (2476_3_105).

Obwohl Mourad das zweite Schuljahr der Fachoberschule aufgrund mangelnder schulischer Leistungen wiederholt, gelingt ihm ein guter Schulabschluss. Während seiner Bewerbungsphase im Anschluss an die Fachoberschule macht Mourad zum Teil negative Erfahrungen. Er kann bei betrieblichen Einstellungstests nicht immer überzeugen und erhält einige Absagen. Mourad bleibt jedoch zuversichtlich und zeigt sich offen für berufliche Vorschläge von institutioneller Seite. Durch den Hinweis seines Berufsberaters auf einen Ausbildungsberuf, der sich als passfähig erweist, gelangt er schließlich in eine Ausbildung im gewünschten Berufsfeld.

Der Berufswahlprozess gestaltet sich im Fall von Mourad sehr reflektiert und führt zu konsistenten Übergangsschritten. Der Jugendliche sieht sich selbst in der Verantwortung, Informationslücken durch eigene Bemühungen zu schließen, z. B. durch die Nutzung des Internets als Informationsquelle. Institutionen versteht er als ergänzende Akteure, die er bei beruflichen Fragen gezielt aufsuchen und einbinden kann. Die genutzte institutionelle Beratung bewertet als sehr hilfreich: „Ja, die [Lehrerin] war mir auch eine große Hilfe, die hat mir immer geholfen, von der hab ich auch mir einen Rat geholt! […] Hm, beim Arbeitsamt wurde mir auch geholfen; weil ich halt gesagt hab, ich bin auf Ausbildungssuche. Wurde mir auch geholfen. Wurden mir auch Ausbildungsstellen zugeschickt. Also ich bekam schon Hilfen von jeglichen Seiten, muss ich sagen“ (2476_3_63). Das über institutionelle Akteure dazu gewonnene Wissen nutzt er, um eigene Schlussfolgerungen für die berufliche Entscheidungsfindung zu ziehen. „Also die geben ja keine feste Zielrichtung an, sondern die geben einfach nur gute Tipps, sag ich mal!“ (2476_3_235).

Neben den institutionellen Akteuren sind Mourads Eltern wichtige Bezugspersonen bei der beruflichen Zukunftsplanung. Im Elternhaus findet ein häufiger Austausch statt, bei dem der Interviewte insbesondere die Lebenserfahrung seiner Eltern als wertvolle Beratungsressource schätzt: „Eltern sind ja halt erfahrene Personen, […] bei mir war es halt ein sehr großer Hilfsfaktor, der mir halt geholfen hat einfach die weite Welt mal mit etwas größeren Augen zu sehen, und im frühen Stadium halt zu überlegen: Was will ich schon später machen?“ (2476_1_111). Dennoch reflektiert Mourad bei konkreten beruflichen Fragen ein eher begrenztes familiales Hilfspotential. Er greift deshalb kompensatorisch auf institutionelle Informationen zurück und wird selbst aktiv „weil die Hilfe kann man sich heutzutage echt selbst beschaffen durchs Internet oder durchs Jobcenter oder… Es gibt so viele Möglichkeiten“ (2476_3_155). Auch im Peerumfeld orientiert sich Mourad beruflich. Insbesondere hinsichtlich der Auseinandersetzung mit alternativen Wegen dienen seine Freunde als wichtige Referenzpersonen.

Mourad nutzt in seinem Berufsorientierungsprozess kontinuierlich verschiedenste Informationskanäle, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Institutionelle und private Hilfestellungen ergänzen sich und werden von ihm gemeinsam mit eigenen Anstrengungen zu einem Gesamtbild zusammengefügt: „[…] gibt man sozusagen das fehlende Puzzle-Teil immer dazu!“ (2476_2_61).

4.3.2 Kerim – „Also erstaunlicherweise kam immer die Hilfe von alleine.“

Bei Kerim ist der Berufsorientierungsprozess gekennzeichnet von einer als eingeschränkt empfundenen Handlungsfähigkeit des Jugendlichen. Institutionen fungieren in seinem Übergangsverlauf zunächst als Lotsen im Sinne der zweiten oben vorgestellten Funktionszuschreibung. In einer nachgelagerten Berufsorientierungsphase wendet er sich zunehmend von ihnen ab (im Sinne der letztgenannten Funktionszuschreibung) und weist sich selbst eine aktivere Rolle zu. Seine Geschichte illustriert die Dynamik von Funktionszuweisungen in verschiedenen Phasen des Berufsorientierungs- und Einmündungsprozesses.

Kerim ist zu Beginn der Befragung 17 Jahre alt. Im Alter von vier Jahren zog er mit seiner Familie von Tunesien in eine deutsche Großstadt. Obwohl beide Elternteile einer Erwerbstätigkeit in Deutschland nachgehen, ist die Familie von Kerim, zu der auch ein jüngerer Bruder zählt, von finanziellen Einschränkungen betroffen.

Bis zum Ende der allgemeinbildenden Schule besitzt Kerim keine festen beruflichen Anschlusspläne. Sein Wunsch, den Schulbesuch fortzusetzen, scheitert an den nötigen Zugangsvoraussetzungen. Sein berufliches Interesse liegt zum damaligen Zeitpunkt im Kfz-Bereich, in dem er zuvor keine praktischen Arbeitserfahrungen gesammelt hatte. Kerim sieht den Realschulabschluss als wichtige Ausgangsvoraussetzung, einen betrieblichen Ausbildungsplatz zu finden. Mit beruflichen und schulischen Möglichkeiten, die ihm mit seinem Hauptschulabschluss offen stehen, scheint er überfordert. „Ich hatte es mir schon festgesetzt, Realschulabschluss zu machen, weil es ja damit dann viel einfacher ist, Berufe zu kriegen. Und da hab ich es nicht geschafft, ja, und dann erst mal überlegen, was mach ich jetzt, wie geht es jetzt weiter, welchen Beruf mach ich jetzt? Da hab ich mir den Kopf zerbrochen, (?), und ja, ich weiß nicht was. Ja, und danach haben sich die Wege halt so geleitet“ (2197_1_139).

Die fehlenden Alternativpläne und die Einschätzung, auf dem Ausbildungsstellenmarkt chancenlos zu sein, hemmen Kerim in seiner Handlungsfähigkeit. Eine berufliche Entscheidungsfindung bleibt vor diesem Hintergrund aus und er investiert keine Bemühungen, Anschlussmöglichkeiten zu suchen. Der weitere Weg nach der Hauptschule gestaltet sich für Kerim hauptsächlich institutionengesteuert. Um Unterstützung muss er sich nicht aktiv bemühen. „Also erstaunlicherweise kam immer die Hilfe von alleine“ (2197_1_153). Er absolviert zunächst ein Berufsgrundbildungsjahr, nutzt aber die dortigen Möglichkeiten einer schulischen Verbesserung sowie beruflicher Orientierung nicht aus.

Erst im Anschluss an das Berufsgrundbildungsjahr leitet sich für Kerim eine nachgelagerte Berufsorientierungsphase ein, in der er jedoch die Rolle als passiver Empfänger einnimmt: „Und ja, danach wurde ich erst mal in verschiedene Bereiche geschickt, […], da musste ich Produktionsschule machen, musste gucken so, wo gehe ich hin, was soll ich machen? Ja da hab ich dort so angefangen, etwas mit Werkzeugen eher zu lernen, und ja, die haben gekuckt halt, was für Leistungen ich habe, in was ich gut bin, in was ich schlecht bin. Und dann haben die gesagt: Ja, dafür bist du geeignet, und dafür solltest du noch mal eine Nacht drüber denken“ (2197_1_29).

Kerims Eltern können nur begrenzt Hilfestellung geben. Sie sind zwar wichtige Bezugspersonen bei beruflichen Fragen, jedoch fühlt sich der Jugendliche mit überzogenen Berufszielen konfrontiert, die er auf einen bildungsbezogenen Informationsmangel der Eltern zurückführt: „Also die wollen, dass man immer so irgendwie das Meiste vorhat. Und ja, die wissen aber selbst nicht, dass es so schwer ist“ (2197_3_231).

Eine konkrete berufliche Idee erhält Kerim erst durch den Rat eines Freundes. Schließlich beginnt er nach einem Probepraktikum eine außerbetriebliche Ausbildung im vorgeschlagenen Beruf. Obwohl Kerim zu Beginn seiner Ausbildung sehr zufrieden ist, nehmen seine Zweifel am gewählten Ausbildungsberuf über den Befragungszeitraum kontinuierlich zu: „Ja, also ich sag mal so, am Anfang wollte ich das ja unbedingt machen, den Beruf. Ja, und jetzt kommt irgendwie der Gedanke: Also hätte ich lieber was anderes gemacht. Also ich werde es auf jeden Fall fertig machen, die Gesellenprüfung dann schaffen, und dann aber auf jeden Fall was anderes weitermachen“ (2197_3_11). Als Hauptgrund für die berufliche Umorientierung nennt er den erwarteten geringen Verdienst im Beruf. Auch von der handwerklichen Tätigkeit, die er noch zu Beginn der Ausbildung positiv bewertet, wendet er sich ab. Er entwickelt berufliche Alternativvorstellungen, die im starken Kontrast zu seinem Ausbildungsberuf stehen, verwirft diese aber schnell wieder.

Beim Umgang mit der eigenen Berufsorientierung deuten sich bei Kerim im späteren Verlauf aktivere Handlungsansätze an. Seinen Handlungsspielraum erlebt Kerim bedingt durch einen Zuwachs an Kompetenzen deutlich erweitert: „Jetzt kann ich mich irgendwie, also wenn ich jetzt Sachen wissen will, irgendwie recherchieren, informieren, anrufen, fragen, irgendwie nachschauen, Internet, Freunde fragen. […] Viel einfacher jetzt als vorher“ (2197_3_255).

Während die Orientierung an Peers konstant bleibt, verändern sich Kerims Strategien bezüglich institutioneller Hilfe, die er später nicht mehr in Anspruch nimmt. Die Einschätzung der bisherigen institutionellen Unterstützung fällt zunehmend kritischer aus. „Und auf jeden Fall also eine Ausbildung, wo du, also auch dir selber eine Ausbildung suchen, wo du dann mehr Gehalt kriegst; weil wenn du dir eine vom Arbeitsamt suchen lässt, du dann fast nix kriegst, weil du selber keine gesucht hast“ (2197_3_377). Rückblickend sieht Kerim für seinen beruflichen Weg Handlungsspielräume, die er nicht ausgeschöpft hat. Die fehlende Handlungsfähigkeit bei der früheren Ausbildungssuche führt er auf mangelnde berufliche Vorstellungen zurück: „Weil im Endeffekt blieb mir nix anderes übrig als es zu machen. Ich wusste ja nicht, was ich sonst machen soll. Da wurde mir eine [Ausbildung] gesucht“ (2197_3_377).

5 Fazit

Im vorliegenden Artikel wurden auf der Datenbasis einer qualitativen Längsschnittstudie mit Haupt- und Realschulabsolventen unterschiedliche Funktionszuschreibungen Jugendlicher in der Berufsorientierung identifiziert. Diese Funktionszuschreibungen betreffen die Rollenerwartungen an Institutionen, die mit der wahrgenommenen Eigenrolle der Jugendlichen korrespondieren und Berufsorientierungsstrategien beeinflussen. Sie sind unter anderem davon abhängig, wie Jugendliche die Ausbildungsplatzlage im Bezug auf die eigene Positionierung bewerten, ob sie rahmende Strukturen als stützend oder hinderlich wahrnehmen und welche Einflussmöglichkeiten sie anderen Akteuren im Verhältnis zu eigenen Spielräumen unterstellen.

Jeweils korrespondierend mit der wahrgenommenen Eigenrolle werden Institutionen von einigen Jugendlichen als komplementäre Informanten und Unterstützer anlassbezogen eingebunden, während andere erwarten, dass Institutionen den eigenen Berufsorientierungsprozess einleiten, moderieren und problemlösend begleiten. Wiederum andere formulieren kaum Unterstützungserwartungen und weisen Institutionen maximal eine flankierende Rolle zu, beispielsweise weil sie auf ausreichende weitere Ressourcen zurückgreifen können, sich durch enttäuschte Rollenerwartungen von Institutionen distanzieren oder weil institutionelle Unterstützung nicht greifbar ist.

Die vorgestellten korrespondierenden Funktionszuschreibungen stellen kein statisches Konzept im Sinne eines Handlungskontinuums dar. Vielmehr berücksichtigen sie die Dynamik im Berufsorientierungs- und Einmündungsprozess. Wie die längsschnittliche Analyse gezeigt hat, erweitern Jugendliche im Verlauf individueller Übergänge berufsrelevante Wissensbestände, entwickeln auf der Basis von Praxiserfahrungen berufliche Ideen weiter, bestätigen oder revidieren sie und haben Erfahrungen mit begleitenden Akteuren gemacht. Entsprechend modifizieren sie möglicherweise Erwartungshaltungen an sich selbst und andere. So bewegen sich manche Jugendliche über verschiedene biografische Zeitpunkte zwischen verschiedenen Funktionszuschreibungen. Das passiert teilweise dann, wenn Rollenzuweisungen enttäuscht werden oder wenn Jugendliche mit ihren bisherigen Strategien gescheitert sind. Dazu kommt, dass Berufsorientierungsprozesse häufig nicht, wie in den eingangs genannten theoretischen Modellen idealtypisch dargestellt, linear verlaufen und mit dem Einstieg in eine Ausbildung oder einen schulischen Bildungszweig abgeschlossen sind. Bei manchen Jugendlichen finden sie erst nachgelagert in darauffolgenden Stationen statt und führen zu Umorientierungen. Auch Ausbildungen sind Teil dieses Orientierungsprozesses und münden gegebenenfalls im Abbruch, wenn sie mit Erwartungen inkompatibel sind.

Daraus ergeben sich differenzierte Ansprüche an die Präsenz und Unterstützungsweise durch Institutionen. Analog zu Weinhardt (2013, 42-44) zeigt sich der Bedarf an einer hoch reflexiven und zeitlich entgrenzten, abrufbereiten Unterstützung. So müssen Institutionen beispielsweise auch in nachgelagerten Berufsorientierungsphasen noch präsent und greifbar sein und mögliche Anlaufstellen bereits in der Pflichtschulzeit, in der alle Jugendlichen noch institutionell erreichbar sind, transparent machen. Denn auch wenn Systematisierungsbemühungen der Übergangsbegleitung erste Früchte getragen haben, zeigt sich an den nicht erfüllten Unterstützungswünschen einiger Jugendlicher unseres Samples, dass sich ihnen diese Systematik noch nicht ausreichend erschließt. Gleichzeitig sind die differenzierten Erwartungshorizonte Jugendlicher zu berücksichtigen. Damit geht auch die Forderung nach einer Reflexion des Rollenverständnisses pädagogischer Fachkräfte der Berufsorientierung einher (vgl. Butz/Deeken 2014, 109). Unsere Ergebnisse deuten weiterhin auf die frühzeitige Stärkung der biographischen Selbstkompetenz und damit der individuellen Handlungsfähigkeit Jugendlicher hin. Gleichzeitig sollten Korrekturen eingeschlagener beruflicher Wege nicht zwangsläufig als berufsbiografisches Scheitern, sondern vor dem Hintergrund vielfältigerer und ausdifferenzierterer (Aus‑)bildungsoptionen, deren unsicherer Verwertbarkeit und komplexerer Anforderungsprofile auch als Ausdruck zunehmend zeit- und raumintensiver heutiger Berufsorientierungsprozesse verstanden werden.

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[1] Im Sinne der besseren Lesbarkeit des Textes wird die männliche Form bei Berufs- und Statusbezeichnungen verwendet. Vertreterinnen dieser Gruppen sind selbstverständlich gleichermaßen gemeint.

[2] Das Forschungsprojekt „Die Bewältigung des Übergangs Schule-Berufsausbildung bei Migrantinnen und Migranten im Vergleich zu autochthonen Jugendlichen“ (2011–2014) wird gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

„Ich will mich eher konzentrieren Richtung Altenpflege und Sicherheitsdienst“. Berufsorientierung im Übergangssystem Einstiegsqualifizierung: Eine Fallstudie.

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1 Einleitung

Berufsorientierung umfasst viele Facetten; sie wird sowohl aus sozial- und arbeitsmarktpolitischer Sicht wie auch aus berufspädagogischer Perspektive betrachtet. Während der erste Fokus viel Aufmerksamkeit genießt, bleibt der zweite weitgehend unbeachtet - am ehesten wird hier das Scheitern von Berufsorientierungsprozessen beschreiben oder auch das schwierige Arrangement mit dem Beruf (Heinz 1984; Bohnsack 1989; Panke 2005). Eine differenzierte Betrachtung der Auseinandersetzung mit dem Beruf und der Rolle als Arbeitnehmer ist jedoch wichtig, denn sie hilft, Angebote der beruflichen Bildung zu verstehen und zu bewerten und verweist auf grundsätzliche gesellschaftliche Dynamiken (vgl. Gini 2000). Der folgende Beitrag analysiert die Entstehung von Berufsorientierung im Rahmen einer EQ-Maßnahme bei einem großen Unternehmen, das ca. 400 Plätze in 10 verschiedenen EQ anbietet. Dabei wird in vier ausgewählten Einsatzfeldern (Gartenbau, Gastronomie, Service, Sicherheit) mittels klassischer berufswissenschaftlicher Methoden der Experten-Workshops, Arbeitsprozessanalysen und Interviews rekonstruiert, wie die Maßnahme auf die an ihr teilnehmenden Jugendlichen wirkt. Unter Bezugnahme auf Entwicklungstheorien interpretieren wir, worin die Wirksamkeit der Maßnahme begründet ist und wie die EQ in diesem Sinne verbessert werden könnte.

2 Die Einstiegsqualifizierung als Übergangsmaßnahme

Seit dem Ölpreisschock Mitte der 70iger und dem folgenden signifikanten Anstieg der Arbeitslosenzahlen in Deutschland ist das Thema des sogenannten Übergangssystems in den berufsbildungswissenschaftlichen Diskurs gerückt. Autoren wie Christe konstatieren:

„Neben der dualen Ausbildung und dem Schulberufssystem ist das Übergangssystem die dritte Säule der beruflichen Bildung in Deutschland“ (Christe 2011, 5).

So ermittelte die Autorengruppe Bildungsberichterstattung für das Jahr 2011 rund 524.946 Menschen im regulären Beruflichen Bildungssystem (davon 210.054 im Schulberufssystem) und 294.294 Menschen im Übergangssystem (AG Bildungsberichterstattung 2012, 277).

Die Maßnahmen des Übergangsystems bereiten i.d.R. nicht auf einen Beruf, sondern auf einen Berufsbildungsgang vor. Dabei lassen sich drei Funktionen des Übergangssystems beschreiben:

  • Überbrückung bis zur Aufnahme einer regulären Ausbildung,
  • Aufwertung der (schulischen) Qualifikation und
  • Verbesserung der Voraussetzungen zur Aufnahme einer Ausbildung durch spezifische fachliche und soziale Förderung (vgl. Dionisius/Kregel 2013, 50).

Bei der Beurteilung des Erfolgs dieser zumeist schulisch organisierten Maßnahmen fallen jedoch häufig Schlagwörter wie „Warteschleifen“ oder „Sackgassen“ (vgl. z. B. Schroeder/Thielen 209, 67ff.). An dieser Stelle kann der einschlägige Diskurs nicht umfassend wiedergegeben werden, zwei zentrale Kritikpunkte sind jedoch unstrittig:

  • die Unspezifität: Die Maßnahmen bereiten nicht auf die Ausbildung in einem Beruf, sondern bestenfalls auf einen Sektor (z. B. Metall) vor – stellen also in gewisser Weise ein „Vorratslernen“ dar – mit entsprechenden negativen Konsequenzen für die Motivation;
  • der Lernort Schule: Obwohl die Schüler im Übergangssystem auch als „Schulversager“ bezeichnet werden (es sei dahingestellt, ob die Jugendlichen oder die Schule versagten), bleiben sie in dieser Lernumgebung verhaftet.

Eingedenk dieser Probleme sowie des Fachkräftemangels in wenig attraktiven Berufen wurde im Jahr 2004 die Möglichkeit einer betrieblich organisierten Übergangsmaßnahme eröffnet, die sog. Einstiegsqualifizierung (EQ). Die Einstiegsqualifizierung (EQ) eröffnet jungen Menschen, die Interesse an einer beruflichen Ausbildung haben, aber keinen Ausbildungsplatz erhielten, die Möglichkeit, ein durchschnittlich neunmonatiges Praktikum zu absolvieren. Im Gegensatz zu normalen Praktika, bei denen der Betrieb und der Praktikant die Tätigkeitsfelder frei aushandeln können, gibt es in dieser Maßnahme von den IHK verantwortete Curricula, die berufs- und nicht sektorpropädeutisch sind. Dies kann bei späteren Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz einen Mehrwert bedeuten. In der Tat gelingt 70% der erfolgreichen Absolventen der EQ der Einstieg in die Berufsausbildung, 50% lernen anschließend sogar bei dem Unternehmen, bei dem sie die Maßnahme durchführten (Popp et al. 2012, 43).  

3 Eine Untersuchung der Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben in der Einstiegsqualifizierung

3.1 Theoretischer Hintergrund

In diesem Artikel beschreiben wir die Berufsorientierung junger Menschen in der Übergangsqualifizierung unter dem Gesichtspunkt subjektiver Aneignung beruflicher Perspektiven. Viele junge Menschen bearbeiten dabei nicht nur den Übergang in die Berufswelt, entwickeln sich gleichzeitig in Hinblick auf die allgemeine Lebensführung. Eberhard Jung (2008) schlägt in diesem Zusammenhang den Begriff der Arbeits- und Berufsfindungskompetenz vor:

„Arbeits- und Berufsfindungskompetenz erfordern eine angemessene Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten, Interessen, Wertorientierungen und Lebensentwürfen sowie mit den Inhalten und Anforderungen, Chancen und Risiken von Arbeitstätigkeiten, Berufen und Arbeitsmärkten“ (Jung 2008, 137).

Jugendliche mit Arbeits- und Berufsfindungskompetenz haben konkrete Vorstellungen von der Arbeit und der Ausbildung, die sie erwartet. Sie lassen sich nicht durch Arbeitszeiten, monotone Anfangstätigkeiten oder niedriges Lehrlingsgehalt entmutigen.

Für sozial benachteiligte Jugendliche, die häufig im Übergangssystem unterkommen, gilt es, noch umfangreichere Kompetenzen zu erwerben, um einen erfolgreichen Übergang in den Beruf zu gestalten. So beschreibt Bojanowski (2006) als Konzept der beruflichen Förderpädagogik:

„Berufliche Förderpädagogik muss bei diesen Jugendlichen nicht nur die Übergänge in die Arbeitswelt thematisieren (Zielformel: employability), sondern auch Anregungen zur eigenständigen Lebensbewältigung geben (Zielformel: independent life)“ (Bojanowski 2006, 306).

Beruforientierung geht vor diesem Hintergrund weit über das sich Informieren über einen Beruf hinaus: mitgedacht sind hier im Sinne des Paradigmas der Entwicklungsaufgaben alle Veränderungen, die durch die Herausforderung „Beruf“ an ein Individuum gestellt werden. Entwicklungsaufgaben sind Herausforderungen, die aus dem Eintreten in eine neue Lebenssituation erwachsen; aus ihrer Bearbeitung resultieren neue, handlungsleitende Deutungsmuster. Sie stehen für ein Paradigma, das Sozialisation als Prozess beschreibt, in dessen Verlauf gesellschaftliche Ansprüche mit individuellen Vorstellungen vereinbart werden. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben geht auf den Psychologen Erik Erikson (z. B. 1973) zurück. Er formulierte eine Reihe von typischen Krisen bzw. Orientierungsprozessen, die aus der biologischen und psychologischen Reifung einerseits, veränderten gesellschaftlichen Erwartungen an den Einzelnen im Lebensverlauf andererseits, resultieren. Dieses Set an Herausforderungen konkretisierte Havighurst (1972) und fokussierte es auf das pädagogische Feld. Blankertz (1986) griff das Konzept der Entwicklungsaufgaben zur Evaluation doppelqualifizierender Bildungsgänge der Sekundarstufe II auf:

„[E]rst die Einbindung des Wissens in leitende Orientierungen, in beabsichtigte Handlungspläne und so fort erlaubt uns, von Kenntnissen als Kompetenz zu sprechen“ (Blankertz 1986, 19f.).

Als allgemeine psychosoziale Entwicklungsaufgaben der Jugend werden die Ablösung aus dem Elternhaus, die Individuation, Versöhnung mit Größenphantasien und der Übergang von der Selbstfixierung zur Fähigkeit, Objektbeziehungen einzugehen, definiert (King 2002, 29f. und 177). Den umfassendsten Beitrag zur Erforschung von Entwicklungsaufgaben in der beruflichen Bildung leistete Bremer (2004), der u. a. drei zentrale Entwicklungsaufgaben des Berufseinstiegs differenzierte: die Jugendlichen müssen tragfähige Lernkonzepte entwickeln, ein Konzept beruflicher Arbeit entfalten und sich in eine berufliche Praxisgemeinschaft integrieren. Als Entwicklungsaufgaben, die in Übergangsmaßnahmen bearbeitet werden (könnten), beschreibt Ecarius (2014) die

„Aufarbeitung von Lebensproblematiken, eine langsame Stabilisierung des Selbst, die sich in einer allmählichen alltäglichen Organisation des Lebens mit regelmäßigem Aufstehen, Verantwortlichkeiten, Respekt sich selbst und anderen gegenüber äußert“ (ebd., 88).

Die Jugendlichen sind motiviert sich diesen Entwicklungsaufgaben zu stellen, wenn sie deren Relevanz als Schwelle für die weitere gesellschaftliche Teilhabe wahrnehmen und die Möglichkeit sehen, dass ihr Engagement sich lohnt (Erikson 1973, Heinz 1984). Die Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben erfolgt individuell, doch stellt das Umfeld mehr oder weniger förderliche Bedingungen zur Unterstützung bereit. Neben einer allgemeinen Haltung der Generativität seitens Erwachsener (King 2002) ist das Aufgreifen der einzelnen Entwicklungsaufgaben im Sinne von Bremer (2004) oder Ecarius (2014) eine Möglichkeit, die Jugendlichen zu fördern (Burchert in Druck; Kratzer et al. in Vorbereitung). In ähnlichem Sinne unterstreicht Panke (2005) drei wesentliche Sinnbezüge von Arbeit aus Sicht der Jugendlichen:

  • die Erkenntnis, gebraucht zu werden und sich produktiv, auch körperlich einbringen zu können, wobei der individuellen Förderung eine wichtige Rolle zukommt;
  • die Möglichkeit, Erfahrungswissen zu sammeln und es mithilfe einer fachlichen Praxisgemeinschaft zu verorten;
  • Ordnung, Autorität und Hierarchie zu erfahren als Rahmen, die einengen, aber auch Chancen zur Bewährung und Anerkennung bieten.

Vor dem Hintergrund dieser Argumentation wird deutlich, dass die berufliche Praxis zentrale Chancen für die Entwicklung von Jugendlichen bieten kann. Eine Frage, die sich stellt, ist, ob alle Jugendlichen davon profitieren können oder lediglich solche, die bereits einen bestimmten Entwicklungsstand erreicht haben. Aus der Übergangsforschung (vgl. z. B. Beiträge in Ahrens 2014) ist bekannt, dass nicht nur Jugendliche, denen es an einer wie auch immer definierten Ausbildungsreife fehlt, sondern auch solche, die durch den Mangel an Ausbildungsplätzen benachteiligt sind, in das sog. Übergangsystem vermittelt werden.

Dieser Artikel konzipiert also Berufsorientierung als umfassendes Konzept, das die lebensweltliche Entwicklung ebenso einschließt wie berufsbezogene Haltungen. Der Fokus dieser Ausarbeitung liegt dabei auf der Frage: was motiviert die Jugendlichen; was muss aus ihrer Sicht erfüllt sein, damit sie erfolgreich die EQ absolvieren und den Wunsch entwickeln, sie als Ausbildung fortzusetzen? Welche Form der Berufsorientierung erfolgt in diesem Setting und welche Rolle übernimmt die Praxisgemeinschaft? Die Beantwortung der Frage, ob die EQ Berufsorientierung fördert, ist ein zentrales berufspädagogisches Kriterium für ihre Bewertung.

3.2 Methodisches Vorgehen

Es wurden Befragungen und Arbeitsprozessanalysen durchgeführt. Die Arbeitsprozessanalysen der Einsatzplätze dienten dem Verstehen der fachinhaltlichen Hintergründe und ihrer berufspädagogischen Bewertung (vgl. Saniter et al. in Vorbereitung). Das Ziel der Befragungen war es zu verstehen, in welchen Bereichen EQ-Teilnehmende im Betrieb eingesetzt werden und wie verschiedene Akteure ((ehemalige) Teilnehmende, betriebliche Betreuer, Sozialpädagogen, Management) diesen Einsatz bewerten. Als Befragungsformen wurden Experten-Workshops und Einzelinterviews gewählt:

  • der Fokus der Experten-Workshops lag in der Erfragung dessen, welche Tätigkeiten die Jugendlichen im EQ-Jahr übernehmen, wie sie dabei mit anderen kooperieren und welche Arbeitswerkzeuge sie nutzen;
  • zentrales Thema der Einzelinterviews war die Entwicklung der EQ-Teilnehmenden, v. a. die Fragen, wie sie selbst ihre Lernprozesse im EQ-Jahr wahrgenommen haben, welche Facetten der EQ dabei besonders wichtig waren und welche Unterstützung sich die Lernenden noch gewünscht hätten, z. B. in Form digitaler Medien.
  • Mit Sozialpädagogen, die die Maßnahmen flankieren, wurden Gruppendiskussion geführt, um Herausforderungen der Bildungsarbeit mit der Zielgruppe besser zu verstehen.

Insgesamt wurden etwa 100 Personen befragt. Die Auswertung der Befragungen erfolgte zum einen inhaltsanalytisch: so wurden Geschäftsfelder, Arbeitswerkzeuge und kollegiale Kooperationsbeziehungen ebenso herausgearbeitet wie die Bildungsbiographien der Jugendlichen, die von ihnen explizierten Motive und Gestaltungswünsche. Zum anderen erfolgte eine hermeneutische Analyse, um weitere Bedeutungsebenen der Interviews zu erkunden. Diese Analyse folgte den Grundideen der Grounded Theory: die Texte wurden zunächst zeilenweise kodiert, wobei die Kodierung zunächst deskriptiv erfolgte und zunehmend zu einer Bündelung in analytische Kategorien führte (vgl. Mey/Mruck 2011). Vergleiche innerhalb eines Interviews sowie zwischen den Befragten wurden gezogen, um differenziert die Lebenslagen der Interviewpersonen zu verstehen. Die Software Atlas.ti wurde eingesetzt, um den Überblick über das Material zu behalten, aber auch um gemeinsam im Auswertungsteam diskutierte Einsichten festzuhalten (vgl. Konopasek 2011). Das im Vor-Kapitel dargestellte theoretische Vorwissen der Autorinnen wurde in der Auswertung der Daten als Folie genutzt - nicht um bestehende Forschungsergebnisse zu replizieren, sondern um zu fragen, wo Lücken in der bestehenden Argumentation bestehen, wo Differenzierung angemessen ist und wie der Stand der Forschung vorangetrieben werden kann (vgl. Clarke 2011). Dies elaborieren wir im folgenden Kapitel.

3.3 Ergebnisse

3.3.1 Einstiegsqualifizierung als Vorbereitung auf die Ausbildung

Als Vorbereitung auf die Interviews analysierten wir die Arbeitsplätze der EQ-Teilnehmenden durch Experten-Facharbeiter-Workshops. Die Einsatzplätze in der EQ orientieren sich an dem Curriculum des 1. Lehrjahres von zwei- bis dreijährigen Ausbildungsberufen. Es haben sich, je nach Arbeitsbereich, 3 bis 5 Kompetenzfelder herauskristallisiert, in denen die Teilnehmenden der ca. 9-monatigen Einstiegsqualifizierung eingesetzt werden. Diese Kompetenzfelder können beschrieben und in Hinblick auf ihr Autonomieniveau eingeschätzt werden: Autonomie ist ein wichtiges Kriterium beruflicher Arbeit und wird z. B. als Voraussetzung für Kompetenzerwerb gedeutet (vgl. z. B. Bremer 2004, Lave/Wenger 1989). Für die Einschätzung eignet sich z. B. das im Modellversuch Move Pro Europe entwickelte vierstufige Bewertungsschema, das ursprünglich für den formativen Einsatz entwickelt wurde (vgl. Burger/Saniter 2009). So ergeben sich für die von den Interviewten erfüllten Aufgabenbereiche folgende Autonomieniveaus:

Tabelle 1:     Übersicht der Arbeitstätigkeiten in der EQ und ihrer Autonomiestufe

  Beobachtet und unterstützt Unter Anleitung mitgearbeitet Unter Aufsicht gearbeitet / mit erfahrenen KollegInnen Selbständig gearbeitet / als vollwertiges Teammitglied
Gärtnerischer Bereich
Freischneiden       X
Zaunbau       X
Baumpflege   X    
Gastronomischer Bereich
Mobiler Verkauf       X
Unterstützung der Gastronomie       X
Assistenz in der Logistik     X  
Service
Bereitstellung von Informationen       X
Weitere Serviceleistungen       X
Wartung und Kontrolle     X  
Sicherheit
Sicherheits- u. Ordnungsdienst X      
Prüfdienst X X    
Tor- und Empfangsdienst   X X  

Das hohe Niveau an Selbständigkeit bei der Arbeit, welches in den meisten Arbeitsbereichen erreicht wird, scheint aus berufspädagogischer Sicht für die Wirksamkeit der Maßnahme verantwortlich zu sein. Statt kurzen Lernepisoden in unterschiedlichen Betrieben, bei denen die Teilnehmenden nicht über das Stadium „unter Anleitung“ hinauskommen, bietet die Maßnahme mit ihrem gezielten Einsatz im Betrieb umfangreiche Entwicklungsmöglichkeiten für Fähigkeiten und Fertigkeiten. Bei der Betrachtung der Tabelle ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass einzelne Aufgaben aus rechtlichen Gründen nicht selbständig bearbeitet werden dürfen, da den EQ-Teilnehmenden Zertifikate bspw. für die Ausbildung an Kampfmitteln oder der Kletterschein fehlen.

Im Dienstleistungsbereich (sowohl Gastronomie wie auch Service) sind die Arbeitsaufgaben gezielt so gestaltet, dass selbständiges Arbeiten binnen kürzester Zeit möglich ist. In den Befragungen wurde deutlich, dass das Engagement der Auszubildenden stark dadurch gefördert wird, dass sie im Sinne einer „legitimate peripheral participation“ (Lave/Wenger 1989) die Gelegenheit erhalten, schrittweise einen Beruf kennenzulernen und bereits erste Aufgaben darin zu übernehmen. Daher wird auch das Autonomieniveau „unter Anleitung gearbeitet“ nur in wenigen Kompetenzfeldern als Endresultat angegeben, es ist im Sinne eines Hineinwachsens in die Praxisgemeinschaft ein notwendiger Zwischenschritt.

Diese Art der produktiven Tätigkeit ist ein weiterer Punkt, der die Einstiegsqualifizierung zentral von anderen, zumeist schulischen Programmen des Übergangssystems unterscheidet:

  1. Die Produkte oder Dienstleistungen werden für ein reales Unternehmen unter Marktbedingungen erbracht und nicht im Rahmen von „Schülerfirmen“.
  2. Die Zusammenarbeit erfolgt zumeist mit unterschiedlichen Erfahrungs- und Hierarchiestufen und nicht nur mit Gleichaltrigen und ein bis zwei Mitgliedern des Lehrpersonals.
  3. Der reale Arbeitsalltag mit Stress, aber auch mit Leerlauf, wird (soweit es im Rahmen des Jugendschutzes möglich ist) erfahren.

Dies korrespondiert bspw. mit den Ergebnissen von Panke (2005), die unterstreicht, dass die Möglichkeit, authentische Arbeitstätigkeiten auszuüben und in eine betriebliche Praxisgemeinschaft integriert zu werden, von besonderer Bedeutung sind. In den Interviews wurde die motivierende Wirkung der Praxis in Zitaten wie diesen deutlich:

“Für mich war’s erst komisch, ich dacht’ mir: ok [...]. Seitdem ich das erste Mal auf dem [Arbeitsplatz] war: ich find’s toll, das Team, das ist alles toll, ich könnt’ schwärmen” (P6, 37).

“Also ich merk' das schon, wenn ich morgens in meine Dienstkleidung sozusagen einsteige, ich fühl' mich dann irgendwie erwachsener halt, also dass es jetzt wirklich losgeht und die Schulzeit vorbei ist sozusagen. Und äh ja, von der Arbeit her, also mein Teamchef hat mir auch halt gesagt, dass ich mich auch gemacht hab',  in dem Jahr jetzt” (P2, 80).

3.3.2 Ein Happy Sample zwischen Abwechslung und Stabilisierung – die subjektive Perspektive der Teilnehmer

Die Interviewpersonen zeigten sich allesamt sehr zufrieden mit der EQ-Maßnahme. Dabei fanden wir zwei Typen von Entwicklung vor: Jugendliche, die “vom ersten Tag an” mit ihrem Praktikumsplatz einverstanden waren und solche, die die Maßnahme als Alternative oder Kompromiss zu nicht erfüllten Berufswünschen erleben, aber dennoch zufrieden mit ihrer jetzigen Situation sind. Es finden sich in Hinblick auf die Maßnahme oder den Beruf, auf den sie vorbereitet hat, keine Aussagen, die auf Enttäuschung oder Ernüchterung hindeuten, was in Kontrast steht zu den Beobachtungen z. B. von Bohnsack (1989) oder Panke (2005). Womit lässt sich dieser nahezu provokativ positive Befund erklären?

Obwohl die Praktikumsplätze in der als Fallbeispiel gewählten Einstiegsqualifizierung nicht komplex sind und vor allem einfache Aufgaben umfassen, erleben viele Jugendliche sie als abwechslungsreich. Die Abwechslung scheint dabei den Übergang zwischen dem psychosozialen Moratorium der Adoleszenz und der Verantwortungsübernahme im Erwachsenenalter zu erleichtern. Exemplarisch stehen dafür Aussagen wie:

“also mir macht der Beruf jetzt schon Spaß, auch immer noch und also ich denk' schon, dass das auch was für die Zukunft sein wird, weil es halt abwechslungsreich ist. Und in der Ausbildung sind wir ja auf Seminaren, wir sind an unterschiedlichen Standorten. Das wird immer Abwechslung sein, deswegen. Und das hab' ich bis jetzt... Seit 'm Praktikum, also Rechtsanwaltsfachangestellte hatte ich eins, als Floristin, und es war immer was unterschiedliches, und das war halt nicht so: es war immer das Gleiche, das war halt der Alltag, und auf der Arbeit, klar, ist manchmal auch, es wiederholt sich alles, aber halt nicht so regelmäßig, also es wiederholt sich jetzt nicht jeden Tag, weil man hat ja auch jeden Tag andere Menschen um sich, sei es vom Team her oder von den Kunden und andere  Aufgaben halt” (P2, 49).

Abwechslung entsteht in der untersuchten Einstiegsqualifizierung, in der vor allem Praktika im Dienstleistungsbereich angeboten werden, durch Kundenkontakt, Standortwechsel, eine Variation von Aufgaben, Teamwechsel und Zusammenarbeit mit verschiedenen Kollegen. Für viele Jugendliche ist es wichtig, auch körperlich nicht fixiert zu sein:

“Vorher wusst‘ ich das selber nicht, aber ich bin auch nicht so der Büromensch, also im Vertrieb hätt‘ ich nicht arbeiten können. Ich kann das einfach nicht, ich kann nicht sitzen, zwar arbeite ich auch mit den Kunden, aber ich muss mich bewegen, ich kann wirklich nicht den ganzen Tag sitzen. Ich kann das einfach nicht” (P6, 61).

Obwohl Abwechslung den Jugendlichen wichtig ist, schätzen sie auch ihren scheinbaren Widerspruch, die Stabilität und Stabilisierung, die sie im Verlauf der Maßnahme erleben. Dies zeigt sich auf mehreren Ebenen. Zum einen scheinen die Jugendlichen nach dem Schock, keinen regulären Ausbildungsplatz erhalten zu haben, darauf erpicht zu sein, in ihrer Einstiegsqualifizierung, die sie als Chance erleben, Engagement und Leistung zu zeigen:

“Dann musste ich schnell eine Ausbildungsstelle finden und da waren halt nicht viele Stellen frei und ich wollt dann halt unbedingt in [Betrieb] kommen. Dabei habe ich dieses [Einstiegsqualifizierungs-]Projekt gefunden, hab dann gesagt: ok, ich nehm’ dran teil und zeig halt dann mein Leistung, weil mein Abgangszeugnis das war ziemlich schlecht und die Leute haben dann direkt Absagen geschickt. Deshalb musste ich mich halt beweisen und dazu diente halt dieses  [Einstiegsqualifizierungs-]Projekt” (P3, 17).

Diese Perspektive nimmt nicht nur die klassischen Zielgruppe der EQ, die Hauptschulabsolventen, ein (zu der der oben zitierte P3 gehört), sondern sie wird auch von marktbenachteiligten Jugendlichen wie P4 vetreten, die Fachabitur hat:  

“Ja, ähm, ich bin durch, durch Arbeitsamt auf, ähm...Die haben mir da so ‘n Zettel gegeben, dass ich mich hier bewerben soll. Ich hatte vorher schon ziemlich viele Bewerbungen rausgeschickt, so über die 60 Stück und hab leider, also viele Absagen bekommen. Einige Bewerbungsgespräche und Einstellungstests waren mit dabei, aber ich hab‘ ‘n kleines Kind und dadurch war das ‘n bisschen schwierig für mich ‘ne Ausbildung zu finden, wodurch ich dann den Weg [Einsteigsqualifizierung] gegangen bin, weil ich mir dachte: ok, vielleicht ist das für mich ‘ne gute Möglichkeit, dann dort ‘ne Ausbildung zu finden” (P4, 5).

In Hinblick auf ihre beruflichen Interessen hatten viele Befragte dabei keine inhaltlichen Orientierungen sondern eher grobe Vorstellungen, die aus Gesprächen mit Familienmitgliedern und Freunden resultierten:

“Das war halt über mein, meine Berufsberaterin. Ich hab aber durch verschiedene Freunde schon gehört, weil die selber im Sicherheitsbereich arbeiten. Und, ja, mein bester Kollege halt, ähm, als Altenpfleger arbeitet, so. Und ich hatte halt Interesse an verschiedenen Jobs, wollte, ja, vieles, Neues kennenlernen halt. So, und dann meinte ich zur Berufsberaterin halt, ähm (.) ich will mich eher konzentrieren Richtung Altenpflege und Sicherheitsdienst” (P9, 2).

Viele Jugendliche berichten, dass sie sich durch Forderungen der betrieblichen Praxisgemeinschaft gefördert fühlen. So berichtet P10, der etwas anderes machen wollte, wie folgt von seinem Lernweg:

“Also ich bin... eigentlich alles nur gemacht, weil ich eigentlich woanders reinrutschen wollte und dann habe ich gesagt: ok, das ist eigentlich gar nicht so mein Ding. Bin halt öfter zu spät gekommen und irgendwann hat dann halt mein Vorarbeiter gesagt, ja so geht’s nicht weiter. Und dann war es auf einmal nach zwei, drei Wochen drinne, dass ich halt immer pünktlich war. [...] Man ist dann ja auch  ganz anders miteinander umgegangen. Vorher war’s immer nur so’n: Tach, Tschüss, Wie geht’s? Und jetzt ist es halt so richtiges Kommunikationsfeld geworden, wo man halt auch mal privat miteinander redet und sich trifft” (P10, 29).

Die Selbstdisziplinierung ist hier nicht nur eine Anpassung, sondern eröffnet auch durch eine Integration in die Praxisgemeinschaft neue soziale Anknüpfungspunkte und eine Stabilisierung im lebensweltlichen Bereich. Das Engagement geht bei einigen Interviewten so weit, dass sie einen deutlichen Mehreinsatz leisten. So nimmt P8 eineinhalb Stunden Fahrtzeit pro Richtung in Kauf und dies bei einer 10-Stunden-Schicht. Sie berichtet ebenfalls begeistert:

“Also die Ausbilder Herr Dietrich und Herr Brendel[1] sind das... die sind echt... Also: von 100 Punkten würde ich den’ wirklich 100 Punkte geben, weil die sind echt... Die haben auch Interesse an der Person, weißt du, die ähm, die fragen nach, wenn sie merken, da stimmt irgendwas nicht, die hat schlechte Laune” (P8, 105-107).

Mit dem Kontakt in die Praxisgemeinschaft konkretisieren sich auch die Vorstellungen für die darauffolgende Ausbildung. Die Teilnehmer berichten häufig davon, dass sie die Gelegenheit nutzen, Auszubildende nach ihren Erfahrungen in Berufsschule oder am Arbeitsplatz zu fragen. Die Interviewten entwickeln sukzessive eine klare Vorstellung darüber, was nach Beendigung der Maßnahme kommt; ein Faktor, der entscheidend für die erfolgreiche Bewältigung von Ausbildung ist. In diesem Zusammenhang erscheint die Tatsache problematisch, dass Einstiegsqualifizierungen auch von Unternehmen angeboten werden, die keine Ausbildungsplätze bereitstellen. Auch die von uns untersuchten Geschäftsbereich stellen nicht alle erfolgreichen EQ-Absolventen ein: Von den 15 Interviewten, die noch in der EQ sind, hatten sechs noch keine endgültige Zu- oder Absage in Hinblick auf eine Ausbildungsplatzes. Obwohl die Teilnehmenden wissen, dass sie mit externen Bewerbern konkurrieren, finden sich in keinem der Interviews Zukunftsentwürfe jenseits der Ausbildung in dem EQ-Betrieb. Das 9-monatige Engagement sowie die positive Rückmeldung aus der Praxisgemeinschaft sorgen für eine Stabilisierung der Lebensentwürfe, die gleichzeitig zu einer Beschränkung der Optionen führt. Der persönliche Einsatz für das Unternehmen, so die Erwartung der Jugendlichen, soll sich auch in einem konkreten Ausbildungsplatz niederschlagen. Die durch die Maßnahme erworbene Qualifizierung (durch ein IHK-Zertifikat bestätigt) wird nicht als ein Schritt auf dem Weg zum Wunschberuf angesehen; die Orientierung bleibt auf den konkreten Arbeitsplatz, den konkreten Betrieb verhaftet.

3.3.3 Konzentration auf Qualifizierung anstelle von Qualifikation – ergänzende Perspektive der Sozialpädagogen

Die hier untersuchte Einstiegsqualifizierung wird einerseits von schulischen Kursen (Deutsch, Mathe, Englisch) flankiert, andererseits von sozialpädagogischen Maßnahmen begleitet. Damit wird in dieser spezifischen Maßnahme eine Art duales Modell aus Schulungen und Praxisphasen abgebildet. Mit den betreuenden Sozialpädagogen wurde eine Gruppendiskussion geführt. Die aus den Teilnehmerinterviews herausgearbeitete Fokussierung auf den konkreten Arbeitsplatz spiegelt sich auch in den Einschätzungen des sozialpädagogischen Bildungspersonals wieder. Es kristallisieren sich jedoch berufsspezifische Unterschiede heraus. So ist Bm für die Teilnehmer im Bereich Sicherheit zuständig, Am für Reinigung und Gartenbau, Ff für Service und Gastronomie.

Im Bereich des Service und der Gastronomie berichtet Ff von dem typischen Teilnehmer:

„Zwischen 17 und 18, das ist so das Hauptalter, auch so Haupt- oder Realschulabschluss. Anfangs motiviert, … nachher so in den letzten Monaten wird’s immer ‘n bisschen uninteressanter, aber so an sich… von Anfang bis zum Ende dann begeistert“ (Ff, 56).

Ff berichtet hier von Phasen der Ernüchterung am Ende der Qualifikation, wie sie so in unseren Interviews mit den Teilnehmenden nicht zu Tage traten, bestätigt aber die grundsätzlich positive Einschätzung. Die hier angebotene Einstiegsqualifizierung im Bereich Gastronomie kann zu zwei Ausbildungsberufen führen: einmal im Bereich Gastronomie und zum anderen im Bereich Service. Im Gegensatz zu den anderen Arbeitsbereichen sind hier Tätigkeiten geschaffen worden, die sich nicht in der Ausbildung wiederholen, sondern speziell von den Teilnehmern erledigt werden. Die eingangs zitierte Begeisterung von P6 über „das Team“ zeigt dennoch, wie es der Praxisgemeinschaft gelingt, diese Teilnehmer zu integrieren. Die Begeisterung für die Tätigkeit erstreckt sich daher, wie bereits herausgearbeitet, nicht auf den konkreten Beruf (den die Teilnehmer ja noch nicht ausfüllen), sondern auf ihre Hilfstätigkeiten, die sie trotzdem als in die Praxisgemeinschaft mit eingebunden erleben.

Der Interviewte Am betreut den Bereich Gartenbau und Gebäudereinigung. Den typischen Teilnehmer an der EQ beschreibt er wie folgt und bestätigt den Hinweis auf die körperliche Betätigung als ein positives Kriterium für die Arbeit

„das sind eigentlich in der Regel relativ erst mal Robuste… die dann auch so ‘n Stück körperlich sich das zutrauen, die auch bestimmte Vorerfahrungen haben, teilweise sehr viel Bewegungsdrang. Hab‘ da schon viele Sachen erlebt, dann auch die müssen natürlich körperlich auch richtig dran, ran“ (Am, 66).

Bm wiederum berichtet:

„Der typische Teilnehmer im Sicherheitsbereich hat Hauptschulabschluss, mit Glück Realschulabschluss. Hat die Vorstellung, dass es irgendwo was mit Personenschutz zu tun hat, was er aber dann doch nicht weiter verfolgt. Hat irgendwie Interesse dran, ist fasziniert davon und sucht einen sicheren Arbeitgeber […]. Das ist so der typische Teilnehmer, der wird dann in die Ausbildung übernommen, der schafft dann eigentlich auch die Ausbildung“ (Bm, 52).

Die Teilnehmenden im Bereich Sicherheit treten zumeist mit einer klaren Berufsorientierung an. Mit dem § 34 A Schein, der zu Beginn der Maßnahme erworben werden muss, erhalten diese Teilnehmer auch bereits die Möglichkeit, ohne Ausbildung im Sicherheitsgewerbe zu arbeiten, stehen demnach dem Ausbildungsmarkt zur Verfügung. Diese klare Berufsorientierung hat sich auch in unseren Interviews widergespiegelt: die Teilnehmenden haben sich alle gezielt auf die Einstiegsqualifizierung in diesem Bereich beworben. Mit dem § 34 A werden auch bereits erste fachliche Inhalte vermittelt, die dann in der anschließenden Ausbildung vertieft werden. Eine solche aufbauende Vorbereitung fehlt in der Regel in den anderen Einsatzbereichen. Auf die Frage, ob sie vorbereitenden Fachunterricht für die Teilnehmenden begrüßen würde, antwortet Ff:

„Zum Beispiel, ich weiß, dass wenn die […] in die Berufsschule gehen nachher, Ernährung und was weiß ich wie die heißt, die, die setzen sich da tagelang hin und äh, besprechen sämtliche Käse- und Wurstsorten. Und, ähm, die … sagen dann: äh, ja, interessiert mich jetzt doch noch nicht, keine Ahnung. Und die haben mit ihrem [mobilen Verkauf] jetzt auch noch nichts mit diesen Sachen zu tun, von daher“ (Ff, 112).

Am sieht es ähnlich skeptisch:

„Fachtrainer, hier den Hans, der dann auch Elektronik, Elektrotechnik, der das mal versucht hat so ‘n bisschen, aber in… Ich glaube, da ist auch die Bereitschaft jetzt auch von den Teilnehmern her nicht unbedingt so schon gut. Sobald sie wissen, wenn ‘ne Ausbildungsplatzzusage da ist, ‘ne, und das ist ja meist erst schon, wenn die Unterrichte abgeschlossen sind, dann ist vielleicht das Interesse dann da, ‘ne, aber vorweg, ‘ne, so nach dem Motto, warum soll ich mich da jetzt schon mit diesen Sachen beschäftigen, ich weiß ja sowieso noch nicht, ob ich in ‘ne Ausbildung geh, das ist dann immer nochmal schwer zu vermitteln. Aber ich denk‘ mal so als Vorbereitung, was wir leisten, ist zumindest einhalten der Regeln, also Pünktlichkeit, da sein, Durchhaltevermögen vielleicht auch“ (Am, 101).

Die Sozialpädagogen schätzen die Jugendlichen als noch nicht motiviert für die Auseinandersetzung mit Fachinhalten ein. Dies scheint zum einen der Schulmüdigkeit vieler EQ-Teilnehmenden geschuldet, die sich zwar für praktische Arbeiten begeistern können (s.o.), aber schulische Lern-Formen ablehnen. Die Skepsis von Am geht darüber hinaus: für die Jugendlichen stellt aus seiner Sicht ein Fachtraining ein Investment dar, das sie im Angesichts noch unklarer Ausbildungs- und Zukunftsperspektiven nicht bereit sind einzugehen. Das Engagement erstreckt sich auf die aktuelle Maßnahme, auf die Qualifizierung, es scheint kein Schritt in eine stabile Berufsorientierung zu sein, die eine breite Qualifikation vor Augen hat.

4 Schlussfolgerungen

Die Fallstudie verdeutlicht die Bedeutung von Abwechslung und Integration in den betrieblichen Alltag als zwei Faktoren, die jungen Menschen die Berufsorientierung erleichtern, wobei in der untersuchten Gruppe aus Sicht der Betroffenen nicht lediglich eine Orientierung, sondern bereits der Einstieg in die Beruflichkeit erfolgte. Dabei sehen die Jugendlichen nicht die Inhalte des Berufes als Motivation an, sondern die Integration in eine berufliche Praxisgemeinschaft, genauer: in diese eine betriebliche Praxisgemeinschaft. Diese Orientierung an der konkreten Arbeitgruppe ist durch die Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe und das niedrige Komplexitätsniveau der Arbeitsaufgaben motiviert, muss aber auch vor dem Hintergrund erlebter Zurückweisung und Unsicherheit (s. o.) interpretiert werden.

Eine Ausnahme bildet die Gruppe der Sicherheitskräfte. Hier findet schon vor dem Einstieg in die Maßnahme eine klare Berufsorientierung statt, die dann auch durch die Maßnahme führt und zumeist auch die erfolgreiche Bewältigung der Ausbildung befördert. Weitere Untersuchungen der EQ sind notwendig, um den hier vorgestellten Befund differenziert einzuschätzen – es mag sein, dass besondere Charakteristika des Arbeitgebers die vorliegende Einschätzung prägen.

Das Risiko betrieblicher Orientierung liegt in der faktischen Brüchigkeit von Erwerbsbiographien; auch ist strukturell eine Übernahme nach der EQ nicht immer gewährleistet. So entspricht die Zahl der zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätze nicht immer den angebotenen Plätzen in der Einstiegsqualifizierung: die Personalplanung erfolgt teilweise von Jahr zu Jahr, so dass es zu einer Art „Überrekrutierung“ kommen kann. Diese Überrekrutierung macht im Hinblick auf potenzielle Abbrecher Sinn, sie führt aber dazu, dass Jugendliche, die erfolgreich das Praktikum absolviert und sich für den Betrieb engagiert haben, miteinander und z.T. mit externen höherqualifizierten Bewerberinnen um Ausbildungsplätze konkurrieren müssen. Dies erscheint als grundsätzliches Dilemma des Übergangssystems und der Einstiegsqualifizierung: Gesetzlich ist nicht vorgeschrieben, dass Betriebe in der Einstiegsqualifizierung auch Ausbildungsplätze und damit einen möglichen Übergang anbieten müssen (Popp et al. 2012). In den Interviews unterstrichen die Jugendlichen, dass für sie ein Scheitern beim Übergang in die Ausbildung einer persönlichen Tragödie gleich käme. Untersuchungen, die Auswirkungen eines solchen Rückschlags auf die psychosoziale Stabilisierung sozial benachteiligter Jugendlicher beschreiben, stehen noch aus. Hier wäre z. B. zu fragen: suchen die Jugendlichen im selben Tätigkeitsfeld oder orientieren sie sich ganz neu? Orientieren sie sich überhaupt neu oder steigen sie aus dem traditionellen Lohnerwerbssystem aus?

Die in der Literatur geschilderte Ernüchterung bei der Berufsorientierung ist in unserem Sample nicht zu finden. Dies liegt sicherlich zum einen an der Auswahl der Interviewpartner, die alle die Maßnahme erfolgreich durchlaufen haben sowie an dem Fokus der Fragestellung, der sich auf die Erfahrungen und Bewertungen der Maßnahme konzentriert und nicht auf die Suche davor. Es scheint untersuchenswert, ob die Ernüchterung während der Ausbildung noch eintritt - zumal sich begeisternde Arbeitsaspekte wie die Abwechslung im Laufe der Zeit relativieren können. Gleichzeitig ist die Frage zu stellen, ob sich und ab wann sich eine Berufsorientierung herausbildet, die von der lokalen Praxisgemeinschaft abstrahiert.

Die Berufsorientierung in der von uns untersuchten Einstiegsqualifizierung ist somit teilweise als Chance, teilweise als Risiko zu bewerten. Einerseits erleben die Jugendlichen, dass sie produktiv in einer betrieblichen Praxisgemeinschaft  wirken können, was grundlegende psychosoziale Entwicklungen anzuregen scheint (z. B. zunehmende Verbindlichkeit und Verantwortungsübernahme). Andererseits fokussieren sie sich so stark auf den EQ-Betrieb, dass ein Wechsel in ein anderes Unternehmen für sie schwer vorstellbar und potentiell zu einem weiteren Bruch in ihrer schwierigen Erwerbs(such)-Biographie wird. Wünschenswert ist daher, die allzu betriebliche Orientierung der Jugendlichen aufzufangen - oder bessere Bedingungen für die Übernahme in die Ausbildung sicherzustellen.

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[1] Namen sind zur Anonymisierung gewählt worden.

Berufsorientierung in einer inklusiven Schule

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1 Einleitung

Der ‚Erfolg‘ einer Schule zeigt sich nicht zuletzt daran, dass allen Jugendlichen ein Übergang von der Schule in die weiterführende allgemeine oder berufliche Bildung (vgl. Preuss-Lausitz 2014; Brüggemann/Rahn 2013) gelingt. Ein Ausbildungsabschluss ist eine zentrale Voraussetzung für Erwerbsarbeit, die wiederum wesentlich die Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bestimmt (vgl. Meyer et al. 2012). Jugendliche auf den Übergang vorzubereiten und in der Situation des Übergangs zu unterstützen, ist somit eine zentrale Aufgabe der allgemeinbildenden Schule (vgl. Meyer et al. 2012). In einer inklusiven Schule steht die Berufsorientierung allerdings aufgrund der zunehmend heterogen zusammengesetzten Lerngruppen vor besonderen Herausforderungen: (1) die Vielfalt möglicher Anschlüsse nimmt zu, (2) individuelle Informations-, Orientierungs- und Reflexionsprozesse während des Berufsorientierungsprozesse der Jugendlichen unterscheiden sich stärker sowie (3) Unterstützungsbedarfe, die jeweils für jede Schülerin bzw. jeden Schüler festgestellt und erfüllt werden sollten, variieren mehr. Trotz dieser Herausforderungen sollte es Ziel einer inklusiven Berufsorientierung sein, SchülerInnen so zu unterstützen, dass sie Anschlüsse wählen, die ihren Potenzialen entsprechen (vgl. Koch/Textor 2015). SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wählen hingegen oftmals Anschlüsse die hinter ihren Möglichkeiten liegen (vgl. Nigges-Gellrich/Schmidt 2013). Ein Grund hierfür ist die Neigung unterstützender professioneller Akteure außerbetriebliche Qualifizierungswege zu empfehlen (vgl. Ginnold 2008), ohne angemessen zu berücksichtigen, dass die Chance für den Jugendlichen an Ausbildung und Arbeitsmarkt teilhaben zu können, damit eher verringert wird (vgl. Bylinski/Rützel 2011, 15). Inklusive Lerngruppen benötigen somit ein differenziertes und individualisiertes Angebot an Unterstützung (vgl. Koch/Textor 2015), welches die vielfältigen Möglichkeiten weiterer allgemeiner und beruflicher Bildung thematisiert. Dazu gehören berufsorientierende Maßnahmen, die Jugendlichen die Möglichkeit bieten sich zu informieren, zu orientieren und über das Verhältnis zwischen eigenen Interessen und Fähigkeiten sowie Anforderungen in neuen Lernumwelten zu reflektieren. Ziel des berufsorientierenden Prozesses der Jugendlichen ist es, sich schließlich für einen Weg fundiert entscheiden zu können.

Angesichts der skizzierten Anforderungen wird in diesem Beitrag die Frage aufgeworfen, in welchem Umfang bestehende Konzepte zur Berufsorientierung – konkretisiert an zwei Beispielen – diesen Herausforderungen angemessen begegnen können. Zur Klärung der Fragestellung werden Merkmale aus Theorien zur inklusiven Pädagogik (vgl. Sander 2004; Hinz 2009) und aus dem Index für Inklusion (vgl. Booth/Ainscow 2003) abgeleitet, die für eine Analyse bestehender Konzepte herangezogen werden. Die folgende Betrachtung richtet sich auf zwei Konzepte: der Berufswahlpass und die Individuelle Förderplanung Berufliche Integration. Sie sind für die Analyse ausgewählt worden, weil sie für unterschiedliche Schulformen entwickelt worden sind, sie über einen relativ hohen Verbreitungsgrad verfügen und sie weitgehend maßgebliche qualitative Maßstäbe der Berufsorientierung erfüllen. Mit dem Beitrag werden folgende Ziele verfolgt: (1) Es sollen strukturelle und qualitative Merkmale einer inklusiven Berufsorientierung herauszuarbeitet werden. (2) Es soll mit diesen Merkmalen geprüft werden, ob vorhandene Konzepte eine Grundlage für eine inklusive Berufsorientierung bilden können. (3) Es sollen Ansatzpunkte für weitere Transitionsforschung bestimmt werden.

Hierzu werden zunächst wesentliche Kennzeichen des bildungspolitischen Wandels zu einer inklusiven Schule beschrieben aus denen sich unterschiedliche Rahmenbedingungen für die Umsetzung einer schulischen Berufsorientierung ergeben. Zentraler Aspekt dieses Kapitel ist die Darstellung struktureller Merkmale einer inklusiven Berufsorientierung. Es folgt eine Aufführung zentraler Qualitätsmerkmale bisheriger schulischer Berufsorientierung und eine Skizzierung der beiden ausgewählten Konzepte Berufswahlpass und Individuelle Förderplanung Berufliche Integration, die für die exemplarische Analyse herangezogen werden. Danach werden zentrale Merkmale inklusiver Settings auf der Ebene der einzelnen Schule erläutert, um daraus Indikatoren für eine inklusive Berufsorientierung zu entwickeln. In diesem Kapitel werden qualitative Maßstäbe schulischer Berufsorientierung mit denen einer inklusiven Pädagogik verknüpft. Es schließt die Analyse an, die sowohl auf die strukturellen Merkmale einer inklusiven Berufsorientierung als auch auf die entwickelten Indikatoren zurückgreift. Im Fazit werden zentrale Ergebnisse der Analyse nochmals aufgegriffen und in Forschungsbedarfe überführt.

2 Die inklusive Schule

Aus einer längerfristigen Perspektive zeichnen sich mit Blick auf die Sekundarstufe für die Zukunft folgende zwei zentrale Entwicklungsstränge der Schulstruktur ab: Erstens verweisen Ergebnisse der Schulstrukturforschung darauf, dass aufgrund des Elternwahlrechtes am Übergang von der Primarstufe zur Sekundarstufe und des demographischen Wandels das Schulsystem über alle Bundesländer hinweg langfristig voraussichtlich zweigliedrig wird (vgl. Rösner 2010). Dies ist beispielsweise bereits in Hamburg der Fall. Das zweigliedrige System sieht das Gymnasium und eine weitere Schulform (in Hamburg ist dies z.B. die Stadtteilschule) vor, die ebenfalls gymnasiale Standards bietet. Zweitens ist erkennbar, dass beide Schulformen inklusiv werden können. Jugendliche mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf können zumindest theoretisch in beide Schulen aufgenommen und ggf. zieldifferent unterrichtet werden. Die Eltern sollen darüber entscheiden, ob sie ihr Kind an einem Gymnasium oder in der anderen Schulform anmelden. Gegenwärtig bleibt allerdings das Förderschulsystem in den einzelnen Bundesländern in unterschiedlichem Ausmaß erhalten (vgl. Preuss-Lausitz 2010). Die Eltern entscheiden derzeit, auf welche Schule ihr Kind gehen soll: entweder in eine Förderschule oder in eine Regelschule. Eine besondere Rolle spielen die Förderschwerpunkte Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache, da für diese Förderschwerpunkte am ehesten eine Integration in das Regelschulwesen zu erwarten ist. Somit wird zurzeit in den einzelnen Bundesländern in unterschiedlichem Maße eine Parallelstruktur aufgebaut: Zum einen bleibt die separative Schulstruktur erhalten. Zum anderen werden inklusive Schulen eingerichtet. Fraglich ist, ob die einzelnen Bundesländer durch ihre sowohl inklusiven als auch exklusiven Rahmenvorgaben unterschiedliche Spielräume für eine Umsetzung inklusiver Praxis bieten. Aktuelle empirische Studien greifen diese Fragestellung auf und untersuchen die Wirksamkeit inklusiver vs. exklusiver Modelle (vgl. Wild et al. im Druck). Zur Analyse von Unterschieden in der Umsetzung inklusiver Bildung sind folgende Dimensionen (Koch/Textor 2015, 112ff.) hilfreich:

Art der Ressourcenzuweisung

Die Ressourcenzuweisung kann mit SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf verknüpft sein oder der Schule pauschal zugewiesen werden. Eine pauschale Zuweisung von Ressourcen ist mit einer inklusiven Praxis eher zu vereinbaren (vgl. Koch/Textor 2015). So kann auf eine für die Schülerin bzw. den Schüler stigmatisierende Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs verzichtet werden. Zudem sind die Schulen nicht dazu gezwungen, solche Verfahren einzuleiten, um die erforderlichen Ressourcen zu bekommen. Darüber hinaus können sie mit den bereits vorhandenen Ressourcen auf die Probleme in der Schule zeitnah reagieren (vgl. Koch/Textor 2015). In Hamburg (vgl. Freie und Hansestadt Hamburg 2015) wird beispielsweise ein Mischmodell gefahren. So erhalten Grundschulen und Stadtteilschulen eine pauschale Zuweisung. Bei bestimmten Förderschwerpunkten (z.B. geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Sehen, Hören und Kommunikation, Autismus, Krankheit) erfolgt eine Zuweisung der Ressourcen an eine Hamburger Schule über die gutachtliche Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs einer Schülerin bzw. eines Schülers. In Niedersachsen (Niedersächsisches Kultusministerium 2012) beispielsweise werden bei der Ressourcenvergabe noch die Besonderheiten des Standortes berücksichtigt (z.B. bei einem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund).

Verortung sonderpädagogischer Ressourcen

Sonderpädagogische LehrerInnen können an zwei Stellen verortet sein: zum einen an der inklusiven Einzelschule (z.B. in Hamburg) und zum anderen in übergeordneten sonderpädagogischen Förderzentren (z.B. in Niedersachsen). Trifft ersteres zu, sind die sonderpädagogischen LehrerInnen Teil des Kollegiums. In dem anderen Fall bleiben die sonderpädagogischen LehrerInnen am Förderzentrum verortet und die Regelschule erhält ein bestimmtes Stundenkontingent. Förderlich für eine inklusive Praxis ist vermutlich die Verortung der sonderpädagogischen LehrerInnen an der Einzelschule, weil dies im Sinne einer inklusiven Pädagogik eher Möglichkeiten bietet, den Unterricht gemeinsam für die inklusive Lerngruppe zu planen, durchzuführen und zu reflektieren. Die bereits zitierte Studie von Wild et al. (im Druck) untersucht u.a., ob verschiedene Verortungen der sonderpädagogischen Ressourcen unterschiedliche Wirkungen zeigen.

Konzeptionell bedingtes Ausmaß der Segregation

Diese Dimension bezieht sich auf das Ausmaß der konzeptionell bedingten äußeren Differenzierung. Hierbei werden drei Modelle unterschieden (vgl. Koch/Textor 2015): Kooperationsklassen, Pullout-Modelle und gemeinsamer Unterricht. Kooperationsklassen sind an der Regelschule eingerichtete Förderschulklassen. Das Konzept sieht eine Kooperation zwischen Regelschulklasse und der Förderschulklasse vor. Das Ausmaß der Kooperation und damit auch das Ausmaß an Segregation werden von der Schule bestimmt. Pullout-Modelle beinhalten, dass in einem Teil der Lernzeit die Kinder bzw. Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Gruppen oder einzeln unterrichtet werden. Im gemeinsamen Unterricht wird dann auf jegliche Formen äußerer Differenzierung verzichtet. Formen äußerer Differenzierung erfüllen nicht die Bedingungen einer inklusiven Pädagogik (vgl. Koch/Textor 2015), weil das Anregungspotenzial einer heterogenen Gruppe dann nicht mehr für Lernprozesse genutzt werden kann (vgl. Hinz 2009). In Niedersachsen (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium 2012) beispielsweise sind alle drei Formen zu finden. Hamburg (vgl. Freie und Hansestadt Hamburg 2015) hingegen arbeitet nur mit dem gemeinsamen Unterricht und Pullout-Modellen.

Die hier geschilderte Vielfalt der Umsetzung inklusiver Bildung, die durch die föderalistische Struktur bedingt ist, ist für eine inklusive Pädagogik hinderlich (vgl. Powell 2013). Bezogen auf eine schulische Berufsorientierung ergibt sich angesichts dieser Situation folgendes Konglomerat: Erstens ist Berufsorientierung eine Aufgabe für die verbleibenden Förderschulen, für Gymnasien, die Kinder bzw. Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf zieldifferent unterrichten und für alle anderen Schulen der Sekundarstufe I und II neben dem Gymnasium, die sich aufgrund der unterschiedlich heterogen zusammengesetzten Lerngruppen jeweils anders stellt. Zweitens kann aufgrund fehlender Erfahrungen und Kompetenzen seitens der professionellen Akteure nicht ausreichend geregelt sein, wer für die Berufsorientierung die Verantwortung übernehmen soll: die sonderpädagogischen LehrerInnen für die SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf oder die zuständigen LehrerInnen in einem multiprofessionellen Team auf der Basis eines schulischen Berufsorientierungskonzeptes, welches die heterogen zusammengesetzten Lerngruppen als Ausgangspunkt für die Planung nimmt. Drittens können bis auf die verbleibenden Förderschulen, alle Schulen mit allen möglichen Förderschwerpunkten in Berührung kommen und damit alle Anschlüsse relevant werden, die das berufliche und das allgemeinbildende Bildungssystem vorhält: wie Regelausbildung, Benachteiligtenförderung, berufliche Rehabilitation und gymnasiale Oberstufe. Die ersten drei berufsbildenden Segmente sind jeweils durch eine starke und unübersichtliche Ausdifferenzierung gekennzeichnet und verändern sich stetig. Für Jugendliche ist besonders schwerwiegend, dass mit den jeweiligen Anschlüssen unterschiedliche Chancen der langfristigen Teilhabe an Erwerbstätigkeit verbunden sind (vgl. Doose 2007; Bojanowski 2008). Vor diesem Hintergrund sind frühe Zuordnungen der Jugendlichen zu den einzelnen Segmenten problematisch. Zudem ist viertens zu beachten, dass das berufliche Bildungssystem  als überwiegend nicht inklusiv bezeichnet wird (vgl. Biermann/Bonz 2011). Insofern besteht die die zentrale Aufgabe für sonderpädagogische und schulpädagogische LehrerInnen sowie andere Professionen (z.B. SchulsozialarbeiterInnen) in einer inklusiven Schule darin, SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu unterstützen, sich in einem nicht inklusiven System zu platzieren, um an beruflicher Ausbildung und Arbeitsmarkt teilhaben können. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass ein Konzept zur inklusiven Berufsorientierung ein Angebot für alle SchülerInnen zur Verfügung stellt. Eine Konzentration auf Jugendliche, die Schwierigkeiten bei der erfolgreichen Bewältigung des Übergangs haben, birgt die Gefahr „curricularer und organisatorischer Fehlsteuerung“ (Baethge 2014, 230).

3 Berufsorientierung als schulisches Konzept

Baethge (2014, 233) plädiert für ein Konzept der schulischen Berufsorientierung als integrativen Bestandteil der Curricula allgemeinbildender Schulen der Sekundarstufe I und II, um Übergangsprobleme zu verringern. Die Berufsorientierung hat sowohl in der Forschung als auch in der Praxis in den letzten 15 Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen (vgl. Brüggemann/Rahn 2013, Bührmann/Wiethoff 2013). Dies ist auch aus der Erkenntnis erwachsen, dass die Vergabe von Schulabschlüssen allein nicht ausreicht, Jugendliche bei ihrer Entscheidung über den weiteren beruflichen oder schulischen Werdegang angemessen zu unterstützen.

Qualitätsmerkmale schulischer Berufsorientierung

Die in diesem Beitrag skizzierten Qualitätsmerkmale schulischer Berufsorientierung sind überwiegend eine Verdichtung von unterschiedlichen Erfahrungsberichten, die zu unterschiedlichen Aspekten ähnliche Aussagen treffen (vgl. z.B. European Agency 2002). Darüber hinaus werden Ergebnisse der wenigen gegenwärtig vorliegenden empirischen Studien in die Auflistung integriert (vgl. z.B. Bührmann/Wiethoff 2013). Das Programm „Schule-Wirtschaft/Arbeitsleben“ des BMBF hat einen wesentlichen Beitrag zur konzeptionellen Entwicklung der Berufsorientierung geleistet (vgl. z.B. Famulla et al. 2008). Die einzelnen Konzepte sind in der Regel im Modus der Praxisforschung entwickelt worden (vgl. Koch 2011): Erkenntnisse aus dem Prozess der Entwicklung, Erprobung und Evaluation werden in die Konzepte aufgenommen und entsprechend dokumentiert. Vor diesem Hintergrund sind für eine erfolgreiche schulische Berufsorientierung u.a. folgende Merkmale relevant (siehe auch Koch/Textor 2015):

  • Die Berufsorientierung ist ein fächerübergreifendes (Famulla et al. 2008) und über mehrere Jahre angelegtes schulisches Konzept (vgl. Rahn et al. 2011). Sie beginnt spätestens in der 7. Jahrgangstufe und wird, wenn ein Bedarf seitens der SchülerInnen besteht, in Form einer „nachgehenden Betreuung“ (Koch/Kortenbusch 2009) nach dem Ende der Schulzeit mindestens noch über ein halbes Jahr fortgesetzt.
  • Individualisierung ist ein wesentliches didaktisches Prinzip eines berufsorientierenden Curriculums, um auf die Heterogenität der Ausgangslagen hinsichtlich Interessen, Bedürfnissen, Fähigkeiten und Stand im Orientierungsprozess der SchülerInnen angemessen reagieren zu können (vgl. Rahn et al. 2011, 309).
  • Der Lernortwechsel in den Betrieb oder in andere Lernumwelten ist zentraler Bestandteil eines berufsorientierenden Konzeptes (vgl. Bührmann/Witthoff 2013). Damit der Betrieb für SchülerInnen als Lernort fungieren kann, ist es Voraussetzung, dass LehrerInnen mit den beteiligten Akteuren in den Betrieben kontinuierlich kooperieren. Ergebnisse empirischer Forschung zeigen, dass hohe betriebliche Praxisanteile Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnen (vgl. Ginnold 2007, 187; Baethge 2014), beispielsweise im Rahmen von Langzeitpraktika (vgl. Koch/Kortenbusch 2009). Jugendliche sollten ihre Erfahrungen aus den neuen Lernumwelten in den Unterricht einbringen können. LehrerInnen unterstützen SchülerInnen dabei, diese Erfahrungen für eigene Orientierung-, Reflexions- und Entscheidungsprozesse nutzbar machen zu können (vgl. Famulla et al. 2008, Driesel-Lange et al. 2011, 317).
  • Beratung in Form von Reflexionsgesprächen ist ein fester Bestandteil des gesamten berufsorientierenden Curriculums in der allgemeinbildenden Schule. Instrumente zur kontinuierlichen Begleitung der Jugendlichen (z.B. Förderpläne bzw. Bildungspläne) können zur Professionalisierung des Beratungsprozesses beitragen. Die Verantwortung für die Beratung der Jugendlichen liegt in der Regel bei KlassenlehrerInnen oder bei BetreuungslehrerInnen.
  • Berufsorientierende Konzepte setzen die systematische und kontinuierliche Vernetzung mit außerschulischen Akteuren (Betriebe, Agentur für Arbeit, Integrationsfachdienst etc.) voraus (vgl. Thielen 2011, 9).
  • Eltern sind eine zentrale Ressource zur Unterstützung ihrer Kinder im Prozess der Berufsorientierung und sind von daher in das schulische Konzept aktiv einzubeziehen (vgl. Ginnold 2007, 187).
  • Berufsorientierung kann nur gelingen, wenn LehrerInnen sie als Teil des Bildungs- und Erziehungsauftrages von Schule anerkennen (z.B. Famulla et al. 2008). Die Grundlage für die Umsetzung bildet das vom Kollegium gemeinsam getragene schulische Konzept zur Berufsorientierung. Um in diesem Zusammenhang ihre Aufgaben kompetent wahrnehmen zu können, benötigen sie grundlegende Kenntnisse über das berufliche Bildungssystem (z.B. Famulla et al. 2008).

Die hier auf der Grundlage von Erfahrungsberichten und Forschungsergebnissen herausgefilterten Faktoren spielen für Transitionsprozesse von Jugendlichen eine zentrale Rolle. Aus subjektbezogener Sicht bedeutet eine Transition eine Veränderung von eingelebten Zusammenhängen, die als neue Anforderung erlebt wird. Um diese zu bewältigen ist Lernen erforderlich, welches sich in einem Prozess vollzieht (vgl. von Felden 2010, 33). Studien, die das subjektive Erleben in der Situation des Übergangs, die individuellen Bewältigungsmuster und die Handlungsstrategien in einem qualitativen Zuschnitt untersuchen, sind selten (vgl. z.B. Heckl/Dorr/Sheikh 2004). Es fehlt auch an Studien, die untersuchen, wie schulische Unterstützungsangebote erlebt und eingeschätzt werden. Von daher sind auch wenige Erkenntnisse aus der Sicht der Betroffenen vorhanden, die Rückschlüsse auf eine ‚gute‘ schulische Berufsorientierung zuließen. Insgesamt betrachtet, steht die Forschung noch am Anfang das Verhältnis dieser Faktoren zueinander und ihre Wirkung auf die Transitionsprozesse der Jugendlichen zu klären (siehe auch Bührmann/Wiethoff 2013).

Im Folgenden werden zwei Konzepte zur schulischen Berufsorientierung vorgestellt, die eine Integration in eine „Allgemeinbildungsdidaktik“ der Sekundarstufe I und II (Baethge 2014, 233) anstreben. Wird eines der beiden Konzepte im Sinne seiner Zielsetzungen implementiert, ergeben sich daraus Schulentwicklungsprozesse (vgl. Koch 2011). So werden durch die Implementierung der Konzepte Entwicklungsprozesse auf der Ebene der beteiligten Akteure, des Unterrichts, der Schule als Organisation und der Beziehung zu außerschulischen Akteuren in Gang gesetzt (Koch 2011, 89). Die beiden Beispiele sollen für Konzepte stehen, die die oben aufgeführten Qualitätsmerkmale weitgehend erfüllen. Zu beachten ist hierbei, dass beide Konzepte viel Programmatik enthalten. Das heißt mit den beiden Konzepten werden durchaus Qualitätsansprüche einer gelungenen Berufsorientierung erfüllt. Inwieweit es in den einzelnen Schulen tatsächlich im Sinne der Konzepte zu einer qualitativ anspruchsvollen Umsetzung kommt, ist aber eine andere Frage. Empirische Forschung hierzu gibt es kaum (vgl. Koch 2011). Die beiden im Folgenden skizzierten Konzepte sind relativ stark verbreitet und haben unterschiedliche Zielgruppen im Blick.

Beispiel 1: Individuelle Förderplanung Berufliche Integration

Individuelle Förderplanung Berufliche Integration (vgl. Koch/Kortenbusch 2007, 2009) ist ein Konzept für Schulen, die am BUS-Programm des Landes Nordrhein-Westfalen (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2014) teilnehmen, für Berufskollegs und für Förderschulen. Zentrale Zielsetzung des Konzeptes ist die Anbahnung von Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt bereits während der Schulzeit. Eine erfolgreiche Umsetzung des Konzeptes misst sich somit vorrangig daran, ob SchülerInnen nach ihrer Schulzeit in eine berufliche Ausbildung einmünden. Anlass zur Entwicklung des Konzeptes war die Beobachtung, dass viele Förderschulen den Beginn einer Ausbildung für ihre SchülerInnen nicht mehr in Betracht gezogen haben. Dies hatte wiederum zur Folge, dass sich die schulische Berufsorientierung im Wesentlichen auf die Segmente der Benachteiligtenförderung und der beruflichen Rehabilitation als mögliche Anschlüsse beschränkte. Die betriebliche Ausbildung als berufsbiographischer Weg wurde somit nicht mehr systematisch unterstützt.

Die Individuelle Förderplanung Berufliche Integration umfasst folgende Konzeptelemente: Das Förderplangespräch findet einmal pro Schulhalbjahr statt. In einer Förderschule würden in einem Zeitraum von drei Schuljahren entsprechend sechs Förderplangespräche durchgeführt. Wesentliches Kennzeichen ist der Beratungscharakter: Berater – in der Regel sind dies die KlassenlehrerInnen – und SchülerInnen gelangen zu einer gemeinsamen Einschätzung der Übergangssituation und vereinbaren weitere Ziele und Maßnahmen. Der Bogen zur Selbst- und Fremdeinschätzung unterstützt den Beratungsprozess als diagnostisches Instrument. SchülerInnen schätzen ihre Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen ein. LehrerInnen geben unabhängig davon eine Fremdeinschätzung ab. Abweichungen und Übereinstimmung können als Gesprächsanlass genutzt werden. Das Förderpraktikum geht über ein Jahr. Es beginnt in der Regel mit einem Block und wird dann an ein bis zwei Tagen fortgesetzt. Das Ziel des Förderpraktikums ist die Anbahnung von Ausbildung. Um die Lernorte Schule und Betrieb miteinander zu verknüpfen, werden Erfahrungen im Betrieb durch den Unterricht aufgegriffen. Um den individuellen Bedürfnissen und Lernausgangslagen der SchülerInnen gerecht werden zu können, ist ein geöffneter Unterricht notwendig. Das gesamte Konzept erstreckt sich in Förderschulen über mehrere Jahre (8., 9. und 10. Jahrgang.). Die bestehende Förderplanung wird mit dem Konzept zur Berufsorientierung bzw. zur beruflichen Integration verknüpft. Gelingt der Beginn einer Ausbildung, wird die Anfangsphase durch eine nachgehende Betreuung begleitet. Der gesamte Prozess und seine Ergebnisse sowie die vereinbarten Maßnahmen – in Form von Unterstützung durch die professionellen Akteure und ggf. durch die Eltern als auch in Form von Verantwortungsübernahme für den eigenen Lern- und Orientierungsprozess – und die Ziele werden systematisch im Rahmen der Individuellen Förderplanung dokumentiert.

Beispiel 2: Berufswahlpass

Der Berufswahlpass wird in 16 Bundesländern eingesetzt. Zentrale Zielsetzung ist es, dass jede Schülerin bzw. jeder Schüler durch seine Nutzung den „individuell richtigen Weg" (Bundesarbeitsgemeinschaft Berufswahlpass (BAG) 2012, 6) von der Schule in die weiterführende Bildung findet. Mit dem Berufswahlpass sollen Kompetenzen entwickelt werden, die eigene Berufsbiographie zu gestalten (vgl. BAG 2012, 7). Dazu gehört es, eine begründete Entscheidung für den weiteren nachschulischen Werdegang zu treffen. Mit dem Instrument soll besonders die Selbständigkeit der Jugendlichen in diesem Prozess gefördert werden. Der Berufswahlpass ist für die Jugendlichen und „als Arbeitsmaterial für mehrere Jahre angelegt“ (BAG 2012, 10). Er besteht aus sechs Teilen: Einführung, Angebote zur Berufsorientierung in der Schule, Mein Weg zur Berufswahl, Dokumentation, Lebensplanung und Zusatzmaterial für die Sekundarstufe II. Voraussetzungen für den Einsatz des Berufswahlpasses in der Schule sind ein ausgereiftes berufsorientierendes Konzept, welches die bereits beschriebene Qualitätsmerkmale erfüllt, die Unterstützung der Einführung des Passes durch Steuergruppen und die Schulleitung sowie ein professioneller Akteur, der die übergreifenden Angebote koordiniert (vgl. BAG 2013, 12). Durch die Verknüpfung des Berufswahlpasses mit dem Konzept zur Berufsorientierung ist der Berufswahlprozess über mehrere Jahre angelegt. Die Implementierung des Berufswahlpasses in der Schule soll eine fächerübergreifende Arbeit an dem Thema Berufsorientierung bewirken. Das Konzept zur Implementierung soll festlegen, in welchen Fächern und mit welchen Themen mit dem Berufswahlpass gearbeitet wird. Mit dieser Vorgehensweise soll erreicht werden, die Berufsorientierung als Aufgabe von Schule in die Verantwortung unterschiedlicher LehrerInnen mit unterschiedlichen Fächern zu legen. Die Ausgestaltung des Konzeptes zur Förderung der Berufsorientierung in der Schule bestimmt, ob Kooperation gepflegt, Praxisphasen durchgeführt und Reflexionsanlässe systematisch geschaffen werden.

Durch skizzenhafte Darstellung der beiden Beispiele konnte gezeigt werden, dass es durchaus berufsorientierende Curricula gibt, die dem „Bildungsraum Übergang“ (vgl. Baethge 2014, 238) Konturen verleihen könnten (vgl. Koch/Kortenbusch 2009). In den Konzepten werden zentrale Qualitätsaspekte einer gelungen Berufsorientierung weitgehend berücksichtigt. Allerdings verlangen beide Konzepte im Zuge ihrer Implementation umfassende Veränderungsprozesse in der Schule, das heißt, die einzelne Schule entscheidet darüber, mit welcher Qualität die Konzepte umgesetzt werden (vgl. Koch 2011). Ein Forschungsdesiderat besteht darin, die Wirkungen solcher Konzepte zu untersuchen und deren Gelingensbedingungen empirisch fundierter als bisher herauszufiltern. Baethge (2014) beschreibt den „vergessenen Bildungsraum“ als institutionelles Problem, dem durch Institutionswandel begegnet werden kann. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Allerdings gibt es – wie Baethge (2014) unzutreffend kritisiert – keine Lücke im curricularen Bereich. Es liegen unterschiedliche Programme (vgl. z.B. Famulla et al. 2008, Doose 2013) vor, die konzeptionelle Ansätze hervorgebracht haben. Die Entwicklung der Qualität der Berufsorientierung geschieht jedoch über die Entwicklung von Schule (vgl. Koch 2011). Somit ist die Umsetzung einer schulischen Berufsorientierung im Sinne einer inklusiven Pädagogik ein Schulentwicklungsproblem, welches sich im Kontext differenter bildungspolitischer Rahmenbedingungen (siehe Kapitel 2) unterschiedlich stellt.

4 Merkmale inklusiver Settings

Inklusive Pädagogik meint das „pädagogische Willkommenheißen“ (Hinz 2009, 241) von Heterogenität, welches eine pädagogische Grundhaltung für Prozesse des Lernens und der Teilhabe bildet (vgl. Hinz 2009, 241). Eine inklusive Pädagogik umfasst alle Dimensionen von Heterogenität wie unterschiedliche Fähigkeiten, Geschlechterrollen, ethnische Herkünfte, Behinderung. Aus der Sicht von Hinz (2009) verbietet es sich, Gruppen nach bestimmten Merkmalen zu unterteilen, wenn gemäß den Vorstellungen einer inklusiven Pädagogik das Anregungspotenzial einer heterogenen Gruppe genutzt werden soll. Unterschiedlichkeit ist in dieser Vorstellung zugleich Ausgangslage und Zielvorstellung der pädagogischen Praxis (vgl. Sander 2004, 242). Die Akzeptanz der Unterschiede ist eine zentrale Voraussetzung für eine gelungene inklusive Praxis. Aus der Perspektive der beruflichen Rehabilitation wird das Konzept „Leben mit Unterstützung“ (Hinz 2006, 4ff.) als einer inklusiven Pädagogik am nächsten beschrieben. Mit Blick auf den Übergang von der Schule in den Beruf werden Menschen mit Behinderung dabei unterstützt, in „üblichen Betrieben oder Behörden“ zu arbeiten und in „üblichen Gruppierungen ihre Freizeit“ zu verbringen (Hinz 2006, 5). Sie werden individuell, im Sinne von Assistenz, begleitet. Ein wesentliches Instrument hierfür sind gemeinsame persönliche Zukunftsplanungen (vgl. Doose 2011). Qualitatives Merkmal dieses Instrumentes ist es, dass Entscheidungen von den Betroffenen im Kontext ihrer persönlichen Unterstützerkreise getroffen werden. „Selbstbestimmung in sozialer Kohäsion“ ist das grundlegende Prinzip dieser Unterstützung (Hinz 2006, 6). Mit diesem Perspektivwechsel soll die Anerkennung als BürgerInnen in der Gemeinde vollzogen werden (vgl. Hinz 2006).

Es gibt nur wenige inklusionspädagogische Beiträge, die sich mit dem allgemeinbildenden Teil des Bildungsraums Übergang befassen (vgl. z.B. Hinz 2009; Doose 2013). Auffällig ist, dass die vorhandenen Beiträge in der Regel in dem Segment der beruflichen Rehabilitation und deren Entwicklungserfordernissen zu verorten sind (vgl. Doose 2013). Für SchülerInnen in einer inklusiven Schule sind im Sinne eines kompetenzorientierten Zugangs (vgl. Hinz 2006) alle Anschlüsse (siehe Kapitel 2) als Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

In einer inklusiven Schule wird in der Regel zusätzliche sonderpädagogische Unterstützung zur Verfügung gestellt. Im Sinne einer inklusiven Pädagogik sollte sich diese Unterstützung nicht auf die SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf begrenzen, sondern auf die gesamte Lerngruppe beziehen (vgl. Sander 2004, 241). Ziel ist es, die Unterstützung für die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse aller SchülerInnen zu nutzen (vgl. Sander 2004, 241).

Neben diesen generellen Beschreibungen einer inklusiven Pädagogik kann der Index für Inklusion für die Gewinnung von Kriterien herangezogen werden. Der Index bietet für Akteure in der Schule die Möglichkeit mit Hilfe von Indikatoren „eine mit der Heterogenitätsprogrammatik kompatible Vorstellung von Qualität“ zu entwickeln (Boban/Hinz 2012, 73). Der Index definiert drei Entwicklungsschwerpunkte für die einzelne Schule: „inklusive Kulturen schaffen“, „inklusive Strukturen etablieren“ und „inklusive Praktiken entwickeln“ (Boban/Hinz 2011, 11ff.). Die einzelnen Schwerpunkte enthalten jeweils zwei Bereiche, in denen die Indikatoren aufgeführt werden. ExpertInnen für eine inklusive Pädagogik entwickelten die Indikatoren, die angesichts der gewonnenen Erkenntnisse aus der Anwendung des Schulentwicklungsinstruments mehrfach überarbeitet wurden. Für diesen Beitrag werden Indikatoren für „inklusive Praktiken entwickeln“ und für „inklusive Strukturen etablieren“ (vgl. Booth/Ainscow 2003) herangezogen, die für eine inklusive Berufsorientierung relevant erscheinen. Indikatoren des Index (Booth/Ainscow 2003, 17) werden in der nachstehenden Tabelle in Beziehung gesetzt zu den qualitativen Merkmalen einer schulischen Berufsorientierung. Diese Vorgehensweise ist erforderlich, weil auffallend wenig explizite Bezüge in dem Index zum Übergang von der Schule in den Beruf zu finden sind (vgl. Booth/Ainscow 2003).

Tabelle 1:     Indikatoren für eine inklusive Berufsorientierung

Relevante Indikatoren aus dem Index (Booth/Ainscow 2003, 17) Eine inklusive Berufsorientierung …
„Der Unterricht wird auf die Vielfalt der SchülerInnen hin geplant.“ nimmt als curriculares und didaktisches Konzept die Unterschiedlichkeit der Schüler als Ausgangspunkt und als Zielvorstellung für die Planung in den Blick.
„Die SchülerInnen sind Subjekte ihres eigenen Lernens.“ unterstützt SchülerInnen, selbstständig ihren beruflichen Werdegang zu planen, zu reflektieren und dann auch zu verfolgen.
„Bewertung erfolgt für alle SchülerInnen in leistungsförderliche Form.“ ist ein bewertungsfreier Raum. Eingesetzte Instrumente zur Selbst- und Fremdeinschätzung werden dazu genutzt, dass SchülerInnen ihre Fähigkeiten und Interessen klären, um daraus wiederum schulische Unterstützungsbedarfe zu formulieren und umzusetzen.
„Alle Formen der Unterstützung werden koordiniert.“ koordiniert den festgestellten Unterstützungsbedarf in der Situation des Übergangs.
„Fortbildungsangebote helfen den MitarbeiterInnen, auf die Vielfalt der SchülerInnen einzugehen.“ stellt angesichts der vielfältigen Anschlüsse (z.B. berufliche Ausbildung, Benachteiligtenförderung, berufliche Rehabilitation, gymnasiale Oberstufe) und deren Ausdifferenzierung regelmäßig Fortbildungsangebote für alle beteiligten Akteure bereit.
„‚Sonderpädagogische‘ Strukturen werde inklusiv strukturiert.“ vermeidet, dass ausschließlich sonderpädagogische LehrerInnen für die berufliche Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf zuständig sind.
„Die LehrerInnen planen, unterrichten und reflektieren im Team.“ wird von einem multiprofessionellen Team getragen, welches die Qualität der Prozesse und Ergebnisse regelmäßig reflektiert. Dies gilt sowohl für das schulinterne Team (z.B. schulpädagogische und sonderpädagogische LehrerInnen, ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen) als auch für Teams im Übergang (z.B. Akteure aus Betrieben, VertreterInnen der Agentur für Arbeit, Integrationsfachdienst, verantwortliche Akteure aus den Schulen etc.).
„Die Ressourcen im Umfeld der Schule sind bekannt und werden genutzt.“ nutzt die Ressourcen im Umfeld der Schule. Eine Zusammenarbeit mit der Agentur für Arbeit, mit Betrieben in der Region, mit dem Integrationsfachdienst, mit der Berufsschule, mit den Eltern etc. ist selbstverständlicher Teil ihrer Arbeit.
„Die Fachkenntnis der MitarbeiterInnen wird voll ausgeschöpft.“ verankert konzeptionell, dass neue MitarbeiterInnen systematisch in das Bestehende eingearbeitet werden.
„Das Kollegium entwickelt Ressourcen, um das Lernen und die Teilhabe zu unterstützen.“ nutzt interne Ressourcen, um Barrieren in Ausbildung und Arbeitsmarkt abzubauen. Dazu gehört es beispielsweise auch, Kooperationen zwischen den beteiligten Akteuren im abgebenden und aufnehmenden System entlang des beruflichen Werdegangs der Jugendlichen zu initiieren.

Die einzelnen Indikatoren zu einer inklusiven Berufsorientierung erheben nicht den Anspruch der Vollständigkeit. In der Logik des Index hat eine Schule im Bereich der Berufsorientierung inklusive Strukturen etabliert und inklusive Praktiken entwickelt, wenn die Indikatoren erfüllt werden. Stellt eine Schule hingegen fest, dass bestimmte Aspekte noch nicht umgesetzt sind, markiert dies einen Entwicklungsbedarf, der im Rahmen von Schulentwicklungsprozessen bearbeitet werden sollte.

5 Kriteriengeleitete Analyse

Die oben aufgeführten Indikatoren und die strukturellen Merkmale einer inklusiven Berufsorientierung bilden in diesem Kapitel die Grundlage für die Prüfung, ob Konzepte vorliegen, die im Sinne ihrer Zielsetzungen implementiert, inklusiv sind. Da eine Prüfung nicht an allen vorliegenden Konzepten zur Berufsorientierung vorgenommen werden kann, wurde eine begründete Auswahl getroffen (siehe Kapitel 3).

In den beiden skizzierten Konzepten zur Berufsorientierung ist die Unterschiedlichkeit der SchülerInnen zugleich Ausgangslage als auch Zielvorstellung der Planung. Die Individuelle Förderplanung Berufliche Integration geht von den Orientierungs- und Lernbedürfnissen des Einzelnen aus. Ziele und schulische Maßnahmen werden an diesen individuellen Bedürfnissen ausgerichtet, ohne das Lernen in Gruppen aufzugeben. Bei diesem Konzept wird davon ausgegangen, dass der erforderliche Unterstützungsbedarf erheblich ist. Fraglich ist, ob dieses Konzept auch für SchülerInnen geeignet ist, deren Unterstützungsbedarf deutlich geringer ausgeprägt ist. Die Grundzüge des Konzeptes müssten somit zunächst in einer heterogeneren Gruppe erprobt und evaluiert werden, um deren Tragfähigkeit für heterogenere Gruppen zu ermitteln. Der Berufswahlpass richtet sich an Lerngruppen, die mit seinem Material im Unterricht arbeiten. Es wird allerdings deutlich mehr die Selbstständigkeit der Jugendlichen gefördert bzw. gefordert. Einen Transfer auf den eigenen Orientierungs- und Lernprozess muss der Jugendliche selbst leisten. Es ist somit schwer zu beurteilen, in welchem Ausmaß die individuelle Ausgangslage tatsächlich Berücksichtigung findet und alle Unterstützungsbedarfe erkannt werden. Die Unterschiedlichkeit der Zielvorstellung als Grundlage der Planung ist bei beiden Instrumenten eindeutig zu identifizieren. Am Ende dieses Prozesses soll jeder Jugendliche den individuell ‚richtigen‘ Weg eingeschlagen haben.

Ein weiterer Aspekt einer inklusiven Pädagogik nimmt besonders die Gemeinde, in der Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf leben, in den Blick. So soll der Übergang von der Schule in Ausbildung und Arbeitsmarkt in diesen Gemeinden realisiert werden. Für eine schulische Berufsorientierung bedeutet dies, dass bereits während der Schulzeit mit Betrieben und anderen Unterstützungssystemen (vgl. Doose 2013) kooperiert wird. Die Individuelle Förderplanung Berufliche Integration sieht solche Kooperationen explizit vor. Das Langzeitpraktikum ist beispielsweise ein zentrales Element zur Anbahnung von Ausbildung (in der Gemeinde). Beim Berufswahlpass kommt es darauf an, ob das Konzept zur Berufsorientierung in der Schule dieses Element enthält. Erst dann würde es bei der Umsetzung des Berufswahlpasses in der Schule auch Berücksichtigung finden.

Beim Berufswahlpass wird die Förderung der Selbstständigkeit der Jugendlichen besonders hervorgehoben. Sie sollen befähigt werden, ihre eigene Berufsbiographie kompetent zu gestalten. Das Arbeitsmaterial ist so angelegt, dass vor allem die Entwicklung von Selbständigkeit im Fokus steht. Auch in dem Konzept zur Individuellen Förderplanung Berufliche Integration werden Jugendliche dabei unterstützt, selbstständig zu planen und zu reflektieren. Aufgrund der stärkeren Unterstützung ist es für die professionellen Akteure schwieriger, gegenüber den Jugendlichen die Bedeutung der Übernahme von Verantwortung für den eigenen Orientierungs- und Lernprozess herauszuarbeiteten.

Selbst- und Fremdeinschätzung sind obligatorischer Teil beider Instrumente. Bei der Individuellen Förderplanung Berufliche Integration werden diese Instrumente systematisch genutzt, um Unterstützungsbedarfe gemeinsam mit den Jugendlichen zu definieren. Beim Berufswahlpass wird auch an dieser Stelle stärker auf die Selbstständigkeit der Jugendlichen gesetzt. Die eingesetzten Instrumente werden nicht zur Leistungsbewertung in der Schule herangezogen.

Gerade bei Jugendlichen mit besonderen Unterstützungsbedarfen ist die Koordination zwischen den unterschiedlichen Akteuren (z.B. Agentur für Arbeit, Betriebe, Integrationsfachdienst etc.) von hoher Bedeutung. Die Individuelle Förderplanung Berufliche Integration nutzt den Förderplan als unterstützendes Instrument der Koordination, wobei sein Einsatz in der siebten Jahrgangsstufe beginnt und mindestens noch ein weiteres halbes Jahr nach Abschluss der allgemeinbildenden Schulzeit fortgesetzt wird. Beim Berufswahlpass hängen Fragen der Koordination des Unterstützungsbedarfs von dem zugrundeliegenden Berufsorientierungskonzept ab. Auch hier gilt, dass die Koordination von Unterstützungsbedarf eher nicht individualisiert wird und solche Aufgaben sehr viel stärker in die Verantwortung der einzelnen Schülerin bzw. des einzelnen Schülers gelegt werden.

Wenn man davon absieht, dass die systematische Einführung der beschriebenen Konzepte bereits fortbildend ist, ist die Planung von und Teilnahme an Fortbildung auf einer anderen Ebene von Schule zu verorten. Dazu gehört auch, dass es eine Vorstellung darüber gibt, wie neue Kollegen an das bestehende schulische Konzept herangeführt werden. Diese Aspekte werden in beiden Konzepten nicht explizit angesprochen.

Um eine inklusive Praxis zu realisieren, ist die Verantwortung für die Berufsorientierung in einem multiprofessionellen Team zu verorten. Das heißt die sonderpädagogischen LehrerInnen sind für alle SchülerInnen zuständig und nicht nur für die SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Beide Konzepte verlangen die Kooperation der unterschiedlichen Akteure. Sie verantworten gemeinsam das Konzept. Voraussetzung hierfür sind regelmäßige Sitzungen, die die bisherige Arbeit reflektieren und Ansatzpunkte für Verbesserungen liefern. Um diesen Prozess zu unterstützen, gibt es für beide Instrumente Vorschläge zur Selbstevaluation. Zu bedenken ist, dass in Abhängigkeit von der Verortung der sonderpädagogischen Ressourcen das Arbeiten im Team erschwert wird. Sind die sonderpädagogischen LehrerInnen nicht Teil des Kollegiums, sondern nur stundenweise in einer Lerngruppe tätig, erschwert dies voraussichtlich eine inklusive Praxis im Bereich der Berufsorientierung (siehe Kapitel 2).

Die Qualität der Umsetzung beider Konzepte lebt davon, dass die externen Ressourcengenutzt werden. Mit Blick auf eine inklusive Pädagogik ist es von Bedeutung, alle relevanten Akteure in der Gemeinde einzubeziehen.

Vor allem das Konzept zur Individuellen Förderplanung Berufliche Integration kann nicht ressourcenneutral realisiert werden. Für eine erfolgreiche Umsetzung des Konzeptes wäre vermutlich eine pauschale Ressourcenzuweisung zuträglicher als eine Zuweisung von Ressourcen, die an einem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf ausgerichtet ist.

Im Sinne einer inklusiven Pädagogik sollte auf jegliche Form einer äußeren Differenzierung verzichtet werden. Im Rahmen einer inklusiven Berufsorientierung geht es darum, Unterstützungsbedarfe festzustellen und diese sachkundig zu bedienen. Die Art und das Ausmaß der Unterstützung können für jede Schülerin bzw. jeden Schüler sehr unterschiedlich sein. Für die Individuelle Förderplanung Berufliche Integration bedeutet dies, dass nicht nur SchülerInnen in das Konzept einbezogen werden, die voraussichtlich Schwierigkeiten haben werden, den Übergang von der Schule in Ausbildung und Arbeitsmarkt erfolgreich zu bewältigen (siehe Kapitel 2). Für den Berufswahlpass stellt sich dieses Problem in der Form nicht, weil jede Schülerin bzw. jeder Schüler einen Pass erhält, mit dem selbstständig gearbeitet werden soll.

6 Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Beitrag wurden zunächst die bildungspolitischen Rahmenbedingungen für die Umsetzung einer inklusiven Berufsorientierung beschrieben. Es wurde deutlich, dass es eine inklusive Schule, die über alle Bundesländer hinweg überwiegend gleiche Merkmale aufweist, nicht gibt. Die Umsetzung inklusiver Bildung erfolgt in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich. Angesichts dieser Ausgangslage ist Berufsorientierung ein zentraler Bildungsauftrag von Schule, den es in diesen differenten Situationen umzusetzen gilt. Hierbei sind angesichts der heterogen zusammengesetzten Lerngruppen alle Anschlüsse und Kooperationsmöglichkeiten für Jugendliche in den Blick zu nehmen, die das allgemeinbildende und berufsbildende System im Bildungsraum Übergang vorhält und die eine längerfristige Teilhabe an Erwerbstätigkeit ermöglichen. Entscheidend ist, dass keine vorzeitige Zuordnung der Jugendlichen zu den unterschiedlichen berufsbildenden Segmenten stattfindet. Ziel ist es vielmehr, dass sie dabei unterstützt werden, eine Wahl zu treffen, die ihren Potenzialen entspricht. Fraglich ist, ob diese Entwicklungen sowohl in der Lehrerausbildung als auch in der Lehrerfortbildung bereits angemessen Berücksichtigung finden. Die Ergebnisse der Analyse verweisen auf mögliche Zusammenhänge zwischen den bildungspolitischen Rahmenbedingungen (inklusiven und exklusiven Settings) und den schulinternen Umsetzungsmöglichkeiten einer inklusiven Berufsorientierung. Diese Zusammenhänge und ihre Wirkungen sollten empirische Studien aufklären. Es wurde deutlich, dass es durchaus Konzepte gibt, die als Grundlage für eine inklusive Praxis im Bereich der schulischen Berufsorientierung genutzt werden können. Allerdings wurde auch herausgearbeitet, dass sich die Qualität der Umsetzung als Schulentwicklungsproblem darstellt und somit sich weniger auf der Ebene des Konzeptes, sondern mehr auf der Ebene der Qualität seiner Implementation, die sich an inklusiven Maßstäben orientiert, entscheidet. Forschung zu Gelingensbedingungen schulinterner Entwicklung ist in diesem Zusammenhang von Interesse. Angedeutet wurde durch die Analyse, dass es eine Herausforderung ist, die Konzepte für alle SchülerInnen angemessen umzusetzen. An dieser Stelle ist ersichtlich, dass noch weitere Entwicklungs-, Erprobungs- und Evaluationsbedarfe bestehen, die an den in diesem Beitrag skizzierten inklusiven Maßstäben ausgerichtet sein sollten. Der vorliegende Beitrag zeigt, dass dementsprechend weitere Innovationsforschung betrieben werden sollte. Darüber hinaus stehen Studien aus, die Transitionsprozesse von Jugendlichen sowie einflussnehmende Faktoren auf diese Prozesse und deren Wirkungen, im Übergang von der inklusiven Schule in den Beruf und die weiterführende Bildung, untersuchen.

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Berufsorientierung im Spannungsfeld von Bildung und Marketing

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1 Einleitung

Die schulischen und außerschulischen Angebote zur Berufsorientierung haben die Aufgabe, junge Menschen am Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt zu unterstützen. Das meint zum einen, dass junge Menschen Beruf und Erwerbsarbeit als Teil menschlicher Biografie kennenlernen. Zum anderen geht es darum, die Berufswahl junger Menschen durch Information, Beratung und Vermittlung (Niemeyer 2013) zu fördern. Eine besondere Herausforderung sind dabei die Jugendlichen, die am Übergang in die Arbeitswelt zu scheitern drohen (GEW 2009). Darüber hinaus war es z. B. im Kontext der Diskussionen zur fehlenden Ausbildungsreife von Schulabsolventen und im Hinblick auf die hohe Anzahl von Ausbildungsabbrechern eine zentrale Forderung von Politik und Wirtschaft, die schulischen Angebote zur Berufsorientierung weiter auszubauen bzw. die bestehenden Angebote zu verbessern (Bertelsmann Stiftung et al. 2009). Der Berufsorientierung geht es demnach in erster Linie um die Anbahnung und Gestaltung von Bildungsprozessen, bei denen die Entwicklung einer beruflich-biografischen Perspektive im Vordergrund steht. Dabei sollten die individuellen Interessen und Entwicklungswünsche des Einzelnen, genauso die Bedingungen und die Möglichkeiten des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes berücksichtigt werden.

Vor allem das duale Ausbildungssystem zeichnet sich aktuell durch rückläufige Bewerberzahlen und eine sinkende Zahl neu abgeschlossener Ausbildungsverträge aus. Als wichtigste Ursache dafür gilt der demografische Wandel. Zudem werden die Ursachen in den Bildungsvoraussetzungen und im Bildungsverhalten junger Menschen gesehen. Einerseits wird von einer zunehmenden Studienorientierung und der zunehmenden Bedeutung vollzeitschulischer Ausbildungsgänge ausgegangen. Andererseits wird immer wieder die geringe Ausbildungsreife von Ausbildungsplatzbewerbern bemängelt (BiBB 2014 und 2013a; DIHK 2013; kritisch dazu Dobischat/Kühnlein/Schurgatz 2012). Die weiterführende Analyse des Problems der sinkenden Neuabschlüsse macht deutlich, dass die Ausbildungsbereiche, Berufe und Unternehmen davon in unterschiedlichem Maße betroffen sind. Dies wird u.a. in den Bewerberzahlen der verschiedenen Ausbildungsbereiche deutlich. Im Handwerk sinken diese Zahlen bereits seit über 20 Jahren, wohingegen andere Ausbildungsbereiche, wie z. B. Industrie und Handel, noch steigende oder zumindest vergleichsweise stabile Bewerberzahlen verzeichnen konnten, wie der öffentliche Dienst. Ein anderer Indikator ist die Angebots-Nachfrage-Relation in den verschiedenen Berufsgruppen. Während einige Berufe immer noch einen Bewerberüberhang haben, weisen andere, wie z. B. die Gastronomie und das Lebensmittelhandwerk, eine besonders hohe Anzahl unbesetzter Lehrstellen auf (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 102; Eberhardt/Scholz/Ulrich 2009). Die Befunde weisen schließlich darauf hin, dass diese Entwicklung in hohem Maße durch die Attraktivität und das Image der Berufe beeinflusst wird (dazu Eberhardt/Scholz/Ulrich 2009). Die Berufe, die ihren Inhabern geringe Verdienstmöglichkeiten und geringe berufliche Entwicklungschancen bieten oder die ein geringes soziales Ansehen genießen, sind von diesem Bewerberrückgang in besonderem Maße betroffen.

Diese Entwicklung wird durch den demografiebedingten Rückgang der Bewerberzahlen im dualen Ausbildungssystem verschärft. Dies hat zur Folge, dass sich der Ausbildungsmarkt, der bisher ein Anbietermarkt war, zumindest in bestimmten Bereichen, in einen Nachfragermarkt wandelt. Auf diesem Anbietermarkt trat der Ausbildungsplatzbewerber faktisch als Bittsteller auf, der – so spitzt es bereits Kutscha (2001, 43) zu – mehr oder weniger von der Gunst des Ausbildungsplatz-Anbieters abhängig war. Ähnlich formulierte Dietl (2003a), der Bewerber werde als Bittsteller gesehen, „der kniend seine Bewerbung abgeben soll“. Demografischer Wandel, ein verändertes Bildungsverhalten junger Menschen, aber auch Imageprobleme verschiedener Berufe, der Attraktivitätsverlust der dualen Berufsausbildung und der daraus resultierende Bewerberrückgang sowie die damit einhergehende steigende Zahl unbesetzter Lehrstellen haben dazu geführt, dass sich der Ausbildungsmarkt nun tendenziell zu einem Nachfragemarkt entwickelt. In Folge dessen, kommen Branchen und ihre Unternehmen zunehmend in die Situation, für ihre Ausbildung werben zu müssen, um ausreichend geeignete Ausbildungsplatzbewerber zu gewinnen.

In diesem Wettbewerb wird das Ausbildungsmarketing zunehmend zu einem zentralen Instrument der Personalentwicklung (Kutscha 2001). Damit und mit dem Einfluss des Ausbildungsmarketings auf die Berufsorientierung junger Menschen wird sich der vorliegende Beitrag befassen. Untersucht wird, wie sich die Berufe im Rahmen von Marketingstrategien darstellen und dadurch die Berufsorientierung bzw. die Berufswahl junger Menschen möglicherweise beeinflussen. Wie präsentieren sich die Berufe bzw. wie stellen sie sich dar? Welches Berufsimage wird dem Berufswählenden dadurch vermittelt? Welche möglichen Konsequenzen hat das für die Berufsorientierung? Dies wird am Beispiel des Berufs Friseur/-in untersucht.

2 Berufsorientierung als individueller Bildungs- und Entwicklungsprozess

Die verschiedenen Angebote zur Berufsorientierung haben in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen. Zum einen haben sie die große Zahl Jugendlicher im Blick, die am Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt zu scheitern drohen. Zum anderen erfordert der Wandel der Berufs- und Arbeitswelt berufsorientierende Lern- und Bildungsangebote, die die Berufswahl junger Menschen unterstützen. Die Entstehung neuer Berufe und Qualifikationsformen und technischer Fortschritt unter den „Bedingungen globaler Wirtschaftsbeziehungen“ (Kutscha 2001, 41) führen zu einem Anstieg der Anforderungen der Berufsausbildung an die kognitive Leistungsfähigkeit junger Menschen (Bertelsmann Stiftung et al. 2009; Kracke 2004). Damit einhergehend verändern sich die Bedingungen des Arbeitsmarktes. Gemeint sind die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, die Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie die Zunahme sog. prekärer Beschäftigungsformen. In dieser Entwicklung wird das Risiko für die Erosion des Berufs als sozialstrukturelle Kategorie gesehen (z. B. Baethge/Baethge-Kinsky 2004). Dadurch verliere er für (berufs-)biografische Planungsprozesse (ebd.) und als gesellschaftliches Ideal seine Orientierungsfunktion für Individuum und Gesellschaft (Kupka 2005; Rosendahl/Wahle 2012). Jungen Menschen falle es deshalb zunehmend schwerer, sich beruflich zu orientieren und eine reflektierte Berufswahl zu treffen. Umso wichtiger werden berufsorientierende Lern- und Bildungsangebote, die diese Orientierung unterstützen.

Die Berufsorientierung, so Kracke (2004, 35), sei ein Lernprozesse, der ähnlich wie andere Lernprozesse im Jugendalter den Charakter der Vorbereitung für die Erwachsenenwelt hätte. Durch den raschen gesellschaftlichen, sozialen Wandel würde das Ziel der Erwachsenenwelt für Jugendliche jedoch zunehmend unberechenbarer werden. Die Jugendphase laufe dadurch Gefahr, ihren in der Erwachsenenwelt liegenden klaren Zielbezug zu verlieren. Demnach reiche es nicht mehr aus, Ordnungen zu verinnerlichen und Institutionen anzuerkennen, um eine Handlungsfähigkeit nach Maßgabe der Erwachsenenwelt zu entwickeln. Der Berufsorientierung müsse es vielmehr darum gehen, Fähigkeiten zu entwickeln, durch die Jugendliche dazu befähigt werden, eigene Wege nach eigenen Zielvorgaben zu verwirklichen. Dies erfordere ein hohes Maß an Selbststeuerung und Selbstreflexivität (ebd., 36). Damit werde die Befähigung „zur eigenständigen Entwicklung eines Sinns für das eigene Leben“ zum zentralen Entwicklungs- und Sozialisationsziel Jugendlicher. Das beinhalte Aktivitäten zur Berufsorientierung und zur Vorbereitung der Berufswahl, wie z. B. das Explorieren der Berufs- und Arbeitswelt. Allerdings kann es dabei nicht darum gehen, bereits allgemeine, beruflich anwendbare Qualifikationen zu erwerben, wie Kracke schreibt (ebd.), und es kann erst recht nicht darum gehen, dass Jugendliche lernen, ihre Wünsche und Interessen den Gegebenheiten des Arbeitsmarktes unterzuordnen. Es muss vielmehr darum gehen, die jungen Menschen zur kritischen Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt und ihren Gegebenheiten zu befähigen und sie in die Lage zu versetzen, diese im Hinblick auf die eigenen Voraussetzungen, Wünsche und Interessen zu reflektieren, vorliegende Informationen zu bewerten und eigene, umsetzbare biografische Entwürfe zu entwickeln. Das setzt selbstverständlich eine gewisse Kompromissbereitschaft voraus, die eigenen Wünsche im Hinblick auf die Gegebenheiten und Möglichkeiten der eigenen Person sowie des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes zu relativieren.

Porath (2013, 14 ff.) formuliert, dass die Arbeits- und Berufsorientierung zwei Ebenen aufweist. Ausgangspunkt ihrer Argumentation sind die Begriffe Arbeit und Beruf. Arbeit wird zum einen verstanden als ziel- und zweckgerichtete, planvolle Tätigkeit, die – zum anderen – der Persönlichkeitsentfaltung und Selbstverwirklichung des Menschen diene. Während der Arbeitsbegriff jede gesellschaftlich honorierte Arbeit meint, meine der Beruf hingegen eine spezifische Form der Arbeit, die durch Gesellschaft „in einer bestimmten Konfiguration organisiert“ ist (ebd., 16). Bereits Werner Sombart (1903) formulierte, dass der Beruf der Arbeit ihre qualitative Färbung verleihe. Er kritisierte jedoch, dass diese im Zuge der Modernisierung der Arbeitswelt scheinbar verloren gehe. Der Beruf meine in erster Linie Erwerbsarbeit, deren Ausübung abhängig sei von Regeln, Positionszuweisungen und Rollenerwartungen. Er orientiere sich an Eignungen und Neigungen seines Inhabers. Es handle sich dabei um eine auf Dauerhaftigkeit angelegte, auf Qualifikationen beruhende Erwerbsarbeit (Porath 2013, 16; zusammenfassend auch bei Driesel-Lange 2011, 52). Die Ausübung eines Berufs, die Bewältigung beruflicher Anforderungen und Tätigkeiten, erfordere besondere individuelle Qualitäten: Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse, die in einer Ausbildung erworben werden. Aus ökonomischer Sicht gehe es dabei zwar um die Verwertung erworbener Qualifikationen zur Erreichung betrieblicher Zielsetzungen (Porath 2013, 16). Allerdings sei der Beruf nicht nur ein „objektives Phänomen spezialisierter Erwerbsarbeit“, sondern auch eine „pädagogische Leitidee“. Kurtz (2002, 123) formuliert dazu, dass der Beruf damit eine strukturelle Kopplung zwischen den Systemen Erziehung und Wirtschaft erzeuge. Deshalb beziehe sich auch die Berufsorientierung zwar auf den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt als objektiven Aspekt, an dem berufliche Qualifikationen mit dem Ziel des Einkommenserwerbs verwertet werden, sie nimmt aber auch Bezug zu den Wünschen und Interessen des Individuums (Porath 2013, 18).

Aus entwicklungspsychologischer Perspektive stellt die Berufswahl eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben des Jugendalters dar (Havighurst 1972, 62 ff.). Dabei geht es nicht nur um die Befähigung zur Wahl eines Berufes, sondern insbesondere um die damit einhergehenden Entwicklungsprozesse im Jugendalter. Damit sind vor allem die Loslösung vom elterlichen Haushalt, das Erlangen der ökonomischen Unabhängigkeit und der Entwurf einer eigenen (Berufs-)Biografie gemeint (auch Dreher/Dreher 1985). Kracke (2004, 35) spricht von einer Vorbereitung auf die Erwachsenenwelt. Diese, so wurde oben bereits dargestellt, werde jedoch als Zielkategorie zunehmend unberechenbar (ebd.). Allerdings werden Berufsorientierung und die Berufswahl nicht mehr als Prozess verstanden, der auf die Jugendphase beschränkt ist. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass es sich dabei um einen lebenslangen Entwicklungsprozess handelt, bei dem es im Wesentlichen um die Verwirklichung eines Selbstkonzeptes geht (ebd., 42 ff.). So wird am Übergang Schule-Beruf vielmehr von einer ersten Berufswahlentscheidung gesprochen, die im Laufe der beruflichen Entwicklung entweder gefestigt, weiterentwickelt oder auch revidiert werden kann.

So gewinnt die Berufsorientierung gerade im schulischen Kontext zunehmend an Bedeutung (dazu GEW 2013). Dabei arbeiten verschiedene regionale Akteure zusammen. Dazu zählen Unternehmen, Schulen, Kammern, Berufsberatung usw. Ihr Ziel ist es, junge Menschen frühzeitig mit der Arbeitswelt in Kontakt zu bringen und sie so auf den Übergang von der allgemeinbildenden Schule in Arbeit und Beruf vorzubereiten (Famulla et al. 2008, 13). Zum einen sollen junge Menschen erkennen, dass Arbeit und Beruf wesentliche Bestandteile menschlichen Lebens sind, von denen wichtige Impulse auf die Gestaltung der eigenen Biografie ausgehen (vgl. die Beiträge in Dedering 2004; Oberliesen/Schulz 2007). Zum anderen werden sie dadurch bei der Wahl eines Ausbildungsberufes unterstützt. Sie sollen so in der Lage sein, ihr im Grundgesetz verankertes Recht auf freie Wahl des Ausbildungs- und Arbeitsplatzes wahrzunehmen (dazu Porath 2013, 20). Dafür ist die Berufsorientierung schließlich auch im Fächerkanon der Schule verankert, sei es im Fach Arbeitslehre, z. B. in Hamburg, Hessen, Bayern und Berlin, im Fach Wirtschaft, Arbeit, Technik (WAT), z. B. in NRW, oder als Wirtschaft-Recht-Technik in Thüringen. Darin geht es nicht ausschließlich um das Treffen einer Berufswahlentscheidung. Berufsorientierung meint, sich mit den Anforderungen und Werten der Arbeitswelt sowie mit der Arbeitsmarktsituation, mit den Beschäftigungsbedingungen und den Lebenslagen von Menschen in verschiedenen Berufen vertraut zu machen. Die Schüler sollen etwas über die Notwendigkeit erfahren, Arbeiten zu gehen, um den eigenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Sie lernen, dass Arbeit ein zentraler Bestandteil menschlichen Lebens und menschlicher Entwicklung ist. Sie erfahren etwas über den Wandel der Arbeitswelt und über die Risiken neuer Beschäftigungsformen.

Die Berufsorientierung ist demnach als Teil von Bildung, Persönlichkeitsentwicklung und Lebensplanung zu verstehen. Es geht dabei um die individuelle Suche nach dem eigenen Platz in der menschlichen Gemeinschaft bzw. in Gesellschaft. Arbeit und Beruf stellen dabei die zentralen Integrationsmomente dar. Eine gelingende Berufsorientierung gilt deshalb heute mehr denn je als wichtige Voraussetzung für den erfolgreichen Übergang in Ausbildung und – anschließend – in Beschäftigung. Demnach kommt ihr eine hohe berufsbildungs-, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Bedeutung zu.

3 Sinkende Ausbildungsplatznachfrage und Attraktivitätsverlust der dualen Ausbildung

Es wird deutlich, dass dem Thema Berufsorientierung nicht zuletzt in Abhängigkeit von der Situation am Ausbildungsstellenmarkt und im Hinblick auf die Situation junger Menschen am Übergang Schule-Beruf, unterschiedliche Bedeutung zukommt. In Zeiten knapper Lehrstellen, so wie es in den vergangenen Jahren der Fall war, geht es darum, die Übergangschancen in Ausbildung, insbesondere von jungen Menschen, die als sozial benachteiligt gelten, zu verbessern. Aktuell werden die Diskussionen zur Situation am Ausbildungsstellenmarkt ganz im Zeichen des demografischen Wandels, des Fachkräftemangels und der sinkenden Bewerberzahlen im dualen System geführt. Im Jahr 2013 erreichte die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge mit 530.700 einen historischen Tiefststand. Dabei sind sowohl das Ausbildungsplatzangebot, wie auch die Nachfrage nach Lehrstellen seit Jahren rückläufig. Dennoch steigt die Zahl der nicht besetzten Ausbildungsplätze stetig. Zum 30.09.2009 waren bspw. noch 17.255 Ausbildungsplätze unbesetzt (BiBB 2010, 55), zum 30.09.2013 waren es 33.534 unbesetzte Lehrstellen (BiBB 2014, 60). Genauso ist zum zweiten Mal in Folge die Zahl der unversorgten Bewerber gestiegen. Im Jahr 2011 waren zum 30.09. noch 72.319 Jugendliche ausbildungsplatzsuchend. 2013 hatten 83.564 Jugendliche keinen Ausbildungsvertrag (ebd.). Rund zwei Drittel von ihnen mündeten in alternative Angebote, wie vollzeitschulische Angebote, Berufsvorbereitungen oder andere Fördermaßnahmen ein (BiBB 2014, 59). Für den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt lässt sich diese Entwicklung als „worst-case-Szenario“ beschreiben, da das Zusammenfallen der verschiedenen Entwicklungen: das sinkende Ausbildungsplatzangebot, die sinkende Nachfrage, die steigende Zahl unversorgter Bewerber und – parallel dazu – die steigende Zahl nicht besetzter Ausbildungsstellen, den künftigen Fachkräftemangel verschärfen. Matthes und Ulrich (2014, 5) sprechen diesbezüglich von einem „Passungsproblem“ was langfristig dazu führt, dass sowohl der Fachkräftebedarf der Unternehmen, als auch der Versorgungsbedarf der Jugendlichen nicht gedeckt werden. Es sei zu befürchten, dass Betriebe, die ihre Lehrstellen über längere Zeit erfolglos am Markt anbieten, sich vom Ausbildungsgeschehen zurückziehen. Jugendliche müssten vielmehr mit verzögerten Übergängen in Ausbildung rechnen.

Was sind die Ursachen für diese Entwicklung? Die zunehmenden Versorgungsprobleme werden insbesondere auf das seit 2011 sinkende betriebliche Ausbildungsangebot zurückgeführt. Ulrich (2013) weist diesbezüglich auf enorme regionale Unterschiede in der Ausbildungsplatzversorgung hin. Einflussfaktoren seien dafür die Größenstruktur der Ausbildungsbetriebe, die Bevölkerungsdichte einer Region und ihr Tertiarisierungsgrad (ebd., 24). Für den Rückgang des Ausbildungsplatzangebots macht die DIHK-Ausbildungsumfrage einen Anpassungsprozess der Unternehmen verantwortlich. Sie würden damit die Besetzungsschwierigkeiten aus den Vorjahren antizipieren, indem sie ihr Ausbildungsstellenangebot reduzieren (DIHK 2013, 9). Anders formuliert, der Angebotsrückgang wird als Anpassungsprozess an die sinkende Bewerbernachfrage betrachtet (auch Matthes/Ulrich 2014). Parallel dazu sei auch die Zahl der öffentlich geförderten außerbetrieblichen Ausbildungsplätze zurückgegangen (ebd., 6).

Für den Nachfrage- und Bewerberrückgang wird in erster Linie der demografische Wandel verantwortlich gemacht (ebd.). Infolge dessen sinke die Zahl ausbildungsinteressierter Jugendlicher und damit das Bewerberpotenzial. Berufe mit einem weniger guten Image seien von dieser Entwicklung in besonderem Maße betroffen (ebd.).

Als Gründe für die zunehmenden Besetzungsschwierigkeiten von Ausbildungsplätzen werden neben dem demografischen Wandel auch ein steigendes Interesse an vollzeitschulischen Ausbildungsgängen, ein steigendes Studieninteresse bei Schulabsolventinnen und -absolventen (ebd.) und ein Attraktivitätsverlust der dualen Ausbildung benannt (BiBB 2013a, 75). So verzeichneten die Hochschulen in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme der Studienanfänger (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 99). 2011 war ihre Zahl erstmals genauso hoch, wie die Zahl der Ausbildungsanfänger im dualen System. 2013 mündeten sogar mehr junge Menschen in ein Studium als in die duale Ausbildung ein. Einerseits ist die Zahl der Schulabgänger mit Studienberechtigung gestiegen. Etwa die Hälfte der gleichaltrigen Wohnbevölkerung verfüge derzeit über eine Hochschulzugangsberechtigung. Andererseits ist die Zahl derjenigen gesunken, die mit einer Hochschulzugangsberechtigung in eine Ausbildung einmünden (ebd., 107). Auch das Schulberufssystem erfreut sich großer Beliebtheit. Die Gesamtzahl der beruflichen Vollzeitschüler/-innen ist zwar nur leicht gestiegen, es lässt sich aber eine deutliche Bedeutungszunahme der Berufe im Gesundheitswesen und im Erziehungswesen feststellen (ebd., 100).

In den beschriebenen Entwicklungen sind jedoch nicht nur regionale sondern auch berufsspezifische Unterschiede festzustellen. Insbesondere die Entwicklung der Zahl neu abgeschlossener Ausbildungsverträge weist auf erhebliche berufs- und berufsfeldspezifische Unterschiede hin. Die Ausbildungsstatistik des DIHK (Online unter www.dihk.de/themenfelder/aus-und-weiterbildung/ausbildung/ausbildungsstatistiken) verdeutlicht, dass die Anzahl der bestehenden Ausbildungsverträge in der Metall- und in der Elektrotechnik in den letzten beiden Jahren sogar gestiegen ist. In anderen Bereichen ist die Zahl hingegen deutlich gesunken. Besonders deutlich war dieser Rückgang im Hotel- und Gaststättengewerbe (-5.915) sowie im Handel (-5.106). Im Handwerk lässt sich bereits seit den 1990er Jahren ein kontinuierlicher Rückgang der Zahl neu abgeschlossener Ausbildungsverträge feststellen (Abbildung 1).

Abbildung 1: Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge nach Bereich (Eigene Darstellung; Datenquelle: BiBB 2014, 31; BiBB 2012a, 33).Abbildung 1: Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge nach Bereich (Eigene Darstellung; Datenquelle: BiBB 2014, 31; BiBB 2012a, 33).

Lt. Berufsbildungsbericht wurden im Jahr 1994 noch 215.107 neue Ausbildungsverträge im Handwerk abgeschlossen, 2013 waren es nur noch 142.137 neue Ausbildungsverträge. In Industrie und Handel ist erst seit dem Jahr 2008 ein Rückgang festzustellen. Insbesondere der Rückgang der Ausbildungsverträge im Handwerk wird mit einem schlechtem Image und einem Attraktivitätsverlust der Berufsausbildung in diesem Bereich begründet. Jung und von Matt (2002, 202) formulieren, dass die Abnahme der Bewerberzahlen – gemeint sind hier die Käufer eines Produkts – das „sicherste Frühwarnsystem für den Attraktivitätsverlust einer Marke“ seien. Behrens und Zempel (2012) adaptieren dies für den Bereich des Personalmarketings. Die Marke wäre in dem Fall der Beruf. Demnach deutet der Bewerberrückgang im Handwerk auch auf einen Attraktivitätsverlust des Handwerks als Ausbildungs- und Beschäftigungssektor hin.

Dass die Berufe unterschiedliche Attraktivität und unterschiedliches Image besitzen, zeigen verschiedene Studien. So z. B. die Bürgerbefragung zum öffentlichen Dienst. Sie untersucht die Wahrnehmung und das Ansehen des öffentlichen Dienstes und hinterfragt das Ansehen seiner Beschäftigten, insbesondere der Beamten, sowie einzelner Berufe (DBB 2013). Demnach werden Beamte als pflichtbewusst, verantwortungsbewusst und zuverlässig eingeschätzt. Eine Anstellung im öffentlichen Dienst und in der Verwaltung gilt als sichere Beschäftigung. Zu den angesehensten Berufen gehören – auf Rang 1 – der Feuerwehrmann, gefolgt von der/dem Kranken-/Altenpfleger, dem Arzt/der Ärztin und den Kindergartenmitarbeitern (ebd., 23).

Andere Untersuchungen, wie der Ausbildungsreport des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB 2013, 2014), verdeutlichen vielmehr, wie sich die Qualität der Ausbildung auf das Image und die Attraktivität eines Berufes auswirken können. Der Report hinterfragt die Qualität der Ausbildung im Hinblick auf die Organisation der Ausbildung im Betrieb, Belastungssituationen, Bezahlung, die Zufriedenheit der Auszubildenden und ihre betrieblichen Übernahmechancen nach der Ausbildung. Es ist naheliegend, dass die Ergebnisse des Reports das Image und die Attraktivität von Ausbildungsberufen mit prägen. So spiegelt die aus den Befragungsergebnissen resultierende Rangfolge der Ausbildungsberufe die Attraktivität der Berufe wieder. Auf den oberen Rängen sind der/die Industriemechaniker/-in und der/die Bankkaufmann/-frau, auf den untersten der/die Friseur/-in, der/die Hotelfachmann/-frau, der Koch/die Köchin und der/die Fachverkäuferin im Lebensmittelhandwerk zu finden (ebd., 6). Vermutlich übernehmen hier der/die Auszubildenden die Rolle eines Informationsträgers. Die Informationen über den Beruf, die sie kommunizieren, prägen schließlich das öffentliche Meinungsbild über diese Berufe.

Die Entwicklung der ANR, des Verhältnisses zwischen angebotenen und nachgefragten Lehrstellen (BiBB 2014, 20 ff.), stellt einen möglichen Indikator für das Image und die Attraktivität von Berufen dar (dazu Behrens/Zempel 2012, 67). Einerseits gibt es Berufe mit einem Versorgungsproblem, d.h. mit einer hohen Bewerberzahl und einer hohen Zahl erfolgloser Ausbildungsplatzbewerber. Andererseits gibt es eine hohe Anzahl ausbildender Betriebe, die ihre angebotenen Ausbildungsplätze nicht besetzen können. Dazu gehören z. B. der/die Restaurantfachmann/-frau. 30,2% der ausbildenden Betriebe dieses Berufes können die angebotenen Ausbildungsplätze nicht besetzen. Dem folgen der/die Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk (25,6%) und der/die Fleischer/-in (ebd.). Aber auch in anderen Berufen ist die Anzahl der erfolglos suchenden Betriebe vergleichsweise hoch, z. B. Bäcker/-in (22,8%) und Gebäudereiniger/-in (16,4%). Der vergleichsweise hohen Anzahl an Betrieben, die ihre Ausbildungsplätze in den genannten Berufen nicht besetzen können, steht eine eher niedrige Anzahl unversorgter Ausbildungsplatzbewerber gegenüber.

Ein anderer Indikator – neben der ANR – dafür, dass nicht alle Berufe gleichermaßen von diesem Attraktivitätsverlust und dem damit einhergehenden Bewerberrückgang betroffen sind, ist die Stellen-Bewerber-Relation (ebd., 60). Sie verdeutlicht das Verhältnis zwischen unvermittelten Bewerbern und unbesetzten Ausbildungsstellen. In den Ergebnissen zeigt der Berufsbildungsbericht erhebliche berufsspezifische Unterschiede dieser Quoten. Viele Berufe weisen einen eher niedrigen Wert auf. Auf eine/-n unversorgte/-n Bewerber/-in kommt nicht einmal eine ganze unbesetzte Stelle. Als Beispiel: in den Gartenbau- und Floristikberufen kommt auf eine/-n unversorgte/-n Bewerber/-in gerade einmal 0,3 Stellenanteile (ebd.). Erklären lässt sich dies freilich immer auch mit der Anzahl der angebotenen Lehrstellen, aber genauso mit der im Verhältnis dazu hohen Nachfrage nach Lehrstellen in diesem Beruf. Demgegenüber lassen sich aber auch Berufsfelder mit einer hohen Stellen-Bewerber-Relation finden. Dazu gehören die Berufe in der Rohstoffgewinnung und -aufbereitung (3,2 Stellen pro Bewerber), ähnlich die Reinigungsberufe (3,2) sowie die Tourismus-, Hotel- und Gaststättenberufe (1,2). Auch der Bildungsbericht 2014 hebt diese drei Ausbildungsbereiche als diejenigen mit einem Überangebot an Lehrstellen hervor (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 102).

Demnach wird der aktuelle Bewerberrückgang im dualen Ausbildungssystem, der in erster Linie mit der demografischen Entwicklung und dem veränderten Bildungsverhalten Jugendlicher begründet wird, in einigen Ausbildungsbereichen und Berufen durch ein schlechtes Berufsimage und einer geringen Attraktivität der Ausbildung zusätzlich verschärft (dazu Eberhardt/Scholz/Ulrich 2009; Kutscha 2001). Die Folge ist, dass einige Betriebe ihre angebotenen Ausbildungsplätze gar nicht mehr besetzen können. Was tun Unternehmen, um dem entgegenzusteuern?

4 Ausbildungsmarketing als Instrument zur Gewinnung von Auszubildenden

Der Rückgang der Bewerberzahlen im dualen Ausbildungssystem führt zu einem Wettbewerb der Berufe, Branchen und Unternehmen um geeignete und vor allem leistungsfähige Ausbildungsplatzbewerber. Die Unternehmen scheinen sich dabei im zunehmenden Maße darüber bewusst zu werden, dass ihr Erfolg in diesem Wettbewerb wesentlich durch ihr eigenes und durch das Image der Ausbildungsberufe beeinflusst wird. Darauf deutet nicht zuletzt die Präsenz des Themas auf Fachtagungen und Messen hin, z. B. auf der didacta 2014. Der BiBB-Kongress 2014 befasste sich ebenfalls mit dem Problem der Attraktivitätssteigerung der dualen Ausbildung.

In diesem „war for talents“ greifen die Betriebe und Branchen deshalb offenbar verstärkt auf verschiedene Instrumente und Strategien des Personal- bzw. Ausbildungsmarketings zurück (Diettrich/Jahn/Klöpfel 2014). Neben kommunikationspolitischen Maßnahmen beinhaltet das Maßnahmen zur Verbesserung der Ausbildungsqualität, die Entwicklung neuer Ausbildungsmodelle, die Neuordnung der Ausbildung und Modernisierung der Berufsbezeichnung (dazu z. B. Krewerth et al. 2004), die Erhöhung der Anschlussfähigkeit und Durchlässigkeit der Erstausbildung an weiterführende Bildungsgänge, die Erhöhung der Ausbildungsvergütung usw. Beim Ausbildungsmarketing handelt es sich demnach um ein ganzheitliches Konzept, das verschiedene Instrumente der Personalarbeit beinhaltet. Ziel ist es, damit die Attraktivität und das Image eines Ausbildungsberufes und eines Ausbildungsbetriebes zu erhöhen, um so Auszubildende zu gewinnen und zu binden (Behrens/Zempel 2012; Dietl 2003; Dietmann 1993; Haitzer 2011; Kutscha 2001). Zwar ging es im Personalmanagement schon immer um die Frage, wie geeignetes Personal gewonnen und langfristig an ein Unternehmen gebunden werden kann, allerdings rücken erst in jüngerer Zeit die Schulabsolventen als spezielle Zielgruppe zunehmend in den Fokus der Personalarbeit. Mit dem Begriff des Ausbildungsmarketings wird die Eigenständigkeit der Gewinnung und Bindung von Auszubildenden im Bereich des Personalwesens betont.

Ausbildungsmarketing beinhaltet alle Strategien und Aktivitäten, die auf die Gewinnung, Einstellung und Bindung von Auszubildenden gerichtet sind. Dazu gehören Maßnahmen der Bewerberansprache (Kommunikation), der Bewerberauswahl und der Ausbildungsorganisation. Es wird unterschieden zwischen internem und externem Marketing (Dincher 2013; Strutz 1993). Beim internen Marketing steht das vorhandene Personal im Mittelpunkt. Es geht darum, ungewollte Personalfluktuationen zu vermeiden, die Leistungsmotivation zu erhöhen und das Personal im Unternehmen zu halten. Beim externen Marketing geht es um die Personalbeschaffung (ebd.). Dabei werden Instrumente und Gedankengut des Absatzmarketings für Produkte und Dienstleistungen ins Personalwesen übertragen (dazu Dietl 2003a und b). Es geht hierbei nun um die Vermarktung des Arbeits- bzw. Ausbildungsplatzes (Dincher 2013). Dietl (2003a und b) adaptiert dafür den Marketingmix aus der Absatzwirtschaft (dazu auch Thönniß 2008):

  • die Produktpolitik: als Produkt gilt der zu besetzende Ausbildungsplatz. Produktpolitische Instrumente sind in dem Fall die Organisation der Ausbildung, der Einsatz von Lernmitteln, der betriebliche Ausbildungsablauf, Möglichkeiten der Individualisierung, z. B. die Frage der Verkürzung der Berufsausbildung, Fortbildungsmöglichkeiten oder die Übernahmechancen nach der Ausbildung.
  • die Preispolitik: gemeint ist damit die Gestaltung der Ausbildungsvergütung. Werden Zulagen oder Boni gezahlt?
  • die Kommunikationspolitik: Es geht dabei um die Darstellung des Unternehmens und des Berufs. Im Mittelpunkt der Kommunikationspolitik steht die Frage, welche Kommunikationskanäle für die Präsentation des Berufs genutzt werden. Wie werden Bewerber angesprochen?
  • die Distributionspolitik: Dabei geht es um den Vertrieb und die Absatzwege des Produkts. Speziell im Ausbildungsmarketing gehe es um die Fragen der Mobilität des Auszubildenden. Wie erreicht er oder sie den Betrieb? Nach welchen Kriterien richtet sich der Ausbildungsablauf?

Speziell die Kommunikationspolitik kann als zentraler Aspekt des Ausbildungsmarketings bezeichnet werden. Es geht dabei um die Frage, welche Informationen dem Bewerber bereitgestellt werden und welches Image damit erzeugt wird. Wittwer (2005) systematisiert diesen Ansatz in vier Säulen des Ausbildungsmarketings. Das sind Image, Ausbildungsangebot, Kommunikation und Evaluation. Dafür sind die Stärken und das Image des Ausbildungsplatzes zu analysieren. Dann ist zu entscheiden, welche Informationen über welche Kanäle kommuniziert werden und welches Image damit erzeugt werden soll. Auch die Frage, über welche Kanäle und Medien kommuniziert wird ist entscheidend. So scheint für die heutige „Net Generation“, gemeint ist die aktuelle Jugendgeneration, das Internet einer der wichtigsten Kommunikationskanäle zu sein, auch für das Ausbildungsmarketing (Müller/Zepke/Dieterle 2014).

Zwar lassen sich zahlreiche Ratgeber zum Thema Bewerbermanagement und Personalmarketing finden (z. B. Dietl 2003a; Dietl 2003b; Felser 2010; Haitzer 2011). Im Internet lassen sich verschiedene Seiten, Blogs und Plattformen zu den Themen Ausbildungsmarketing, Azubi-Recruiting, e-Recruiting, Personalmarketing, Bewerbermanagement usw. finden (z. B. www.aicovo.com; www.perwiss.de; personalmarketing2null.de; ausbildungsmarketing.com; bewerbermagnet.com usw.; Stand: 03-09-2014). Coaches und Trainer bieten dort auch Seminare und Workshops zu diesen Themen an. Aus Sicht der Berufsbildungsforschung stellt das Thema „Ausbildungsmarketing“ jedoch eher ein Desiderat dar. Darauf weist Kutscha bereits 2001 hin. Daran hat sich in den letzten Jahren auch nicht viel geändert. Nur wenige Arbeiten befassen sich mit wissenschaftlich relevanten Fragestellungen zu diesem Thema. Die meisten Arbeiten zielen auf die Optimierung von Bewerberprozessen oder Weiterentwicklung von Recruiting-Strategien. Eine Frage ist, wo sich Bewerber über Ausbildungsberufe informieren. Dahinter steht das Interesse, Kommunikationswege und Mittel zu optimieren. Fragen, z. B. zur Wirkung des Ausbildungsmarketings auf die Berufsorientierung oder inwieweit sie Berufswahlprozesse beeinträchtigen bzw. beeinflussen, wurden bislang kaum oder gar nicht untersucht.

Der vorliegende Beitrag stellt sich nun die Frage, wie einzelne Branchen bzw. Berufe ein solches Ausbildungsmarketing umsetzen. Dies soll im Folgenden, am Beispiel des Berufs Friseur gezeigt werden. Die Grundlage der weiteren Untersuchung ist insbesondere die Auswertung des Jahresberichts des Zentralverbandes des Deutschen Friseurhandwerks (ZV). Dieser Jahresbericht erscheint seit 1963. Im Rahmen der Untersuchung wurden die Ausgaben im Hinblick auf die Branchenentwicklung und im Hinblick auf Ausbildungsmarketing ausgewertet.

5 Ausbildungsmarketing im Friseurhandwerk

5.1 Imagewandel, Attraktivitätsverlust und Bewerberrückgang im Friseurhandwerk

Der/Die Friseur/-in zählt mit derzeit insgesamt 24.920 Auszubildenden zu den ausbildungsstärksten Berufen. Lange Zeit zählte der Beruf sogar zu den sog. Top-10-Berufen. D.h., er war immer unter den 10 Berufen mit den meisten neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen zu finden: 2009 bspw. auf Rang 7 mit 15.463 Neuabschlüssen (vgl. Online: http://www.bibb.de/dokumente/pdf/naa309_2009_tab67_0bund.pdf; 29-08-2014). Ähnlich wie andere Berufe auch ist das Friseurhandwerk jedoch von einem Bewerberrückgang betroffen. 2011 ist er schließlich aus der Top-10 der Ausbildungsberufe herausgefallen. Zu betonen ist, dass sich dieser Rückgang bereits über mehrere Jahre abzeichnet. Bereits zwischen 1966 und 1973 sind die Zahlen der Auszubildenden deutlich zurückgegangen, genauso Ende der 1970er und deutlicher in den 1980er Jahren (Abbildung 2). Vor allem der Anstieg zwischen 1973 und 1979 wird auf die Implementierung von Sonderprogrammen zur Förderung der Ausbildung zurückgeführt. Die Zunahme der Neuabschlüsse in diesem Zeitraum lässt sich auch mit der Einmündung der geburtenstarken Jahrgänge (Babyboomer) in die Berufsausbildung erklären. Seit Mitte der 1980er Jahre ist jedoch die Zahl der Neuabschlüsse wieder rückläufig. Seit Anfang der 1990er Jahre ist auch ein deutlicher Rückgang der Teilnehmer an der Meisterprüfung festzustellen.

Abbildung 2: Auszubildende im Friseurhandwerk 1963-2010 (Eigene Darstellung; Quelle: Jahresberichte des Zentralverbands des Friseurhandwerks 1963 bis 2012)Abbildung 2: Auszubildende im Friseurhandwerk 1963-2010 (Eigene Darstellung; Quelle: Jahresberichte des Zentralverbands des Friseurhandwerks 1963 bis 2012)

Als Gründe für den Personalverlust in den 1970er und 1980er Jahren werden die Wirtschaftskrise und Preissteigerung genannt. Diese werden u.a. als Folge der Erhöhung der Mehrwertsteuer kritisiert. Das hatte zur Folge, dass die Dienstleistungen des Friseurs seltener in Anspruch genommen wurden, was wiederum zu Betriebsschließungen und zu einem Rückgang des Personalbedarfs führte. Bis heute setzt sich der Zentralverband des Deutschen Friseurhandwerks für eine Senkung der Mehrwertsteuer im personalintensiven Friseurhandwerk ein (Online: www.kurssiebenprozent.de; 03-09-2014). Dadurch würden die Kosten für Friseurdienstleistung sinken, es würde Beschäftigung sichern und aufbauen.

Das Ergebnis war eine deutliche Zunahme der Arbeitslosigkeit in diesem Beruf. Die Berufsstatistik des IAB (Online unter http://bisds.infosys.iab.de/) verdeutlicht, dass die Arbeitslosenquoten (AL-quote) unter den Friseuren/-innen vergleichsweise hoch sind. Sie liegen mit rund 10 % über der durchschnittlichen Gesamtarbeitslosenquote des Arbeitsmarktes. Die AL-quote der Männer mit diesem Beruf beträgt sogar 14 %. Bei den sonstigen Körperpflegern (Kosmetiker/-innen, Nageldesigner/-innen usw.) liegen die AL-quoten sogar bei über 30 %. Speziell bei den Friseuren führte das schließlich zu einem Attraktivitätsverlust des Berufs.

Eine andere Entwicklung ist die Verweiblichung des Berufs. Noch bis in die 1970er Jahre galt der Friseur als ein Beruf, der eher von Männern besetzt wurde. Es lassen sich unterschiedliche Befunde darüber finden, wann dieser „Verweiblichungsprozess“ im Friseurhandwerk einsetzte. Cremer (1983) ging davon aus, dass dieser Prozess nach dem 2. Weltkrieg, ab 1948 einsetzte. Die Währungsreform und daraus resultierende niedrige Lohnabschlüsse hätten zu einer Abwanderung männlicher Gesellen aus dem Friseurhandwerk geführt. So kommt die feministische Forschung zu dem Schluss, die Feminisierung des Friseurs – ähnlich wie in anderen „Frauenberufen“ – sei das Ergebnis davon, dass der Mann den Frauen diese Arbeit übrig gelassen habe. Ein Grund dafür seien die schlechten Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung, schlechte berufliche Entwicklungsmöglichkeiten usw. So seien diese Berufe für Männer unattraktiv geworden und die Frauen konnten in diesen Berufen erfolgreich werden (Rabe-Kleberg 1987; Becker-Schmidt/Knapp 2000).

Kornher (2012) macht deutlich, dass sich bereits vor dem 1. Weltkrieg entsprechende Entwicklungen beobachten lassen, in denen die Frau den männlichen Friseur vom Markt zu verdrängen scheint. Sie macht deutlich, dass es bereits vor 1945 offenbar mehrere Gründe dafür gab, warum sich Männer zunehmend aus dem Friseur-Handwerk zurückgezogen haben. Zum einen schienen Damenfriseure am Markt erfolgreicher zu sein, nicht zuletzt durch ihr besseres Berufsimage als Künstler. Auch wurde das von Männern ausgeübte Damenfrisieren als ein Überschreiten der „Grenzen der Schicklichkeit“ betrachtet. Aufgrund der erotischen Konnotation des Haares hätten viele männliche Friseure sich zunehmend unwohl beim Frisieren der Damen gefühlt. Auch widersprach der Friseurberuf zunehmend einem in Gesellschaft zu findenden Männlichkeitskonzept (ebd., 162 ff.). Inzwischen gilt der Friseur als ein typischer Frauenberuf. Über 90% der Friseure sind weiblich. Diesen Zustand beklagt der Zentralverband des deutschen Friseurhandwerks. Er formuliert in seinem Jahresbericht (ZV 1981, 17 f.): „Es ist zu hoffen, dass sich die Zahl der gewerblichen Ausbildungsberufe, in denen weibliche Auszubildende beschäftigt werden, weiterhin erhöht, so daß nicht das Friseurhandwerk allein die großen Mengen weiblicher Auszubildender im Handwerk zu verkraften hat. (…) Ursache für die überdurchschnittlichen Abgänge im Berufsfeld Körperpflege ist die überaus starke Besetzung der Altersgruppen bis zu 25 Jahren, die aus familiären Tatbeständen aus dem Friseurberuf ausscheiden. Aus diesen hohen Abgangszahlen junger gelernter Friseurinnen resultiert eine Reihe von Problemen für das Friseurhandwerk (Fachkräftemangel, Schwarzarbeit etc.) die zu vermeiden wären, verfügte das Friseurhandwerk über mehr geübte und erfahrene männliche Mitarbeiter.“ (Jahresbericht ZV 1981, 17 f). Bis heute ringt das Friseurhandwerk darum, mehr männliche Bewerber zu gewinnen.

Auch die aktuellen Veränderungen der Branchenstruktur werden als eine Gefahr für das Friseurhandwerk betrachtet. Mit Sorge beobachtet der Zentralverband die einerseits zunehmende Entstehung von Friseurketten und Filialbetrieben, andererseits die zunehmende „Atomisierung“ der Branche, d.h. dass immer mehr Friseure den Weg in die Kleinselbstständigkeit suchen. Darin wird eine Gefährdung der typischen handwerklichen Mittelstandsstrukturen gesehen. Filialbetriebe und Kleinstunternehmer werden als Gefahr für das Preisgefüge betrachtet. Das Kleinunternehmertum wird besonders kritisch betrachtet: Sie würden „Preisdumping“ betreiben und würden durch das bestehende Steuerrecht, aufgrund ihrer geringen Steuerbelastungen (nach § 19 UStG), gegenüber dem Mittelstand bevorzugt werden. Außerdem sind sie keine Innungsmitglieder und bilden nicht aus. Insbesondere die Regelung zur steuerrechtlichen Behandlung und ihre Vergünstigungen gelten als Ursache für „wettbewerbsverzerrende und das ‚tumorartige‘ Wachstum umsatzsteuerfreier Kleinstbetriebe“ (ZV 2011, 22). Sie gelten als Nutznießer handwerklicher Gewerbestrukturen, ohne selbst einen Beitrag zu deren Entwicklung zu leisten. Schließlich werden sie auch als Schwarzarbeiter kriminalisiert. Zu bedenken ist dabei, dass viele Frauen vor allem aufgrund ihrer Beschäftigungssituation, z. B. aufgrund ihres geringen Verdienstes oder sog. prekärer Beschäftigungsverhältnisse, den Weg in die Kleinstselbständigkeit gewählt haben. So werden Kleinstselbstständigkeiten auch durch die Betriebe mit forciert, z. B. durch Geschäftsmodelle wie die „Stuhlmiete“, die erst durch Kleinstunternehmer möglich sind. Dabei werden Friseur/-innen nicht mehr als Arbeitnehmer/-innen angestellt, sondern mieten sich als Selbstständige in einen Salon ein, mit oder ohne eigenen Kundenstamm (Abbildung 3).

Abbildung 3: Anzeige „Stuhlmiete“ (aus Allgemeiner Anzeiger für Erfurt vom 03.02.2013).Abbildung 3: Anzeige „Stuhlmiete“ (aus Allgemeiner Anzeiger für Erfurt vom 03.02.2013).

Auch taucht der Friseur immer wieder in den Diskussionen zu prekären Beschäftigungsverhältnissen und Mindestlöhnen auf. In der Auszubildendenbefragung des DGB (2013) zur Qualität der Berufsausbildung ist der Beruf auf Rang 22 zu finden. Ähnlich schlecht schneidet er bei der Einschätzung der Zufriedenheit in der Ausbildung durch die Auszubildenden ab. Dort liegt er auf Platz 20 (ebd., 42). Ein möglicher Grund dafür ist die eher geringe Auszubildendenvergütung. So liegt die tarifliche Auszubildendenvergütung im Durchschnitt bei 374 € in den alten und bei 214 € in den neuen Bundesländern (BiBB 2013). Damit gehört der Friseur zu den Berufen mit der niedrigsten Ausbildungsvergütung. Andere Faktoren, die die Zufriedenheit der Auszubildenden beeinflusst haben könnten, sind die hohe Anzahl von zu leistenden Überstunden, die Unzufriedenheit mit der Organisation und fachlichen Qualität der Ausbildung sowie die schlechten Übernahmechancen nach der Ausbildung. So verwundert nicht, dass der Friseur zu den Berufen mit einer vergleichsweise hohen Anzahl Auszubildender zählt, die ihren Ausbildungsvertrag abbrechen. Die Vertragslösungsquote der Friseure liegt lt. DAZUBI bei rund 45 % (BiBB 2012b). Die Mehrzahl von ihnen setzt seine Ausbildung jedoch in einem anderen Betrieb fort. Darüber hinaus wird der Friseur als Beruf mit geringen Leistungsanforderungen betrachtet. Rund zwei Drittel der einmündenden Auszubildenden verfügen nur über einen Hauptschulabschluss. Der Zentralverband selbst kritisiert seit Jahren die abnehmende Leistungsfähigkeit der Ausbildungsplatzbewerber.

Zwar wurden nicht alle relevanten Faktoren angesprochen, die die Attraktivität und das Image des Friseurs prägen, z. B. Entlohnung, gesundheitliche Risiken, Arbeitsbelastungen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf usw. Insgesamt erscheint der Beruf des Friseurs, bei genauer Betrachtung der skizzierten Aspekte, als Ausbildungsberuf doch eher unattraktiv. Trotzdem zählt er zu den ausbildungsstärksten und – vor allem bei den Mädchen – mit zu den beliebtesten Ausbildungsberufen. Auch wenn er nicht mehr unter den Top-Ten-Berufen zu finden ist. Ein Grund für dieses doch positive Image ist, dass das Friseurhandwerk bereits seit den 1980er Jahren eine sehr intensive Imagepflege und Kommunikationspolitik betreibt, die das Bild von diesem Handwerk prägen.

5.2 Strategien des Ausbildungsmarketings im Friseurhandwerk

Trotz der beschriebenen Krisen, trotz Preissteigerungen, Betriebsschließungen, Personalabbau, Arbeitslosigkeit, geringer Ausbildungsvergütung, prekärer Beschäftigung und dem zunehmenden Wettbewerb um geeignete Ausbildungsplatzbewerber, erweist sich der Friseurberuf im Hinblick auf seine Personalstruktur lt. Zentralverband als sehr stabil. Auch unter Berufswählenden – zumindest unter den weiblichen – scheint der Beruf sehr beliebt zu sein. Bei den am häufigsten von Mädchen besetzten Ausbildungsberufen ist er aktuell auf Rang 7 zu finden. Nur wenige Lehrstellen bleiben unbesetzt (vgl. dazu www.ausbildungplus.de). Als Gründe für seine hohe Beliebtheit gelten nicht zuletzt die sehr aktiv betriebene Kommunikationspolitik und Außendarstellung des Berufs, seiner Organisation und Ausbildung, was sein Image positiv geprägt hat.

Als ein frühes Beispiel für die Entwicklung eines positiven Berufsimages kann die räumliche Etablierung des Friseurs in Salons gegen Ende des 19. Jh. betrachtet werden. Sie sollte den Friseurbesuch attraktiver machen. So sollte versucht werden, das bis dahin existierende eher negative Image des Berufes aufzuwerten. Die räumliche Etablierung und die zur gleichen Zeit erfolgende gesellschaftliche „Hygienisierung“ begründete ein völlig neues Berufsimage: Friseure arbeiteten fortan in einem sauberen Salon, der zweckmäßig, bequem und behaglich ausgestattet ist. Die Friseure selbst tragen saubere Kleidung. Verhaltensregeln und „Normen des Anstandes“ sollten ebenfalls zu diesem neuen Image beitragen (Stolz 1992, 305). Schließlich ging damit auch die Ausweitung der Aufgaben und Tätigkeiten der Friseure einher. Das und die zunehmende Technisierung erforderte eine umfassende, gründliche Ausbildung und zahlreiche Spezialisierungen der Friseure. Es erforderte Kenntnisse im kaufmännischen Bereich und in der Warenkunde, für den Verkauf von Pflegeprodukten und Drogeriewaren, es erforderte auch spezialisierte Kenntnisse der Maniküre und Schönheitspflege (einen Überblick dazu gibt Müller 1930).

Durch die Professionalisierung des Berufs, durch die Neuzuschneidung seiner Aufgabenstellungen sowie durch die Implementierung beruflicher Werte und Normen wurde versucht, das Image des Berufs und sein soziales Ansehen zu verbessern. Dies sollte vor allem durch die Aufwertung seiner Berufsausbildung erfolgen. Dafür wurden Leistungsanforderungen erhöht und wissenschaftstheoretische Inhalte der Biologie, der Chemie, der Hygienewissenschaften und der Medizin in die Ausbildung eingebunden. Begründet wurde dies mit technischem Fortschritt, neuen beruflichen Anforderungen und sich verändernden Kundenwünschen. Vergleichbare Ansätze und Überlegungen sind auch in aktuellen Debatten zu finden, z. B. in den Diskussionen zur Akademisierung der beruflichen Bildung (Kuda et al. 2012). Zwar geht es einerseits darum steigenden Anforderungen der Wirtschaft und Arbeitswelt gerecht zu werden, es geht aber auch um die symbolische Aufwertung und Attraktivitätserhöhung der Berufsausbildung.

Durch die Aufwertung der Ausbildung, insbesondere durch die Erhöhung der Leistungsanforderungen wurde auch versucht, die Struktur der Ausbildungsplatzbewerber zu steuern. Damit sollte insbesondere der hohen Zahl von Bewerbern, die nur einen Hauptschulabschluss haben, gegengesteuert werden. Ihr Anteil sei dadurch seit Beginn der 1990er Jahre zurückgegangen (ZV 2011). Auch die Novellierung der Ausbildung im Jahr 2008 und durch die Entwicklung von beruflichen Laufbahnmodellen sollte die Ausbildung zum/zur Friseur/-in für leistungsstärkere Jugendliche, für Absolventen der Realschulen, attraktiver werden. Um Frauen nach einer familienbedingten Unterbrechung der Erwerbstätigkeit die Rückkehr in den Beruf zu erleichtern bzw. ihn attraktiver zu machen, wurden Programme für Berufsrückkehrerinnen entwickelt und implementiert. Auch die Novellierung und die Entwicklung von Fortbildungsberufen sollen den Friseuren attraktive berufliche Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. Dazu gehörte bspw. die Einführung der Meisterassistenzausbildung (1999) und die Novellierung der Ausbildung zum/zur Maskenbildner/-in (2002). Diese sollten Karriere- und Entwicklungswege beschleunigen, z. B. durch die Anerkennung von Ausbildungsteilen, und – dadurch – die Durchlässigkeit der Ausbildung erhöhen.

Insbesondere der Verkauf von Körperpflegeprodukten prägt das Berufsbild des Friseurs. Es wurde gezeigt, dass der Verkauf von Drogerie- und Kosmetikprodukten bereits zu Beginn des 20. Jh. zunehmend zum Berufsprofil des Friseurs zählte. Dies intensivierte sich in den 1970er Jahren. Zwar sank aufgrund von Wirtschaftskrisen in den 1970er Jahren die Nachfrage nach Friseurdienstleistungen, dafür stieg aber die Nachfrage nach Körperpflegeprodukten. Das Friseurhandwerk greift diesen Trend auf, z. B. 1989 mit der PR-Kampagne der „Friseur zum Mitnehmen“ oder der „Friseur für den Urlaub“. Unterstützt wird dieser Trend durch die Herstellerindustrie. Der Verkauf exklusiver Haar- und Hautpflegeprodukte wird für Friseursalons zur wichtigen Einnahmequelle. Der Friseur soll den Verkauf durch seine Beratung und den Einsatz der Produkte fördern. Friseurdienstleistungen sollen durch zusätzliche Produkt- und Beratungsangebote attraktiver werden, um so ihre Nachfrage zu erhöhen. 1991 wurde dafür die Kampagne „Wir machen Trends“ gestartet (ZV 1991). 1992 werden Radio- und Fernsehspots gesendet, in denen zusätzlich eine Info-Hotline bekannt gegeben wird. 49 % der Anrufer seien männlich gewesen. Im Jahr 2002 startete bspw. die Kampagne „go ahead Friseur/-in – Beruf für Kopfarbeiter“ (ZV 2002, 44). Der Friseurberuf präsentiert sich in diesen Kampagnen immer als modernes Handwerk. Er soll den kreativen, ästhetischen und informativen Ansprüchen des Handwerks gerecht werden (ZV 2004, 31). Der Friseur wird dadurch a) zum Distributionsgehilfen der Kosmetikindustrie und b) wird ein Image erzeugt, in dem der Friseur zum trendsetzenden, kreativen Typ- und Modeberater wird.

Auch aktuell wird dieses Image durch die Kampagne „My Beauty Career“ (Online unter www.ich-bin-friseur.de) befördert. Geworben wird für die vielfältigen Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten sowie für die zahlreichen Beschäftigungs- und beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten im Beruf. Der Friseur sei ein Beruf für’s Leben, mit endlosen Möglichkeiten. Es gehe dabei um Kreativität, Mode, Style und Schönheit. Der Imagefilm der Kampagne stellt verschiedene Menschen vor, die in diesem Beruf arbeiten. Alle formulieren: „Ich bin Friseur.“ Sie sind Trainer, Coloristen, Artisten, Manager und Stylisten, Salonleiter - nicht Meister, Regionalleiter und Geschäftsführer. Sie repräsentieren möglicherweise zum einen die neuen Strukturen des Handwerks und seiner Betriebe, zum anderen die Entwicklungsmöglichkeiten im Beruf.

Abbildung 4: Friseurin, Artist, Stylist und Manager (Quelle: Imagefilm „Ich bin Friseur“; Online: www.ich_bin_friseur.de (02-09-2014)Abbildung 4: Friseurin, Artist, Stylist und Manager (Quelle: Imagefilm „Ich bin Friseur“; Online: www.ich_bin_friseur.de (02-09-2014)

Der Imagefilm präsentiert ein spezifisches Bild vom Beruf, seinen Aufgaben und der Organisation seiner Ausbildung. Darin ist der Friseur nicht nur zuständig für das Schneiden, Färben oder Formen der Haare. Er ist Künstler, er ist kreativ, er setzt damit Trends und Maßstäbe, mit denen er Mode, Look und den Style von morgen mit prägt. Der Beruf sei vielseitig, abwechslungsreich und visionär, ästhetisch und künstlerisch. Sein Arbeitsort ist nicht nur der Salon, er fährt zu Messen, zur „Hair and Beauty“ nach Frankfurt und Leipzig, zur „Top Hair“ nach Düsseldorf, zur „Fashion Week“ und anderen Veranstaltungen. Er misst sein berufliches Können mit anderen Friseuren bei deutschen und internationalen Meisterschaften. „Er erfindet sich selbst jeden Tag aufs Neue“ und stellt sich täglich neuen Herausforderungen. Der Friseur und seine Arbeit werden nicht als anstrengende, vielleicht leidvolle Erfahrung und monotone, entfremdende Tätigkeit dargestellt, bei der es um die Erfüllung von Kundenwünschen und Anforderungen geht. Im Gegenteil, die Arbeit macht Spaß, sie öffnet Räume, in denen sich das Subjekt entfalten und eigene Ideen einbringen kann. Außerdem ist sie kreativ und fördert die eigene Entwicklung. Auch andere problematische Aspekte, wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, gesundheitlichen Risiken und Beschäftigungsrisiken werden hier ausgeblendet.

6 Zusammenfassung und Fazit

Der vorliegende Beitrag versucht zu zeigen, dass das Ausbildungsmarketing als Teil des „Systems Berufsorientierung“ (Beinke 2012), im Wettbewerb der Ausbildungsgänge, Branchen und Berufe um geeignete Bewerber, zunehmend Bedeutung erlangt. Einerseits wird die Berufsorientierung als individueller Bildungs- und Entwicklungsprozess verstanden. Sie ist deshalb Teil schulischer und außerschulischer Angebote. Sie sollen schließlich die Berufswahl und den Übergang junger Menschen in die Berufs- und Arbeitswelt unterstützen. Dafür werden verschiedene Informationen bereitgestellt und die Arbeitswelt als Erfahrungsraum zugänglich gemacht.

Der vorliegende Beitrag hat versucht zu verdeutlichen, dass die Berufswahl durch das Ausbildungsmarketing massiv beeinflusst werden kann. Ausbildungsmarketing zielt primär darauf, die Berufswahlentscheidung junger Menschen zu steuern bzw. zu beeinflussen. Es geht darum, geeignete Auszubildende zu gewinnen und im Beruf bzw. im Unternehmen zu halten. Gerade in Zeiten des demografischen Wandels und des Bewerberrückgangs, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Attraktivitätsverlusts des dualen Ausbildungssystems, gewinnen Konzepte, Strategien und Instrumente des Ausbildungsmarketings deshalb zunehmend an Bedeutung. Am Beispiel des Friseurs lässt sich zeigen, wie sie das Image des Berufs beeinflussen und dadurch seine Attraktivität als Ausbildungsberuf erhöhen können. Das beinhaltet die Professionalisierung des Berufs, die Aufwertung der Ausbildung, die Entwicklung von Fort- und Weiterbildungsstrukturen, die Entwicklung eines berufsbezogenen Wertesystems, die neu Bestimmung beruflicher Aufgaben und Tätigkeitsfelder sowie die Intensivierung kommunikationspolitischer Maßnahmen, die gezielt ein bestimmtes Berufsbild und Image entwickeln und verbreiten sollen. Dabei, so wurde versucht zu zeigen, besteht jedoch die große Gefahr, dass ein eher unvollständiges, einseitiges, sogar verzerrtes Bild der Berufs- und Arbeitswelt vermittelt wird.

Auch lassen sich verschiedene kritische Punkte benennen: Das Ziel dieser „Berufsreklame“ ist es, die Attraktivität eines einzelnen Berufes oder eines Berufsfeldes zu erhöhen. Dabei wird mit Werten geworben, die so längst nicht mehr in der Arbeitswelt zu finden sind, z. B. mit sozialer Sicherheit und der Dauerhaftigkeit der Beschäftigung. Es werden berufliche Freiheitsgrade vermittelt, die in der beruflichen Praxis vermutlich nur selten oder gar nicht zu finden sind. Gerade am Beispiel des Friseurs ließe sich zeigen, dass dies kaum der arbeitsweltlichen Praxis entspricht. Gerade hier wurde auch deutlich, dass das Ausbildungsmarketing immer nur Teil eines Marketingkonzeptes ist, welches der Branche, den Unternehmen und ihren Produkten auch der Markenbildung dient. Fraglich ist, was passiert, wenn dieses berufliche Idealbild durch den Ausbildungsbetrieb nicht eingelöst wird. Beinke (2011) deutete darauf hin, dass dies möglicherweise ein Grund für viele Ausbildungsabbrüche ist.

Auch darf nicht vergessen werden, dass dieser Aufwand vor allem für die Gewinnung geeigneter, leistungsfähiger Auszubildender betrieben wird. Die Berufe und Unternehmen machen sich für die Bewerber attraktiv, die sich sonst für andere Bildungsgänge, ggf. sogar für ein Hochschulstudium entscheiden würden. Es ist die Frage, ob damit zusätzliche Selektions- oder Allokationsmechanismen in der beruflichen Bildung implementiert werden. Wird damit das bisherige Bewerberklientel der dualen Ausbildung verdrängt?

Die pädagogische Herausforderung der Berufsorientierung ist es deshalb, den Einfluss des Ausbildungsmarketings zu relativieren. Die Herausforderung besteht darin, den Einzelnen zu befähigen, sich unter Einbeziehung unterschiedlicher Quellen, dieses unvollständige Bild zu vervollständigen und ein eigenes, möglichst realistisches Bild über die Berufs- und Arbeitswelt zu entwickeln, auf dessen Grundlage er eine eigene reflektierte Berufswahlentscheidung treffen kann, bei der nicht ein konstruiertes Idealbild von Beruf im Vordergrund steht, sondern auch seine individuellen Interessen und Fähigkeiten.

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Editorial bwp@27: Berufsorientierung

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EDITORIAL zur Ausgabe 27:
Berufsorientierung

Überlegungen zur Berufsorientierung von Jugendlichen lassen sich seit Ende des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen, also bis in die Zeit der Individualisierung der Gesellschaft, der Öffnung und Ausweitung des Bildungswesens, der Liberalisierung von Handel und Gewerbe, der Auflösung von Berufsständen und der Berufswahlfreiheit. Seitdem erfüllen Initiativen und Maßnahmen zur Orientierung der Jugend auf die Arbeits- und Berufswelt verschiedene Funktionen: Einerseits sollen sie den Einzelnen bei seiner Berufswahl unterstützen, ihm Einblicke in Anforderungen und Aufgaben von Arbeit und Beruf geben und ihm dabei helfen, seinen Neigungen und Interessen entsprechende Berufsentscheidungen zu treffen. Gleichzeitig soll mit berufsorientierenden Angeboten für Jugendliche der sozialstaatlichen Verantwortung nachgekommen werden, zu der es gehört, berufliche und soziale Chancen zu eröffnen und deshalb Zugänge zu Arbeit und Beruf und soziale Teilhabe zu ermöglichen. Andererseits ist eine auf bestimmte Arbeits- und Berufsfelder gerichtete Berufsorientierung eine Voraussetzung für die Versorgung des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes mit beruflich qualifiziertem Nachwuchs und für erfolgreiche Selektions- und Allokationsprozesse im Beschäftigungssystem. Schließlich unterstützt Berufsorientierung die mit der hierarchisch gegliederten Sozialstruktur verankerte Berechtigungspolitik, die so konzipiert ist, dass ein Teil der Schulabgänger in weiterführende allgemeine Bildungsgänge übergeht, ein anderer in berufliche Bildungsgänge, welche jeweils mit unterschiedlichen Chancen beruflicher und sozialen Sicherheit bzw. des Aufstieg verbunden sind (vgl. Büchter 2013).

Obwohl also die Orientierung von Jugend auf Arbeit und Beruf genauso alt ist wie das Berufswahlprinzip, war die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit gegenüber der Berufsorientierung immer nur dann groß, wenn Abstimmungsprobleme zwischen dem Bildungs- und Beschäftigungssystem bzw. Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt aufgetaucht sind oder Steuerungen in bestimmte Bereiche (z. B. den MINT-Bereich) angestrebt wurden. Dies war beispielsweise in den 1970er/80er Jahren vor dem Hintergrund zunehmender Jugendarbeitslosigkeit der Fall. Seit den 1990er Jahren hat dann die wachsende Zahl der Jugendlichen im Übergangssystem dazu geführt, dass das Thema Berufsorientierung intensiver angegangen wurde. Aktuell ist von „Besetzungs-, Versorgungs- und Passungsproblemen“ (Matthes/Ulrich 2014) auf dem Ausbildungsmarkt die Rede, die eine Intensivierung der Maßnahmen der Berufsorientierung erforderlich machen.

Eine zentrale Rolle im Kontext der Berufsorientierung spielen seit jeher die allgemeinbildenden Schulen, insbesondere des Sekundarbereichs I. Auch das hat historische Kontinuität. Die Reichsschulkonferenz von 1920, der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen der 1950er und 1960er Jahre, der Deutsche Bildungsrat der 1960er und 1970er Jahre und aktuell die Kultusministerkonferenz (KMK) haben die Hinführung der Jugend zur Berufs- und Arbeitswelt als eine – wenn auch nicht ausschließliche – schulische Aufgabe gekennzeichnet. Dabei wird dann die systemisch-steuernde Funktion hervorgehoben, die u. a. in dieser Verortung mit der Gefahr verbunden wird, diese als eine in einer Lebensphase abzuschließende Berufswahlentscheidung zu verstehen und weniger als einen Prozess, der über die allgemeinbildende Schule hinaus fortzuführen ist bzw. von Jugendlichen nicht in der allgemeinbildenden Schule abgeschlossen werden kann, sondern vielmehr als ein Prozess verstanden werden kann, der sich über die Lebensspanne erstreckt bzw. erstrecken kann. Auch die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der Jugendlichen (53%), die eine Ausbildung abgebrochen haben, angibt, „die Ausbildung sei nicht das Richtige für sie gewesen“ (BIBB 2013, 186) weist nochmals darauf hin, dass Berufsorientierung nicht mit dem Übergang in eine Berufsausbildung als abgeschlossen betrachtet werden kann. Nicht zu unterschätzen sind inzwischen aber auch jene Angebote der Berufsorientierung im sogenannten Übergangssystem, die zwischen der Schule und der Ausbildung angesiedelt sind. Dabei ist keinesfalls ausreichend geklärt, welche Rolle Berufsorientierung in Maßnahmen des ‚Übergangssystems‘ einnimmt bzw. inwiefern Berufsorientierung als Kernaufgabe dieser Maßnahmen herangezogen werden und in welchem Verhältnis sie zu anderen Kategorien wie Verbesserung eines allgemeinbildenden Schulabschlusses, Berufsvorbereitung und -grundbildung u. Ä. steht (vgl. Kranert/Kremer/Zoyke 2013). Dementsprechend offen bleibt, wie Berufsorientierung im Übergang von Schule zu Ausbildung und Arbeit gefasst werden kann. Geht es darum, eine Berufswahl und -entscheidung zu ermöglichen, Ausbildungsvorbereitungen auf bereits erfolgte Berufswahlentscheidungen auszurichten oder notwendige berufliche Orientierungsprozesse als Anker zur individuellen Entwicklung heranzuziehen (vgl. Kremer 2012)?

Seit den letzten fünfzehn Jahre ist eine Vielzahl an Programmen und Initiativen gefördert und umgesetzt worden, um die Berufsorientierung von Jugendlichen in Schule und im Übergangssystem zu unterstützen. Hierzu zählen verschiedene BMBF-Programme (u.a. „Schule-Wirtschaft-Arbeitsleben“, „Lernen vor Ort“, „Berufsorientierung in überbetrieblichen und vergleichbaren Bildungsstätten“), Programme der Bundesagentur für Arbeit (BA) zur allgemeinen und vertieften Berufsorientierung sowie kaum noch überblickbare ESF- und Landesprogramme. Inzwischen sind einige Ergebnisse dieser Programme in Form von Bestandsaufnahmen synoptisch zusammengetragen und ausgewertet worden, die wiederum verstreut publiziert sind. Gemeinsam ist diesen Programmen, dass die Probleme in der beruflichen Orientierung der Jugendlichen gesucht werden (vgl. Büchter/Christe 2014) und so auf eine Ausbildungsstruktur ausgerichtet sind. Dabei stellt sich die Schwierigkeit, dass Maßnahmen zur Berufsorientierung i.d.R. an Gruppen ausgerichtet sind und somit ein individueller Orientierungsbedarf auf diese Gruppe hin standardisiert wird. Grundsätzlich wäre der Frage nachzugehen, wie ein ausbildungsvorbereitender Sektor im Berufsbildungssystem auszurichten ist und inwiefern Probleme mit den bestehenden Strukturen im Erziehungs- und Beschäftigungssystem verbunden sind.

Auch wenn Berufsorientierung in der aktuellen Diskussion insbesondere mit dem Übergang von der Schule in die Ausbildungs- und Arbeitswelt verbunden wird, stellt sich die Herausforderung der Berufsorientierung (und Um- bzw. Neuorientierung) für den Einzelnen an verschiedenen Stellen in Lebensverläufen (z.B. bereits im Kindesalter, in Zeiten der Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit sowie im Rahmen einer beruflichen Rehabilitation (vgl. Zoyke 2012)). Hier finden sich auch sehr unterschiedliche Formen zur Unterstützung der Berufsorientierung bzw. der Entscheidung zur Berufswahl. Unscharf bleibt hierbei u.a., inwiefern Berufsorientierung auf eine Phase ausgerichtet wird, inwiefern Berufsorientierung theoretisch gefasst werden kann oder welche Orientierungs- und Entscheidungsprozesse berücksichtigt werden sollen (z.B. Abgrenzung zur Studienorientierung).

In dieser Ausgabe von bwp@ möchten wir einen Überblick geben über aktuelle Herausforderungen in der Berufsorientierung. Über Einblicke in innovative theoretische und empirische Erkenntnisse und Befunde, anwendungsorientierte Konzepte und praktische Erfahrungen möchten wir einen Beitrag zur Forschung und Diskussion im Zusammenhang mit Berufsorientierung leisten.

Die uns eingegangen Aufsätze haben wir drei thematischen Schwerpunkten zugeordnet.

Teil A:  Strukturelle und institutionelle Bedingungen von Berufsorientierung

In diesem Teil der Ausgabe sind Beiträge versammelt, die sich mit der Frage auseinandersetzen, wie unter strukturellen und institutionellen Bedingungen und im Zusammenhang spezifischer Angebote Berufswahlprozesse von Jugendlichen verlaufen bzw. verlaufen könnten.

DIETMAR HEISLER geht in seinem Beitrag von einem Spannungsfeld zwischen Bildung und Marketing aus, innerhalb dessen sich Jugendliche für einen Beruf entscheiden sollen. Er stellt die Frage, wie durch berufs- und branchenspezifische Marketingstrategien Image und Attraktivität von Ausbildungsberufen geprägt werden, und welche Konsequenzen die Ausbildungsberufswerbung für Berufsorientierung Jugendlicher hat.

JOANNA BURCHERT, EILEEN LÜBCKE und ANDREAS SANITER untersuchen im Rahmen einer Fallstudie die Frage, ob die Einstiegsqualifizierung eine gelungene Form der Berufsorientierung im Übergangssystem darstellt. Es wird dargelegt, dass sie dazu beiträgt, sich auf den Prozess der Selbststabilisierung und beruflichen Orientierung einzulassen. Gleichermaßen wird angeführt, dass über das zugrundeliegende Praktikum eine Bindungskraft auf Seiten des Betriebs entstehen kann.

Der Beitrag „Ich muss mich noch informieren (lassen).“ Berufsorientierungsprozesse im Zusammenspiel von individuellem Handeln und Unterstützung von FRANCISKA MAHL, TABEA SCHLIMBACH und BIRGIT REIßIG geht auf individuelle Überlegungen und Strategien bei der Berufsorientierung Jugendlicher ein. Hierzu werden eigene Rollenwahrnehmungen und -erwartungen an die beratenden Akteure und Institutionen betrachtet. Es wird herausgestellt, dass die Wahrnehmungen auf die eigenen Handlungen die Rollenerwartungen an Institutionen beeinflussen.

GREGOR THURNHERR untersucht personale Faktoren, die Jugendliche beeinflussen, sich für oder gegen eine berufliche Ausbildung im angrenzenden Nachbarland zu entscheiden. Die Studie zeigt, dass Jugendliche und Lehrpersonen über Ausbildungsmöglichkeiten im Ausland kaum informiert sind. Eine berufliche Ausbildung im Nachbarland verlangt persönliche Reife und Selbstvertrauen. Zudem bestehen „Grenzen in den Köpfen“ und Befürchtungen vor unbekannten Erwartungen von Betrieben und Berufsschulen.

MONIKA MÜLLER und INGO BLAICH zeigen, wie Jugendliche berufsrelevante Informationen im Internet nutzen. Hierzu wird auf Gruppendiskussionen und einem Fragebogen zu den Nutzungsgewohnheiten neuer Medien zurückgegriffen. Im Beitrag wird der Zusammenhang zwischen individuellen Voraussetzungen und Erfahrungen und Potenzialen neuer Medien zur Unterstützung des Berufsorientierungsprozesses dargestellt. Dementsprechend zeigen sich auch Chancen und Grenzen in den Medienkompetenzen der Schüler und Schülerinnen.

Unter dem Titel „Like a Boss!“ beschäftigt sich ULRICH WEIß mit handlungsleitenden Orientierungen der Jugendlichen im Übergangssektor. Dabei wird das Streben nach Anerkennung und dessen Beeinflussung für berufliche Orientierungen aufgezeigt. Es wird vor dem Hintergrund der Anerkennungserfahrungen zur Diskussion gestellt, dass es nachvollziehbar ist, dass der Übergang in Ausbildung und Arbeit hinausgezögert wird. Hierzu werden die Bestrebungen um Anerkennung im Berufsgrundschuljahr im Rahmen einer qualitativen Studie untersucht.

Davon ausgehend, dass die Berufswahl häufig wenig fundiert und von unrealistischen Eindrücken über Anforderungen der Berufspraxis geprägt ist, nimmt ECKART DIEZEMANN in seinem Beitrag eine subjektbezogene Perspektive ein, die es ermöglicht, Konzepte der Berufsorientierung stärker an realistischen Bezugsnormen und echten Erfolgserlebnissen zu orientieren. Von diesem Standpunkt aus referiert und reflektiert der Autor beispielhaft eine aus seiner Sicht innovative, wissenschaftlich rückvermittelte Gesamtkonzeption, die diesem Ziel näher kommt.

Teil B:  Berufsorientierung als Kompetenzförderung und im Kontext individueller Entwicklung

In diesem thematischen Schwerpunkt befinden sich Beiträge, in den Kompetenzen und Kompetenzmodelle, die Grundlage bei der Unterstützung von Jugendlichen in der Berufsorientierung sein können, diskutiert werden. Besondere Bezugsmomente der ersten Beiträge sind die berufsbiographische Gestaltung vor dem Hintergrund des Lebenslangen Lernens und spezifische Arbeits(-markt-)bedingungen.  Hier geht es auch um die Frage danach, welche institutionellen Anforderungen mit berufsorientierender Kompetenzförderung erfüllt sein müssen. Weitere Aspekte der in dieser Rubrik versammelten Aufsätze sind die psychosoziale Entwicklung Jugendlicher und die Sprachentwicklung. Auch diese Beiträge werfen Fragen nach der adäuquaten Gestaltung von Berufsorientierung auf.

RITA MEYER diskutiert berufliche Orientierungskompetenz und verbindet hiermit die Notwendigkeit einer permanenten reflexiven Herstellung einer individuellen beruflichen Orientierung. Diese Bedeutung beruflicher Orientierungskompetenz wird insbesondere vor dem Hintergrund veränderter Berufsbiographien gesehen. Damit stellt sich die Herausforderung Berufsorientierung nicht nur für eine Lebensphase zu betrachten, sondern im Kontext des gesamten Lebenslaufes zu verorten.

RAPHAELA SCHREIBER und MATTHIAS SÖLL sehen die Notwendigkeit, dass berufliche Erst-, Um- und Neuorientierungsprozesse im Rahmen einer beruflichen Erstausbildung initiiert und im Sinne des lebenslangen Lernens unterstützt werden. Sie stützen sich hierbei auf eine Studie, die den Zusammenhang diskontinuierlicher Berufsbiographien, der inhaltlichen Beschaffenheit der Arbeitstätigkeit und der Berufssicherheit im Sinne eines beruflichen Identitätskonzepts operationalisiert.

SONJA BANDORSKI und FRANZ MOLZOW-VOIT gehen in ihrem Aufsatz zunächst der Frage nach, inwieweit sich in bestimmten Erwerbstätigkeits-Milieus unsichere Beschäftigungsverhältnisse entlang beruflicher Fachrichtungen abzeichnen, und welche Rolle Personenmerkmale wie z.B. Schul- und Berufsabschluss, Migrationshintergrund oder Geschlecht spielen. Für die Berufsorientierung ergibt sich hieraus die Frage, inwieweit das Wissen über die (Un-)Sicherheiten bestimmter Fachlichkeiten und damit kombinierten sozialen Lagen bei der Schwerpunktsetzung im Rahmen von Berufsorientierungsprozessen hilfreich sein kann.

GÜNTER RATSCHINSKI beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Konstrukt der Berufswahlkompetenz. Dieses wird als hierarchisches System der Meakompetenzen Identität, Adaptabilität und Resilienz definiert und in einem ökonomischen Screening-Verfahren operationalisiert. Die Wahl der Metakompetenzen mache das Verfahren anschlussfähig an den internationalen Fachdiskurs und lasse Parallelen zu vergleichbaren Konzepten der Employability und Adaptability zu.

MATTHIAS GEHRIG, NICOLE KIMMELMANN und GABY VOIGT zeigen mit ihrem Beitrag zunächst, wie Jugendliche und Lehrkräfte die Wirkung von Sprachförderung erfahren. Hieran anknüpfend formulieren sie Empfehlungen zur Gestaltung neuer bzw. Modifikation bereits existierender handlungsorientierter Kompetenzfeststellungsverfahren im Rahmen der Berufsorientierung, die Lernend en mit sprachlichen Schwierigkeiten gerecht werden können.

Teil C:  Lerntheoretische und didaktische Aspekte der Berufsorientierung

In diesem Themenfeld werden konkrete Überlegungen zur lerntheoretischen Fundierung und didaktischen Gestaltung von Berufsorientierungsprozessen vorgestellt.

JANE PORATH hat in einer einjährigen Interventionsstudie anhand von Lernaufgaben die Entwicklung von Berufsorientierung untersucht, um Rückschlüsse auf die Ausprägung und Entwicklung von Selbst- und Berufskonzepten von Schülerinnen und Schüler sowie auf die Bedeutung von Interaktionsgruppen im Berufsorientierungsprozess ziehen zu können. Ziel der Studie ist die Entwicklung und Überprüfung eines metatheoretischen Modells zur beruflichen Entwicklung.

LINDA VIEBACK und STEFAN BRÄMER stellen das Lehr-Lernarrangement ‚Praxisorientiertes Lernen (POL) vor, in welchem ökonomische Bildungsinhalte und technische Inhalte miteinander verschränkt werden. Im Zusammenspiel mit der Bearbeitung ökonomischer und technischer Aspekte einer Produktidee werden angelehnt an diesen Prozess mögliche Berufe vorgestellt. Damit soll aus dem Praxisorientierten Projekt ein Zugang zu den Berufen angeboten werden.

Im Mittelpunkt des Beitrags von MARTINA VON GEHLEN und ANNE-MARIE GRUNDMEIER werden die Konzeption und der Einsatz von didaktischem Material in Berufsorientierungsangeboten. Ziel dieses Materials ist eine handlungsorientierte Auseinandersetzung mit modernen Ausbildungsberufen im Berufsfeld Textil und Mode.

ANNA LUCHT befasst sich in ihrem Beitrag mit der Frage nach der Bedeutung von Schülerfirmen für die Berufsorientierung. Anhand einer exemplarischen Analyse einer Schülerfirma an einer Hamburger Stadtteilschule geht die Autorin der Frage nach, ob die in der Literatur beschriebenen Potenziale von Schülerfirmen ausgeschöpft werden.

CHRISTIAN STADEN rekurriert auf Anstrengungen zur Erarbeitung einer multimedialen Form des Berufswahlpasses unter dem Namen ‚Berufswahlpass-Online‘. Hierzu wird die Überführung der Print-Version in eine digitale Version über einen Design-Based Research Ansatz verfolgt. Die Ausführungen deuten die Komplexität der Studie an, so sind Bezugspunkte zur Gestaltung des Berufsorientierungsunterrichts mit dem Berufswahlpass als auch Hinweise zur digitalen Gestaltung des Berufswahlpasses und generelle Hinweise zur Verwendung digitaler Medien in der pädagogischen Praxis zu erkennen.

Die Zuordnung der Beiträge zu den einzelnen thematischen Rubriken fiel uns diesmal nicht leicht. Die Texte behandeln häufig mehrere Aspekte, weshalb sie auch anderen inhaltlichen Schwerpunkten hätten zugeordnet werden können. 

Zum Schluss noch ein herzlicher Dank

Wir möchten uns sehr herzlich bei allen Autorinnen und Autoren für die interessanten Beiträge für die Ausgabe 27 von bwp@  bedanken.

Ein besonderer Dank gilt auch diesmal unserem tollen Team der Redaktion und unserem Websupport, also Nicole NAEVE-STOSS, Franz GRAMLINGER und Sigrid GRAMLINGER-MOSER. Ohne ihre exzellente Arbeit hätten wir es nicht geschafft, Ausgabe 27 (die im Frühjahr 2015 noch beträchtlich wachsen wird) in dieser Form und in dieser Zeit online zu veröffentlichen. Darüber hinaus danken wir auch Anna Lambert für die Organisation der Abstracts-Übersetzungen ins Englische.

Karin Büchter, H.-Hugo Kremer und Andrea Zoyke
im Dezember 2014

Literatur

Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) (2013): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2013. Bonn.

Büchter, K. (2013): Soziale Ungleichheit und Berufsbildungspolitik - Oder: Gibt es einen Zusammenhang zwischen fragmentierter Zuständigkeit in der beruflichen Bildung und sozialer Ungleichheit? In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 25, 1-21. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe25/buechter_bwpat25.pdf (16-12-2014).

Büchter, K./Christe, G. (2014): Berufsorientierung: Widersprüche und offene Fragen. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (BWP), H 1, 12-15.

Kranert, T./Kremer, H.-H./Zoyke, A. (2013): Bildungsgangarbeit an Berufskollegs. Diskussionsbericht zur Bestandserhebung an den Pilot-Berufskollegs im Projekt InBig. Paderborn. Online: http://cevet.eu/fileadmin/user_upload/downloads/Diskussionsbericht_zur_Bildungsgangarbeit_Onlineversion.pdf (15.12.2014).

Kremer, H.-H. (2012): Berufsorientierung im Übergang – Überlegungen zur curricularen Gestaltung der Bildungsarbeit im Übergangssystem. In: Kremer, H.-H./ Beutner, M./ Zoyke, A. (Hrsg.): Individuelle Förderung und berufliche Orientierung im berufsschulischen Übergangssystem – Ergebnisse aus dem Forschungs- und Entwicklungsprojekt InLab. Paderborn.

Zoyke, A. (2012): Individuelle Förderung zur Kompetenzentwicklung in der beruflichen Bildung. Eine designbasierte Fallstudie in der beruflichen Rehabilitation. Paderborn.


Aus Erfahrungen von Lehrkräften im Umgang mit dem Berufswahlpass lernen – Ergebnisse einer qualitativen Studie

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1 Einleitung

Berufsorientierung wird in allgemeinbildenden Schulen mehr Bedeutung denn je beigemessen. Man hat vielerorts erkannt, dass Jugendliche bereits recht früh mit berufsorientierenden Maßnahmen unterstützt werden müssen, damit ein Übergang in den Beruf mit Hilfe von Erfahrungswerten erfolgreich verlaufen kann. In der Schule kommen im berufsorientierenden Unterricht dazu verschiedene Instrumente zum Einsatz. Eines ist der Berufswahlpass, welcher in zahlreichen Bundesländern eingesetzt wird.

Der Berufswahlpass ist ein Print-Ordner, welcher zahlreiche Arbeitsblätter und Materialien zur Berufsorientierung für Schüler-/innen bereithält. Im Vordergrund bei der Arbeit mit dem Berufswahlpass steht die individuelle Berufsorientierung der Jugendlichen. Ziel ist es, mit dem Berufswahlpass eine begründete Berufsentscheidung am Ende der Schullaufbahn nachhaltig zu unterstützen. Durch seinen Portfolio-Charakter fördert er selbstorganisiertes und eigenverantwortliches Lernen. Der Berufswahlpass ist grundlegend als Selbstlerninstrument konzipiert. Gleichwohl liegt es in der Verantwortung von Lehrkräften, den Berufswahlpass in der Schule einzuführen und ihn sowohl konsequent als auch kontinuierlich im Unterricht zu verwenden.

Seit dem Jahr 2000/2001 ist der Berufswahlpass in seiner Print-Variante verfügbar – digitale Medien spielen jedoch bei der Arbeit mit ihm bisher nahezu keine Rolle. Dabei besitzen digitale Medien in berufsorientierenden Lehr- und Lernprozessen zahlreiche Potenziale (vgl. Staden/Howe 2013), die erst mit einer multimedialen Weiterentwicklung des Berufswahlpasses für die individuelle Berufsorientierung eingelöst werden können. Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Berufswahlpass-Online“ versucht dieses Themenfeld zu erschließen indem das Print-Portfolio zu einem digitalen, webbasierten Portfolio weiterentwickelt wird. In Kooperation mit der Bundearbeitsgemeinschaft Berufswahlpass, die seit mehreren Jahren für die inhaltliche und strukturelle Weiterentwicklung des Print-Produktes zuständig ist, wird im Institut Technik und Bildung der Universität Bremen die technische (Weiter-)Entwicklung und eine entsprechende didaktische Anpassung fokussiert sowie wissenschaftlich begleitet.

In den nachfolgenden Darstellungen werden zunächst der Berufswahlpass-Ordner als Ausgangsmaterial sowie das ihm zugrundeliegende Konzept thematisiert, um darauf aufbauend zu veranschaulichen, wie die Weiterentwicklung empirisch gestützt durchgeführt wird. Der Methode der leitfadengestützten Experteninterviews kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Deren Konzipierung, Durchführung und Auswertung werden in diesem Beitrag fokussiert. Anhand der Interviewergebnisse kann hergeleitet werden, welche Funktionen sowohl in didaktischer als auch in technischer Hinsicht für die Entwicklung des webbasierten Berufswahlpass-Online relevant sind. Abschließend lassen sich darauf aufbauend weitere Evaluationsschritte benennen.

2 Der Berufswahlpass als Print-Produkt

Der Berufswahlpass wird Schüler/-innen in der Regel ab der siebten Klassenstufe ausgehändigt. In einigen Bundesländern ist der Berufswahlpass curricular verpflichtend, in anderen wiederum entscheiden die Schulen eigenverantwortlich, ob sie den Berufswahlpass anschaffen möchten. Er geht in den Besitz der Jugendlichen über und wird fortan von ihnen geführt, bearbeitet und gegebenenfalls ergänzt. Der Berufswahlpass ist mit einer jährlichen Auflage von über 130.000 Stück das meist eingesetzte Medium für die berufliche Orientierung in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Pressemitteilung Bildungsketten 2014).

Durch den Berufswahlpass sollen die Lernenden während ihres Berufswahlprozesses begleitet, selbstgesteuertes Lernen unterstützt und alle am Prozess beteiligten Kräfte gebündelt werden (vgl. Döring 2004, 316). Die Bedeutung der Berufsorientierung in der Wahrnehmung der Schüler-/innen sowie der Lehrkräfte wird mit dem Berufswahlpass gestärkt (vgl. Lumpe/Senkspiel 2001, 125). Da im Berufswahlprozess „Anpassungshilfen erforderlich (sind), die dem einzelnen die Angleichung seiner subjektiven Wünsche an die objektiven Erfordernisse der Berufswelt erleichtern“ (Gmelch 2003, 8), stellt der Berufswahlpass zahlreiche Materialien bereit und kann als Anpassungshilfe bezeichnet werden. Ein wichtiger Bestandteil ist, dass die Schüler/-innen darüber informiert sind, welche Anlaufstellen unterstützend zur Verfügung stehen und welche Prozesse initiiert werden müssen, um erfolgreich einen Übergang in den Beruf zu gestalten. Bei der Bearbeitung des Berufswahlpasses ist darüber hinaus entscheidend, dass die eigene Lerngeschichte transparent wird (vgl. Lumpe 2002, 61).

Der Berufswahlpass stellt sich in seiner äußeren Form als ein DIN-A4-Ordner (Ringbuch) dar, der diverse Einlegeblätter und Kopiervorlagen in einem Register beherbergt. Der in vier Hauptteile, exklusive eines Einführungsteils, gegliederte Ordner ist inhaltlich und farblich klar differenziert, um für Schüler/-innen die Übersicht zu erleichtern. Nach intensiver Arbeit mit dem Berufswahlpass ist es durchaus möglich, dass dieser wesentlich mehr als die ursprünglich bei der Aushändigung vorhandenen Arbeitsblätter umfasst, da mehrere zusätzliche Kopien von Selbst- bzw. Fremdeinschätzungsbögen und anderen Blättern mit eingeheftet werden können. Eine klare Struktur ist aus diesem Grund unabdingbar und eine wertvolle Stütze für die Arbeitsorganisation der Schüler/-innen.

In der Einführung wird ein allgemeiner Einblick in die Struktur des Berufswahlpasses gegeben. Anhand einiger Praxisbeispiele und Übersichten wird den Schüler/-innen erörtert, wobei ihnen der Berufswahlpass behilflich ist. Außerdem wird in diesem Teil damit begonnen, den Ordner zu personalisieren. Schüler-/innen werden dazu aufgefordert, den Berufswahlpass als ihr persönliches Eigentum zu begreifen und ihre Daten (Name, Adresse, etc.) einzutragen.

Der Teil „Angebote zur Berufsorientierung“ enthält Informationen über das Schulkonzept zur Berufsorientierung, zu Angeboten von Unternehmen als Kooperationspartner und auch zu Angeboten der Arbeitsagentur. Hier erhalten sowohl die Schule, als auch andere Institutionen die Möglichkeit, ihre Konzepte zur Berufsorientierung zu präsentieren. Den Schüler/-innen werden hier die wichtigsten Bildungsangebote zur Berufsorientierung präsentiert. Es wird auch Wert darauf gelegt, mögliche Eigenaktivitäten zur Vorbereitung auf den Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt aufzuzeigen (vgl. ebd.). Hierzu zählen diverse Internet-Links zu Webseiten und zahlreiche Verweise auf Zeitschriften, die für Schüler/-innen in diesem Kontext konzipiert sind.

Im zweiten Teil „Mein Weg zur Berufswahl“ haben die Schüler/-innen die Möglichkeit, ihr persönliches Profil zu erstellen. Dabei wird vor allem auf eine differenzierte Stärken- und Fähigkeitsanalyse abgezielt und gleichzeitig die persönlichen Interessen sowie Ziele behandelt. Durch diese Reflexion der eigenen Stärken und der Festlegung des Selbstbildes kann ein persönliches Kompetenzprofil erstellt werden. Weitergehend erhalten die Schüler/-innen Unterstützung bei ihrer Lernplanung. Mit Hilfe von Übersichten, Planungsrastern, Checklisten und Hinweisen zur Organisation des Orientierungsprozesses  werden die Lernenden zu selbstgesteuertem Lernen angeregt (vgl. ebd.).

Der dritte Teil „Dokumentation“ stellt einen Rahmen für Schüler/-innen dar, in dem sie Lernergebnisse, Selbstbewertungen und Bescheinigungen sowie Zertifikate Dritter dokumentieren und hinterlegen können. Hier werden Berichte über Unterrichtsarbeiten, schulische und außerschulische Projekte zur Berufsorientierung festgehalten und zur Klärung der beruflichen Zielsetzungen herangezogen. Schüler/-innen beschreiben hier unter anderem auch die Kompetenzen, die sie dabei erworben haben. Das soll dabei helfen, den verantwortlichen Umgang mit Bescheinigungen, Zertifikaten und Dokumenten zu stärken. Dadurch, dass an dieser Stelle der individuelle Bildungsgang dokumentiert wird, können einzelne Blätter durchaus einer Bewerbung beigelegt werden (vgl. Lumpe/Senkspiel 2001, 127).

Im Teil „Hilfen zur Lebensplanung“ werden die Schüler-/innen mit Musterschreiben, mit Tipps zur Wohnungssuche, zum Umgang mit Geld, zum Abschluss von Versicherungen und zum Umgang mit Ämtern unterstützt.

3 Berufswahlpass-Online

Das zugrundeliegende Konzept des Berufswahlpasses, welches vor allem die Förderung von Selbstverantwortung, Eigenständigkeit, Reflexionsvermögen und darüber hinaus auf die Herausbildung von Orientierungskompetenzen fokussiert, wird durch den Portfolio-Charakter des Instruments unterstützt. Dass neben den Lernprodukten vor allem der Lernprozess in den Blick genommen wird, unterstreicht, dass der Berufswahlpasses als ein Entwicklungsportfolio bezeichnet werden kann (vgl. Häcker 2007; Häcker 2008). Bei der Weiterentwicklung des Berufswahlpasses hin zum Berufswahlpass-Online werden diese oben genannten Charakteristika nach wie vor als Leitidee verstanden. Diese wird in aufgegriffen und webbasierter Form angepasst. So folgt das Berufswahlpass-Online-Projekt der Argumentation von Fink (vgl. Fink 2010, 49), der den Begriff des elektronischen Portfolios gegenüber dem des papiergebundenen Portfolios abgrenzt. Elektronische Portfolios sind demnach keine exakten Abbilder von papiergebundenen Fassungen, sondern sie sind vielmehr in digitaler Form weitergeführte Portfolio-Ideen (vgl. Fink 2010, 52). Diese Grundprinzipien des Portfolios werden in einer webbasierten Lernumgebung implementiert, sodass Benutzer/-innen durch die Einbindung von digitalen Medien und der Nutzung ihrer Potenziale für Lehr- und Lernprozesse die spezifischen Möglichkeiten der Speicherung bzw. Archivierung, Präsentation und Veröffentlichung in digitaler Form zur Verfügung stehen (vgl. Staden 2014, 28).

E-Portfolios sind Sammlungen digitalisierter Arbeiten, welche aus (multi-)medialen Produkten bestehen können (vgl. Häcker/Seemann 2013, 81). Das können beispielsweise Texte, Bilder, Animationen, Simulationen, Videos, Audio-Dokumente und weitere Medien sein. Ein webbasiertes E-Portfolio ist in den meisten Fällen in Form einer Online-Plattform aufgesetzt, somit ist eine ubiquitäre Verfügbarkeit – ein internetfähiges Endbenutzergerät vorausgesetzt – gewährleistet.

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass bereits in Grundzügen ein Bild darüber entstanden ist, was den Berufswahlpass-Online charakterisiert. Es steht fest: Berufswahlpass-Online umfasst zwei getrennt voneinander wahrnehmbare, aber dennoch integrativ verstandene Entwicklungen. Zum einen wird die Portfolio-Grundidee und das Konzept des Berufswahlpasses für die Verwendung in digitaler Form angepasst, zum anderen ist Berufswahlpass-Online auf einer anderen medialen Ebene – nämlich webbasiert und somit orts- und zeitunabhängig verfügbar – umgesetzt.

Um aus diesen konzeptionellen Grundzügen ein webbasiertes Portfolio-System zu entwickeln, bedarf es einer umfassenden Konkretisierung auf konzeptioneller, technischer und didaktischer Ebene. Hierzu durchläuft das Gesamtvorhaben mehrere Zyklen, in denen sich Phasen der Forschung und der (Weiter-)Entwicklung abwechseln. Die Forschungsstrategie des „Design-Based Research“ (kurz: DBR) liegt dem zugrunde. Sie unterbreitet den Vorschlag eines systematisch-kreislaufförmigen Einsatzes verschiedener Abschnitte: Design, Evaluation (Durchführung und Analyse) und Re-Design (vgl. Reinmann 2005, 61; vgl. hierzu auch Abbildung 1).

Abbildung 1: Zyklisch-entwicklungsbegleitende Forschungsstrategie auf der Grundlage des Design-Based Research-AnsatzesAbbildung 1: Zyklisch-entwicklungsbegleitende Forschungsstrategie auf der Grundlage des Design-Based Research-Ansatzes

Durch diverse Datenerhebungsmethoden operationalisiert, wird entwicklungsbegleitend nach den Grundsätzen einer formativen Evaluation sowohl die informationstechnische Konzeption und Realisierung der webbasierten E-Portfolio-Plattform als auch die Weiterentwicklung des zugrundeliegenden didaktischen Konzepts beabsichtigt (vgl. Glowalla et al. 2009, 311; Hense 2010, 49; Mayer 2010, 17). Die Evaluationsergebnisse fließen noch während der Laufzeit direkt in die Weiterentwicklung mit ein. Das bedeutet im Detail: In der Design-Phase generierte Entwicklungsideen und Prototypen des Berufswahlpass-Online können anschließend mit Experten evaluiert und schließlich anhand der Befunde angepasst („re-designed“) werden.

In einem ersten Forschungs- und Entwicklungszyklus konnte bisher durch eine Analyse der Materialien des Berufswahlpass-Ordners und anhand zahlreicher Publikationen zum Konzept des Berufswahlpasses aus den vergangenen Jahren ein webbasierter Prototyp des Berufswahlpass-Online (genannt: „Alpha-Version“) entwickelt werden. In technischer Hinsicht sind bei der Entwicklung von webbasierten Plattformen zwar durch neueste Internet-Technologien keinerlei Grenzen gesetzt, jedoch konnten andere E-Portfolio-Systeme (z. B. Mahara oder Moodle) als Musterbeispiele hinsichtlich des Funktionsumfangs dienen. Außerdem wird das Konzept des „Rapid E-Learning“ als weiterer Bezugsrahmen für die Entwicklung herangezogen (vgl. Howe/Knutzen 2009; Kopp/Mandl 2009). Infolgedessen weisen multimediale Lernumgebungen (in diesem Fall also ein webbasiertes Portfolio) folgende Merkmale auf: Für den Benutzer („User“) ist die Plattform einfach zu bedienen und sie verlangt keine besonderen medientechnischen bzw. -didaktischen Kenntnisse. Gleichzeitig werden geringe Hardwareanforderungen gestellt, sodass auch leistungsschwächere Anzeigegeräte eine performante Arbeit zulassen. Die Alpha-Version konnte auf Grundlage einiger in Gebrauch befindlicher Berufswahlpässe von Schüler/-innen aus Bremen in der Evaluationsphase überprüft und anschließend anhand der daraus hervorgehenden Befunde zur so genannten Beta-Version 0.1 weiterentwickelt werden. Das Ergebnis am Ende des ersten Design-Based Research-Zyklus stellt sich wie folgt dar:

Aus informationstechnischer Perspektive betrachtet kann der Berufswahlpass-Online grundsätzlich als Internet-Plattform verstanden werden, zu welcher der Zugang nur nach einer persönlichen Registrierung möglich ist. Benutzer können sich demnach online „einloggen“ und das webbasierte Portfolio unter ihrem eigenen Benutzerkonto („Account“) aufrufen sowie editieren. Das Portfolio-System ist über den Internet-Browser aufrufbar, dementsprechend kann sowohl vom Desktop-Computer als auch von Tablets und Smartphones darauf zugegriffen werden. Der im Berufswahlpass-Konzept verankerte Leitgedanke der strukturierten Unterstützung von Berufsorientierungsprozessen ist auch im Berufswahlpass-Online ein konsekutives Merkmal. Die Benutzer sollen hier einen grundlegenden Kategorisierungsvorschlag vorfinden, mit dem sie direkt in die Arbeit einsteigen können. Die bereits bekannten Kategorien (bzw. Registerblätter) des Berufswahlpass-Ordners (vgl. auch Kapitel 2), stehen zunächst grundsätzlich für charakteristische Gegenstandsbereiche individueller Berufsorientierung und bilden ein vordefiniertes, jedoch für die Nutzung von digitalen Medien noch nicht überprüftes Raster. Diese sind auf einer Art virtuellem Schreibtisch im Berufswahlpass-Online verfügbar. Während neuartige Reflexionswerkzeuge im Internet häufig eine chronologische Dokumentation von Erfahrungswerten in der Art eines Tagebuchs erwarten, wird im Berufswahlpass-Online ein thematischer Querschnitt von so genannten „Portfolio-Einträgen“ angestrebt. Schüler/-innen können in diesen Einträgen jene Erfahrungen niederschreiben, die sie an unterschiedlichen Lernorten gesammelt haben. Zur Präzisierung werden Einträge mit verschiedenartigen Medien (z.B. Bildern, Videos, Internet-Links und Audio-Dateien) angereichert und so die erweiterten Potenziale von digitalen Medien für Lernprozesse genutzt. Diese Einträge werden wiederum den zentralen Kategorien zugewiesen, sodass aufgrund dieser Zuordnung vormals getrennt voneinander wahrgenommene Erfahrungen als zusammengehörig verstanden werden können.

Am Ende des ersten Zyklus zeigte sich jedoch, dass die technische und didaktische Entwicklung anhand dieser Vorüberlegungen nur zu diffusen, recht unpräzisen Ergebnissen führt. Es fehlt an trennscharfem Detailwissen. Erfahrungen aus ähnlichen Zusammenhängen zeigen, dass die Konzeption und Realisierung eines webbasierten Portfolios und damit einhergehende didaktische Überlegungen ohne detailliertes Ausgangsmaterial teilweise eine technikinduzierte und antizipierende Entwicklungs- und Gestaltungslogik hervorruft (vgl. Häcker/Seemann 2013, 87). Im Sinne einer ganzheitlichen Herangehensweise sind Erfahrungswerte von Experten im Umgang mit dem Berufswahlpass als wertvoll anzusehen, sodass differenzierte Informationen zur didaktischen und technischen Weiterentwicklung erlangt werden können als es zuvor möglich war. Lehrkräfte, die bereits seit mehreren Jahren mit dem Berufswahlpass-Ordner arbeiten, sind dabei aus folgenden Gründen ideale Kandidaten für Experteninterviews zu dieser Thematik: Sie haben gewisse didaktische Erfahrungen mit dem Berufswahlpass und dessen Konzept und arbeiten mit ihren Schüler/-innen auf Grundlage der Portfolio-Idee im berufsorientierenden Unterricht. Darüber hinaus beschäftigen sich Lehrkräfte unter Umständen sowohl beruflich als auch in ihrer Freizeit mit digitalen Medien und dem Internet, d.h. sie können gegebenenfalls in didaktischer und/oder informationstechnischer Hinsicht extrapolieren, welche Elemente des Berufswahlpasses sich für eine webbasierte Weiterentwicklung eignen bzw. welche unter Umständen irrelevant sind.

Die Durchführung und Auswertung dieser Interviews ist abgeschlossen und die daraus hervorgehenden Befunde konnten bei der Weiterentwicklung des Prototypen berücksichtigt werden. Der aktuelle Entwicklungsstand (Beta-Version 0.2) soll in den nachfolgenden Ausführungen dargestellt werden. Zukünftig wird ein weiterer Design-Based Research-Zyklus folgen, in welchem Felderprobungen mit Schüler/-innen geplant sind. Durch die Konfrontation mit dem Prototypen partizipieren sie ebenfalls an dessen Weiterentwicklungsprozess. Schlussendlich kann so ein Produkt entstehen, welches gemeinsam mit, und nicht allein von außenstehenden Entwicklern und Forschern für künftige Anwender entwickelt wurde.

4 Experteninterviews zur Identifizierung der Erfahrungen von Lehrkräften

Für die Weiterentwicklung des E-Portfolios galt es bei Befragungen von Lehrkräften deren Erfahrungen im Umgang mit dem Berufswahlpass-Ordner und bei der Arbeit mit digitalen Medien zu identifizieren. Mit Hilfe von leitfadengestützten Experteninterviews wurden dazu an kooperierenden Schulen aus Bremen, Hamburg, Berlin, Thüringen und Niedersachsen Daten erhoben und ausgewertet. Insgesamt konnten in jedem Bundesland zwei Lehrkräfte befragt werden. So fließen auch länderspezifische Unterschiede in die Weiterentwicklung ein.

Da in diesem Bereich keine differenzierten Forschungsergebnisse bzw. Beispielprojekte vorliegen, hat die Durchführung dieser Interviews für das gesamte Forschungs- und Entwicklungsprojekt einen explorativen Charakter. Die Konzipierung der Interviews orientiert sich am Ansatz von Meuser und Nagel (vgl. Meuser/Nagel 2010), die ein qualitatives Interview für ein angemessenes Erhebungsinstrument bei der Identifizierung von Erfahrungswissen und Handlungsroutinen halten. Wie die Autoren betonen, ist eine thematische Vorstrukturierung in der Form eines Leitfadens unverzichtbar, um Expertenwissen umfassend erheben zu können (vgl. Meuser/Nagel 2010, 464). Eine flexible sowie unbürokratische Vorgehensweise ist bei der Durchführung der Interviews sinnvoll. Der Leitfaden sollte dabei nicht als standardisiertes Ablaufschema verstanden, sondern vielmehr als grobe Orientierungshilfe angesehen werden und „unerwartete Themen-dimensionierungen der Experten“ (Meuser/Nagel 2010, 465) zulassen. Diese situative Flexibilität beim Interviewen betont die interaktive Struktur dieser Befragungsform und wird als eine der wesentlichsten Stärken einer nicht-standardisierten gegenüber einer standardisierten Durchführung beschrieben (vgl. Honer 1994).

4.1 Struktur des Interviewleitfadens

Der Interviewleitfaden umfasst inhaltlich vier Themenbereiche die sich voneinander in ihrer grundlegenden Zielrichtung zweiteilig unterscheiden lassen. Während im ersten Teil die Arbeit mit dem Berufswahlpass im Vordergrund steht, fokussiert der zweite Teil eher auf den Einsatz von digitalen Medien im Unterricht. Zu Beginn des Leitfadens steht die pädagogische Praxis in der Berufsorientierung bei der Arbeit mit dem Berufswahlpass-Ordner im Vordergrund (Themenbereich 1: „Identifizierung von gängiger pädagogisch-didaktischer Praxis bei der Arbeit mit dem Berufswahlpass“). Im Speziellen wird darüber hinaus auf etwaige Erweiterungen und Anpassungen sowie die Konsolidierung des Berufswahlpasses an den einzelnen Interviewstandorten eingegangen (Themenbereich 2: „Erweiterung, Anpassung und Konsolidierung des Berufswahlpasses“). Im zweiten Teil des Leitfadens liegt das Hauptaugenmerk hingegen darauf, wie digitale Medien und das Internet in der pädagogischen Praxis verwendet werden (Themenbereich 3: „Der Einsatz von digitalen Medien und des Internets in der pädagogischen Praxis“). Außerdem wird die Erweiterung und Anpassung des Berufswahlpasses in Hinblick auf digitale Medien behandelt (Themenbereich 4: „Erweiterung und Anpassung des Berufswahlpasses in Hinblick auf die Verwendung von digitalen Medien und Internet“).

Um einen Einstieg in das Interview zu finden werden die Lehrkräfte zunächst dazu ermuntert etwas zu ihrer Person und ihrer Funktion an der Schule zu berichten. Da alle Lehrkräfte bereits im Vorlauf des Interviews (E-Mail-Kontakt und Vorgespräch) wissen, dass die Befragung zum Zwecke der Weiterentwicklung des Berufswahlpasses durchgeführt wird, kann das Gespräch nach dem anfänglichen Erzählimpuls recht schnell auf die eigentliche Thematik gelenkt werden.

Im ersten Themenbereich liegt der Fokus auf der Identifizierung von pädagogisch-didaktischer Praxis im Umgang mit dem Berufswahlpass im berufsorientierenden Unterricht der jeweilig interviewten Lehrkraft. Dabei bezieht sich der Leitfaden schwerpunktmäßig auf die Materialien, die der Berufswahlpass grundlegend bereitstellt. Es soll so in Erfahrung gebracht werden, welche Elemente des Berufswahlpasses für eine webbasierte Weiterentwicklung essentiell sind und worauf unter Umständen verzichtet werden kann. Insbesondere ist nachfolgend von Bedeutung, dass die Lehrkräfte darauf eingehen, wie sie den Berufswahlpass in ihrem Unterricht einsetzen. Durch offene Erzählimpulse und weiterführende immanente Nachfragen (vgl. hierzu auch Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008, 136) wird hier dazu ermuntert, diverse Einsatzszenarien des Berufswahlpasses in typischen Unterrichtssituationen beispielhaft zu beschreiben. Anhand dieser Darstellungen kann identifiziert werden, in welchen Situationen der Berufswahlpass-Ordner und die Portfolio-Idee didaktisch besonders gewinnbringend eingesetzt wird. Diese Einsatzszenarien muss der Berufswahlpass-Online ebenso ermöglichen. Darüber hinaus wird erfragt, wie sich der Einsatz des Berufswahlpasses an außerschulischen Lernorten darstellt und wie Schüler/-innen aus Sicht der Lehrkräfte grundsätzlich die Arbeit mit dem Instrument erleben. Insbesondere ist hier von Bedeutung, ob der Berufswahlpass im Unterricht der Lehrkraft als Selbstlerninstrument benutzt wird, oder ob die Schüler/-innen klare Anweisungen benötigen um arbeitsfähig zu sein. Das lässt Rückschlüsse auf die technische und didaktische Gestaltung von etwaigen Online-Hilfen zu, die direkt im Berufswahlpass-Online verankert werden können.

Darauf aufbauend geht es im zweiten Themenbereich um die Erweiterung, Anpassung und Konsolidierung des Berufswahlpasses. An dieser Stelle wird in Erfahrung gebracht, ob und inwiefern der Berufswahlpass gegebenenfalls durch eigene Materialien ergänzt bzw. didaktisch reduziert wird. So kann erhellt werden, welche dieser durch die Lehrkräfte hinzugefügten Materialien eine Relevanz für den Berufswahlpass-Online besitzen. Insbesondere stehen die Arbeitsblätter und die Einteilung derer in die fünf Kategorien des Berufswahlpasses im Fokus. Von spezieller Bedeutung ist die Beurteilung der Trennschärfe der Registerblätter aus Sicht der Lehrkräfte. Dabei wird durch immanente Nachfragen zu beispielhaften Erzählungen aus konkreten Unterrichtssituationen angeregt. So wird erhellt, ob Schüler/-innen unter Umständen berufsorientierende Erfahrungen an schulischen oder außerschulischen Lernorten sammeln, die sich nicht einwandfrei einer Kategorie im Berufswahlpass zuordnen lassen. Anhand dieser Einschätzungen kann gegebenenfalls ein überarbeitetes Kategorienraster im Berufswahlpass-Online implementiert werden.

Im darauffolgenden dritten Themenbereich liegt das Hauptaugenmerk auf den Erfahrungen der Lehrkräfte beim Einsatz von digitalen Medien und des Internets in der pädagogischen Praxis. Speziell der Einsatz von digitalen Materialien in speziellen Unterrichtsszenarien und das Verwenden von Internetplattformen ist von Bedeutung. Lehrkräfte werden dazu aufgefordert, deren Verwendung beispielhaft anhand von typischen Praxissituationen zu beschreiben und darüber hinaus darauf einzugehen, wie sie die Arbeit ihrer Schüler/-innen mit diesen Medien erleben. Es kann infolgedessen analysiert werden, welche digitalen Materialien im Berufswahlpass-Online grundsätzlich speicher- und wieder abrufbar gemacht und welche Internet-Plattformen eingebunden werden sollten.

Der vierte Themenbereich stellt eine Ergänzung des Vorangehenden dar. Hier werden die Lehrkräfte dazu befragt, welche Erweiterbarkeiten sie unter Verwendung von digitalen Medien und des Internets für den Berufswahlpass sehen. Aufgrund der thematischen Nähe zum vorangegangenen Themenbereich können unter Umständen redundante Nennungen auftreten.

4.2 Auswertung der Interviews

Alle Interviews werden mit einem Diktiergerät aufgezeichnet und anschließend im Wortlaut transkribiert. Das Interviewmaterial wird folglich anhand der Auswertungsstrategie nach Meuser und Nagel (vgl. Meuser/Nagel 2010) analysiert. Dabei werden die Äußerungen der Experten/-innen im Kontext ihrer institutionell-organisatorischen Handlungsbedingungen verortet. Ziel ist es dabei aus der Gesamtheit der Interviews thematische Einheiten herauszuarbeiten und anhand derer identifizieren zu können, was relevant für eine Entwicklung des Berufswahlpass-Online ist. Das Auswertungsverfahren durchläuft dabei nach Meuser und Nagel sechs Schritte (vgl. Meuser/Nagel 2010, 466): Transkription, Paraphrase, Kodieren, Thematischer Vergleich, Soziologische Konzeptualisierung, Theoretische Generalisierung.

Nach der Transkription wird der Text im zweiten Schritt nach thematischen Einheiten im Sinne einer Paraphrasierung sequenziert. Die für das Forschungsinteresse relevanten Passagen werden in eigenen Worten wiedergegeben. Weitergehend erfolgt im dritten Schritt das Kodieren. Einzelne Textelemente werden thematisch geordnet und anschließend mit Überschriften bzw. Codes, welche die Terminologie des/der Experten/-in aufgreifen, versehen. Im darauffolgenden thematischen Vergleich erfolgt eine Nebeneinanderstellung von Textpassagen verschiedener Interviews. Es werden vergleichbare Textstellen zusammengefasst und Überschriften bzw. Codes vereinheitlicht. Im fünften Schritt werden die bisher durch die Interviewpartner/-innen verwendeten Begriffe in eine soziologische Terminologie überführt. Die Ergebnisse weisen somit eine Anschlussfähigkeit an theoretische Diskussionen auf, auch wenn die Verallgemeinerung zunächst noch auf das vorliegende empirische Material begrenzt bleibt. Im abschließenden sechsten Schritt der theoretischen Generalisierung werden Sinnzusammenhänge zu Typologien und Theorien rekonstruktiv verzahnt. Dabei ist die Reihenfolge des Gesagten nicht mehr von Belangen. So können die implizierten Wissensbestände, die das Handeln der befragten Experten/-innen bestimmen, identifiziert werden.

5 Ergebnisdiskussion – Schlussfolgerungen für die Entwicklung des Berufswahlpass-Online

Im nachfolgenden Abschnitt werden die Ergebnisse der Experteninterviews dargestellt. Dabei würde eine detaillierte Diskussion der Auswertungsergebnisse in den differenzierten sechs Schritten anhand des Verfahrens nach Meuser und Nagel den Rahmen dieses Beitrags überschreiten. Folglich wird überblicksartig veranschaulicht, was für die Konzeption und Entwicklung des Berufswahlpass-Online relevant ist. Das Ziel dabei ist es, die Befragungsergebnisse anhand der Leitfadenstruktur aufzuschlüsseln und somit zu entfalten, wie diese im Sinne der formativen Evaluation zur entwicklungsbegleitenden Weiterentwicklung in der Re-Design-Phase verwendet wurden. Dabei werden absatzweise einzelne Befunde aus den Interviews thematisiert und einhergehend die Schlussfolgerungen für die Weiterentwicklung des Prototypen aufgezeigt. Die nachstehend dargestellte Abbildung 2 illustriert die folgenden Ausführungen in Grundzügen anhand von Screenshots.

Abbildung 2:Der aktuelle Prototyp des Berufswahlpass-Online – Dargestellt ist ein typischer Arbeitsablauf zur Erstellung eines Portfolio-EintragsAbbildung 2:Der aktuelle Prototyp des Berufswahlpass-Online – Dargestellt ist ein typischer Arbeitsablauf zur Erstellung eines Portfolio-Eintrags

5.1 Themenbereich 1: Identifizierung von gängiger pädagogisch-didaktischer Praxis bei der Arbeit mit dem Berufswahlpass

„Ach wissen Sie, der Berufswahlpass ist ja eigentlich vom Prinzip her eine tolle Sache. Man bekommt als Lehrer ein mehr oder weniger gutes Medium für die Berufsorientierung an die Hand. (...) Man muss an vielen Stellen doch noch eine Menge vor- bzw. nachbereiten und Unterstützungsarbeit leisten, sonst bringt auch das beste Medium im Unterricht nichts. Sehr viele Schüler sind eben nicht so eigenständig, wie man vielleicht denkt.“ (Äußerung einer Lehrkraft im Interview)

Anhand der Experteninterviews kann generell festgestellt werden, dass Lehrkräfte den Berufswahlpass als Begleitmedium ihres berufsorientierenden Unterrichts verstehen und auch dementsprechend verwenden. Seine Einsatzhäufigkeit ist von den Stundentafeln der Bundesländer und vom Berufsorientierungskonzept der jeweiligen Schule abhängig. Es wird betont, dass eine Stärke des Berufswahlpasses darin liegt, dass er eine gewisse Organisationsstruktur schafft. Durch seine durchgängige Gliederung und seine Transparenz ist er in den Augen der Lehrkräfte grundsätzlich dazu geeignet, die Arbeit in der Berufsorientierung sowohl mit dem Schulkollegium als auch außerschulischen Partnern zu organisieren. Für die Konzeption und Entwicklung des Berufswahlpass-Online wird ersichtlich, dass die Strukturiertheit und Transparenz des zugrundeliegenden Konzepts auch für die Arbeit mit einem E-Portfolio in besonderem Maße wichtig ist. Der webbasierte Berufswahlpass-Online ist aus diesem Grund nicht mit Funktionalitäten überladen, sondern auf das Wesentliche beschränkt. So wird auch eine Konformität mit dem Rapid E-Learning-Ansatz (siehe auch Kapitel 3) erreicht.

Die Verwendung der bereits im Berufswahlpass vorhandenen Arbeitsmaterialien ist in der pädagogischen Praxis von Lehrkraft zu Lehrkraft unterschiedlich. Zusammenfassend zeigt sich, dass die vorhandenen Informationsmaterialien im Teil „Angebote zur Berufsorientierung“ durchaus genutzt werden. Speziell nennen Lehrkräfte hier die Ausführungen zum Berufsinformationszentrum und die Angebote der Agentur für Arbeit. Diese gilt es im Berufswahlpass-Online gesondert zu berücksichtigen. Hierzu werden zahlreiche Informationen aus dem Berufswahlpass-Ordner übernommen, sodass Schüler/-innen auf zahlreichen Informations- und Hilfe-Seiten ähnliche Ausführungen finden und Lehrkräfte auch zukünftig in der webbasierten Variante darauf verweisen können (vgl. auch Abbildung 2: Im Menü links finden Benutzer den Punkt „Hilfe & FAQ“). Darüber hinaus verwenden einige Lehrkräfte die Selbst- und Fremdbewertungsbögen des Berufswahlpasses im Teil „Mein Weg zur Berufswahl“. So wird Schüler/-innen die Einschätzung ihrer Stärken und Ausbaupotenzialen zur Herausbildung eines persönlichen Profils ermöglicht. Es lässt sich ableiten, dass Möglichkeiten der Selbst- und Fremdeinschätzung an unterschiedlichen Punkten des Berufsorientierungsprozesses auch im Berufswahlpass-Online implementiert sein müssen (vgl. auch Abbildung 2: Im Menü links finden Benutzer den Punkt „Selbst- / Fremdeinschätzung“). Das geschieht bei der Arbeit mit dem E-Portfolio mit interaktiven PDF-Dateien. Diese können sowohl als Selbst- als auch als Fremdeinschätzung am Computer ausgefüllt und anschließend im E-Portfolio gespeichert werden.

Weiterhin beschreiben Lehrkräfte, dass Bescheinigungen von erbrachten Leistungen und durchgeführten Aktivitäten (z. B. Betriebserkundungen oder Girls-/Boys-Day) im Teil „Dokumentation“ hinterlegt werden. Es wird darüber hinaus betont, dass eine anschließende Reflexion in Bezug auf diese Aktivitäten von großem Wert ist. Aus diesem Grund ist es im Berufswahlpass-Online möglich, Bescheinigungen in digitalisierter Form direkt in Portfolio-Einträgen zu speichern und über berufsorientierende Erfahrungen in Erlebnisberichten zu reflektieren (vgl. Abbildung 2: Portfolio-Eintrag erstellen). Gleiches gilt nach Aussage von Lehrkräften für Bewerbungsunterlagen, die dem Bereich „Hilfen zur Lebensplanung“ zugeordnet werden.

Auffällig in diesem Zusammenhang ist auch, dass ein Großteil der interviewten Lehrkräfte eine gewisse die Arbeit ihrer Schüler/-innen mit dem Berufswahlpass kontrollieren möchte. Wichtig ist, dass die Qualität der Arbeiten, welche die Schüler/-innen im Unterricht oder auch darüber hinaus tätigen, überprüft und Feedback gegeben wird. Das wird insbesondere bei der Begleitung von Praktika und bei Selbsteinschätzungen an unterschiedlichen Punkten des Berufsorientierungsprozesses notwendig. Um auch weiterhin die Print-Variante nutzen zu können, besteht die Möglichkeit Portfolio-Einträge aus dem Berufswahlpass-Online jederzeit auszudrucken. Lehrkräfte können im Unterricht darauf zurückgreifen und gegebenenfalls Rückmeldungen geben. Dieses Feedback kann dann wiederum in das E-Portfolio zurückfließen, da sich alle Informationen, die im Berufswahlpass-Online gespeichert sind, bearbeiten lassen.

Ein Großteil der befragten Lehrkräfte beschreibt, dass Schüler/-innen in den meisten Fällen dedizierte Arbeitsanweisungen für die Arbeit mit dem Berufswahlpass benötigen. Sein Einsatz als reines Selbstlerninstrument wird von den Lehrkräften als nicht realisierbar eingestuft, da er nicht selbsterklärend ist. Gerade bei Schüler/-innen in den siebten und achten Klassenstufen bedarf es nach Aussagen der Lehrkräfte didaktischer Reduktionen. Darüber hinaus beschreiben mehrere Lehrkräfte den Berufswahlpass als optisch wenig ansprechend und stellenweise als strukturell zu fragmentiert. Damit Schüler/-innen den Berufswahlpass-Online auch ohne direkte Arbeitsanweisungen von Lehrkräften bedienen und didaktisch wertvoll einsetzen können, wird die Implementierung von Online-Hilfen angestrebt. Diese können bei Bedarf, z. B. wenn ein/eine Schüler/-in zu bestimmten Funktionen eine Hilfestellung benötigt, aufgerufen werden. In Text-, Bild- und Videoform werden hier sowohl der technische Umgang mit dem E-Portfolio erläutert als auch didaktische Hinweise gegeben (vgl. Abbildung 2: Ein Klick auf das hellblaue Fragezeichen am rechten oberen Bildschirmrand der Start- bzw. Überblicksseite würde die Online-Hilfe öffnen).

5.2 Themenbereich 2: Erweiterung, Anpassung und Konsolidierung des Berufswahlpasses

„Wir haben ja bei uns in der Schule den Berufswahlpass angepasst, weil wir unabhängig von einander festgestellt haben, dass viele Arbeitsblätter im Berufswahlpass einfach für uns nicht so gut passen. (...) Im Unterricht muss man ziemlich viel Zeit darauf verwenden, um den Schülern zu erklären, was sie auf vielen Arbeitsblättern eintragen sollen.“ (Äußerung einer Lehrkraft im Interview)

Aufgrund der Tatsache, dass es sowohl landes- als auch schulspezifische Unterschiede in den Berufsorientierungskonzepten gibt, wird erwartet, dass es von Schule zu Schule zu unterschiedlichen Weiterentwicklungen des Berufswahlpasses kommt. Die Auswertung der Interviews bestätigt diese Annahme. Es sind große Unterschiede in der (Um-)Gestaltung des Instruments von Bundesland zu Bundesland und auch von Schule zu Schule zu beobachten. Das generelle Vorgehen an den Schulen zur Erweiterung des Berufswahlpasses ist dabei jedoch sehr ähnlich. In der Regel bilden sich Lehrerteams, die in ihrem Unterricht berufsorientierende Inhalte abdecken und die den Berufswahlpass mit diversen Schwerpunktsetzungen für ihre Bedarfe anpassen.

Für die Konzeption des webbasierten Portfolios ist insbesondere von Bedeutung, ob die Kategorien (bzw. Registerblätter) des Berufswahlpass-Ordners von den Lehrkräften als tragfähige Struktur für das gesamte Instrument erachtet werden. Die Auswertung der Interviews zeigt hierbei, dass die besagten fünf Bereiche grundsätzlich als trennscharf beschrieben werden. Es wird angeführt, dass diese recht grobe und einfache Gliederung die Möglichkeit bietet, auch zusätzliche Unterrichtsmaterialien einzusortieren. Darüber hinaus gelingt es Schüler/-innen nach Aussagen der Lehrkräfte schnell, sich zurechtzufinden. Dementsprechend kann die Grundstruktur aus dem Berufswahlpass-Ordner zunächst auch für das webbasierte Portfolio übernommen werden (vgl. Abbildung 2: Start- bzw. Übersichtsseite).

Gleichwohl zeigt die Auswertung der Interviews, dass Lehrerteams das Kategorienraster des Berufswahlpasses zum Teil schulintern erweitern. Beispielsweise gibt es an einer Schule in Niedersachsen eine enge Kooperation mit einer berufsbildenden Schule und mit lokalen Unternehmen, sodass die Schüler/-innen dort im Berufswahlpass sogenannte Berufspraxistage dokumentieren. An anderen Schulen wird stattdessen in etwa die Gründung einer Schülerfirma fokussiert oder eine gesonderte Praktikumsmappe angelegt. Hierzu wird das Register erweitert, um eine differenzierte Einsortierung von schulspezifischen Materialien zu ermöglichen. Aus diesem Grund wird bei der webbasierten Weiterentwicklung die Möglichkeit vorgesehen, zusätzliche und individuell benennbare Bereiche hinzuzufügen (vgl. Abbildung 2: Start bzw. Übersichtsseite).

Als problematisch beschreiben einige Lehrkräfte die Tatsache, dass es im Berufswahlpass kein individuell anpassbares Inhaltsverzeichnis gibt. Wird der Ordner regelmäßig zur Dokumentation und Reflexion von Berufsorientierungsprozessen eingesetzt, besteht die Gefahr, dass seine Übersichtlichkeit verloren geht. Es ist dann anhand des Kategorien- bzw. Registersystems nicht mehr ersichtlich, welche zusätzlichen Materialien in der Vergangenheit an welche Stelle eingeheftet wurden. Um diesem Problem entgegenzuwirken, wird im Berufswahlpass-Online ein Schlagwort-System implementiert. Das enthält bereits vorgefertigte Schlagwörter und kann darüber hinaus individuell erweitert werden. Portfolio-Einträge, gespeicherte Dokumente (z. B. PDF-Dateien, Bilder etc.) und abgeschlossene Selbst- und Fremdeinschätzungen können folglich mit Schlagwörtern versehen und bei Bedarf sortiert wieder angezeigt werden (vgl. Abbildung 2).

Der Berufswahlpass wird zur Dokumentation von außerschulischen Aktivitäten eingesetzt. Dabei konnten die Lernorte „Schule“, „Exkursion“, „Praktikum“ und „Betrieb“ im thematischen Vergleich standortübergreifend als relevant identifiziert werden. Die Durchführung von Exkursionen und Praktika ist dabei laut Aussagen der Lehrkräfte obligatorisch. Der Lernort Betrieb bezieht sich auf diverse Ausführungen von Lehrkräften, dass viele der Schüler/-innen bei Nebenjobs gewisse berufsorientierende Erfahrungen machen. Darüber hinaus werden weitere beispielhafte Lernorte von unterschiedlichen Lehrkräften genannt, die sich jedoch nicht generalisieren lassen, sondern eher durch das Berufsorientierungskonzept der jeweiligen Schule bedingt sind. Daraus lässt sich für die Weiterentwicklung des Berufswahlpass-Online extrahieren, dass der Unterscheidung von Lernorten durchaus eine gewichtige Rolle zukommt. Bei der Erstellung von individuellen Portfolio-Einträgen im webbasierten E-Portfolio kann dieser generelle Kategorisierungsvorschlag für die Implementierung einer differenzierten Struktur genutzt werden (vgl. Abbildung 2). Das E-Portfolio wird dahingehend angepasst, sodass gespeicherte berufsorientierende Erfahrungen in Form von Einträgen nach Lernorten sortiert wieder ausgegeben werden können.

5.3 Themenbereich 3: Der Einsatz von digitalen Medien und des Internets in der pädagogischen Praxis

„Haben Sie das schon einmal gemacht? Wenn Sie jetzt zum Beispiel mit in meine neunte Klasse kommen würden und in die Runde fragen: ‚Wer von euch ist bei Facebook?’ oder ‚Wer von euch hat ein Smartphone?’ – Da garantiere ich, es gehen sofort alle Hände hoch.“ (Äußerung einer Lehrkraft im Interview)

Prinzipiell stellen sich die Erfahrungen der Lehrkräfte in diesem Themenbereich sehr heterogen dar. Im Vergleich zu analogen Medien, wie beispielsweise dem Berufswahlpass-Ordner, werden digitale Medien und das Internet in der pädagogischen Praxis von Standort zu Standort unterschiedlich eingesetzt. Dabei bedingt die technische Ausstattung der jeweiligen Schule die Einsatzszenarien maßgeblich. Allerdings sind es zum Teil auch die Lehrkräfte selbst, die sich (trotz adäquater Ausstattung) selbst als wenig medienkompetent einschätzen und deshalb eher zu altbewährten Methoden und Medien greifen. Diejenigen Lehrkräfte, die einer jüngeren Generation angehören und die darüber hinaus in ihrer Schule zumindest in Grundzügen eine gewisse technische Ausstattung zur Verfügung haben, beschreiben den Einsatz von digitalen Medien und des Internets als durchaus gewinnbringend für ihren berufsorientierenden Unterricht.

Ausdrücklich wird die Möglichkeit im Internet schnell an adäquate Informationen in Bezug auf bestimmte Berufsbilder zu gelangen als hilfreich geschildert. Beispielhaft werden hier das Berufe-Universum und die Homepage der Bundesagentur für Arbeit genannt. Diese Internet-Links können auch im Berufswahlpass-Online direkt in Portfolio-Einträgen abgelegt und somit gespeichert werden. Darüber hinaus wird der Stellenwert von Social Media für Schüler/-innen betont, sodass nach individuellem Ermessen auch Links zu Facebook und ähnlichen Portalen im Berufswahlpass-Online gespeichert werden können (vgl. Abbildung 2: Hier gibt es den Reiter „Links und Social Media“).

Weiterhin wird von Lehrkräften darauf eingegangen, dass es bei der Verwendung von digitalen Medien und im Internet jederzeit möglich ist nach bestimmten Begriffen automatisch suchen zu lassen und dadurch recht schnell an die gewünschte Information zu gelangen. Diese Option wird im Berufswahlpass-Online über das bereits zuvor beschriebene Schlagwort-System für den Benutzer verfügbar (vgl. Abbildung 2: Dem hier aktuell angezeigten Portfolio-Eintrag wurden beispielsweise die Schlagwörter „Vorstellungsgespräch“ und „Bewerbung“ zugewiesen). Werden Portfolio-Einträge, Bilder, Dokumente und Selbst- bzw. Fremdeinschätzungen konsequent mit Schlagwörtern versehen, werden Verbindungen zwischen thematisch ähnlichen Inhalten offenbar.

5.4 Themenbereich 4: Erweiterung und Anpassung des Berufswahlpasses in Hinblick auf die Verwendung von digitalen Medien und Internet

„Bei neuen Medien fällt mir ja immer sofort ein, wie Schüler darauf reagieren wenn man Filme zeigt. Das ist natürlich viel spannender als irgendwelche Arbeitsblätter auszufüllen. (...) Wir machen das zum Beispiel in der achten und neunten Klasse zum Vorstellungsgespräch. Es gibt da auch viele Videos und andere Informationen im Internet.“ (Äußerung einer Lehrkraft im Interview)

Bezug auf den vierten Themenbereich nehmend, beschreiben einige Lehrkräfte insbesondere den Einsatz von bestimmten Online-Videos als empfehlenswert. So äußert sich z. B. eine Lehrkraft positiv über die Fülle an Videos zur Berufsorientierung bei YouTube und ähnlichen Videoportalen (z. B. Berufe.tv), die im Unterricht eingesetzt werden können. Geeignetes Online-Videomaterial verwendet eine interviewte Lehrkraft in etwa dazu, um Schüler/-innen ein realitätsnahes Vorstellungsgespräch näherzubringen. Der Berufswahlpass-Online sieht vor, die Potenziale von online verfügbaren Videos für Berufsorientierungsprozesse direkt im E-Portfolio nutzbar zu machen. Dazu können Portfolio-Einträge mit Online-Videos (beispielsweise von YouTube) angereichert bzw. verknüpft werden (vgl. Abbildung 2: Bei der Erstellung und der Ansicht von Portfolio-Einträgen gibt es jeweils den Reiter „Videos“).

Darüber hinaus wird beispielsweise von einer Lehrkraft angemerkt, dass automatisierbare Operationen auf der webbasierten Oberfläche des Berufswahlpass-Online durchaus vorteilhaft sein können. Dazu kann in etwa das Generieren eines Inhaltsverzeichnisses zur Steigerung der Übersichtlichkeit gezählt werden. Im Berufswahlpass-Online wird dieses Grundprinzip aufgegriffen und an verschiedenen Stellen implementiert. So wird z. B. beim Anlegen eines neuen Portfolio-Eintrags das aktuelle Datum automatisch im entsprechenden Eingabefeld vermerkt (vgl. Abbildung 2: Erstellen eines Portfolio-Eintrags). Einträge können somit bei Bedarf chronologisch sortiert angezeigt werden. Darüber hinaus werden im Berufswahlpass-Online bei nicht validen Benutzereingaben differenzierte Fehlermeldungen mit zugehörigen grafischen Indikatoren angezeigt. Wird z. B. bei der Portfolio-Erstellung das Pflichtfeld des Eintragstitels nicht ausgefüllt, wird der Benutzer dementsprechend auf seinen Fehler hingewiesen und er erhält automatisch die Möglichkeit einer Nachbesserung.

Im Zusammenhang mit der Diskussion zur Verwendung von digitalen Medien und des Internets zur Weiterentwicklung des Berufswahlpasses berichten Lehrkräfte z. T. auch von gewissen Bedenken zum Thema Datenschutz und Privatsphäre. So ist einigen interviewten Lehrkräften insbesondere wichtig, dass der Berufswahlpass-Online ein Instrument bleibt, welches zur Reflexion über die eigenen Erfahrungen anregt und Lernprozesse unterstützt. Dabei sollten nicht alle erdenklichen Dinge über „Share-Buttons“ auf gängigen Social Media-Plattformen geteilt werden. Eine vollkommene Öffnung des individuellen Portfolios, sodass beispielsweise andere Benutzer darauf zugreifen können, entspricht nicht dem Grundgedanken des Berufswahlpasses. Wenn gewünscht, lassen sich Ausschnitte eines Berufswahlpass-Online jederzeit am Computer zu zweit oder mit mehreren Personen einsehen. Ein direkter Zugriff eines Benutzers auf die gespeicherten Inhalte eines anderen ist deshalb im Berufswahlpass-Online kategorisch nicht möglich.

Wie bereits im ersten Themenbereich genannt, wird hier von Lehrkräften wiederholt betont, dass eine Funktion zum Ausdrucken der Materialien im Berufswahlpass-Online erforderlich ist. Es ist trotz des Einsatzes digitaler Medien nach wie vor von besonderer Wichtigkeit, dem/der Schüler/-in Rückmeldungen auf analogem Wege – also nicht webbasiert, sondern von Person zu Person – zu geben. Da viele Lehrkräfte die Arbeiten ihrer Schüler/-innen am heimischen Schreibtisch kontrollieren, ist die Möglichkeit des Ausdruckens der Portfolio-Einträge unverzichtbar.

6 Zusammenfassung und Ausblick

Die Durchführung und Auswertung der Experteninterviews in den partizipierenden Bundesländern kann als sehr gewinnbringend für die Weiterentwicklung des Berufswahlpasses zum Berufswahlpass-Online bezeichnet werden. Durch den explorativen Charakter konnten zahlreiche Erfahrungen von Lehrkräften identifiziert und infolgedessen detaillierte Anpassungen am didaktischen Konzept und an der technischen Umsetzung vorgenommen werden. Grundlegend zeigte sich, dass unterschiedliche curriculare Anforderungen des Berufswahlpasses zu landes- und standortspezifischen Varianten des Instruments führten, die in der Praxis zum Einsatz kommen. Die originale Fassung des Berufswahlpasses lässt sich an keinem der beforschten Standorte in unveränderter Form wiederfinden. Durch die systematische Auswertung der Interviews konnten dabei zahlreiche standortübergreifende Parallelen identifiziert und für die Weiterentwicklung berücksichtigt werden. Es wird davon ausgegangen, dass die didaktische Qualität des Berufswahlpass-Online durch die Einbindung der Erfahrungen der befragten Lehrkräfte zur zukünftigen Akzeptanz des webbasierten E-Portfolios beiträgt.

Im Sinne einer ganzheitlichen Projektkonstruktion auf der Basis des Design-Based Research ist eine umfassende Weiterentwicklung anhand dieser hier dargestellten Befragungsergebnisse nicht abgeschlossen. Es stehen nach der Einbeziehung der Lehrkräfte noch zahlreiche Fragen im Raum: Werden die Schüler/-innen das E-Portfolio benutzen? Wie kommen sie damit zurecht? Gibt es unter Umständen Dinge, die bei der Konzeption und Weiterentwicklung bisher nicht berücksichtigt wurden?

Es ist ersichtlich, dass zukünftig ein weiterer Evaluationszyklus notwendig ist, bei dem die Bedarfe und Wünsche von Schüler/-innen ebenfalls berücksichtigt werden und in die Weiterentwicklung einfließen. Insofern stehen weitere qualitative Erhebungen in kooperierenden Bundesländern und Schulen an.

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Ethnographie einer Schülerfirma: Welches Verständnis von Berufsorientierung zeichnet sich bei den Lehrkräften und den SchülerInnen ab?

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Einleitung

Als Mitarbeiterin im Forschungsprojekt von Frau Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland zum Thema 'Geschlecht und Berufsorientierung' (Laufzeit: 2/2013-4/2016) hatte ich die Möglichkeit, ein halbes Jahr lang eine Schülerfirma an einer Stadtteilschule teilnehmend zu beobachten. Berufsorientierung gehört zu den Aufgaben vor allem an nicht-gymnasialen Schulen. Durch die Berufsorientierung sollen SchülerInnen befähigt werden, einen angemessenen Ausbildungsplatz für sich zu finden. Das Landesinstitut für Lehrerfortbildung und Schulentwicklung (LI) Hamburg hat im Jahr 2012 Schulen mit vorbildlicher Berufsorientierung untersucht. Danach zeichnen sich diese Schulen dadurch aus, dass sie den Jugendlichen ökonomische Aspekte der Arbeitswelt vermitteln. Durch „Lernsituationen mit Ernstcharakter“ würden die Jugendlichen zum einen „Einblick in die Berufs- und Arbeitswelt in Zusammenhang mit wirtschaftlichen Zusammenhängen und Strukturen“ erhalten, zum anderen bekämen durch diese Arbeitsweise die Jugendlichen „Gelegenheit, ihre Erfahrungen mit Blick auf den eigenen Berufs- und Studienweg auszuwerten“ (LI 2012, 7). Das LI sieht diesen Anspruch an Berufsorientierung unter anderem durch das Angebot von Schülerfirmen verwirklicht (ebd.).

Meine Studie beschreibt die Praxis in einer dieser Schülerfirmen. Zunächst lege ich die Aktualität des Lernarrangements Schülerfirma dar. Anschließend arbeite ich heraus, welches berufsorientierende Potential dem didaktischen Modell Schülerfirma in der Literatur zugeschrieben wird. Insbesondere die von Windels und Hübner (2008) benannten Anforderungen dienen als Orientierung, um die Beobachtungen in der Schülerfirma einzuordnen. Es folgen ein Überblick über den Forschungsstand zu Schülerfirmen sowie eine kurze Skizzierung der Forschungsmethode, um dann Ausschnitte aus dem empirischen Material zu präsentieren. Ziel ist es, das im praktischen Tun von Lehrkräften und SchülerInnen sichtbar werdende Verständnis von Berufsorientierung herauszuarbeiten. Dieses Vorgehen lohnt sich insofern, als bisher zu diesem Thema „wenig Literatur im Bereich der konkreten Empirie“ zu finden ist (de Haan et al. 2009, 6). Der letzte Abschnitt widmet sich möglichen Schlussfolgerungen.

1 Aktualität von Schülerfirmen

Schülerfirmen sind Unternehmen in der Schule, die unter der Regie von SchülerInnen geführt werden. In Schülerfirmen werden Dienstleistungen angeboten oder Produkte hergestellt. Aus der Explorationsstudie von Gerhard de Haan et al. aus dem Jahr 2009 zu nachhaltigen Schülerfirmen geht hervor, dass sich dieses Lehr- und Lernarrangement zunehmender Beliebtheit erfreut (de Haan et al. 2009, 14). Die Erwartungen, was Schülerfirmen bei den SchülerInnen bewirken sollen, sind hoch. So sollen durch den „Ernstcharakter“ des pädagogischen Arrangements, da unter „realen Marktbedingungen“ (vgl. Schelzke/Mette 2008) gewirtschaftet wird, Kompetenzen im sozialen, personalen und fachlich-methodischen Bereich erworben werden. De Haan et al. zählen einen ganzen Katalog an positiven Wirkungen auf, die Schülerfirmen haben sollen.

„Über den Kompetenzerwerb hinausgehend sollen sie eine höhere Lernmotivation, bessere Schulnoten, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, selbstorganisiertes Lernen, Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Unternehmergeist und ganz allgemein die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit fördern“ (de Haan et al. 2009,  6).

Im Rahmen von Schülerfirmen sollen Arbeitnehmer- wie auch Unternehmerqualitäten gleichermaßen entwickelt und ökonomische Bildung gefördert werden. Unter letzterem versteht das Institut für Ökonomische Bildung (IÖB) die „Gesamtheit aller erzieherischen Bemühungen in allgemeinbildenden Schulen, die zum Ziel haben, Schüler mit den Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen auszustatten, um wirtschaftliche Zusammenhänge ihrer Lebensumwelt zu verstehen“ (http://www.ioeb.de/leitidee).

Teita Bijedic fasst ökonomische Bildung, als auf die „individuelle Entwicklung einer (ökonomisch) gebildeten und mündigen Persönlichkeit“ zielend, auf (Bijedic 2013, 46). Sie konstatiert, dass „die ökonomische Bildung auch den Auftrag einer zeitgemäßen Berufsorientierung wahrnimmt, die neue Herausforderungen mit sich bringt, denn die Rolle des Erwerbstätigen inkludiert die Rolle des abhängig Beschäftigten ebenso wie die Rolle des unternehmerisch Selbstständigen“ (ebd.). Dies bedeutet, dass die traditionell dichotomen Rollen von abhängigen und selbstständigen Erwerbstätigen zunehmend verschwimmen (ebd.). Hingewiesen sei hier auf den Begriff des „Intrapreneurs“. Dieser zeichnet sich durch sein „überdurchschnittliches Maß an Eigenverantwortung“ (Aff  2008, 304) aus. Er oder sie stehen zwar in einem Arbeitnehmerverhältnis, aber durch sein oder ihr Engagement fungieren er/sie als MitunternehmerIn. Unter dem Einfluss von andauernden Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrisen ist die Förderung „unternehmerischen Denkens und Handelns“, die Ausbildung von „Unternehmergeist“ oder „Entrepreneurship" (Tramm/Gramlinger 2006, 1) zunehmend in den Fokus von Politik und Wirtschaft geraten.

Im Jahr 2000 ist der Europäische Rat in Lissabon zu einer Sondertagung  zusammengekommen. Ziel der Zusammenkunft war es, Strategien zu entwickeln, wie mit der Globalisierung und den Herausforderungen einer wissensbasierten Wirtschaft umgegangen werden kann. Die europäische Union wolle „einen Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“ (http://www.europarl.europa.eu/summits/lis1_de.htm). Durch die Förderung u.a. von Innovation sehen sie diese Ziele verwirklicht. Hahn schreibt, dass Innovation nicht nur als ein entscheidender Wettbewerbsfaktor für Unternehmen gälte, „sondern auch als treibende Kraft für Wachstum und Beschäftigung in Regionen und Staaten” (Hahn 2009, 302). So wird nachvollziehbar, warum der Europäische Rat unternehmerische Initiative als eine der „neuen Grundkompetenzen“ bestimmt hat, welche die gesamte Bevölkerung für das Leben und das Arbeiten in einer Wissensgesellschaft benötigt“ (Best-Project 2005, 8). Die Vermittlung von unternehmerischer Kultur sieht die Kommission als wichtigen Bestandteil der Bildung, um „Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum“ (ebd. 1) zu gewährleisten. Es ginge darum bei den SchülerInnen jenes Verhalten zu schulen, welches einen Unternehmer auszeichnet. „In Anlehnung an Schumpeter ordnet die EU den dynamischen Menschen, die Veränderung nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance sehen, die Innovationen gegenüber offen sind und diese initiieren, einen zentralen Stellenwert zu“ (Aff 2008, 298).

Gaus und Raith stellen die Bedeutung wachstumsstarker Unternehmen gerade für Deutschland heraus, indem sie aufzeigen, dass „in Deutschland die Gründungsneigung insgesamt im internationalen Vergleich sehr niedrig ist (5,4% der Gruppe der 18-64 Jahre) und tatsächlich nicht einmal halb so hoch wie in den USA“ (Gaus/Raith 2007, 19).

Schülerfirmen bieten aufgrund des hohen praktischen Gehalts, vielfältige Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten für die teilnehmenden SchülerInnen. Windels und Hübner betonen, dass die Schülerfirmenarbeit „eine  pädagogische Veranstaltung“ sei, die auf Basis von erworbenem ökonomischem Wissen dazu beiträgt, „ein besseres Verständnis der Abläufe innerhalb eines Betriebs zu erlangen“ (Windels/Hübner 2008, 247). Weiter schreiben sie, dass „Erkenntnisse über betriebswirtschaftliche und gesamtwirtschaftliche sowie ökologische und soziale Zusammenhänge erworben werden, um gegebene Rahmenbedingungen für die unternehmerische Tätigkeit erkennen zu können“ (ebd.). Ebenso können „Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensdispositionen, die auch für Arbeitnehmer eine hohe Bedeutung haben“ (ebd.) erworben werden, führen die beiden Autoren fort. Damit greifen sie genau den Punkt auf, den Bijedic anspricht, wenn sie sagt, dass moderne Berufsorientierung beide Seiten von Erwerbstätigkeit  ansprechen müsse.

1.1 Die vier Bedeutungsebenen des Schülerfirmenmodells

Ich habe mich für das Modell von Windels und Hübner entschieden, um die Bedeutungsebenen, die Schülerfirmen gemäß ihrem Bildungsanspruch haben, aufzuzeigen. Dieses Modell erscheint mir als geeignet, da es über die konkret berufsorientierende Funktion hinausgeht und dieses im Sinne von Kompetenzerwerb betrachtet wird und somit auch das erweiterte Verständnis von Berufsorientierung mit in den Blick nimmt.

1. Die Dimension der Persönlichkeitsentwicklung und die Förderung einer Lernkultur des selbstständigen Arbeitens und Lernens:

„Die Schülerfirma ist ein ganzheitlicher methodischer Ansatz, in dem inhaltliche, soziale und persönliche Aspekte systematisch verbunden sind“ (Windels/Hübner 2008, 250). So wird in Schülerfirmen fachliches Wissen vermittelt (beispielsweise in einer Fahrradwerkstatt die Funktionsweise von Rädern), persönlichkeitsbildende Kompetenzen (beispielsweise: Kommunikationsfähigkeit, Verantwortungsübernahme), soziale Kompetenzen (wie Teamarbeit, Kompromissfähigkeit) und Methodenkompetenzen (wie organisiere/plane ich notwendige Arbeitsschritte). Damit, so Windels und Hübner weiter, könne sich mit der Schülerfirmenarbeit „eine neue Lernkultur entwickeln“ (ebd.) Tramm und Gramlinger beschreiben diesen Aspekt als Lernen im Modell (Tramm/Gramlinger 2006, 7). „Die Lernenden „tauchen in das Modell ein“, sie treten als handelnde (und lernende) Subjekte im Modell auf“ (ebd.).

2. Förderung der erwerbstätigen Selbstständigkeit

Auf dieser Ebene geht es darum, die Jugendlichen über die Perspektive der selbstständigen Erwerbstätigkeit aufzuklären. „Die Schülerfirmenarbeit soll die Gründungsfähigkeiten der Jugendlichen und späteren Erwachsenen, und dabei insbesondere der Frauen, erhöhen“ (Windels/Hübner 2008, 250). Gaus und Raith schreiben, dass „die Förderung einer unternehmerischen und beruflichen Selbstständigkeit den Kern einer Entrepreneurship Erziehung“ bildet (Gaus/Raith 2007, 310). Dabei geht es in Schülerfirmen darum, unternehmerische Tugenden wie „Innovationsfreude, Risikobereitschaft, Selbstwertgefühl und Durchhaltevermögen“ (ebd. 307) zu fördern. Aff zeigt die weitreichenden Bedeutungen „unternehmerischer Tugenden“ auf, indem er sie als „eine wesentliche Voraussetzung für Mündigkeit“ (Aff 208, 312) bestimmt. Die oben genannten Eigenschaften seien unverzichtbar für eine dynamische Zivilgesellschaft und eine funktionierende Demokratie, da dadurch Verantwortung thematisiert würde. Eigenverantwortung auf der einen Seite, auf der anderen Seite eine gesellschaftliche Verantwortung, die gebraucht wird, um sich sozial, ökologisch, und politisch zu engagieren.

3. Die ökonomische Dimension

Durch den Ernstcharakter der Firma können betriebswirtschaftliche Erfahrungen gesammelt werden. Schülerfirmen orientieren sich an richtigen Unternehmen. Die Arbeitsprozesse sollen so real wie möglich die eines Unternehmens wiederspiegeln. So gibt es in einer Firma verschiedene Abteilungen bzw. Zuständigkeitsbereiche. Neben einer PR-Abteilung bestehen die Abteilungen der Buchhaltung, Geschäftsführung, Marketing, Produktion und Verkauf. Es werden reale Gewinne erwirtschaftet, die reinvestiert werden. Die Verantwortung liegt hierbei bei den SchülerInnen, die Entscheidungen treffen müssen. Die Lehrkraft fungiert eher als Berater oder Coach. Anders als in realen Unternehmen, werden Entscheidungen von allen SchülerInnen gemeinsam getroffen. Die Zuständigkeitsbereiche wechseln sich idealerweise ab (vgl. Liebel 1998, 215). Die Branchen, in denen Schülerfirmen existieren, sind breit gefächert. Holz- und Metallverarbeitung spiegeln den industriellen Sektor wieder. Auch Dienstleistungen übernehmen Schülerfirmen. So gibt es Fahrradwerkstätten und Bistros oder Reiseunternehmen. Es werden Nachhilfestunden angeboten und älteren Menschen PC-Kenntnisse vermittelt. Medienagenturen und Energieberatungsstellen für Schulen sind auch vertreten.

4. Die berufsorientierende Dimension

Die schulische Berufsorientierung hat zur Aufgabe, den ersten Übergang von Schule in das Arbeits- oder Beschäftigungssystem unterstützend zu begleiten. Windels und Hübner konstatieren, dass Schülerfirmen einen „erheblichen Beitrag leisten können“ (248), um jene Qualifikationen zu erwerben, die notwendig sind, um den Übergang zu meistern. Diese seien hier wiedergegeben:

„- übergangsrelevante Lern- und Arbeitsschritte planen, durchführen, reflektieren
- Informationen eigenständig beschaffen, auswerten
- vielfältige Beratungsangebote nutzen
- rationalere Entscheidungen treffen, realisieren
- Bereitschaft entwickeln, einen Wunschberuf anzustreben/Fehlannahmen zu korrigieren
- Arbeits- und Berufsfindungsprozesse als besondere Herausforderungen annehmen
- Fähigkeit entwickeln, realitätsbezogene Kompromisse zu schließen
- Bereitschaft entwickeln, geforderte Eingangsqualifikationen zu erbringen
- Ängste und Frustrationen bewältigen
- Selbstbewusstsein und Gelassenheit entwickeln
- die konkreten Bedingungen des Ausbildungs-und Beschäftigungssystems verstehen und  einordnen können, sowie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kennen
- sich der Einflussfaktoren der Berufswahl bewusst werden“ (ebd.).

1.2 Stand der Forschung

Ich möchte hier auf Studien eingehen, die Projekte beforscht haben, die auf eine Entrepreneurship Education abzielen. Die beschriebenen Studien werfen zentrale Aspekte des Lehr- und Lernarrangements auf. 

Im Abschlussbericht „Schülerfirmen im Sekundarbereich“ der Sachverständigengruppe der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2005 geht hervor, dass „in Europa bislang noch keine hinreichenden Untersuchungen hinsichtlich der Auswirkungen einer Beteiligung an den Schülerfirmenprogrammen auf die künftige Karriere der Schüler durchgeführt“ wurde (Best-Project 2005, 9). Dennoch kommen sie zu dem Ergebnis, dass der „Unternehmergeist bei Jugendlichen spürbar“ gefördert würde (ebd.). Zu einem anderen Ergebnis kommen Oosterbeek, Praag und Ijessenstein. Die Autoren haben 2008 eine Untersuchung in einer niederländischen Junior Achievement Company durchgeführt. Dieses Programm ist an eine Universität angegliedert und Studierende aus dem Wirtschaftsbereich können so praktische Erfahrungen sammeln. Sie haben untersucht, inwiefern die Teilnahme am Programm bei den  Studierenden unternehmerische Kompetenzen und die Neigung zur erwerbstätigen Selbstständigkeit fördert. Das Ergebnis war überraschend:

“The results show that the program does not have the intended effects: the effect on students’ self-assessed entrepreneurial skills is insignificant and the effect on the intention to become an entrepreneur is even significantly negative” (Oosterbeek/ Praag/ Ijessenstein 2008).

Des Weiteren möchte ich die Inmit-Studie zu Entrepreneurship Education-Projekten an deutschen Schulen aus dem Jahr 2010 nennen. Es handelt sich hierbei um eine Vergleichsstudie. Eine Gruppe hatte bei einem Entrepreneurship Education Projekt teilgenommen, eine Kontrollgruppe nicht. In der Befragung zum Thema Existenzgründung als erwerbstätige Perspektive kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass der Mädchenanteil in der Gruppe „Weiß noch nicht“ mit 46% deutlich stärker vertreten sei, als die der Jungen (32%). „Die Jungen geben häufiger Berufsplanungen mit Bestandteilen von unternehmerischer Selbstständigkeit an. Bei den Jungen beträgt dieser Anteil 55%, der vergleichbare Wert bei den Mitschülerinnen 39%“ (Inmit-Studie 2010, 18). Die Studie liefert auch Ergebnisse in Hinblick auf den Nutzen, den SchülerInnen durch die Teilnahme an einem Projekt für sich sehen: „Mit deutlichem Abstand sehen die Schülerinnen und Schüler in der Verbesserung der überfachlichen Kompetenzen sowie dem Erwerb und der Verbesserung des Wirtschafts- und unternehmensbezogenen Fachwissens ihren größten persönlichen Nutzen aus der Projektteilnahme“ (ebd. 42).

Die erwähnten Studien beziehen ihre Ergebnisse aus Befragungen und Interviews. Ethnographische Erfahrungsberichte aus Schülerfirmen sind mir nicht bekannt. Dieser Blick auf Schülerfirmen lohnt aber, denn nach de Haan zu urteilen findet sich bisher „wenig Literatur im Bereich der konkreten Empirie“ (de Haan 2009, 6).

Mit der teilnehmenden Beobachtung ergibt sich die Möglichkeit, den Bildungsinhalt auch auf der Ebene der Handlung zu befragen. Jener Inhalt, der nicht explizit, quasi im Konzept steht, sondern durch Handeln implizit vermittelt wird.

2 Empirie

Die von uns beforschte Schule ist eine Stadtteilschule in Hamburg. Sie realisiert mit der Umstellung auf den Ganztagsbetrieb wöchentlich einen jahrgangsübergreifenden Profiltag für die Klassen 9 und 10. Die SchülerInnen können während dieser Zeit in einer der Abteilungen der Schülerfirma arbeiten. Dafür müssen sie sich bewerben und dann beide Schuljahre in der Schülerfirma bleiben. Nach einem Jahr können sie die Abteilung wechseln. Die SchülerInnen, die sich nicht für eine Firma bewerben, bzw. keinen Platz dort erhalten, besuchen in der Zeit den berufsorientierenden Unterricht.

Die Arbeit dieser Schülerfirmen wurde von August 2013 bis Februar 2014 ethnografisch begleitet. Hier ist anzumerken, dass sich diese sieben Abteilungen nicht, wie in der Literatur beschrieben, nach Zuständigkeitsbereich (vgl. Liebel 1998, 215) aufteilen, eine Abteilung ist für die Buchhaltung, eine andere für die Produktion usw. zuständig und zusammen ergeben sie eine Firma, sondern jede der sieben Abteilungen wirtschaftet unabhängig mit eigenem Kapital. Somit ist in diesem Fall eher von sieben Firmen auszugehen. Vier Firmen sind dem Dienstleistungssektor zuzuordnen, eine dem Produktionssektor und zwei sind im Medienbereich tätig.

2.1 Methodisches Vorgehen und Darstellung des Datenmaterials

Die teilnehmende Beobachtung ist eine Methode der ethnographischen Forschung. Sie zielt auf die Beobachtung von Handlungen und Verhalten von Einzelpersonen oder Gruppen ab. Vor allem zu Beginn einer Forschung ist diese Methode sinnvoll, da sie aufgrund ihres explorativen Charakters erlaubt, wahrzunehmen was passiert, ohne gleich zu deuten.

In einer Firma sind 15-17 SchülerInnen.Zu Beginn haben meine Kollegin und ich alle sieben Abteilungen der Schülerfirma beobachtet, um herauszufinden, welche Abteilungen sich für die weitere Beobachtung besonders lohnen würden. Kriterium war dafür ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. Nach der Entscheidung für eine metallverarbeitende Werkstatt und einer Fahrradreparatur gingen aus der Metallwerkstatt 16 Protokolle und aus der Fahrradreparatur-Werkstatt 17 Protokolle hervor. Am Ende der ersten Feldphase wurden leitfadengestützte Interviews mit SchülerInnen geführt. Unser Fokus lag auf SchülerInnen, die a) einen konkreten Berufswunsch für sich artikulieren konnten, der in Bezug zu der Abteilung stand, b) auf SchülerInnen, die einen Berufswunsch für sich benennen konnten, der nichts mit der Abteilung zu tun hatte und c) SchülerInnen, die noch keine berufliche Perspektive hatten. Das Material beläuft sich auf 33 Interviews, die zwischen 6 und 15 Minuten lang sind. Den Fragebogen der Schule, der neben Fragen der Bewertung der Schülerfirma auch Veränderungsvorschläge und den beruflichen Nutzen befragt, haben wir sichten können. Der Fragebogen wurde mit SPSS quantitativ ausgewertet. Daneben hatten wir die Möglichkeit, an den Bewerbungsgesprächen der achten Klassen für eine Abteilung dabei zu sein.

Das Material gibt vielschichtige Einblicke in Handlungs- und Denkweisen wieder, die die Wahrnehmung und das zugrunde liegende Verständnis von Berufsorientierung in der Schülerfirma spiegelt. Es werden Einblicke in Fragen und Handlungsweisen von Lehrkräften und SchülerInnen ersichtlich und es kommen SchülerInnen als ExpertInnen in eigener Sache zum Thema Berufsorientierung zu Wort.

Die folgenden Protokollausschnitte beziehen sich hauptsächlich auf die metallverarbeitende Firma, da ich diese intensiv begleitet habe. Ich konnte die Herstellung eines Produktes mitverfolgen, sowie dessen Verkauf und die Findung einer neuen Produktidee. Die Interviews und der Fragebogen beziehen auch SchülerInnen anderer Firmen mit ein.

2.2 Beobachtungen in Hinblick auf die vier Bedeutungsebenen von Windels und Hübner

1. Die Dimension der Persönlichkeitsentwicklung und die Förderung einer Lernkultur des selbstständigen Arbeitens und Lernens:

Welche Kompetenzen durch die Teilnahme an der Schülerfirma erworben werden, kann durch die ethnographische Beobachtung nicht beantwortet werden. Handlungen und somit auch Sprechhandlungen können zwar analysiert werden, aber der dahinterstehende persönlich gesetzte Sinn kann den Handlungen nicht entnommen werden. Deswegen ziehe ich hier den Fragebogen der Schule heran, der den Zugewinn an Kompetenzen abgefragt hat. Die Frage:„Was glaubst Du, welche von den Dingen, die Du in der Firma gelernt hast, kannst du später im Berufsleben einsetzen?“ hat ergeben, dass sich die gewonnen Fähigkeiten und Kenntnisse von Abteilung zu Abteilung unterscheiden, je nach inhaltlicher Ausrichtung. Gemeinsam ist den sieben Abteilungen, dass die SchülerInnen den größten Nutzen in den erworbenen Fachkenntnissen sehen (Umgang mit der Kasse, Kochen, Grammatik, Rechtschreibung Umgang mit Geld, Verkaufsgespräche führen, Organisation, Kenntnisse über Werkzeuge und deren Anwendung). An zweiter Stelle stehen die sozialen Fähigkeiten wie Teamwork, Pünktlichkeit, Höflichkeit, Kundenkontakt, Verhandlungsfähigkeit, Kritikfähigkeit und auf Fremde zugehen. Dabei fällt auf, dass SchülerInnen der Firma, die für die MitschülerInnen kocht und diese Produkte dann in der Pause verkauft, öfter äußern, dass sie gelernt haben, mit Kunden umzugehen und auf Fremde zuzugehen, als das beispielsweise in der Firma der Schülerzeitung der Fall ist. Es wird deutlich, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen Tätigkeit und den geförderten Kompetenzen. Die Fähigkeiten, wie sie von Windels und Hübner angesprochen werden, beispielsweise „Informationen eigenständig beschaffen“ oder „Arbeitsschritte planen, die zu einem Ziel führen“, werden eher von Mitarbeitern in den beiden Medienabteilungen benannt.

Die Frage: „Nenne Dinge, die du in der Schülerfirma oder deiner Abteilung richtig gut findest?“ hat ergeben, dass die SchülerInnen das Arbeiten mit anderen überwiegend positiv einschätzen. Sie betonen die Teamarbeit und die dadurch entstehende gute Atmosphäre in der Abteilung. Man könne einander helfen und bei MitschülerInnen nachfragen. Hervorgehoben wird auch, dass man eigene Ideen einbringen könne und diese auch umgesetzt würden. Die SchülerInnen finden es gut, dass sich die Arbeitsweise vom normalen Unterricht abhebt und man sich ausprobieren kann. Auch äußern SchülerInnen, dass sie es gut finden, wie in einem Betrieb zu arbeiten. Einige Beispiele hierzu aus den Interviews:

I.: Also zunächst einmal würde ich gerne wissen, wie es dazu gekommen ist, dass Du Dich für die Schülerfirma statt für den Arbeit und Beruf- Unterricht entschieden hast.

B.: Weil ich lieber praktisch arbeite, als die ganze Zeit nur Theorie, und es mir auch (…) also ich habe von der Schülerfirma schon einiges gehört, und es wurde ja auch die Schülerfirma präsentiert einmal, die verschiedenen Bereiche, und ich fand das sehr interessant, deswegen wollte ich in der Schülerfirma arbeiten.

Die Entscheidung für eine Firma statt für den Arbeit und Beruf Unterricht wird motiviert durch die Möglichkeit, etwas Praktisches zu tun und etwas anderes zu erleben, als klassischen Unterricht, den die SchülerInnen kennen.

I.: Und warum für diese Firma? Was hat Dich daran angesprochen und was hat Dir gefallen?
B.: Also ich mag es im Handwerk zu arbeiten und da haben wir nur DIESE Firma halt.
I.: Sag mal, was hat Dich bewegt, in eine Schülerfirma zu gehen?
B.: Also …
I.: Und nicht in den Arbeit und Beruf Unterricht.
B.: Okay. Also wir hatten ja die Vorstellungen von Frau M. und Herrn C. und da wurden uns halt so verschiedene Bereiche vorgestellt und der Arbeit und Beruf Unterricht, und da ich ja SOWIESO  so viel Unterricht habe, Mathe, Englisch, Deutsch und sowas, habe ich mir überlegt, zur Schülerzeitung zu gehen, weil ich gerne Texte schreibe, also auch, wenn ich zum Beispiel meinen Freundinnen Geburtstagstexte schreibe oder so, da freuen die sich immer sehr rüber. Und ich wollte es mir halt, also ich wollte mir ein bisschen, also die deutsche Sprache näherbringen.

I.: Als Erstes würde ich ganz gerne wissen, wie ist es dazu gekommen, dass Du die Schülerfirma und nicht den Arbeit und Beruf Unterricht gewählt hast?
B.: Weil ich gerne in Firmen arbeite, also gerne mit anderen Leuten zusammen arbeite und bei Arbeit und Beruf (I.: Ja), da geht es mehr um Geld und ich bin zum Beispiel auch in die PR-Abteilung gegangen, weil ich für meinen Verein auch sehr viel Arbeiten mache, PR-technisch und ja.
I.: Ja, das wäre auch schon gleich meine nächste Frage, warum die PR-Abteilung, stand das von vornherein dann fest?
B.: Ich habe gesagt, wenn  Schülerfirma, dann PR-Abteilung, weil, ich arbeite selbst bei meinem Verein und so PR-technisch und deswegen.

Diese Aussagen zeigen deutlich, dass sich die SchülerInnen an ihren Interessen orientieren und gezielt jene Firmen wählen, die ihnen aufgrund des Inhalts am besten gefallen. Als Motivation zur Wahl einer bestimmten Firma wird auch genannt, dass sich die SchülerInnen in einem bestimmten Bereich verbessern bzw. dazulernen wollen. Nicht genannt wird, dass die Wahl einer Firma durch berufliche Interessen bestimmt wird, die SchülerInnen sehen den Wert der Firma aber als Zugewinn an Wissen, das sie Privat einsetzen können.

Nach Windels und Hübner können SchülerInnen durch die Teilnahme in einer Firma ihre Persönlichkeit entfalten. In einem Gespräch mit der Lehrkraft der metallverarbeitenden Werkstatt erfahre ich, dass sie nicht die Prognosen der SchülerInnen sehen wolle, dasie jedem unvoreingenommen eine neue Chance geben wolle.

Der Lehrer sucht immer wieder meine Nähe. Er erzählt mir, das Kathlen ein Teil nach dem anderen produziert und dass Hendrik gerne schnacken würde, aber wenn er arbeite, dann gut. Er erzählt mir über Paul, der kognitiv nicht so gut sei, aber einen guten Überblick über die Prozesse hätte und immer wisse, was dran sei. Dass Paul in diesem Bereich was machen müsse. Ich frage den Lehrer, ob er das den SchülerInnen rückmelde, wenn ihm so ein „Talent“ auffalle, oder ein Potential. Er verneint und meint, das sehe er nicht als seine Aufgabe. Aber wenn er direkt danach gefragt würde, dann schon. Eher Aufgabe der Klassenlehrer. Dann erzählt er mir die Schwierigkeit mit der Motivation der SchülerInnen im Stadtteil, die SchülerInnen seien oft die einzigen,  die morgens das Haus verließen. Er beklagt die Bildungsferne der Elternhäuser, dass da oft nicht geredet würde, man sich nur am Kühlschrank treffe. (20131107pal).

Aus dem Protokollausschnitt wird deutlich, dass die SchülerInnen außerhalb des regulären Unterrichts anders wahrgenommen werden. Er sieht das Potential in den SchülerInnen und denkt perspektivisch über Möglichkeiten nach, in welchem Bereich Paul berufliche Chancen hat. Doch sieht der Lehrer es nicht als seine Aufgabe, dieses Potential rückzumelden. Das heißt, dass es keine Absprachen zwischen FachlehreInnen, TutorInnen und FirmenleiterInnen gibt, die über gemeinsame SchülerInnen sprechen, um sie zu fördern oder anderweitig zu unterstützen.

2. Förderung der erwerbstätigen Selbstständigkeit

Diese Ebene, die Windels und Hübner anführen, ist die pädagogische Perspektive auf eine selbstständige Erwerbstätigkeit. Weber bemerkt, dass das pädagogische Arrangement der Schülerfirmenarbeit „im Gegensatz zur Entrepreneurship Education“ nicht darauf hinauslaufe, „den risikofreudigen und wagemutigen Unternehmer auszubilden, sondern Lernende in die Lage zu versetzen, an unternehmerischen Entscheidungen und Handlungen Chancen und Risiken des selbstständigen Unternehmertums zu erkennen“ (Weber 2002, 172). Dennoch gibt sie weiterhin an, dass „Schülerfirmen als Schulprojekte den großen Vorteil haben, dass der Ernst des realen Lebens zur Übernahme von Verantwortung nötigt und Selbstständigkeit nicht bloß im Spiel wahr leben lässt“ (ebd.).

Die SchülerInnen der metallverarbeitenden Firma haben Keksformen produziert, die sie auf der Weihnachtsfeier der LehrerInnen verkaufen sollten. Sie haben berechnet, dass sie zwei Euro pro Form nehmen müssen, um auf Plus-Minus-Null zu kommen.

Der Lehrer meint nun, dass die Bilanz schlecht sei, sie hätten rund ein Viertel der Formen verkauft. 40,- Euro hätten sie eingenommen, aber 200,- für Material ausgegeben. Dabei seien die fiktiven Kosten (Versicherungsbeiträge, Mietkosten) noch nicht mit berechnet. Die Einnahmen würden noch nicht einmal die Materialkosten decken. Er meint weiter, dass wenn es nun eine reale Firma sei, sie sich fragen müssten, ob sie das überleben können und wenn ja, wie? Beispielsweise durch einen Kredit, wenn glaubwürdig, gibt Lehrer an. Dann meint er, dass das neue Projekt ja wenig Kosten trage, da das Material in der Werkstatt vorhanden sei, dies wäre allerdings eine Milchmädchenrechnung, denn in einer echten Firma könnte man sich ja auch nicht so einfach Material von anderen Firmen leihen oder nehmen. Die SchülerInnen scheinen mir bei den Ausführungen des Lehrers ziemlich unbeteiligt (20140109pal).

Der Ausschnitt aus dem Protokoll zeigt auf, dass das Minus keine Konsequenzen für die SchülerInnen und die Firma hat. Sie fühlen sich durch die Ausführungen des Lehrers nicht wirklich angesprochen, denn es passiert nichts weiter. Der Lehrer bezieht die SchülerInnen nicht mit in seine Überlegungen ein, vielmehr räsoniert der Lehrer und geht dann über zum neuen Produkt, dass ja wenig Produktionskosten verursache. Damit fühlen sich die SchülerInnen nicht genötigt, über den Erhalt ihrer Firma nachzudenken. Was ist mit drohender Arbeitslosigkeit? Jegliche Lernerfahrung in Hinblick auf unternehmerische Selbstständigkeit bleibt aus. Auf  Seiten des Lehrers wird deutlich, dass dieser, obwohl er eine gute Idee benennt, unsicher des Handlungsspielraumes ist. Er spricht im Konjunktiv.

3. Die ökonomische Dimension

Wir hatten auch die Möglichkeit, bei den Bewerbungsgesprächen der achten Klassen für eine Firma dabei zu sein. Ein Ausschnitt:

Dann erkundigt sich die Lehrkraft nach den Mathematikkenntnissen, woraufhin V. sagt „Da bin ich schlecht“. Im Anschluss an dieses Gespräch bemerkt Frau H., welche Schwierigkeiten mit der Auswahl der Schüler verbunden sind. V. hat eigentlich weder Motivation gezeigt im Laden zu arbeiten, noch scheint sie sich dafür zu qualifizieren. Doch trotzdem zieht Frau H. in Betracht, sie in die Auswahl zu nehmen. Sie vermutet, dass die Schülerin durch die praktische Arbeitsweise im Laden positive Erfahrungen sammeln könnte, die sie aus pädagogischer Sicht brauchen würde. Die Frage bleibt offen, ob dies unfair den Schülern gegenüber wäre, die sich die Mitarbeit im Laden wünschen.

Die SchülerInnen müssen sich auf einen Platz in der Firma bewerben. Fähigkeiten in Mathematik scheinen ein Einstellungskriterium zu sein, sie werden abgefragt. Die Schülerin kann die Matheaufgabe nicht lösen und wirkt auch so unmotiviert, dennoch zieht die Lehrerin ihre Einstellung in Betracht. Es wird eine Bewerbungssituation, wie auf dem freien Arbeitsmarkt inszeniert, doch wird diese nicht durchgehalten, da sich Zweifel aus pädagogischer Sicht für die Lehrerin ergeben. Das Spannungsfeld zwischen Nachahmen eines realen Unternehmens und pädagogischem Setting wird deutlich.

Zwei Schüler haben ihre Schulden beglichen und werden darauf hingewiesen, dass sie sonst eine Abmahnung bekommen hätten. 2 Schüler seien aus einer anderen Firma herausgeflogen und müssten sich nun neu bewerben. In Arbeit und Beruf können sie nicht wechseln. Sie müssen sich nun bei einer anderen Firma bewerben, was nicht leicht sei. Das sei im Berufsleben ähnlich. Sie können niemanden mehr aufnehmen, die Firma sei voll (20131205pjr).

Schülerfirmen sollen möglichst viel Simulation durch Realität ersetzen, doch stellt sich hier die Frage, wie eine Kündigung real umzusetzen ist. Denn diese SchülerInnen können ja nicht arbeitslos bleiben, da sie schulpflichtig sind. Das bedeutet, dass sie sich für eine andere Firma bewerben müssen. Hier stellt sich die Schwierigkeit, dass diese keine freien Stellen zur Verfügung haben kann. An dieser Problematik zeigt sich, dass die Simulation der realen Arbeitswelt aufgrund des pädagogischen Settings an ihre Grenzen stößt.

Er sei insgesamt unzufrieden mit seiner Aufgabe und der Organisation. Eigentlich war die Idee, dass es eine möglichst reale Firma sei, aber so real wäre die Arbeit hier gar nicht. Er habe die Idee, mit den Schülern zu erarbeiten, was sie glauben, was sie bräuchten, damit die Firma auch unabhängig von der Schule funktioniere. Die Hauptabnehmer der Räder seien Lehrer. Es sei nicht so, dass sie die Räder nicht auch brauchen würden, aber die Firma sei sehr an die Schule gebunden. Ich frage, wie lange eine Firma pleite sein dürfe und ob sie von der Schule deswegen auch geschlossen werden könne. Das wusste der Lehrer. nicht (20140116pjr.)

Er sagt, dass für ihn viele Ungereimtheiten bestünden, die mit der Firma zu tun hätten. Er fragt sich, wie real denn diese Firma sei. Auch hätte er sich im Internet erkundigt, was andere Schülerfirmen denn so machen und er meint, dass kaum jemand Metall verarbeiten würde, wegen der eingeschränkten Mitwirkungsmöglichkeiten. Eigentlich dürften sie ja aus Schutzbestimmungen kaum was selber tun. (20140123pal).

An diesen beiden Protokollausschnitten wird deutlich, dass die Lehrkräfte selber in Unsicherheit darüber sind, wie real so eine Firma sein soll. Auch wird von dem Lehrer betont, dass die SchülerInnen wenig ausprobieren können, aufgrund der Sicherheitsbestimmungen.

Dann geht er über zum nächsten Thema, dem neuen Produkt. Er fragt, welche Kriterien angewendet werden müssen für das neue Produkt.
Er geht zu Tafel und fragt: „Worauf also achten?“
Steve: „Kosten“
Mesud: „Material“
Lehrer: „Was für Material?“
Mesud: „Max Bahr“
Der Lehrer meint zu Mesud, dass er seine Aussage präzisieren müsse, was er denn genau mit Material meine. Die SchülerInnen lachen. Der Lehrer ermahnt mit einem „ey“.
Paul: „Produktionszeit“.
Das notiert der Lehrer an der Tafel, ohne Kommentar.
Mesud: „Aber wir brauchen doch Material.“
Der Lehrer antwortet Mesud nicht, er fragt: „Was sind die Gesichtspunkte unter denen wir entscheiden, das geht, das geht nicht?“
Steve: „Werkzeuge.“
Schüler: „Rechtliche Überlegungen.“
Lehrer sagt etwas zu dem Beitrag, doch kann ich akustisch nicht folgen.
Mesud: „Arbeiter.“
Lehrer: „Die seid ja ihr.“
Es wird unruhig.
Der Lehrer erklärt die zu verwendenden Materialien, also einen Aspekt davon, nämlich dass die Verarbeitbarkeit gewährleistet sein muss.
Mesud: „Das meinte ich mit Material.“
Lehrer: „Wär dann auch schön, wenn du das sagen könntest.“
Ein wichtiger Aspekt fehlt wohl, so der Lehrer. Schüler: „Ob sich das Produkt verkaufen lässt.“ L: „Marktfähigkeit.“
Dann fordert er auf, sich Gedanken über Produkte zu machen und diese mit den Kriterien abzugleichen. Es klingelt zur Pause.
Nach der Pause meint der Lehrer zu den SchülerInnen, dass es eine ganze Reihe von Schülerfirmen in der Republik gäbe, aber Metall eher selten, da sich da nicht so viele ran trauen würden. Er fragt in die Runde, ob es Ideen gäbe. Erdem meint Schlüsselanhänger. Dann erzählt der Lehrer noch von einem Würfel, aber das sei schwierig, wenn dieser, da Metall, über Muttis Wohnzimmertisch rollen würde, wegen der Spuren. Figurenmobiles fände er ganz nett. Er bittet die SchülerInnen an den Tisch zu kommen, um sich die Ausdrucke anzuschauen. Die SchülerInnen scheinen etwas uninteressiert und nicht ganz überzeugt.

Der Lehrer fragt Kriterien ab, die das neue Produkt haben muss, um hergestellt werden zu können. Dann fordert er die SchülerInnen auf, sich Gedanken zu machen. Doch geht der Lehrer nicht mehr auf die Ideen der SchülerInnen ein. Es werden Mobiles gemacht. Der Lehrer fragt zwar nach Vorschlägen, aber nimmt diese nicht an. Die Frage die er stellt, bleibt rhetorisch. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass eine Diskrepanz besteht, zwischen dem Konzept, das vorsieht, dass es die SchülerInnen sind, die Ideen entwickeln und der tatsächlichen Handlungsweise. Ein grundsätzlicher Prozessschritt, nämlich der einer Produktfindung wird stark verkürzt. Ein Schüler sagt, dass es darauf ankäme, ob sich das Produkt verkaufen lässt. Hier würde beispielsweise eine Phase von Marktforschung beginnen können. Dass sie diesen Schritt aussparen, hat Auswirkungen auf den Nichtverkauf ihres letzten Produktes gehabt, die Keksformen. Einwände dazu kommen allerdings von den SchülerInnen:

Wenn SchülerInnen Hauptabnehmer sind, dann kann eine Keksform nicht zwei Euro kosten, so wie ein Schüler treffend anmerkt: „Da geh ich lieber zu Netto und kauf zehn dafür“. (20131109pal).

Die Kosten der Produktion stimmten also nicht mit dem, was die potentiellen Kunden – SchülerInnen – bereit sind zu zahlen, überein. Auch wenn Lehrkräfte bestärkend auf die SchülerInnen einredeten, dass Selbstgemachtes seinen Preis habe und sie diesen selbstbewusst vertreten sollen, so scheiterte dieser Gedanke doch am Inhalt des Geldbeutels der HauptabnehmerInnen.

Ein Schüler sagte, dass ihm langweilig sei. Die Lehrkraft gab zur Antwort, dass der Schüler so tun müsse, als ob er etwas zu tun habe. Im Betrieb sei es auch nicht anders, sonst würde er im kommenden Monat nicht wiederzukommen brauchen, er sei dann ja überflüssige Arbeitskraft (20131107pal).

Mit der Antwort der Lehrkraft wird deutlich, dass sich in diesem exemplarischen Fall das Verständnis der Lehrkraft  von dem unterscheidet, was Schülerfirmen wollen. Soll die Teilnahme an einer Schülerfirma gemäß ihrer Konzeption „unternehmerisches Denken und Handeln“ befördern, wird von der Lehrkraft hier eine Perspektive auf das Arbeitnehmerdasein betont, bzw. der Konsequenzen, die sich für den Schüler aufgrund solchen Verhaltens daraus ergeben. Es mag sein, dass als eine Art Soft-Skill die Fähigkeit so zu tun als ob manchmal nützlich ist, aber gemäß der Konzeption gibt es in der Schülerfirma kein so tun als ob, sondern die SchülerInnen sind UnternehmerInnen (vgl. Liebel, 1998, 214).

4. Die berufsorientierende Dimension:

„Was nehmt Ihr für euch mit aus der Firma?“
Jam: „Neues Wissen über Räder.“
Dominik: „Verkaufsgespräche führen, Kundenkontakt.“
Lehrer: „Lernt Ihr hier etwas über Berufsprozesse?“
Dominik erzählt, dass es keine Pause mit den anderen gebe und die Pause kürzer sei. Mo pflichtet ihm bei. Die Lehrkraft möchte wissen, ob es Ihnen etwas für ihre spätere Berufswahl bringe. Mo sagt, dass er ja schon wisse, was er machen will. Sabrina sagt, sie wisse es noch nicht und es interessiere sie jetzt auch noch nicht. Dominik erklärt, dass er auch vorher schon mal handwerklich gearbeitet habe (20131107pjr).

Die berufsorientierende Funktion, die Windels und Hübner ansprechen, ist m.E. die abstrakteste Dimension, das wird aus den aufgeführten Ausschnitten aus Protokoll und Interviews deutlich. Sie bedarf der Fähigkeit, das gelernte Handlungswissen in der Schülerfirma auf eine andere Situation, nämlich die des Berufsorientierungsprozesses, zu übertragen.

I.: Und weißt Du (…) Du weißt schon, was du werden möchtest?
A.: Ja.
I.: Und hat das einen Bezug zur Schülerfirma?
A.: Nein, gar nicht. Nein.
I.: Nee? Was möchtest Du denn werden?
A.: Zahnarzt.

I.: Warum hast Du dich für eine Firma statt für Arbeit und Beruf entschieden.
B.: Weil da eher meine Fähigkeiten liegen, also im Handwerklichen.
I.: Weißt Du schon, was Du werden möchtest?
B.: Ja, also IT-Systemkaufmann.

I.: Und hat Dein Berufswunsch konkret mit der Schülerfirma zu tun?
C.: Also eigentlich nicht. Also ich möchte Krankenschwester werden und da brauche ich es ja eigentlich nicht so direkt. Aber es ist halt auch wichtig als Krankenschwester, ordentlich zu reden, freundlich zu reden, und das ist also, irgendwie bringt es mir ja schon etwas.

In diesem Interviewausschnitt ist eine Transferleistung zu erkennen, die Interviewte sieht den Zugewinn an Fähigkeiten „gut zu sprechen“ als wertvoll für ihren Berufswunsch an.

Auffällig bei der Analyse der Fragebögen war auch, dass SchülerInnen mit einer ESA-Prognose (Erster Schulabschluss, vergleichbar mit dem Hauptschulabschluss) am wenigsten für ihre berufliche Zukunft aus der Arbeit in der Schülerfirma mitnehmen können. Verglichen mit SchülerInnen der anderen beiden Prognosen MSA (mittlerer Schulabschluss/ Realschulabschluss) und SEK.II (Abitur) geben sie öfter an, dass sie nichts für ihre berufliche Zukunft mitnehmen können und begründen dies damit, dass sie entweder noch nicht wissen, was sie werden wollen, oder einen anderen Berufswunsch haben. Hier muss man bei den Ergebnissen aber aufpassen, da sich die Auswertung mit SPSS auf eine kleine Gruppe bezog und die Aussage eines Schülers so bis zu  10% werten kann. Dennoch schließt sich hier die Überlegung an, ob das Lernarrangement jenen, die dem Übergang am nächsten stehen, am wenigsten bei dem Berufsorientierungsprozess unterstützt,  da der Transfer nicht geschafft wird und abstrakt bleibt.

3 Zusammenfassung/Fazit

Aus meiner Analyse ziehe ich folgende Schlussfolgerungen:

1. SchülerInnen ziehen vielfältige Erfahrungen und Kompetenzen für sich aus der Firmenarbeit. Die Soft-Skills werden gefördert und von den SchülerInnen als bedeutend für ihre berufliche Laufbahn erachtet, das zeigt sich in der Auswertung der Fragebögen. In Zeiten, in denen sich Arbeits- und Berufsforscher fragen, wie moderne Berufsorientierung aussehen kann, wenn man nicht mehr auf einen Beruf hin lenkt und Berufsbilder starken Veränderungen unterworfen sind, macht es durchaus Sinn, allgemeingültige Kompetenzen zu fördern.

2. Die SchülerInnen wählen eine Firma, weil sie „was anderes als Unterricht ist“. Die Frage, die sich hier stellt ist, inwiefern die SchülerInnen die Firmenarbeit als Berufsorientierung wahrnehmen. Vor allem jenen, die dem Ende ihrer Schulzeit am nächsten stehen, bringt die Teilnahme an der Firma wenig.  

3. Die Ebene der erwerbstätigen Selbstständigkeit als berufliche Perspektive wurde in den von uns beobachteten Firmen nicht angesprochen.

4. Schwierigkeiten werden hinsichtlich der „Realität und Simulation“ dieser Unterrichtserweiterung  ersichtlich. Somit belaufen sich reale Lernerfahrungen, die mit Erfahrungen des Arbeitsmarktes zu tun haben, meist auf dem Versuch, präventiv (im Konjunktiv) mögliche Konsequenzen aufzuzeigen.

5. Die berufsorientierende Funktion, die Windels und Hübner ansprechen, ist m.E. die abstrakteste und bedarf einer Reflexion auf Seiten der Lehrkräfte und auf Seiten der SchülerInnen.

6. Die Frage ist, ob sich durch die Teilnahme an einer Schülerfirma bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt auftun.

Abschließend möchte ich ein Zitat einbringen, da ich denke, dass wenn es ein Stück weit umgesetzt werden würde, beispielsweise, dass die SchülerInnen sich selber überlegen müssen, wie sie ihre Firma retten können oder Erfahrungen sammeln können, die im Sinne der berufsorientierenden Dimension von Windels und Hübner zu lesen sind, als es darum geht, „einen Raum offen zu halten – einen Raum für die Möglichkeit des Scheiterns, der Erfahrung und der Veränderung“ (Sternfeld 2012, 126). Dann würden sie sich selbst einbringen, als aktiv gestaltend erleben.

Literatur

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Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2010): Unternehmergeist in die Schulen?! Ergebnisse aus der Inmit-Studie zu Entrepreneurship Education-Projekten an deutschen Schulen. Berlin.

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Hahn, K. (2009): Der Lissabon-Prozess: Warum eine Hightech-Strategie zur Innovationsförderung nicht ausreicht. In: WSI-Mitteilungen. Heft 6/2009, 302-309.

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http://www.europarl.europa.eu/summits/lis1_de.htm(10.09.2014).

Hübner, M./Windels, G. (2008): Schülerfirmen und Praxistage. In: Jung, E. (Hrsg.): Zwischen Qualifikationswandel und Marktenge. Konzepte und Strategien einer zeitgemäßen Berufsorientierung. Baltmannsweiler.

Liebel, F. (1998): Schülerfirmen-mehr als eine Geschäftsidee? Zwischen Profitorientierung und solidarischer Ökonomie. In: Die Deutsche Schule. H. 2, 214-229.

Loges, B. (verantwortlich) (2012): Berufsorientierung. Schulen mit vorbildlicher Berufsorientierung. Hg. v. Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI). Hamburg.

Oosterbeek, H./van Praag, M./Ijsselstein, A. (2008): The Impact of Entrepreneurship Education on Entrepreneurship Competencies and Intentions: An Evaluation of the Junior Achievement Student Mini-Company Program. D I S C U S S I O N P A P E R S E R I E S. Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit.

Schelzke, A./Mette D. (2008): Schülerfirmen. Unternehmerisches Denken und Handeln im Spannungsfeld Schule-Wirtschaft. Berlin.

Sternfeld, N. (2012): Ein entschiedenes Vielleicht. In: Koller, H.-C./Reichenbach, R./Ricken, N. (Hrsg.): Philosophie des Lehrens. Paderborn, 117-129.

Tramm, T./Gramlinger, F. (2006): Lernfirmenarbeit als Instrument zur Förderung beruflicher und personaler Selbständigkeit. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 10. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe10/tramm_gramlinger_bwpat10.pdf (15.08.2014).

Weber, B. (2002): Berufliche und unternehmerische Selbstständigkeit in der ökonomischen Bildung. Weder Gründererziehung noch  inhaltlich beliebige Selbstständigkeit. In: Weber, B. (Hrsg.): Eine Kultur der Selbstständigkeit in der Lehrerausbildung. Bergisch Gladbach, 100-119.

Textilberufe Hands-on: Lehramtsstudierende entwickeln einen Berufsorientierungspfad für textile Ausbildungsberufe

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1 Berufsorientierung in der Sekundarstufe I

1.1 Rahmenvorgaben für die Lehramtsausbildung

Die Kultusministerkonferenz der Länder der Bundesrepublik Deutschland (KMK) setzt den gesetzlichen Rahmen für die Inhalte der fachlichen Anforderungen im Lehramtsstudium. Das bereichsspezifische Kompetenzprofil für das Studienprofil Textil im Fächerkomplex Arbeit, Wirtschaft, Technik enthält neben gestalterischen Aspekten Anforderungen an berufsorientierende und naturwissenschaftlich-experimentelle Kompetenzen. Demnach sollen Studienabsolventinnen und -absolventen u.a. über grundlegende Kenntnisse der Berufe im Bereich Textil und Mode verfügen, elementare natur- und kulturwissenschaftliche Arbeitsmethoden beherrschen sowie kulturelle, ästhetische, ökonomische, ökologische und gesundheitliche Aspekte von Mode und Textil reflektieren können. Sie sollen Erfahrung im Entwerfen, Gestalten, Experimentieren und Bewerten im Bereich Mode und Textil haben. Außerdem sollen sie Modelle und Konzepte der Analyse, Planung, Organisation und Evaluation der Vermittlung von mode- und textilwissenschaftlichen Inhalten kennen und über erste reflektierte Erfahrungen im Planen und Gestalten von Textilunterricht verfügen. (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland (KMK) 2014, 16)

1.2 Berufsorientierung in der Sekundarstufe I in Baden-Württemberg

Die Berufsorientierung in der Sekundarstufe I in Baden-Württemberg umfasst Angebote zur Orientierung im Ausbildungs- und Wirtschaftssystem, wie beispielsweise Informationen über Bildungswege, betriebliche und schulische Ausbildungsgänge und Ausbildungsverhältnisse. Betriebs- und Arbeitsplatzerkundungen zielen darauf, sich über Berufe zu informieren und möglichst auch praktische Erfahrungen zu sammeln. Von Bedeutung sind gemäß dem vorliegenden Bildungsplan für die Realschule reale Begegnungen durch Praktika oder Begegnungen mit Menschen, die in den Berufen arbeiten oder in der Ausbildung sind. (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2004, 184ff.) In den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für eine Berufsorientierung in der Realschule verankert ist die Anforderung an die Fachlehrkräfte, praktische Bezüge zur Arbeitswelt herzustellen: „Als Thema der Schulgemeinschaft weist jedes Fach und jeder Fächerverbund an geeigneten Stellen auf berufsorientierende Aspekte hin und schafft praktische Bezüge zur Arbeitswelt“(Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2004, 184).

Neben einer schülerzentrierten projektorientierten Berufsorientierung in der Schule sollen Lehrpersonen auch typische Berufsbilder in Bezug zu ihren Unterrichtsfächern vermitteln. Doch die meisten Lehrkräfte verfügen kaum über berufsbezogene Erfahrungen außerhalb des Bildungsbereichs, wenn sie direkt nach ihrem Schulabschluss das Lehramtsstudium absolvieren. Wie sollten sie auch berufs- und berufsfeldbezogene Kenntnisse erlangen, wenn sie weitestgehend direkt von der Schule an die Hochschule gewechselt haben, um anschließend als Lehrkräfte wieder in der Schule zu wirken? Vor diesem Hintergrund sind Lehrkräfte an allgemein bildenden Schulen im Hinblick auf die geforderte Vermittlung von Berufsorientierung darauf angewiesen, möglichst authentische Materialien zur Verfügung zu haben, um Schülerinnen und Schülern (SuS) Einblicke in die Berufswelt und Anregungen zur Berufswahl geben zu können.

Im neuen Bildungsplan der Sekundarstufe für Baden-Württemberg soll die Berufs- und Studienorientierung gestärkt und ab dem Schuljahr 2015/16 als eines von sechs fächerübergreifenden Leitprinzipien in den neuen Bildungsplänen verankert werden (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2014c). Die derzeit noch projektartig angelegte Berufsorientierung Realschule (BORS) soll durch ein curriculares und fächerübergreifendes System abgelöst werden, das die Berufsorientierung stärker als querschnittsorientierte Zielsetzung sowohl fachlich als auch als Schwerpunkt in die Schule integriert. Damit soll die Berufswahlorientierung in das spiralförmige Schulcurriculum integriert werden. (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2014a)

1.3 Berufsorientierung im Berufsfeld Textil und Mode

Aktuell findet sich im Realschulcurriculum in Baden-Württemberg das Fach Mensch und Umwelt, welches neben der Ernährungsbildung textile Bildungsinhalte aufweist. Mit dem neuen Bildungsplan wird dieses Fach in den Fächerverbund Alltagskultur, Ernährung, Soziales überführt, in welchem weiterhin textile Bildungsinhalte von Bedeutung sein werden (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2014b). Eine berufsfeldbezogene Berufsorientierung vor allem zu den Berufsfeldern Ernährung, Gesundheit sowie Mode und Textil bietet sich aktuell im Fach Mensch und Umwelt und im zukünftigen Fächerverbund an.

Vor diesem Hintergrund setzt die Entwicklung des TEXperten®-Koffers an, um Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I eine handlungsorientierte Auseinandersetzung mit modernen Ausbildungsberufen im Berufsfeld Textil und Mode zu ermöglichen. Der Koffer enthält zwanzig Hands-on Experimente und zehn Schaustücke, die Eigenschaftsprofile moderner textiler Materialien erfahrbar machen. Kombiniert mit Informationsmaterial zu den textilen Ausbildungsberufen bietet er vielfältige Möglichkeiten für den Einsatz in Schulen, Unternehmen oder im Rahmen von Berufsorientierungsangeboten anderer Akteure (vgl. Gehlen/Grundmeier/Friedrich 2013; Gehlen/Grundmeier 2013b). Bei der Konzeption und Erprobung der Experimentiermaterialien haben Lehramtsstudierende des Studienfachs Haushalt/Textil sowie des mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächerverbunds als angehende Fachlehrkräfte mitgewirkt. Die Experimente können neben der Berufsorientierung sowohl im fachlichen Kontext der Verbraucherbildung angesiedelt oder im naturwissenschaftlichen Unterricht eingesetzt werden (vgl. Grundmeier/Gehlen 2012; Gehlen/Grundmeier 2013a). Lehrkräften können so leichter auch im textilen Fachunterricht Berufsbezüge herstellen, denn Jugendliche nehmen die modernen Unternehmen und Ausbildungsberufe im Textilsektor nur eingeschränkt als Option für sich wahr.

2 Die Textil- und Bekleidungsbranche als Ausbildungsanbieter

2.1 Textil- und Bekleidungsunternehmen in Deutschland

Die Textil- und Bekleidungsindustrie beschäftigt in Deutschland ca. 120.000 Personen in 1.200 überwiegend mittelständischen Unternehmen und ist nach der Lebensmittelindustrie die größte Konsumgüterbranche (Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie e.V. 2014b). Ihre Erzeugnisse werden den drei Hauptgruppen Bekleidungstextilien, Heim- und Haustextilien sowie den technischen Textilien zugeordnet. Zu den Haus- und Heimtextilien zählen beispielsweise Bett- und Tischwäsche, Hand- und Geschirrtücher, Vorhänge, Teppiche oder Möbelbezugsstoffe. Technische Textilien werden in der Medizin, im Transport- und Verkehrswesen oder im Bereich der Sicherheit und im (Umwelt-)Schutz verwendet (Gesamtverband der deutschen Textil und Modeindustrie e.V. (Gesamtverband textil+mode), Fachverband der Österreichischen Textil-, Bekleidungs-, Schuh- und Lederindustrie (WKO), Textilverband Schweiz (TVS) 2012, 5). Zu den technischen Textilien zählen beispielsweise Wundversorgungstextilien oder chirurgische Fäden, Sicherheitsgurte, LKW-Planen, Warnwesten und Arbeitsschutzbekleidungen oder auch Industriefilter und Faserverbundstoffe, die in Windkraftanlagen oder im Flugzeugbau eingesetzt werden. Der Marktanteil der Bekleidungstextilien beträgt heute rund 30% und 20% bei Haus- und Heimtextilien, auf technische Textilien entfallen inzwischen über 50% mit steigender Tendenz (vgl. Verband der Nordwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie e.V. 2014, 15).

Diese Marktsegmentierung ist ein Zeichen dafür, dass die Textil- und Bekleidungsindustrie in Deutschland sich im letzten Jahrzehnt zum Hightech-Industriezweig für innovative technische Textilien entwickelt hat, indem faserbasierte Werkstoffe in immer mehr Einsatzbereiche und neue Anwendungsgebiete vorstoßen. Zunehmend fungiert die Textilindustrie als Zulieferer für industrielle Branchen wie den Fahrzeugbau, die Luftfahrtindustrie und die Medizintechnik. Entgegen dieser Entwicklung ist das Image der Textil- und Bekleidungsindustrie jedoch nach wie vor durch die Modebranche geprägt. Die Begriffe Bekleidungs- bzw. Modeindustrie und Textilindustrie werden oft synonym verwendet, wodurch die textilerzeugende Branche, die nach wie vor in Deutschland ansässig ist, nicht von der Modeindustrie mit ihrer vorwiegend ausländischen Fertigung abgegrenzt wird. Da die Produktion in der Bekleidungsindustrie, die so genannte Konfektion, nur bedingt automatisierbar ist und daher arbeits- und lohnintensiv bleibt, erfolgt diese überwiegend im kostengünstigeren Ausland. Über 95 % der Bekleidungsproduktion wird als passive Lohnveredlung oder heute vorherrschend als so genanntes Vollgeschäft getätigt, womit eine komplette Beschaffung der Ware aus dem Ausland im Gegensatz zur (Teil-)Fertigung im Ausland gemeint ist (vgl. Mecheels 2010).

2.2 Ausbildungsberufe im Berufsfeld Textil und Mode

Insgesamt können Jugendliche und junge Erwachsenen aus einer Gesamtzahl von 328 anerkannten dualen Ausbildungsberufen auswählen (vgl. Bundesinstitut für berufliche Bildung 2014). Die aktuellen Ausbildungsberufe der Textil- und Modeindustrie umfassen eine kleine, übersichtliche und recht deutlich abgrenzbare Berufsgruppe mit derzeit 27 industriellen und handwerklichen sowie auch Splitterberufen, die in den vergangenen Jahren neu geordnet und aktualisiert worden sind (vgl. Grundmeier/Reuter 2013, 694ff.). Die umfassenden Neuordnungsverfahren dienen der Sicherung einer breiten, flexiblen und qualifizierten Ausbildung von Nachwuchskräften in der Textil- und Bekleidungswirtschaft, um Produkt- und Prozessinnovationen gewachsen zu sein und die Wettbewerbsfähigkeit der Textil- und Bekleidungsunternehmen auf dem globalen Weltmarkt zu erhalten und zu fördern. Die Textil- und Bekleidungsindustrie kann daher auf eine Reihe an Ausbildungsberufen verweisen, die Jugendlichen eine Perspektive bieten: Maschinen- und Anlageführer/in Textiltechnik oder Textilveredlung, Produktionsmechaniker/in, Textillaborant/in, Produktprüfer/in, Produktveredler/in, Produktgestalter/in, Technische/r Konfektionär/in, Textilreiniger/in Modenäher/in, Modeschneider/in (vgl. Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie 2014b). Die textiltechnischen Ausbildungsberufe sind bezüglich der geforderten Kompetenzen im naturwissenschaftlich-technischen Bereich einzuordnen und könnten daher zu den sog. MINT-Berufen gezählt werden (MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik), werden jedoch häufig außerhalb der Branche nicht als solche wahrgenommen.

Insgesamt konnte die Textil- und Bekleidungsindustrie im Jahr 2013 mehr als 1800 Ausbildungsverträge verzeichnen. Die Verteilung der Ausbildungsverträge (s. Abbildung 1) zeigt, dass über ein Viertel den bekleidungstechnischen Ausbildungsberufen Modenäher/in und Modeschneider/in zuzuordnen sind. Jedoch sind auch die technisch-orientierten Berufe stark vertreten, insbesondere der Ausbildungsberuf zum/zur Produktionsmechaniker/in und zum/zur Maschinen- und Anlageführer/in. Angesichts des hohen Marktanteils an technischen Textilien, die in Deutschland produziert werden, bieten vor allem die textiltechnischen Ausbildungsberufe den Jugendlichen Chancen auf dem inländischen Arbeitsmarkt.

Abbildung 1: Ausbildungsverträge in der Textil- und Bekleidungsindustrie im Jahr 2013 (Gesamt N=1838). (Nicht enthalten sind die Ausbildungsberufe des Handwerks, z. B. im Bereich der Lederherstellung) (Gesamtverband der deutschen Textil und Modeindustrie e.V. 2014a)Abbildung 1: Ausbildungsverträge in der Textil- und Bekleidungsindustrie im Jahr 2013 (Gesamt N=1838). (Nicht enthalten sind die Ausbildungsberufe des Handwerks, z. B. im Bereich der Lederherstellung) (Gesamtverband der deutschen Textil und Modeindustrie e.V. 2014a)

2.3 Die Textil- und Bekleidungsindustrie im Wettbewerb um Auszubildende

Die Unternehmen der Textil- und Bekleidungsindustrie stehen heute aufgrund des Fachkräftemangels mehr denn je mit anderen Branchen im Wettbewerb um qualifizierte Auszubildende und Fachkräfte. Zudem sind Berufe in der Textil- und Modeindustrie in ihrer Vielfalt Lehrpersonen und Schülern der allgemein bildenden Schulen selten bekannt. Es ist davon auszugehen, dass die meisten Lehrkräfte zahlreiche der über 300 Ausbildungsberufe in Deutschland nicht kennen, weshalb sie in der Phase der Berufsorientierung ihrer Schülerklientel nur ein eingeschränktes Spektrum vermitteln können. So kommt es, dass bestimmte Ausbildungsberufe insbesondere im gewerblichen Bereich in weniger populären Branchen von den Jugendlichen nicht in ihre Berufswahl einbezogen werden. Hinzu kommt, dass Jugendliche zunehmend den Weg einer weiterführenden schulischen Laufbahn und Studienorientierung wählen (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2014, 47ff.). So treten Passungsprobleme zutage, bei denen eine hohe Zahl suchender Jugendlicher einer hohen Zahl an offenen Ausbildungsstellen gegenübersteht (vgl. Matthes/Ulrich 2014; Matthes et al. 2014).

Eine kürzlich von der Universität Münster durchgeführte Befragung von 700 Bewohnerinnen und Bewohnern von Nordrhein-Westfalen im Alter von 14 bis 40 Jahren zum Image der Textilbranche hat zum Ziel herauszufinden, mit welchen Maßnahmen die Textilbranche ihr Image verbessern kann, um junge Fachkräfte und Auszubildende zu rekrutieren. „Hier lässt sich feststellen, dass der Bereich der Bekleidung eher ein negatives Image aufweist. Für den Bereich der Heim- und Haustextilien ist es durchwachsen. Das Image der Technischen Textilien ist in Relation zu anderen Branchen eigentlich gut. Das Problem liegt eher darin, dass die Befragten zwar ein grundsätzlich positives Bild vom Bereich der Technischen Textilien haben. Bei den Probanden überwiegt insgesamt allerdings auch das Gefühl, kaum etwas über die Branche zu wissen. Umgekehrt verhält es sich im Bereich der Bekleidung.“ Die Forschungsstelle für allgemeine und textile Marktwirtschaft empfiehlt deshalb eine verstärkte Aufklärung und Information der Zielgruppe (vgl. Verband der Nordwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie e.V. 2014, 56f.).

In der Imagebefragung sind drei Merkmale identifiziert worden, die das Image der Textilbranche ausmachen: Neben der Entwicklungsperspektive (Karrieremöglichkeiten, Arbeitsplatzsicherheit, Gehalt) und der Tätigkeit, wurde die Öffentlichkeitswirkung, die von der Branche ausgeht, als Faktor, der sich auf das Image auswirkt, identifiziert (vgl. Marwick-Ebner 2014). Die Branche dient als Kriterium der Vorselektion für eine Bewerbung (vgl. Verband der Nordwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie e.V. 2014, 56f.). Da bei der Berufswahl neben Interesse unbewusst Prestige und Geschlechtszuschreibungen die Auswahl akzeptabler Berufe einschränken (vgl. Gottfredson 1981, zit. in Steinritz/Kayser/Ziegler 2014), dürfte das Image einer Branche ein nicht unerheblicher Faktor bei der Entscheidung Jugendlicher für einen Ausbildungsberuf in der Branche sein.

Die Textilindustrie hat es vor diesem Hintergrund nicht leicht, ihre Ausbildungsstellen mit qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern zu besetzen. Die Branche hat einen starken Strukturwandel in den letzten Jahren durchlaufen und das Image hinkt der Entwicklung hin zu einer innovativen Branche im Bereich der technischen Textilien hinterher. Da sich Jugendliche bei ihrer Berufswahl an den ihnen bekannten Berufen orientieren, ist es für eine Berufswahlentscheidung wichtig, ihnen einen Überblick über die Struktur der Ausbildungswege zu geben und Branchen, Berufe und Fächer aufzuzeigen. Die Online-Imagekampagne Go Textile! (Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie 2014c) ist als Informationsquelle für Ausbildungsberufe in der Bekleidungs- und Textilindustrie entwickelt worden, um interessierten Jugendlichen eine berufsfeldbezogene Orientierung mit Unternehmensinformationen und Ansprechpartnern in den Ausbildungsbetrieben zu bieten. Lehrkräfte können daran mitwirken, dass Jugendliche die beruflichen Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten in der Textil- und Modeindustrie in ihrem Berufswahlprozess berücksichtigen. Hierzu ist es notwendig, die Fachlehrkräfte zu sensibilisieren und ihnen entsprechende Materialien zur Verfügung zu stellen.

3 Berufsorientierungspfad für textile Ausbildungsberufe

3.1 Forschend-entdeckendes, experimentelles Lernen mit Textilien

An der PH Freiburg werden derzeit verschiedene Materialien entwickelt, um es Akteuren der Berufsorientierung zu erleichtern, Schülerinnen und Schülern moderne Ausbildungsberufe in der Bekleidungs- und Textilbranche nahe zu bringen. Um Jugendliche der Sekundarstufe I für das Berufsfeld Textil und Mode zu interessieren, wird im Rahmen eines Promotionsvorhabens ein mobiler TEXperten®-Koffer entwickelt. Die 20 Experimente des TEXperten®-Koffers bieten Fachlehrkräften die Möglichkeit, handlungsorientiert mit modernen Textilien im textilbezogenen oder naturwissenschaftlichen Unterricht zu agieren und auf berufliche Ausbildungsmöglichkeiten hinzuweisen. Weiterhin ist unter dem Titel Let’s Go Textile! (Grundmeier 2014) eine Broschüre für Jugendliche entstanden, die über Ausbildungs- und Weiterbindungschancen im Berufsfeld Textil und Mode informiert. Derzeit wird ein Berufsorientierungstest entwickelt, mit dem Schülerinnen und Schüler kompetenzorientiert ihre Eignung für einen Ausbildungsberuf testen können. Der Test wurde an acht Sekundarschulen im Freiburger Raum erprobt und soll als Online-Test über den Gesamtverband textil+mode öffentlich zugänglich gemacht werden.

Im Zeitraum von vier Semestern (Wintersemester (WS) 2011/12 bis Sommersemester (SS) 2013) bot der Fachbereich Textil und Mode der PH Freiburg die Seminarreihe „Aktuelle Aspekte der textilen Wertschöpfungskette: Forschend-entdeckendes, experimentelles Lernen mit Textilien im Fächerverbund“ für Lehramtsstudierende an, die zum Ziel hatte, im Sinne des forschend-entdeckenden Lernens insbesondere die Kompetenzen der Studierenden im Planen und Durchführen von Experimenten mit funktionellen Textilien zu fördern. Ausgehend von (selbst) gestellten naturwissenschaftlichen Fragen oder Problemen entwickeln und planen die Studierenden beim forschend-entdeckenden Lernen eigene Untersuchungen. Forschend-entdeckendes Lernen fördert daher insbesondere prozessbezogene Kompetenzen, die beim naturwissenschaftlichen Experimentieren eine große Rolle spielen: Beobachten, Erkunden, Explorieren, Vermuten, Messen, Vergleichen, Ordnen, Experimentieren, Prüfen, Diskutieren, Interpretieren, Modellieren, Recherchieren und Kommunizieren (vgl. Höttecke 2010). Über diese didaktisch-methodische Vorgehensweise wurde die Entwicklung von Materialien angestrebt, um Jugendlichen der Sekundarstufe I eine handlungsorientierte Auseinandersetzung mit modernen textilen Materialien zu ermöglichen und sie für Ausbildungsberufe im Berufsfeld Textil und Mode zu interessieren.

In den ersten beiden Veranstaltungen im WS 2011/12 und SS 2012 entwickelten die Lehramtsstudierenden zunächst für eine ursprünglich geplante TEXperten®-Box ein Set halbstündiger naturwissenschaftlich orientierter Experimente, die funktionelle Eigenschaften textiler Materialien erfahrbar machen sollen (vgl. Grundmeier/Gehlen 2012; Gehlen/Grundmeier/Friedrich 2013). Die Experimente wurden im WS 2012/13 in Verbindung mit den modernen Ausbildungsberufen gebracht und zu einem Berufsorientierungspfad weiter entwickelt. Ziel eines Berufsorientierungspfades ist es, Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, selbstständig typische Tätigkeiten unterschiedlicher Ausbildungsberufe an Stationen durchzuführen, um Neigungen und Fähigkeiten zu erkennen und zu erweitern (vgl. Startpunkt Schule 2008, 21). Die engen Berufsbezüge des Berufsorientierungspfads wurden für die Entwicklung eines mobilen TEXperten®-Koffers zugunsten eines flexibleren branchenbezogenen Modells wieder gelöst (siehe Abbildung 2). Für einen flexibleren Einsatz der Experimente in der Schule wurde das fachbezogene, arbeitsblattbasierte Format dabei im SS 2013 in ein kürzeres Hands-on Format transformiert. Dieses Format kennen Schülerinnen und Schüler aus dem Bereich der sogenannten Freihandversuche im Physikunterricht. Im Unterschied zu klassischen Laborversuchen können Jugendliche die Versuche leicht selbst durchführen, sie also handhaben. Mit spielerischen und überraschenden Elementen dienen Freihandversuche dazu, einen neuen Blick auf Alltägliches zu generieren und dabei fachliches Interesse zu wecken (vgl. Schlichting 2000).

 Abbildung 2: Seminar zur Entwicklung eines Berufsorientierungspfads im Rahmen der Entwicklung des TEXperten®-KoffersAbbildung 2: Seminar zur Entwicklung eines Berufsorientierungspfads im Rahmen der Entwicklung des TEXperten®-Koffers

3.2 Entwicklung eines Berufsorientierungspfads

Auch wenn die Entwicklung des Berufsorientierungspfads nur als ein Zwischenschritt der iterativen Entwicklung des TEXperten®-Koffers angesehen werden kann, so ist dieser Entwicklungsschritt doch vor dem Hintergrund interessant, als dass der Lernprozess der Studierenden vertiefend ausgewertet und verfolgt werden konnte, da die Veranstaltungsteilnehmenden anhand von Lerntagebüchern ihre Erfahrungen schriftlich reflektierten. Diese Aufzeichnungen wurden im Hinblick auf die Fragestellung ausgewertet, welche Präkonzepte im Bereich Textil und der textilen Ausbildungsberufe vorhanden sind und welche Lernprozesse durch die Materialien zutage treten.

Das zweistündige Seminar im WS 2012/13 gliederte sich in zwei Blöcke: Im ersten Block setzten sich die Studierenden zunächst mit der theoretischen Fundierung für die Konzeption von Experimenten auseinander. So erhielten sie eine Orientierung, welche experimentellen Kompetenzen für naturwissenschaftliches Experimentieren wichtig sind. Dazu gehören die Entwicklung von Fragestellungen, das Aufstellen von Vermutungen, die Hypothesenbildung, die Planung des Experiments und ein funktionsfähiger Versuchsaufbau, das Messen, Dokumentieren und Aufbereiten von Daten sowie das Schlüsse Ziehen und Diskutieren (vgl. Nawrath/Maiseyenka/Schecker 2011). Indem sie die bereits in den beiden vorherigen Semestern entwickelten textilen Experimente ausprobierten und optimierten, erhielten sie eine Vorstellung davon, wie solche Experimente konzipiert, durchgeführt und im Rahmen des Stationenlernens eingesetzt werden können (vgl. Poppe 1991; Graf 2011). Zum Abschluss des ersten Seminarblocks, der sieben von vierzehn Doppelstunden umfasste, leiteten die Studierenden Schülerinnen und Schüler einer achten Realschulklasse beim Experimentieren an und beobachteten einzelne in ihrer Vorgehensweise. Die Schülerinnen und Schüler bewerteten die Experimente mit der Notenskala von 1 bis 6 und begründeten ihre Benotung. Anschließend erstellten die Studierenden auf ihrer Beobachtungsbasis individuelle Lerngeschichten, die den Schülerinnen und Schülern zugesendet wurden (siehe Abbildung 3). Lerngeschichten beschreiben narrativ das beobachtete Vorgehen beim Lernen. Sie bewegen sich auf der persönlichen Ebene und beschreiben daher auch Fragen, Vermutungen und Gefühle der beobachtenden Person (vgl. Haas 2012, 58f.). Diese Methode, die aus der frühpädagogischen Praxis stammt, schulte die Studierenden darin, die Ebene der Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit den Experimentiermaterialien genau zu beobachten und ihre Wahrnehmungen zu artikulieren (vgl. Schäfer 2004).

Abbildung 3: Konzept Block I Seminar zur Entwicklung eines Berufsorientierungspfads für textile Ausbildungsberufe – Vorbereitung der EntwicklungAbbildung 3: Konzept Block I Seminar zur Entwicklung eines Berufsorientierungspfads für textile Ausbildungsberufe – Vorbereitung der Entwicklung

Im zweiten Block erhielten die Studierenden die Aufgabe, sich im Team mit einem textilen Ausbildungsberuf auseinanderzusetzen und ein Experiment zu entwickeln, das einen Bezug zu diesem Ausbildungsberuf herstellt. Wie in Abbildung 4 veranschaulicht, entwickelten sie innerhalb von weiteren sieben Doppelstunden in einer Kleingruppe ein Experiment, das sich auf einen Ausbildungsberuf der Textil- und Bekleidungsindustrie bezog. Als Basis wurden die Berufe herangezogen, die in der Webseite der Kampagne Go Textile! des Gesamtverbandes textil+mode dargestellt sind.

Die Studierenden setzten sich zunächst mit dem Beruf ausführlich auseinander. Dann konzipierten sie im Zweierteam ein Experiment, das Schülerinnen und Schülern einen praktischen Bezug zum Beruf ermöglicht. Die Grobplanung wurde mit der Seminarleitung abgestimmt. Anschließend erfolgten die Feinplanung (Materialien, Ablauf, Arbeitsblattentwurf) und eine erste Erprobung. Wenn die Gruppe mit ihrem Experiment zufrieden war und die Durchführung aus ihrer Sicht in der Wiederholung funktionierte, erprobte sie es mit einem anderen studentischen Team als sogenanntes Peer Review und erhielt dabei wertvolle Anregungen zum Ablauf und ggf. Verbesserungsvorschläge nicht nur hinsichtlich der Verständlichkeit, Vorgehensweise und Konzeption, sondern auch bezogen auf die Anleitung und Dokumentation im Arbeitsblatt. Durch die gegenseitigen Beobachtungen beim Experimentieren mit der Gruppe und das Fremdfeedback durch eine andere Studierendengruppe konnten die Experimente im Verlauf des Seminars immer weiter verbessert werden. Zum Abschluss des Seminars erprobten die Studierenden ihre Experimente im Berufsorientierungspfad mit Schülerinnen und Schülern einer 9. Realschulklasse und konnten auf diese Weise durch eigene Beobachtungen Erfahrungen sammeln, wie ihre Experimente und Arbeitsblätter von der potenziellen Zielgruppe aufgenommen werden.

Abbildung 4: Konzept Block II Seminar: Entwicklung des Berufsorientierungspfads für textile AusbildungsberufeAbbildung 4: Konzept Block II Seminar: Entwicklung des Berufsorientierungspfads für textile Ausbildungsberufe

Die Studierenden entwickelten im Laufe von sechs Wochen zu den gewählten Ausbildungsberufen die folgenden neun Experimentierstationen (siehe Tabelle 1):

Tabelle 1 Übersicht der Berufe und Experimente des textilen Berufsorientierungspfads:

Ausbildungsberuf Experiment Kurzbeschreibung
Modenäher/in, Modeschneider/in Explore
Textiles
Haptische und optische Textileigenschaften erfassen und benennen
Produktgestalter/in Muster und
Rapport
Mustergestaltung mit Einzelformen
  Hochdruck Hochdruck am Prinzip der verlorenen Form
Technische/r Konfektionär/in Imprägnieren Imprägnierung mit Silikonen
Produktprüfer/in Fehlerprüfung Fehleridentifikation
und deren Behebung
Produktveredler/in Herstellung eines Kräuselkrepps Laugieren mit Natronlauge
Textillaborant/in Faserprüfung Identifikation tierischer und pflanzlicher Fasern
Textilreiniger/in Fleck-weg
Experiment
Entfernung typischer Flecken auf Bekleidung
Seiler/in Seilprüfung Bestandteile und Produktion eines Seils

Die Gruppeneinteilung erfolgte nach einer freiwilligen Meldung. So kam es, dass der Beruf des Produktgestalters/der Produktgestalterin mit zwei Gruppen besetzt wurde und sich für den Beruf des Produktionsmechanikers/der Produktionsmechanikerin Textil kein Team entscheiden konnte. Dadurch ergab sich die Situation, dass dieser textile Ausbildungsberuf, der gemäß der Ausbildungsverträge 2013 am bedeutendsten ist (vgl. Abbildung 1), nicht gewählt wurde. Hintergrund könnte sein, dass die Studierenden hierzu keinen Bezug haben und sich nichts unter diesem Beruf vorstellen können. Außerdem könnte ihnen die Herausforderung, hierzu ohne entsprechende technische Ausstattung ein Experiment zu entwickeln, als zu groß erschienen sein.

Die geforderten Bezüge zu den Berufen in den Arbeitsblättern bzw. Experimenten lösten die Teams unterschiedlich: Zum Beispiel enthielt das Experiment Textilien experimentell bestimmen (Faserprüfung) eine Aufgabenstellung, die Schülerinnen und Schüler in die Rolle des/der Textillaboranten/in schlüpfen ließen (siehe Abbildung 5).

Abbildung 5: Beispiel für den Berufsbezug im Arbeitsblatt des/der Textillaborant/inAbbildung 5: Beispiel für den Berufsbezug im Arbeitsblatt des/der Textillaborant/in

Andere Gruppen skizzierten im Arbeitsblatt kurz das Kompetenzprofil des Berufes, auf den sie sich bezogen,. beispielsweise auf den des Produktprüfers/der Produktprüferin oder des Modenähers/der Modenäherin bzw. des Modeschneiders/der Modeschneider/in.

Das Konzept der Experimente als Berufsorientierungspfad wurde beim Girls´ Day 2013 der Pädagogischen Hochschule Freiburg eingesetzt und die teilnehmenden Sekundarstufenschülerinnen wurden anschließend zu ihren Berufsvorstellungen befragt (vgl. Gehlen/Baum 2013). Obwohl das Konzept erfolgversprechend insbesondere für den Fachunterricht oder fächerübergreifenden Unterricht war, wurde von einer Weiterentwicklung des naturwissenschaftlich orientierten und materialaufwändigen anspruchsvollen Box-Formats zugunsten eines flexibler einsetzbaren mobilen Experimentierkoffers abgesehen.

Im Folgenden soll insbesondere über die Erfahrungen der Lehramtsstudierenden im Seminar vom WS 2012/13 im Rahmen der Entwicklung eines Berufsorientierungspfads für textile Ausbildungsberufe (gelb markierter Zwischenschritt in Abbildung 2) und SS 2013 anhand von Äußerungen der Studierenden in ihren Lerntagebüchern berichtet werden. Für diese Aufgabe erhielten sie zu Anfang des Seminars Leitfragen für ihren Reflexionsprozess und Hintergrundinformationen zur Orientierung darüber, in welchem Rahmen die Lerntagebücher ausgewertet und verwendet werden (vgl. Rambow/Nückles 2009; o. V. 2009). Den Studierenden war bewusst, dass die Lerntagebücher der Seminarleitung zur Einsicht in persönliche Lernprozesse dienen und anonymisiert ausgewertet werden sollten. Insofern unterlagen die Reflexionen einer persönlichen Entscheidung darüber, wieviel und was persönlich preisgegeben werden sollte.

Die begleitende Reflexion des Auseinandersetzungsprozesses mit den Experimenten und Berufen wurde von den Studierenden im Lerntagebuch dokumentiert und konnte im Hinblick auf die Lernprozesse in der Auseinandersetzung mit der Fachtheorie, im Umgang mit den Experimenten und bei der Entwicklung der Schülerarbeitsmaterialien ausgewertet werden. Die Lerntagebuchmethode unterstützte die prozessorientierte Methodik des Seminars, indem neben die Ergebnisorientierung auch konzeptuelle Überlegungen und Rahmenbedingungen der Entwicklung zu Tage traten. Im Folgenden werden die ausgewählten Ergebnisse der Erfahrungen in den Seminaren im WS 2012/13 und SS 2013 dargestellt, die Aufschluss über die Lehr- und Lernprozesse der teilnehmenden Lehramtsstudierenden, ihr Interesse an dem Seminar und ihre Motivation geben.

4 Ausgewählte Kommentare zum Experimentieren und zu den textilen Ausbildungsberufen

4.1 Faszination durch experimentelle Fachpraxis

Die Seminare wurden im mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächerverbund sowohl für Lehramtsstudierende des Studienfachs Haushalt und Textil als auch Studierende anderer Studienfächer dieses Fächerverbunds (Mathematik, Chemie, Physik, Technik usw.) als fächerübergreifende Veranstaltungen angeboten. Die angebotenen 20 Plätze pro Veranstaltung waren in allen vier Semestern schnell belegt und mussten wegen der starken Nachfrage zum Teil noch erhöht werden. Insgesamt nahmen in den vier Semestern 107 Studierende das Seminarangebot wahr. Die Studierenden des Realschul-, Grund- und Hauptschullehramtes hatten großes Interesse, sich mit der praxisbezogenen Thematik auseinanderzusetzen und waren durchgehend sehr motiviert. Ihr Interesse und ihre Motivation sind durch entsprechende Kommentare in den Lerntagebüchern belegt, die im Folgenden auszugsweise zitiert werden. Es wurden als Leistungsnachweis in zwei Seminaren Lerntagebücher verfasst, in deren fachlichem Fokus nicht so sehr die Entwicklung der textilen Experimente, sondern die Durchführung und Evaluierung derselben stand. Aus den insgesamt 49 vorliegenden Lerntagebüchern werden einzelne Aussagen zitiert, die die Einstellungen der Studierenden dokumentieren.

Zu Beginn des Seminars interviewten sich die Studierenden gegenseitig zu ihren Vorerfahrungen und Zielen. Sie formulierten ihr wichtigstes Lernziel für das Seminar und visualisierten es auf einer Moderationskarte. Die Kartenabfrage zeigte, dass eine der Hauptmotivationen der Studierenden war, praktisch zu arbeiten und sich ein Repertoire an Experimenten anzueignen, die sie im späteren Berufsleben als Lehrkräfte durchführen könnten (siehe Abbildung 6).

Abbildung 6: Beispiele der Visualisierungen von Lernzielen von Lehramtsstudierenden (Kartenabfrage)Abbildung 6: Beispiele der Visualisierungen von Lernzielen von Lehramtsstudierenden (Kartenabfrage)

„In der ersten Sitzung, fand ich total klasse, dass wir uns über die Lernziele Gedanken machen mussten. Meist kommt man in ein Seminar und weiß nicht einmal genau den ausgeschriebenen Seminartitel. (…) Ich möchte bei Experimenten zu der Motivation gelangen zum genaueren Hinsehen. Auf meiner Karteikarte hab ich dies bildlich mit einer Lupe dargestellt. Vor allem möchte ich so viele wie mögliche schultaugliche Experimente mit in meinen Erfahrungskoffer nehmen, welche leicht in der Schule umsetzbar sind. (…) Ich hoffe natürlich ein kleines Repertoire für den Schulalltag mit Textilien und Chemikalien zu bekommen.“ (Lehramtsstudierende V. S., 7. Semester Grundschullehramt (Sport, Haushalt und Textil, Mathematik), Lerntagebucheintrag vom 10.4.2013, S. 3)

In den Lerntagebüchern wird ersichtlich, dass aus Sicht der Lehramtsstudierenden im Studium überwiegend theoriegeleitet gelernt wird, um sich eine breite theoretische Fundierung für die spätere pädagogische Arbeit anzueignen. Dennoch wünschen sie sich bereits im Lehramtsstudium eine hohe Praxisorientierung. Dieser Wunsch nach mehr Praxis im Studium wird in den folgenden Zitaten deutlich:

„Als ich herausfand, dass es ein stark praxisorientiertes Seminar ist, habe ich mich sehr gefreut, da man im Studium nur selten spezifische Anleitungen für handlungsorientierten Unterricht bekommt. Zwar erhält man theoretische Informationen, was darunter zu verstehen ist, aber selten kommt es zur Erarbeitung und Durchführung solcher Methoden. Gerade auch im Fach „Haushalts- und Textilwissenschaften“ habe ich bisher nur wenige Methoden ausprobieren können.“ (Lehramtsstudierende D. F., 8. Semester, Grundschullehramt (Biologie, Deutsch, Englisch, Haushalt und Textil), Lerntagebucheintrag vom 17.4.2013, S. 2)

„Auch wenn man einen Blick in den Bildungsplan wirft ist ersichtlich, dass Lehrer im Bereich Textil, Erfahrungen im Experimentieren erlangen müssen. Das war mir bisher noch nicht bekannt. Daher fühl ich mich als eine der glücklichen Seminarteilnehmerinnen, die noch nachträglich einen Platz ergattert haben.“ (Lehramtsstudierende V. S., 7. Semester Grundschullehramt (Sport, Haushalt und Textil, Mathematik), Lerntagebucheintrag vom 10.4.2013, S. 3)

Die anonyme Abschlussbefragung der Seminarteilnehmenden mit einem Online-Fragebogen im SS 2013 zeigte auf, dass die Studierenden insbesondere den Praxisbezug gut fanden. Auf die Frage: Was fanden Sie gut? antworteten acht Studierende mit praxisbezogenen Aspekten: „Praxisorientiert“ (2 Nennungen), „Praxisbezug“, „viele praktische Aspekte“, „Das Seminar hatte viel Praxis, - auch umsetzbar in der Schule (habe Ideen bekommen, wie man es in der Schule durchführen kann)“, „Umsetzung an Science Night, praxisorientiert!“, „Praxisorientiert: anschauliche Experimente, Ziel: Durchführung mit Kindern.

4.2 Vom Präkonzept zum modernen Textilbegriff

Da es sich um eine fächerübergreifende Veranstaltung handelte und nicht von dem gleichen textilbezogenen Wissensstand ausgegangen werden konnte, war es zunächst wichtig, ein Grundverständnis für den Begriff Textil herzustellen. Das Antwortspektrum der Frage, was sie unter dem Begriff „Textil“ verstehen, beschränkt sich bei den Studierenden zu Anfang des Seminars vielfach auf den Sektor Bekleidung und Heimtextilien. Dass technische Textilien, die in Deutschland ein wichtiger Sektor sind, auch zur Textilbranche gehören, ist ihnen zunächst weitgehend nicht bewusst.

„Bereits der Einstieg ‚Was ist Textil‘ warf bei mir und meinen Kommilitonen einige Fragen auf. So kamen wir bei der ersten Ideensammlung auch nicht über Begriffe wie ‚Stoff, Bekleidung, Heimtextilien‘ und einige Methoden der Handarbeit nicht hinaus. Der anschließende Kurzfilm [auf der Webseite von go-texile] machte jedoch schnell klar, dass Textilien viel mehr sind als das. Viele der angeführten Verwendungsfelder überraschten mich, waren nach einigem Nachdenken aber nachvollziehbar und offensichtlich. Jedoch müssen Erwachsene und vor allem auch Kinder und Jugendliche zu diesem Nachdenken angeregt werden. Es muss vermittelt werden, dass Textilien in sehr vielen technischen und chemischen Bereichen ihre Verwendung finden und weitaus mehr Funktionen haben, als zu wärmen und zu dekorieren.“ (Lehramtsstudentin K. L., 8. Semester, Schwerpunkt Grundschule (Haushalt und Textil, Englisch, Deutsch, Soz./Pol.) Lerntagebucheintrag vom 17.04.2013, 1)

Wenn Fachlehrkräfte Schülerinnen und Schüler über textile Ausbildungsberufe informieren sollen, ist zunächst wichtig, die Präkonzepte aufzugreifen und zu erweitern. Wie in der Imagestudie aufgezeigt, verbinden auch Lehramtsstudierende mit dem Begriff „Textil“ weitgehend das Segment der Bekleidung, was vermutlich auf die überwiegende Erfahrung mit Textilien in Form von Bekleidung zurückzuführen ist. Im Seminar war es deshalb auch ein Ziel, die modernen Eigenschaftsprofile und Anforderungen an Textilien erfahrbar zu machen und die beiden Segmente der Haus- und Heimtextilien und v.a. der technischen Textilien in den Blick zu rücken.

In der abschließenden Befragung der Seminarreihe wurde den Studierenden die Frage gestellt: Was ist Textil? Die Antworten zeigten, daß sich die Präkonzepte erweitert hatten: „mehr als man denkt!“, „vielfältig einsetzbar“, „Vielfalt“ „vielseitiger als gedacht“, „viel mehr als ich dachte“, „sehr umfassender Begriff, welcher in vielen Bereichen eine Rolle spielt und somit unterschiedliche Bedeutungen annimmt. Bereiche: Mode (Kleidung, Accessoires, Schuhe, Taschen), Wohnen (Möbel, Teppiche), PKW, Flugzeuge, Textiltechnik, Berufe (Kleidung usw.), Industrie; …in Form von: Garne, Zwirne, flächenförmige Gebilde (Geflechte, Nähwirke), textile Fasern -- mehr als man denkt!!! Funktion: Schmuck, Kommunikation, Textilkennzeichnungsgesetz“.

4.3 Erweiterung des Berufswahlspektrums

Aus den Lerntagebüchern wird auch ersichtlich, dass sich die Kenntnisse über Berufe im Berufsfeld Textil und Mode im Wesentlichen auf die gestalterischen Berufe der Modeindustrie beschränken. Am präsentesten sind gemäß den Selbstbeobachtungen der Studierenden die Berufe der Modenäher/in und Modeschneider/in sowie der Modedesigner/in:

„In einem 2. Teil des Seminars widmeten wir uns der Frage, was für textile Berufe wir, außer dem herkömmlich, weit verbreiteten Beruf der Schneider/-in oder Designer/-in, überhaupt kennen. Schnell wurde bewusst, dass auch wir nur einen kleinen Einblick in diese Berufswelt erfahren haben. Auch die Fülle der verschiedenen Berufe im textilen Bereich wurde mir durch die Sitzung erst richtig bewusst. Leider hat man dies in der Schule nie richtig erfahren und ich hoffe wir können durch unser Seminar einen Beitrag dazu leisten, die sehr attraktive Textilindustrie den Schülern näher zu bringen.“ (Lehramtsstudierende J. D., 7. Semester, Lehramt Realschule (Biologie, Mathematik, Haushalt und Textil), Lerntagebucheintrag vom 3.12.2012, 1f.)

Ein ähnliches Bild ergab die Auswertung der Befragung von 19 Schülerinnen und Schülern einer 8. Realschulklasse, die im November 2012 zum Experimentieren an die PH Freiburg kam. Eine schriftliche Fragebogenbefragung nach dem Experimentieren enthielt u.a. die Frage: Welchen Beruf im Textilbereich kennst du? Das Spektrum der Antworten umfasste im Wesentlichen die Bekleidungsberufe: Schneider/in (3), Näher/in (5), Designer/in (2), MUM-Lehrerin (Anm.: Lehrkraft für Mensch und Umwelt) (2), Hauswirtschafterin (1), Färber/in (1) und Wäscherei (1).

Zu Anfang der Seminare war es den Lehramtsstudierenden oftmals nicht bewusst, dass es später zu ihren Aufgaben als Lehrkraft gehören wird, eine sinnvolle Berufsorientierung in Zusammenhang mit den von ihnen erteilten Schulfächern zu vermitteln. Sie zeigten sich daher über diese berufliche Anforderung überrascht und nahmen das Angebot positiv an, sich in dem Seminar mit dieser Anforderung vertraut machen zu können. Aus den Reflexionen in den Lerntagebüchern wird deutlich, dass die Motivation der Studierenden groß war, sich mit den Ausbildungsberufen auseinanderzusetzen und die Berufsinformationen im Rahmen einer Experimentiereinheit umzusetzen. Die Beschäftigung mit den berufsorientierenden Inhalten des Seminars führte bei einzelnen Studierenden zu einem biographischen Rückblick ihrer eigenen Berufswahl:

„Ich persönlich kann mir gut vorstellen, meine Schüler bei der Suche nach ihrem Wunschberuf mit solchen Tests zu unterstützen, um ihnen die Berufswahl zu erleichtern. Die große Vielfalt an verschiedenen Berufen, kombiniert mit den wenigen Praktika während der Schulzeit machen es nötig, dass die Schüler auf verschiedene Art und Weisen auf mögliche Berufe aufmerksam gemacht werden, z.B. eben durch solche Berufsorientierungstests. Auch ich wusste lange nicht, welchen Berufszweig ich nach meinem Abitur anstreben möchte und wäre für eine entsprechende Unterstützung von Seiten der Lehrkräfte sehr dankbar gewesen. Außer einer einmaligen "Berufsberatung" und einem dreitägigen(!) Praktikum war es jedoch uns Schülern überlassen, uns selbstständig um eine passende Berufswahl zu kümmern, was so natürlich nur sehr schwer möglich war. Die meisten meiner Mitschüler fingen erst nach dem Abitur an, sich über entsprechende Möglichkeiten zu informieren und Praktika in diversen Bereichen zu machen, da dies, wie erwähnt, während der Schulzeit kaum geleistet werden konnte. Ich hoffe, meine eigenen Schüler bei dieser schwierigen und komplexen Suche nach dem passenden Beruf besser und effektiver zu unterstützen zu können. (Lehramtsstudierende K. L., 8. Semester, Schwerpunkt Grundschule (Haushalt und Textil, Englisch, Deutsch, Soz./Pol.) Lerntagebucheintrag vom 24.04.2013, 4f.)

5 Fazit

Die Praxiserfahrungen, die wir im Rahmen der Entwicklung von textilen Experimenten im Zusammenhang mit der Berufsorientierung mit Lehramtsstudierenden gemacht haben, zeigen, dass das Thema Berufsorientierung im Lehramtsstudium für das allgemein bildende Lehramt eine stärkere Verankerung erfahren sollte gerade im Hinblick darauf, dass in Bundesländen wie Baden-Württemberg die Berufsorientierung eine der Leitperspektiven der zukünftigen Bildungspläne wird. Die Studierenden haben sich in den Lerntagebüchern vorsichtig darüber geäußert, im Rahmen ihres Studiums wenig über nahe stehende Berufe zu ihren Studienfächern erfahren zu haben und sich auch über die Anforderung der Vermittlung von Berufsorientierung in ihren Unterrichtsfächern nicht bewusst zu sein. Hier liegt ein großes Potential in der Verknüpfung von fachlichen und berufsorientierenden Inhalten für die Lehramtsausbildung der ersten und zweiten Phase, aber auch die Lehrerfortbildung.

Die Fachtheorie auch im Hinblick auf die Vermittlung von Berufsorientierung mit einer experimentellen Fachpraxis zu verbinden, stellt einen neuen didaktisch-methodischen Weg für das Berufsfeld Textil und Mode dar. Für die Lehramtsstudierenden hat dieses didaktisch-methodische Konzept des berufsbezogenen experimentellen Lernens mit Textilien die Möglichkeit geboten, neue fachtheoretische und fachpraktische Erfahrungen zu sammeln und mit neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten ihr Selbstkonzept zu erweitern. Der Einsatz des TEXperten®-Koffers kann Lehrkräften eine wertvolle Unterstützung im Textil-Unterricht oder im naturwissenschaftlichen oder berufsorientierenden Unterricht bieten, um Schülerinnen und Schülern textile Eigenschaftsprofile handlungsorientiert zu vermitteln. Textillehrkräfte können ihrer Verantwortung zur Information der Schülerinnen und Schüler über Berufe in ihrem Fach damit leichter nachzukommen.

Die Entwicklung des TEXperten®-Koffers wird unterstützt durch den Gesamtverband textil+mode sowie die Stiftung der Deutschen Wirtschaft, denen wir an dieser Stelle herzlich danken möchten.

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„My Way! Finde deinen Weg“ – ein didaktisches Konzept der schulischen Berufsorientierung als Beitrag zur Förderung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz

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1 Aktuelle Probleme beim Übergang Schule – Beruf

Die Berufseinmündung von jungen Menschen ist in Deutschland in vielerlei Hinsicht in die Diskussion geraten. Trotz einer verbesserten Lage auf dem Lehrstellenmarkt befinden sich immer noch viele junge Menschen im sogenannten Übergangssystem, d. h. in berufsvorbereitenden Maßnahmen, in denen in der Regel kein formaler Berufsbildungsabschluss vermittelt wird. Im Jahr 2013 mündeten mehr als eine Viertelmillion Jugendlicher nach dem Schulabschluss in eine Maßnahme des Übergangssystems ein – und damit mehr als jede/jeder vierte Jugendliche, die/der nach Schulabschluss in einen Sektor der beruflichen Bildung überging (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 98). Die Teilnahme an berufsvorbereitenden Maßnahmen ist jedoch noch lange kein Garant für einen erfolgreichen Übergang an der ersten Schwelle: Von allen Maßnahmenteilnehmenden eines Jahrgangs gelingt – je nach Maßnahme – nur zwischen 50 und 63 % innerhalb des ersten Jahres nach deren Beendigung der Übergang in eine vollqualifizierende Ausbildungsform, d. h. in eine betriebliche, außerbetriebliche oder schulische Ausbildung (Beicht 2011, 79).

Die Probleme der Berufseinmündung sind mit dem Überwinden der ersten Schwelle allerdings noch nicht beendet. Circa ein Viertel aller Auszubildenden bricht die Berufsausbildung ab (BMBF 2014, 52; vgl. Beinke 2011), in einigen Berufen beträgt die Vertragslösungsquote sogar über 50 % (BMBF 2014, 52). Auch im Anschluss an eine erfolgreich absolvierte Ausbildung sind die Ausgebildeten in relevantem Maß von Umbrüchen im Erwerbsleben betroffen. Wolfgang Wittwer (2003, 64–65) geht davon aus, dass die Hälfte aller Dreißigjährigen nicht mehr im erlernten Beruf arbeitet. Friedel Schier (2011, 9) berichtet, dass im Anschluss an die Ausbildung über alle Berufe hinweg nur 55 % der Ausgebildeten im erlernten Beruf verbleiben. Auch aktuell wird prognostiziert, dass viele der Erwerbstätigen nicht im gelernten Beruf bleiben, sondern in ein anderes Berufshauptfeld wechseln (BIBB 2014, 5). Als Faktoren für einen Berufswechsel werden Nicht-Übernahme durch den Ausbildungsbetrieb, Arbeitslosigkeit und der gewählte Ausbildungsberuf selber genannt (IAB 2007, 5). Das klassische dreistufige Modell der Erwerbsbiografie – Schule/Ausbildung, Erwerbsarbeit im erlernten Beruf, Ruhestand – ist somit weitgehend obsolet; stattdessen nehmen sogenannte „atypische“ Erwerbsbiografien zu (Frosch 2010, 2). Diese sind geprägt von unterschiedlichen Übergangsphasen wie befristeten Arbeitsverträgen, Teilarbeitstätigkeiten, Zusatzausbildungen, (zeitlich befristetem) Ausstieg aus dem Beruf oder Wechsel der beruflichen Tätigkeitsfelder und Fachrichtungen.

Der Prozess der Berufseinmündung ist in Deutschland somit ein besonders kritischer Problembereich. Daher werden im Berufsbildungsbericht 2014 der deutschen Bundesregierung die Themen „Duale Ausbildung stärken“, „Berufsorientierung ausbauen“ und „Übergänge in Ausbildung erleichtern“ als zentrale berufsbildungspolitische Maßnahmen genannt (BMBF 2014, 67 ff.).

Die schulische Berufsorientierung nimmt in diesem Zusammenhang einen aktuell wachsenden Stellenwert ein. So sieht der Bildungsplan für Realschulen in Baden-Württemberg vor, dass in den Klassen 5 bis 10 der fächerübergreifende Themenkomplex „Berufsorientierung in der Realschule“ in einem Umfang von mindestens je zwei Jahreswochenstunden, die aus dem Stundenvolumen der beteiligten Fächer entnommen werden, durchgeführt wird (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg[1]). Allerdings wird in der schulischen Berufsorientierung in erster Linie ein „Matching-Ansatz“ („Welcher Beruf passt am besten zu mir?“) verfolgt. Die Schülerinnen und Schüler sollen durch die schulische Berufsorientierung herausfinden, in welchen Berufsfeldern ihre Fähigkeiten und Interessen liegen und sich für entsprechende Ausbildungsberufe bewerben (ebd.). Die Passung zum Wunschberuf ist das ausschlaggebende Kriterium schulischer Berufsorientierung, für die – zugespitzt ausgedrückt – auch eine gewisse „Schubladisierung“ der Schülerinnen und Schüler vorgenommen wird („Du bist der handwerklich-technische Typ!“). Zur Ermittlung der Passung zwischen Person und Beruf wurde ein Verfahren der Potenzialanalyse unter der Bezeichnung „Kompetenzanalyse Profil AC“ (MTO Psychologische Forschung und Beratung (o. J.)) in Zusammenarbeit mit dem Christlichen Jugenddorf Offenburg entwickelt, es wird seit dem Schuljahr 2013/2014 in allen Realschulen in Baden-Württemberg durchgeführt. Ergebnis des Verfahrens ist ein individuelles Kompetenzprofil, das zur weiteren Berufsorientierung dient.

Hier soll nicht dagegen argumentiert werden, dass die Schülerinnen und Schüler sich über ihre Fähigkeiten und Interessen klar werden – ganz im Gegenteil. Nur als alleiniger Bezugspunkt ist die „Orientierung“ an der Passung zum Wunschberuf aus unserer Sicht nicht ausreichend. Explizit oder implizit wird so suggeriert, dass jede ausbildungswillige Person ihren Wunschberuf ergreifen und diesen ihr Leben lang behalten könnte. Eine derartige Geradlinigkeit im Lebenslauf entspricht jedoch (längst) nicht (mehr) der Realität (Eckelt/Schmidt 2014, 6 f.). Die (Konkurrenz-)Situation auf dem Arbeitsmarkt und die Möglichkeit, dass der Ausbildungswunsch nicht erfüllt werden kann und stattdessen eine Notlösung herhalten muss – oder gar die Möglichkeit des generellen Scheiterns auf dem Ausbildungsmarkt –, bleiben in der schulischen Berufsorientierung oft unberücksichtigt. So werden die Jugendlichen bei der Ausbildungsstellensuche unerwartet mit der harten Realität konfrontiert; dies betrifft vor allem Schülerinnen und Schüler mit als geringwertig angesehenen Bildungsabschlüssen, denen als zusätzliche Konkurrenz Schulabgänger/-innen mit höheren Bildungsabschlüssen den Zugang zum erwünschten Ausbildungsplatz verwehren können (ebd., 7).

Wie junge Menschen mit diesen objektiven Herausforderungen umgehen und wie sie in diesem Zusammenhang die aktuelle schulische Berufsorientierung beurteilen, haben wir auf Basis zweier Untersuchungen zu ermitteln versucht. Dies war zum einen die Durchführung einer quantitativen, schriftlichen Befragung von Realschülerinnen und -schülern in Baden-Württemberg und zum anderen die Sekundäranalyse der Längsschnittstudie „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“ der Universität Bremen (Universität Bremen 2000). Die Ergebnisse dieser beiden Untersuchungen sowie die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen zur Entwicklung einer erweiterten  – über Matching-Ansätze hinausreichenden – Berufsorientierung für die Realschule werden im Folgenden dargestellt.

2 Schriftliche Befragung von Realschülerinnen und -schülern der neunten Klasse in Baden-Württemberg

Im Rahmen des Projekts BerufReal wurde von Mai bis Juni 2013 eine Online-Fragebogenerhebung in 24 neunten Klassen aus zwölf Realschulen Baden-Württembergs durchgeführt. Insgesamt nahmen 540 von 650 Schülerinnen und Schüler mit einem durchschnittlichen Alter von 15,3 Jahren an der Erhebung teil. Es konnten 527 Datensätze ausgewertet werden – dies entspricht einer Rücklaufquote von mehr als 80 %.

Die Befragung sollte Aufschluss darüber geben, wo die Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf ihre Berufswahl gerade stehen, welche Hilfen sie sich von der Schule erwarten und wie sie die bisherige Begleitung der Berufsorientierung durch die Schule einschätzen. Ziel der Fragebogenerhebung war also eine Bestandsaufnahme, die als Grundlage für eine mögliche Erweiterung der aktuellen Berufsorientierung dienen sollte. Der dabei eingesetzte Fragebogen enthielt ganz überwiegend Ankreuzmöglichkeiten, jedoch auch einige freie Antwortmöglichkeiten, und umfasste insgesamt 37 Fragen in fünf Abschnitten: 1) Fragen zum Übergang von der Schule in den Beruf; 2) Fragen zu Einflüssen bei der Entscheidung zum Berufsweg; 3) Fragen zum Betriebspraktikum; 4) Einschätzungen zur erlebten Berufsorientierung; 5) Allgemeine Fragen/Angaben zur Person. Wenn die Schülerinnen und Schüler gebeten wurden, zu Aussagen Stellung zu nehmen (z. B.: „Meine Eltern kennen sich gut mit den heutigen beruflichen Möglichkeiten aus“), dann konnten sie dies auf einer vierstufigen Skala (von „trifft völlig zu“ bis „trifft gar nicht zu“) tun.

Die Ergebnisse der Befragung können als aktuelles Blitzlicht auf die Situation von Realschülerinnen und -schülern in Baden-Württemberg angesehen werden, die sich in der Berufseinmündungsphase befinden. Die Befragung ergänzt die Analyse von Sekundärquellen und die Einbeziehung von schulischen Expertinnen und Experten und gibt Hinweise auf Anknüpfungspunkte an das bisher praktizierte Berufsorientierungskonzept BORS – „Berufsorientierung in der Realschule“ in Baden-Württemberg.

Die ausführlichen Befragungsergebnisse sind dargestellt in Petersen et al. (im Erscheinen). Folgende Befragungsergebnisse waren für ein zu entwickelndes didaktisches Konzept der erweiterten Berufsorientierung besonders relevant:

2.1 Wunsch der Schülerinnen und Schüler nach (mehr) Klärungshilfe bzw. personenbezogener Unterstützung durch die schulische Berufsorientierung

Als ein wichtiges Ergebnis der Erhebung wurde festgestellt, dass die befragten Realschülerinnen und -schüler sich bei der Berufsorientierung (mehr) Unterstützung dabei wünschen, für sich selbst die besten beruflichen Möglichkeiten zu finden.

Hierbei erwarten die Schülerinnen und Schüler von der Berufsorientierung, dass diese ihnen in erster Linie als Klärungshilfe für die aktive und selbstständige Suche nach dem „richtigen“ beruflichen Weg dient und ihnen mögliche berufliche Wege aufzeigt.

Dies zeigen die Ergebnisse bei einem der höchstbewerteten Item der gesamten Befragung „Ich möchte, dass ich mit den Angeboten meine Wünsche und Ziele selbst klären und dann berufliche Wege finden kann“ (X=3,15, SD=0,70)[2] sowie dem Item „Ich möchte, dass man/frau meine Wünsche und Fähigkeiten erkennt und mir berufliche Wege aufzeigt“ (X=3,02; SD=0,76).

Ein didaktisches Konzept zur Erweiterung der Berufsorientierung könnte auf den Wunsch der Schülerinnen und Schüler stärker eingehen, Wege und Ziele selbst zu klären, und Unterstützung dabei bieten, ihnen sowohl berufliche Wege aufzuzeigen als auch dabei helfen, die eigenen Fähigkeiten und Stärken kennenzulernen.

2.2 Geringe zugemessene Bedeutung der Peergroup bei der Berufsorientierung

Als weiteres Ergebnis zeichnete sich ab, dass der Peergroup sowie den Mitschülerinnen und Mitschülern bei der Berufsfindung ein relativ geringer Stellenwert beigemessen wird. So sind die befragten Schülerinnen und Schüler der Ansicht, dass ihre Freundinnen und Freunde bei den Entscheidungen für den weiteren Berufsweg eine geringe Bedeutung hatten. Mitschülerinnen und Mitschüler sind dabei sogar noch weniger hilfreich.

Dies belegen die Items zum (relativ geringen) Stellenwert der Peergroup (=2,12; SD=0,867) und der Mitschülerinnen und Mitschüler (=1,84; SD=0,787) bezüglich der Berufsfindung.

Demgegenüber steht die Ansicht, dass insbesondere bei den Freundinnen und Freunden hohe Potenziale in Bezug auf die Einschätzung von Stärken und Schwächen gesehen werden. Das bedeutet, dass der Peergroup durchaus eine stärkere Rolle bei der Berufsorientierung zugeschrieben werden könnte. Dies belegt das Item zur Stärken-Schwächen-Einschätzung: „Freundinnen und Freunde können Stärken und Schwächen gut einschätzen“ (x=3,08; SD=0,729).

Im Rahmen eines didaktischen Konzepts zur Berufsorientierung sollte daher versucht werden, die Peergroup aktiv in den Prozess der Berufsfindung mit einzubeziehen. Durch den Austausch über berufliche Situationen im Klassenverband können Anregungen dazu gegeben werden, diesen Austausch auch außerhalb der Schule umzusetzen.

2.3 Geringe zugemessene Bedeutung der Lehrkräfte bei der Berufsorientierung

Auch den Lehrkräften wird bei der Berufsorientierung und -findung ein geringer Unterstützungsgrad zugemessen.Auf die Frage „Wer hat dir bei deinen Entscheidungen für deinen weiteren Berufsweg geholfen oder hilft dir dabei?“ geben die Schülerinnen und Schüler im Mittel an, dass die Lehrkräfte ihnen bei diesen Entscheidungen „wenig Hilfe“ bieten können (=2,00; SD=0,87).

Dies fällt gerade hinsichtlich der bereits im Schuljahr 2011/12 erfolgten Einführung der „Kompetenzanalyse Profil AC“ [3] in Baden-Württemberg ins Auge, da hier unter anderem auch ein Beratungsgespräch mit der Lehrkraft vorgesehen ist. Hierdurch, und auch durch die explizite Verortung der Berufsorientierung in den Lehrplänen über mehrere Schuljahre hinweg, wäre eine größere Bedeutung der Lehrkräfte bei der Berufsorientierung nahe liegend und wünschenswert.Bei der Entwicklung eines didaktischen Konzepts ist darum zu berücksichtigen, dass hierdurch die Rolle der Lehrkraft im Prozess der Berufsorientierung gestärkt wird.

2.4 Bei den Schülerinnen und Schülern herrscht Informationsbedarf über Chancen und Risiken, Anforderungen und Erträge bei der Ausbildung und Arbeit in Erwerbsberufen

In den empirischen Ergebnissen zeigte sich ein allgemeiner Informationsbedarf bei den Schülerinnen und Schülern in Bezug auf Themen, die über die unmittelbare Berufswahl hinausgehen und die Bestandteil der schulischen Berufsorientierung in Realschulen sein könnten. Vor allem zu folgenden Themen gibt ein beachtlicher Anteil der befragten Schülerinnen und Schüler an, durch die schulische Berufsorientierung keine Informationen erhalten zu haben:

  • demografische Entwicklungen und deren Auswirkungen auf Erwerbstätige (29,2 % der befragten Schülerinnen und Schüler geben an, keine Informationen hierzu erhalten zu haben)
  • unterschiedliche Risiken für Arbeitslosigkeit in Berufen/Branchen (26,9 %)
  • Verhalten im Kündigungsfall (23,9 %)

Teilweise räumen die Schülerinnen und Schüler ein, durch die schulische Berufsorientierung zwar über bestimmte berufs(wahl)spezifische Themen informiert worden zu sein, sehen dies aber als erweiterungsbedürftig an. Dies betrifft insbesondere Themen, die nicht nur mit der unmittelbaren Berufswahl, sondern auch mit dem weiteren Arbeitsleben im Zusammenhang stehen:

  • Verdienstmöglichkeiten während und nach der Ausbildung (33,3 %)
  • Übersicht über Berufe und berufliche Wege sowie Informationen darüber (31,7 %)
  • was in schulischen oder betrieblichen Auswahlverfahren (Eignungstest, Einstellungstest, Assessment-Center …) zu erwarten ist (29,8 %)
  • welche körperlichen und geistigen Fähigkeiten bei verschiedenen Berufswegen mitzubringen sind (29,2 %)
  • wie gut Ausbildungsplatzchancen in verschiedenen Berufen/Branchen sind (28,3 %)
  • welche Schulabschlüsse für welche beruflichen Richtungen notwendig sind (27,7 %)
  • wo zusätzliche Informationen über Berufe/berufliche Möglichkeiten zu finden sind (26,6 %)
  • worauf bei Bewerbungsgesprächen zu achten ist (22,4 %).

Es bietet sich an, diese Punkte in einem didaktischen Konzept zu berücksichtigen, sodass dem Informationsbedarf der Schülerinnen und Schüler ebenso nachgekommen werden kann wie den Erfordernissen „lebenslangen Lernens“ im Kontext späterer Weiterentwicklungen und Umorientierungen.

2.5 Ein Viertel der befragten Realschülerinnen und Realschüler hat einen Migrationshintergrund

Rund 25 % der befragten Schülerinnen und Schüler geben an, einen Migrationshintergrund zu haben. Bei 17 % der Befragten wird zu Hause eine andere Sprache als Deutsch gesprochen und weitere 8 % der Schülerinnen und Schüler geben an, dass zu Hause noch eine weitere Sprache gesprochen wird, allerdings weniger häufig als Deutsch.

Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund war von den befragten Lehrkräften bei weitem nicht so hoch eingeschätzt worden, und es fragt sich, wie dieser Sachverhalt im Unterricht aufgegriffen werden kann. Hierzu empfiehlt es sich, den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sowohl in der Gestaltung als auch im Inhalt zu berücksichtigen. Beispielsweise neigen Jungen (wie nach Angaben der Lehrkräfte die Ergbnisse der Potenzialanalyse Profil AC zeigen (vgl. Kap. 2.7 und Petersen et al. (im Erscheinen)) zu einer eher überschätzenden Selbstbewertung, während Mädchen eher eine realistischere und zurückhaltende Selbsteinschätzung vornehmen – und ein Migrationshintergrund verschärft diese Tendenz noch einmal. Dieser Sachverhalt kann im Unterricht berücksichtigt werden, indem darauf geachtet wird, Personen aus unterschiedlichen Kulturbereichen anzusprechen und keine benachteiligenden Zuordnungen von Personen mit Migrationshintergrund zu einschlägigen Berufen oder Lebenswegen zu treffen.

2.6 Die Genderthematik spielt bei den Schülerinnen und Schülern in verschiedenen Bereichen eine Rolle

Die Ergebnisse aus der Befragung von Schülerinnen und Schülern zeigen, dass Jungen tendenziell schon konkretere Vorstellungen haben, was sie nach der Realschule machen wollen: Während nur 12,5 % der Jungen zum Befragungszeitpunkt noch nicht wissen, welchen Weg sie nach der Realschule einschlagen wollen, trifft dies auf 21,9 % Prozent der Mädchen zu. Ähnliche Ergebnisse ergeben sich beim Anteil derjenigen, die zwar mehrere Ideen und Wünsche für ihre berufliche Laufbahn haben, sich aber (noch) nicht entscheiden können: Bei den Jungen ist dies etwas mehr als ein Viertel (26,9 %) und bei den Mädchen beinahe ein Drittel (32,2 %).

Des Weiteren spiegeln sich bei der Benennung von möglichen fachlichen Richtungen, in welche die Schülerinnen und Schüler gehen wollen, Berufswünsche wider, die genderspezifisch herkömmlichen Erwartungen entsprechen: Bei Jungen ist der Anteil von „Ich will eine gewerblich-technische Berufsfachschule (BFS) besuchen“ mit 37,1 % deutlich größer als bei Mädchen mit 7,5 %. Demgegenüber ist bei Jungen der Anteil von „Ich will eine kaufmännische Berufsfachschule (BFS) besuchen“ mit 19,7 % kleiner als bei den Mädchen mit 28,2 %. Deutlich geringer ist bei Jungen der Anteil (4,9 %) von „Ich will eine Berufsfachschule (BFS) Fachrichtung Ernährung und Gesundheit besuchen“ als bei Mädchen (18 %). Schließlich fällt bei den Mädchen der Anteil von „Ich will ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) oder etwas Ähnliches machen“ mit 19,2 % deutlich höher aus als bei Jungen (3,8 %). Auffällig ist auch, dass Mädchen viel häufiger den Besuch eines allgemeinbildenden Gymnasiums anstreben als Jungen (26,7 % vs. 13,3 %). Dementsprechend betrachten sie das, was sie nach dem Abschluss der 10. Klasse tun werden, auch eher als einen Weg, um sich schulisch zu verbessern und ihre Ausbildungschancen zu erhöhen (29,0 %) oder als „Überbrückungszeit“, um sich darüber klar zu werden, was sie beruflich machen wollen (26,3 %). Bei Jungen sind dies nur 21,1 % bzw. 9,1 %.

Um der Genderthematik gerecht zu werden, sollte in einem didaktischen Konzept versucht werden, Impulse zum Überdenken dieser klassischen Rollenverteilungen zu geben. Die Schülerinnen und Schüler können etwa anhand von Beispielen dafür sensibilisiert werden, dass sowohl Jungen auch „Frauenberufe“ annehmen können als auch Mädchen „Männerberufe“. Zusätzlich sollte die Genderthematik auch ganz explizit aufgegriffen werden.

2.7 Ergänzende Befragung von Lehrkräften

In Ergänzung zu der quantitativen Befragung von Schülerinnen und Schülern fand zu Beginn der Projektlaufzeit von „BerufReal“ im März 2013 eine schriftliche, qualitative Expertenbefragung von 16 sogenannten Multiplikatorinnen und Multiplikatoren statt – dies sind Lehrkräfte, die im Auftrag des baden-württembergischen Kultusministeriums an der Koordinierung der schulischen Berufsorientierung mitwirken. In dieser Befragung wurden die Wahrnehmung und Umsetzung der gegenwärtigen Berufsorientierung in der Realschule (BORS) aus Sicht der Lehrkräfte ermittelt. Ergebnisse hierbei waren unter anderem, dass nach Erfahrung der Lehrkräfte weniger als die Hälfte der Realschülerinnen und -schüler nach der Realschule eine berufliche Ausbildung beginnt, und zwar tendenziell eher die leistungsschwächeren bzw. schulmüden Schülerinnen und Schüler. Der weitaus größere Teil hingegen besucht anschließend weiterhin die Schule, sei es eine Berufsfachschule, ein Berufskolleg oder ein Gymnasium (beruflich oder allgemeinbildend). Darüber hinaus scheint die familiäre Unterstützung bei der Berufsorientierung im Migrantenelternhaus geringer zu sein als bei Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund, insbesondere wenn dort Sprach-/Verständnisprobleme vorliegen. Leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler sind aus der Sicht der befragten Lehrkräfte bei der Berufsplanung besonders zu fördern, und auch die Eltern sollten in dem Prozess mit berücksichtigt werden. Eine entscheidende Bedeutung bei der Berufswahl werden Personal- und Sozialkompetenzen zugemessen, im Speziellen den Merkmalen Selbstständigkeit und Durchhaltevermögen sowie auch Teamfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit.

3 Sekundäranalyse: Längsschnittstudie „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“ der Universität Bremen

Als weitere Quelle bei der Entwicklung eines erweiterten didaktischen Konzepts zur Berufsorientierung wurden Daten aus dem Archiv für Lebenslaufforschung (ALLF), heute „Qualiservice“[4] der Universität Bremen ausgewertet. Hier stehen vor allem Daten aus dem Sonderforschungsbereich 186 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ (Universität Bremen 2000) für Sekundäranalysen zur Verfügung. Wir haben vor allem die archivierte Längsschnittuntersuchung „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“ (ein Teilprojekt des gesamten DFG-Sonderforschungsbereichs) ausgewertet. Der Datensatz enthält u. A. mehr als 300 transkribierte qualitative Interviews mit jungen Menschen aus den Regionen Bremen und München zur gesamten Statuspassage von der Berufsfindung über die Berufsausbildung bis in die ersten Jahre im Beschäftigungssystem und lässt Schlussfolgerungen hinsichtlich der Orientierungs- und Handlungsmuster bei Berufswahlentscheidungen zu (vgl. Witzel/Kühn 1999). In der Längsschnittstudie wurden die Versuchspersonen in drei Erhebungswellen zwischen 1989 und 1995 mithilfe von Leitfadeninterviews zu ihrem beruflichen und persönlichen Status quo sowie zu ihren Zukunftsplänen befragt. Für den Zweck einer erweiterten – über die unmittelbare Berufswahl hinausreichenden – Berufsorientierung ist diese Längsschnittstudie deshalb besonders relevant, weil hier Informationen über die gesamte Berufseinmündungsphase zur Verfügung stehen.

Bei unserer Sekundäranalyse dieser qualitativen Daten wurden Lebensläufe von ehemaligen Realschülerinnen und -schülern ausgewertet, in der chronischen Reihenfolge der drei Erhebungswellen zusammengefasst und in Aufgabenstellungen für die Berufsorientierung bzw. berufliche und lebensweltliche Umorientierung transformiert („Welche Aufgaben stellen sich jungen Menschen in der Berufseinmündungsphase?“). Die in der Längsschnittstudie gefundenen Umbrüche und berufsbiografischen Besonderheiten wurden dabei berücksichtigt. Bemerkenswert ist die in vielen Interviews zum Ausdruck kommende enge Verbindung von beruflichen Entscheidungen und Problemen mit Kontexten der Partnerschaft, der Familie, des Freundeskreises und des eigenen Wohlergehens wie z. B. Krankheiten. Die inhaltliche Auswertung dieser Interviewstudien floss direkt in die Formulierung von Lernaufgaben mit ein, sodass diese wiederum ein (didaktisch transformiertes) Abbild der (damaligen) Realität darstellen. Exemplarisch ist im Folgenden ein biografisches Kurzprotokoll wiedergegeben, aus dem dann anschließend Lernaufgaben (wie z. B. der Umgang mit der Scheidungsproblematik der Eltern während der Schulzeit und Ausbildung, der Umgang mit der Ausbildung in einem anderen als dem Wunschberuf) abgeleitet wurden.

 Tabelle

Neben den in den Interviews beschriebenen beruflich relevanten Lebenssituationen in der Berufseinmündungsphase wurde ein weiteres Ergebnis aus dem damaligen DFG-Sonderforschungsbereich für unser didaktisches Konzept einer erweiterten Berufsorientierung genutzt und weiterentwickelt: Im Rahmen der Datenauswertung der Längsschnittstudie „Statuspassagen in die Erwerbsarbeit“ war seinerzeit das BARB-Modell (siehe unten) der Selbstsozialisation entwickelt und erprobt worden. Ausgehend von der Frage, wie die Handlungsakteure mit den (äußeren und inneren) Begrenzungen und Möglichkeiten innerhalb ihrer Berufsbiografie umgehen, wird die Nutzung des Deutungs- und Handlungsspielraums in vier Schritte gegliedert (Witzel/Kühn 1999, 16; Fischer/Witzel 2008):

Bilanzierung eines berufsbiografischen Abschnitts, d. h. individuelle Bewertung von Entscheidungs- und Handlungsfolgen, Kontexterfahrungen (Sinnzuschreibungen);

Aspirationen (aus Handlungsbegründungen): Ansprüche, Interessen, Motivation, Handlungsentwürfe, Planungen;

Realisationen: Aussagen über und Umsetzung von konkreten Handlungsschritten gemäß Aspirationen, Augenmerk auf Chancen und Restriktionen;

Bilanzierung (erneute Sinnzuschreibungen der bereits erfolgten Handlungen).

Seinerzeit spiegelte das BARB-Modell vor allem die Logik der Selbstsozialisation wider, die sich hinter den Interviewaussagen erkennen ließ. Diese Logik lässt sich auch didaktisch nutzen: Mit der von uns entwickelten aufgabenorientierten Fassung des BARB-Modells kann die Interaktion von Individuum und Umwelt im Kontext beruflicher Sozialisation erfasst und didaktisch transformiert werden. Zu bilanzieren (wo stehe ich?), Aspirationen zu entwickeln (wo will ich hin?), diese zu realisieren (wie kann ich das umsetzen?) und das Ergebnis erneut zu bilanzieren (was hat das für mich gebracht?) kann als Aufgabenzyklus der vorberuflichen und beruflichen Sozialisation betrachtet werden, dem sich Schülerinnen und Schüler nicht nur in der Schule, sondern auch im späteren Leben häufiger stellen werden.

Auf Basis der skizzierten Forschungsergebnisse,

  • der quantitativen Erhebung in Realschulen sowie der ergänzenden Befragung von Lehrkräften, die über Informations- und Klärungsbedarfe der Schülerinnen und Schüler und die dafür relevanten Anknüpfungspunkte Auskunft gab,
  • der qualitativen Sekundäranalyse der Bremer Längsschnittstudie, die Entscheidungen und Problemsituationen in der Berufseinmündungsphase ehemaliger Realschülerinnen und -schüler deutlich machte,
  • der entwickelten aufgabenorientierten Fassung des BARB-Modells, mit dessen Hilfe die Logik beruflicher Selbstsozialisation in Lernaufgaben des Bilanzierens, Aspirierens, Realisierens und erneuten Bilanzierens transformiert werden können,

stellte sich nun die Frage, wie daraus ein didaktisches Konzept für eine erweiterte Berufsorientierung entwickelt werden könnte.

4 Entwicklung eines didaktischen Konzepts zur Förderung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz

Neben den eingangs erwähnten statistischen Angaben (etwa zu Ausbildungsabbrüchen oder Berufswechseln) zeigt auch unsere Sekundäranalyse der Längsschnittstudie „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“: Nicht nur die erstmalige Berufswahl ist wichtig in der Berufseinmündungsphase, sondern auch der möglichst kompetente Umgang mit Umbrüchen im weiteren Berufs- und Privatleben. In dieser Hinsicht ist von Wolfgang Hendrich (2003) das Konstrukt der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz ins Spiel gebracht worden. Laut Hendrich (2003, 14) ist mit Gestaltungskompetenz „ausdrücklich die Fähigkeit, Alternativen identifizieren und wahrnehmen sowie die eigenen Interessen vertreten zu können“ gemeint. Sich mit diesem Konstrukt näher zu befassen, war Ergebnis unserer Untersuchungen und ist nicht schon von vornherein in die Konzipierung der Erhebungsinstrumente eingeflossen.

Ein weiteres wichtiges Erkennungsmerkmal des Konstrukts der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz ist die Tatsache, dass das Subjekt nicht nur in seinem beruflichen, sondern auch in seinem außerberuflichen (privaten) Kontext betrachtet und dadurch anerkannt wird, dass diese beiden Bereiche eng miteinander verbunden sind und einander bedingen.

Während im Rahmen der schulischen Berufsorientierung das Augenmerk oft nur auf der Berufswahl als solcher liegt und eine erstmalige Entscheidung für eine Ausbildung oder ein Studium als Ziel angesteuert wird, rückt nun mit dem Konzept der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz darüber hinaus die umfassende Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Handelns sowie der eigenen Standortbestimmung (Kaufhold 2009, 226) ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

„Die Gestaltung der eigenen (Berufs-)Biographie erfordert neben fachlichen auch überfachliche Qualifikationen, die eine Person erst in die Lage versetzen, an ihre bisherige berufliche Qualifikation und Erfahrung anzuknüpfen, sie zu verwerten und sich auf neue Erfordernisse einzulassen“ (Kaufhold 2009, 221). Das Subjekt ist in der Lage, sich an den wandelnden Arbeitsmarkt anzupassen und kennt und berücksichtigt dabei seine subjektiven Interessenlagen (Kaufhold 2004, 57).

In diesem Sinn hat Claudia Munz (2005) in zwei Modellversuchen in Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) Maßnahmen der Berufsvorbereitung entwickelt und erprobt, die auf eigenständige Lernkompetenz und biografische Orientierung im Rahmen einer umfassenden Kompetenzorientierung zielen und Fähigkeiten der Selbstpräsentation und des Selbstmarketing bei jungen Menschen fördern.

Ein Missverständnis, das bisweilen mit dem Begriff der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz evoziert wird, sollte jedoch aus unserer Sicht vermieden werden: Es geht nicht darum, die Illusion zu verbreiten, dass „jeder seines Glückes Schmied“ und dies ausschließlich eine Frage individueller Kompetenz sei. Die oben angeführten Gründe für Umbrüche im Berufsleben wie Arbeitslosigkeit oder Nicht-Übernahme durch den Ausbildungsbetrieb zeigen ja gerade, dass derartige Phänomene außerhalb des Einflussbereichs eines einzelnen Individuums liegen können. Es geht daher darum, den Umgang der Individuen mit Problemsituationen im Erwerbsleben zu stärken, und nicht darum, manchen Individuen neben den objektiv vorhandenen Problemen auch noch berufsbiografische Inkompetenz zu attestieren. Ganz ähnlich hat Wolfgang Wittwer (2011, 114) den von ihm geprägten Begriff der „Veränderungskompetenz“ beschrieben: [Berufliche Bildung] „muss vielmehr auch die Jugendlichen wie die Erwachsenen auf Wechsel und Veränderungen vorbereiten und sie bei der Entwicklung von beruflicher Orientierung unterstützen. Das heißt, alle möglichen Bruchstellen in einem Erwerbsleben müssen auch schon in der Ausbildung bedacht und Übergangsmöglichkeiten entwickelt werden. Die entsprechenden Angebote sind an den individuellen Stärken und Schwächen auszurichten.“ Auch in diesem Sinn soll der Begriff der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz im Folgenden verstanden werden.

Folglich erscheint eine schulische Berufsorientierung sinnvoll, durch welche die Schülerinnen und Schüler auf diese mögliche Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen an die Zeit nach der Schule und der Realität des Arbeitsmarktes vorbereitet werden. Gleichzeitig sollte durch diese Art der Berufsorientierung ihre Selbststeuerung aktiviert werden.

Aus den vorhergegangenen Darstellungen leitet sich die Frage ab, ob durch entsprechende Maßnahmen der Berufsorientierung in der Sekundarstufe I des allgemeinbildenden Schulwesens die Entwicklung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz von vornherein – gewissermaßen „proaktiv“ – gefördert werden kann. Aus dieser Fragestellung wurde ein didaktisches Konzept mit der Grundidee generiert, Schülerinnen und Schüler mit Aufgaben/Situationen zu befassen, die sich ihnen in der Berufseinmündungsphase im Alter von 15 bis ca. 28 Jahren tatsächlich oder möglicherweise stellen. Es geht also darum, Schülerinnen und Schüler dazu anzuregen, sich ihre Zukunft vorzustellen und diese Zukunft in Angriff zu nehmen.

4.1 Entwicklungsaufgaben nach Havighurst

Neben dem BARB-Modell kann als weitere Grundlage für ein didaktisches Konzept zur Berufsorientierung und für die Aneignung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz die Bewältigung von sogenannten Entwicklungsaufgaben (nach Havighurst 1948, siehe Oerter/Dreher 2008[5]) gesehen werden. Bei Entwicklungsaufgaben handelt es sich um Aufgaben, die im jeweiligen Lebensabschnitt (z. B. Kindheit, Jugend) bearbeitet werden müssen, um das Leben in der jeweiligen Phase in einer guten Weise zu bewältigen. Solche Entwicklungsaufgaben sind beispielsweise im Jugendalter der Aufbau eines Freundeskreises, die Ablösung von den Eltern, das Finden eines Berufszieles etc.

Als Element eines didaktischen Konzepts zur Berufsorientierung sind Entwicklungsaufgaben (wie sie Vertreter der Entwicklungspsychologie sehen) vor allem aus folgendem Grund relevant: Entwicklungsaufgaben erklären „Entwicklung nicht nur als Resultat vergangener Ereignisse, sondern aus vorweggenommenen, zukünftigen Geschehnissen. Die Vorwegnahme zukünftiger Ereignisse, auch solcher in ferner Zukunft, ist ein entscheidender Motor menschlicher Entwicklung“ (Oerter 1998, 121).

Entwicklungsaufgaben ergeben sich einerseits aus biologischen Reifungs- und Abbauprozessen, wie zum Beispiel dem Umgang mit der Altersperiode der Pubertät, die eine Folge der biologischen Reifung ist, oder der Akzeptanz des Abbaus der geistigen und physischen Fähigkeiten mit steigendem Alter. Gleichzeitig sind sie aber kulturspezifisch und leiten sich aus gesellschaftlichen Anforderungen ab, wenngleich der Grad der normativen Verpflichtung bei verschiedenen Entwicklungsaufgaben variieren kann. Streng normativ reglementiert sind – in unserem Kulturkreis – beispielsweise der Beginn und das Ende der Schulpflicht. Die Entwicklungsaufgabe des Berufseintritts ist dagegen weit weniger normativ festgelegt, und die Art ihrer Bewältigung wird aus diesem Grund viel stärker durch individuelle Faktoren bestimmt. Dazu gehören die persönlichen und sozialen Ressourcen des betroffenen Menschen und seiner Bezugspersonen, seine Selbstkonzepte und Lebensprojekte sowie seine Werteorientierungen. Da diese Faktoren von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind, treten die einzelnen Entwicklungsaufgaben und ihre Teilaufgaben – trotz ihrer allgemeinen Formulierung – nicht automatisch bei allen Mitgliedern eines kulturellen Systems in derselben Form auf, sondern beziehen sich immer auf die individuellen Lebensläufe (Oerter/Dreher 2008).

In der Bildungsgangforschung, z. B. im Hamburger Graduiertenkolleg für Bildungsgangforschung (vgl. Trautmann 2004a), ist das Konzept der Entwicklungsaufgaben adaptiert worden. Dabei wurde bisweilen an Havighurst kritisiert (z. B. Trautmann 2004b, 26 ff.; Hahn 2004, 172 ff.), dass sein Konzept der Entwicklungsaufgaben strukturfunktional sei, also bestehende Normen und Werte als Maßstäbe für die Anpassung der Individuen verabsolutiere. Stattdessen wurde darauf insistiert, „allein die Heranwachsenden als diejenigen anzusehen, die sich ihre Entwicklungsaufgaben selbst setzen“ (ebd., 175). Dieser Kritik ist insofern zuzustimmen, als jeder Mensch eine Entwicklungsaufgabe erst einmal selbst erkennen und zu seiner Sache machen muss. Jedoch setzen sich die Heranwachsenden ihre Entwicklungsaufgaben auch nicht im luftleeren Raum („allein“ im Sinn von völlig autonom), sondern sie sind mit gesellschaftlichen Notwendigkeiten (wie der Schulpflicht oder später des Broterwerbs) und z. T. unterschiedlichen/widersprüchlichen Erwartungen an ihre Person durch Familie, Schule und Peergroup konfrontiert, zu denen sie sich verhalten müssen.

Lehnt man sich an das Konzept der Entwicklungsaufgaben im Sinn eines solchen Spannungsfeldes von Selbst- und Fremdbestimmung an, ist es eine Aufgabe der schulischen Berufsorientierung, die bereits vorhandenen individuellen Voraussetzungen bei den Schülerinnen und Schülern als Ausgangspunkt der Berufswegeplanung zu nehmen und dadurch die Chancen auf eine optimale Bewältigung der umfassenden Entwicklungsaufgabe des Berufseintritts – und den Umgang mit weiteren Umbrüchen in der (Berufs-)Biografie – zu erhöhen. Gleichzeitig sollten die Schülerinnen und Schüler dafür sensibilisiert werden, welche Entwicklungsaufgaben in Form von konkreten Problem- und Fragestellungen sich im Laufe ihrer (Berufs-)Biografie ergeben könnten und wie sie angemessen darauf reagieren können.

4.2 Entwicklung des Brettspiels „My Way! Finde deinen Weg“

Am besten geeignet zur Zielerreichung der Förderung der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz wäre aus Sicht des Projektteams ein Planspiel als methodisch-didaktisches Instrument. In einem Planspiel könnten künftige Lebens-/Berufssituationen vorweggenommen werden, wodurch die Schülerinnen und Schüler besser auf diese vorbereitet würden. Für ein Planspiel werden jedoch umfangreiche Zeit- und Personalressourcen benötigt, was die geforderte Umsetzung in allen Realschulen Baden-Württembergs erschwert. Angesichts begrenzter zeitlicher und finanzieller Ressourcen wurde daher von uns das Brettspiel „My Way! Finde Deinen Weg“ entwickelt, welches ohne große Vorbereitung in zwei Schulstunden gespielt und beliebig oft eingesetzt werden kann und ebenfalls der Zielsetzung einer Förderung der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz gerecht werden soll.

Dabei handelt es sich um ein interaktives Brettspiel, durch das die Schülerinnen und Schüler bei der Vorbereitung auf ihr künftiges (Berufs-)Leben unterstützt werden sollen, indem sie sich mit am Konzept der Entwicklungsaufgaben orientierten Lernaufgaben auseinandersetzen. Für das Jugendalter sind folgende Entwicklungsaufgaben bedeutsam (Oerter/Dreher 2008):

  • Beruf: Gedanken und Entscheidungen zur eigenen beruflichen Entwicklung;
  • Peer: Freundeskreis aufbauen;
  • Rolle: gesellschaftlich erwartetes Rollenverhalten annehmen (Erwachsenenrolle, Geschlechtsrolle);
  • Beziehung: eine Beziehung aufbauen;
  • Ablösung/Autonomie: von Eltern / emotionale Unabhängigkeit;
  • Partnerschaft/Familie/Kinder: Vorstellungen entwickeln, wie man Familie/Partnerschaft gestalten möchte;
  • Selbst: Klarheit über sich selbst gewinnen (wie sehen mich andere, und wer bin ich?);
  • Werte: eigene Wertanschauung entwickeln;
  • Zukunft: Zukunftsperspektive entwickeln, Leben planen, (realistische) Ziele ansteuern;
  • Schule: Erwerb schulischer Leistungen;
  • Politik: Ausbildung einer politischen Orientierung;
  • Körper: Veränderungen an Körper/Aussehen akzeptieren.

Diese Entwicklungsaufgaben sind im Brettspiel „My Way!“ zu Spielaufgaben in sechs verschiedenen Spielbereichen, nämlich „Beruf“, „Schule“, „Familie“, „Freundschaft“, „Partnerschaft“ und „Mein Wohlergehen“ transformiert. In diesen Bereichen werden in Gruppen von jeweils fünf bis sechs Schülerinnen und Schülern gemeinsam Aufgaben bearbeitet, die für die berufliche Orientierung oder Umorientierung wichtig sind, und dabei Erfahrungspunkte gesammelt. Durch das beidseitig verwendbare Spielbrett ergeben sich zwei Spielvarianten: In der ersten Variante bearbeiten die Schülerinnen und Schüler beruflich relevante Lebenssituationen, die für die Altersgruppe von 15–21 Jahren bedeutsam sind. In der zweiten Variante können die Schülerinnen und Schüler sich jeweils in mögliche Lebenssituationen der Altersgruppe von 22–28 Jahren hineinversetzen und diese durchspielen. Für das Spiel sollte idealerweise mindestens eine Schuldoppelstunde zur Verfügung stehen, sodass die Schülerinnen und Schüler im Anschluss an den Spieldurchlauf noch genügend Zeit für eine Reflexion haben. Die Reflexion wird durch den sogenannten „Nachdenkbogen“ angeregt, welcher von den Schülerinnen und Schülern ausgefüllt und anschließend gemeinsam mit der Lehrkraft besprochen wird.

Das BARB-Modell findet sich im Brettspiel „My Way!“ doppelt wieder: Die Schülerinnen und Schüler sollen durch das Lösen der einzelnen Aufgabenkarten dazu angeregt werden, ihren eigenen (Wissens-)Stand zu ermitteln, Ideen und Optionen für ihren weiteren (beruflichen) Lebensweg zu entwickeln, sich Ideen zur Umsetzung dieser Ambitionen zu erarbeiten und ihre im Spiel gemachten Erfahrungen mithilfe des sogenannten „Nachdenkbogens“ (siehe Kapitel 4.4) zu reflektieren. Gleichzeitig wurde der Nachdenkbogen selbst entlang des BARB-Modells entwickelt.

Die Entwicklung des Spiels begann im Anschluss an die Auswertung der Schülerinnen- und Schüler-Befragungen an zwölf Realschulen in Baden-Württemberg. Während der Entwicklung des Spiels fand eine kontinuierliche Abstimmung mit dem Kultusministerium Baden-Württemberg sowie mit sogenannten Multiplikatoren statt, die neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit als Realschullehrkräfte dem Kultusministerium im Rahmen eines Expertenteams angegliedert sind. Es wurden mit Prototypen des Spiels „My Way!“ drei Pretests über zwei Schulstunden an verschiedenen Schulen in Baden-Württemberg durchgeführt, davon zwei Pretests in neunten Klassen und einer in einer achten Klasse. Schülergruppen in diesen Klassen erprobten während dieser Zeit das Spiel. Der Ablauf wurde von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Beobachtungsprotokollen festgehalten. Die Pretests dienten dazu, Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge zu den Aufgaben und Aufgabenstellungen vonseiten der Lehrkräfte sowie der Schülerinnen und Schüler selbst zu erhalten. Diese Vorschläge wurden zwischen den Tests überprüft und umgesetzt, sodass eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Pretest zu Pretest stattfand. Bei der weiteren Spielentwicklung wurden der Spielaufbau sowie die Aufgabenkarten fortwährend im Austausch mit den Multiplikatoren und den an den Pretests beteiligten Lehrkräften im Hinblick auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler angepasst. Die Schülerinnen und Schüler aus einer Pretest-Schule sowie eine Lehrerin aus dem Expertenteam überprüften zusätzlich sprachlich und/oder inhaltlich komplexe Karten und brachten Verbesserungsvorschläge ein. Auch diese Vorschläge wurden jeweils geprüft und größtenteils umgesetzt.

4.3 Aufbau und Ziel des Brettspiels „My Way!“

Das aus den Vorarbeiten entstandene Brettspiel zur Förderung der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz ist für den schulischen Unterricht ab Klasse 8[6] der Realschule im Rahmen der Berufsorientierung vorgesehen und wird in Gruppen von fünf bis sechs Schülerinnen und Schülern gespielt. Jede dieser Kleingruppen spielt ein eigenes Spiel. Durch das Spiel werden die Schülerinnen und Schüler dazu angeregt, sich selbsttätig mit verschiedenen Entwicklungsaufgaben der beiden Altersgruppen 15–21 Jahre sowie 22–28 Jahre auseinanderzusetzen.

Die sechs Bereiche „Beruf“, „Schule“, „Freundschaft“, „Partnerschaft“ „Familie“ und „Mein Wohlergehen“ sind als farbige Felder mit jeweils passenden Icons auf dem Spielbrett angeordnet. Zur Abgrenzung der beiden Altersgruppen (15-21 Jahre bzw. 22-28 Jahre) unterscheiden sich die Grafiken auf der Vorder- und Rückseite des Spielbretts voneinander, indem die Charaktere des Spiels entsprechend altern.

Die farbigen Felder auf dem Brett entsprechen den Farbflächen eines achtseitigen Würfels, mit dem gespielt wird. Aufgrund der inhaltlichen Relevanz sind die Bereiche „Beruf“ und „Schule“ doppelt gewichtet, ihnen kommen also jeweils zwei farbige Würfelseiten zu. Es wird reihum gewürfelt, die oder der Älteste fängt an. Die würfelnde Person zieht eine Karte des gewürfelten Aufgabenbereichs. Auf diese Weise gelangen die Spieler/-innen zu den oben genannten Bereichen mit verschiedenen Aufgaben, die sie dann in Gruppen lösen müssen. Für die Bewältigung der Aufgaben werden sogenannte „Erfahrungspunkte“ vergeben, deren Bedeutung dann später im „Nachdenkbogen“, der als Reflexionsinstrument dient, wieder thematisiert werden kann.

Vorrangiges Ziel des Brettspiels ist es, die Schülerinnen und Schüler zu einer Reflexion derzeitiger und künftiger Lebensbedingungen anzuregen. Sie sollen sich selbst besser kennenlernen und lernen, eigene Stärken, Schwächen, Interessen, vorhandenes Wissen und Fähigkeiten sowie Wissenslücken zu identifizieren. Darüber hinaus lernen sie spielerisch mögliche Stationen und Ereignisse im Laufe eines Lebens kennen und können Handlungsmöglichkeiten hierzu erarbeiten. Um dies zu erreichen, wurden auf Basis der beschriebenen Vorarbeiten Aufgabenstellungen zu verschiedenen Spielformen entwickelt. Es gibt acht verschiedene Spielformen, die jeweils unterschiedliche Aktivitäten beinhalten (vgl. Abbildung 1).

Spielform Kurzbeschreibung
Rollenspiel

Bei den Rollenspielen geht es darum, in eine bestimmte Rolle hineinzuschlüpfen und diese schauspielerisch darzustellen. In der Regel bekommen zwei Spieler/-innen eine Rolle zugeteilt und stellen gemeinsam eine Situation dar, zum Beispiel ein Telefongespräch. Die Spielkarte enthält Informationen über die Situation, die dargestellt werden soll. Auf der Aufgabenübersicht sind „Impulse zur Vorbereitung“ angegeben, welche die Spielerinnen und Spieler verwenden können. Impulsfragen sind beispielsweise:

  • Was erwarte ich von meinem Gegenüber?
  • Wie will ich mich im Gespräch verhalten?
  • Möchte ich eine Frage stellen? Welche?
  • Habe ich ein Anliegen? Wie formuliere ich es?

Nach dem Spiel erfolgt eine Auswertung; hierfür sind auf der Aufgabenübersicht folgende „Impulse zur Auswertung“ gesetzt:

  • Was lief ganz gut?
  • Wie wirkten die Rollenspieler/-innen auf die Beobachtenden?
  • Wie hat sich der jeweilige Spieler/die jeweilige Spielerin gefühlt?
  • Welche Schwierigkeiten/Stolpersteine tauchten auf?
  • Was könnt ihr für Euch mitnehmen?

Im Anschluss an das Rollenspiel werden jeweils drei Erfahrungspunkte an die Schauspieler/-innen vergeben. Der Spieleiter oder die Spielleiterin erhält einen Erfahrungspunkt.

Assoziationskette

Ziel des Spieles ist es, möglichst viele Begriffe oder Aussagen zu dem Thema zu finden, das auf der Spielkarte steht.

Es wird reihum gespielt, und jede/jeder muss so schnell wie möglich einen passenden Begriff oder Ausdruck sagen. Wer länger als drei Sekunden braucht oder einen Begriff doppelt aufzählt, scheidet aus. Wer ausscheidet, rutscht mit seinem Stuhl ein deutliches Stück zurück. Gewinner ist, wer übrig bleibt. Dieser erhält einen Erfahrungspunkt.

Brainstorming

Ziel des Spieles ist es, möglichst viele Begriffe zu einem Thema zu erraten. Auf der Spielkarte ist eine Liste mit Begriffen, die von der Gruppe gemeinsam erraten werden müssen. Diese Liste sehen nur der/die Spielleiter/-in und sein/seine Assistent/-in.

Werden genügend Begriffe von der Liste erraten, erhalten die Mitspieler/-innen jeweils einen Erfahrungspunkt. Werden nicht genügend Begriffe erraten, erhalten nur der Spielleiter oder die Spielleiterin und der/die Assistent/-in jeweils einen Erfahrungspunkt.

Speed Ziel des Spieles ist es, möglichst schnell die richtige Antwort auf die Fragen auf der Spielkarte zu finden. Wer die Antwort weiß, legt sofort die Hand auf den Tisch und nennt die Antwort. Ist die Antwort richtig, bekommt er/sie einen Erfahrungspunkt. Ist die Antwort falsch, muss er/sie bei der nächsten Runde aussetzen.
Pantomime Der Spielleiter/die Spielleiterin stellt einen bestimmten Begriff pantomimisch dar. Der Rest der Gruppe versucht, den Begriff zu erraten. Errät jemand den Begriff, bekommt er/sie einen Erfahrungspunkt und ebenso der Spielleiter/die Spielleiterin.
Ratefrage Die Spielkarte enthält verschiedene Fragen. Die Spieler/-innen müssen diese beantworten und die Antwort aufschreiben. Dabei spielt jeder für sich. Wenn die Zeit abgelaufen ist, wird geschaut, wer die richtige Antwort gewusst hat. Bei Schätzfragen gewinnt die Person, die am nächsten an der richtigen Antwort ist. Für jede richtig beantwortete Frage gibt es einen Erfahrungspunkt. Wenn mehrere Spieler/-innen die richtige Antwort wissen, bekommen sie jeweils einen Erfahrungspunkt.
Pro/Contra Ziel des Spieles ist es, dem/der Spielleiter/-in durch die Nennung von Pro- und Contra-Argumenten bei seiner/ihrer Entscheidung zu einem bestimmten Thema zu helfen. Das Thema steht auf der Spielkarte.   
Es werden zwei Gruppen gebildet. Die eine Gruppe sammelt in der Regel Argumente FÜR die Entscheidung, die andere sammelt Argumente GEGEN die Entscheidung. Jeder/jede Mitspieler/-in (inkl. Spielleiter/-in) erhält einen Punkt. Diejenige Gruppe, die den Spielleiter/die Spielleiterin mehr überzeugt, gewinnt. Die Mitglieder dieser Gruppe erhalten jeweils einen zusätzlichen Erfahrungspunkt.
Aufgaben/
Denk mal …
Hier geht es um Reflexionen, allgemeine Denkaufgaben und das Sammeln von Erfahrungen und Wissen. Die ‚Denk mal’-Aufgaben sehen nicht immer gleich aus, auf der Spielkarte steht aber immer eine genaue Anleitung.

Abbildung 1: Kurzbeschreibung der Spielformen im Brettspiel „My Way!“

Es wurden vorrangig Spielformen gewählt, die vielen Schülerinnen und Schülern bereits bekannt sind bzw. die sie sich andernfalls leicht aneignen lassen, denn im Zentrum des Spiels sollen der Umgang mit der Thematik der Berufsbiografie sowie die Reflexion stehen. Trotzdem wird empfohlen, dass die Lehrkraft vor dem ersten Spieldurchlauf alle Spielformen anhand einer Beispielaufgabe gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern durchgeht. Dies reduziert Nachfragen während des Spieldurchgangs.

Diese Aktivitäten setzen sich aus einer Mischung aus Wissensaufgaben (z. B. „Speed“, „Ratefrage“), Aufgaben zur Förderung von Vorstellungskraft und Aspirationen (z. B. „Assoziationskette“, Brainstorming“) handlungsorientierten Aufgaben (z. B. „Rollenspiel“, „Pantomime“) und Reflexionsaufgaben (z. B. „Pro/Contra“, „Denk mal ...“) zusammen, bei welchen die Schülerinnen und Schüler sich intensiv mit beruflich relevanten Themen auseinandersetzen müssen. Jede Aufgabenkarte enthält einheitlich in Form eines „Spickzettels“ eine Kurzbeschreibung der jeweiligen Spielform (vgl. „Kurzanleitung“ in Abbildung 2). Außerdem erhält jede Gruppe ein Übersichtsblatt, auf welchem die Spielformen erklärt sind. Auf diesem Übersichtsblatt kann jede Spielgruppe während des Spiels nochmals nachlesen, wie die jeweilige Aufgabe zu bewältigen ist.

Eine besondere Stellung nimmt die Spielform „Rollenspiel“ ein, bei der sich die Schülerinnen und Schüler in eine Situation hineinversetzen müssen, die sie gemeinsam vorbereiten, durchspielen sowie auswerten. Für die Vor- und Nachbereitung der Rollenspielsequenz werden auf der Rückseite des Spielformen-Übersichtsblatts grafisch aufbereitete, allgemeine Impulse zur Verfügung gestellt, an denen die Spieler/-innen sich orientieren können (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Beispiel für eine Aufgabenkarte im Brettspiel „My Way!“Abbildung 2: Beispiel für eine Aufgabenkarte im Brettspiel „My Way!“

4.4 Nachdenkbogen als Reflexionsinstrument

Im Anschluss an das Spiel findet eine Reflexionsphase statt, in der die Schülerinnen und Schüler einen „Nachdenkbogen“ ausfüllen, der anschließend von der Lehrkraft bewertet werden kann. Anhand dieses Bogens erfolgt – zunächst allein und anschließend im Klassenverband – eine Reflexion, was jede/jeder aus dem Spiel für sich persönlich und insbesondere für die Berufsfindung mitnehmen konnte. Außerdem notieren die Schülerinnen und Schüler hier auch die Erfahrungspunkte der jeweiligen Bereiche. Dadurch ergibt sich die Gelegenheit, die Anzahl und Verteilung der erreichten Erfahrungspunkte der einzelnen Schülerinnen und Schüler zu analysieren und kritisch zu hinterfragen. Der Reflexionsbogen orientiert sich am BARB-Modell (Bilanzierungen – Aspirationen – Realisationen – Bilanzierungen) nach Witzel/Kühn (1999).

Neben der Diskussion des Nachdenkbogens hat die Lehrkraft auch die Möglichkeit, sogenannte „Nachdenkpunkte“ für das Ausfüllen des Bogens zu vergeben. Dadurch wird bewertet, wie vollständig und umfangreich die Schülerinnen und Schüler die Fragen beantwortet haben. Es können null bis zwei Nachdenkpunkte pro beantwortete Frage vergeben werden. Dies kann ein Anreiz für das sorgfältige Ausfüllen des Bogens durch die Schülerinnen und Schüler sein.

Die Gesamtzahl der Erfahrungs- und Nachdenkpunkte sowie deren Verteilung auf die verschiedenen Entwicklungsaufgaben-Bereiche können als Aufhänger für eine Evaluation und Diskussion im Klassenverband genutzt werden: Die Lehrkraft kann beim Zurückgeben der bewerteten Nachdenkbogen auf die Reflexionsfragen eingehen, exemplarische Fragen herausgreifen, im Spielverlauf gemachte Beobachtungen thematisieren oder aber auch darüber sprechen, was die nächsten berufsbiografischen Schritte im Leben der Schülerinnen und Schüler sind, und nachfragen, was noch geübt werden muss und wo es offene Fragen gibt. Zusätzlich ergibt sich die Möglichkeit, das Spiel und seine Ergebnisse/Erfahrungen in der nächsten Schulstunde nochmals aufzugreifen.

Falls der Spielcharakter als Motivationsanreiz genutzt werden soll, kann über die Summe der Erfahrungs- und Nachdenkpunkte eine Siegerin oder ein Sieger ermittelt werden.

5 Fazit und Ausblick

Die in der schulischen Berufsorientierung oftmals angenommene Geradlinigkeit bei der Bildungs- und Berufswegeplanung entspricht längst nicht mehr der Realität. Zwar kann schulische Berufsorientierung nicht antizipieren, wie der weitere (berufliche) Lebenslauf der Schülerinnen und Schüler aussehen wird und ihren Schützlingen Handlungsvorgaben an die Hand geben; aber sie kann durchaus für den Umgang mit möglichen Umbrüchen im (Berufs-) Leben sensibilisieren, dabei helfen, wie man eigene Interessen identifiziert sowie vertritt und somit die Selbststeuerung der Schülerinnen und Schüler aktivieren und fördern. Kurzum: Schulische Berufsorientierung kann und sollte die Schülerinnen und Schüler, über reine Matchingprozesse hinweg, in der Entwicklung ihrer berufsbiografischen Gestaltungskompetenz unterstützen. Mit dem Begriff der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz wird nicht unterstellt, dass jeder Mensch Problemsituationen in der Berufseinmündung und auf dem weiteren Berufsweg umstandslos zu meistern in der Lage ist. Die Bewältigung von Problemsituationen liegt nicht nur in der Hand des Individuums. Im Ansatz von BerufReal wird jedoch versucht, Schülerinnen und Schüler überhaupt einmal für diese Herausforderung zu sensibilisieren, und zwar so, dass die Berufsorientierung vom übrigen Leben nicht künstlich getrennt wird. Die von uns ausgewerteten Interviews der Längsschnittstudie „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“ (Witzel/Kühn 1999) zeigen, wie häufig berufliche Entscheidungen und Umorientierungen mit Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, gesundheitlichen Veränderungen etc. zusammenhängen.

Das entwickelte Brettspiel „My Way! Finde Deinen Weg“ setzt bei diesem Punkt an und stellt einen Baustein bei der Erweiterung einer frühzeitigen und intensiven Berufsorientierung an Realschulen in Baden-Württemberg dar, bei dem sich die Jugendlichen spielerisch mit verschiedenen Themen rund um die Berufsfindung und den Beruf auseinandersetzen. Außerdem wird ihnen deutlich, was sie im Bereich Berufsorientierung und Lebensplanung schon wissen und können, aber auch, wo es noch Lücken und offene Fragen gibt. Dabei ist das Spiel schüler- und handlungsorientiert gestaltet, es soll die Interaktions- und Sozialkompetenz fördern und Denkanstöße für die weitere Zukunft geben. Darüber hinaus ist der Einsatz des Spiels in höchstem Maße niedrigschwellig gestaltet: Für den Einsatz werden lediglich ein Klassenzimmer sowie ein Zeitrahmen von mindestens einer Schuldoppelstunde (90 Minuten) inklusive Vor- und Nachbereitung benötigt. Außerdem sind die acht verschiedenen Spielformen bei den Schülerinnen und Schülern zum Teil bereits bekannt bzw. lassen sich andernfalls leicht einüben. Da das Spiel insgesamt 260 Spielkarten beinhaltet, eignet es sich für den mehrfachen Einsatz in der Klasse, und auch das eigenständige Spielen durch die Schülerinnen und Schüler ist möglich.

Nicht zuletzt zeigen die Erfahrungen und Rückmeldungen aus den Pretests während der Spielentwicklungsphase, dass die Schülerinnen und Schüler das Spiel positiv aufnehmen und Spaß daran haben. Eine flächendeckende Evaluation im Hinblick auf die Effekte für eine erweiterte Berufsorientierung und die tatsächliche Förderung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz steht jedoch noch aus. Hierzu ist eine repräsentative Untersuchung beantragt worden, in der untersucht werden soll, ob und inwieweit die Entwicklung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz durch „My Way!“ gefördert wird und welche Einflussfaktoren auch außerhalb des Lehr-/Lernarrangements auf die berufsbiografische Gestaltungskompetenz der Schülerinnen und Schüler festgestellt werden können. Zu diesem Zweck wird auf Basis des bereits vorhandenen (aus der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur extrahierten) vorläufigen Modells berufsbiografischer Gestaltungskompetenz ein Fragebogen entwickelt und getestet.

Als weitere Perspektive bietet es sich an, das Spiel für andere Schularten und andere Bundesländer zu adaptieren. Dies geschieht momentan. Mittlerweise ist der Einsatz von „My Way!“ in verschiedenen Schultypen Baden-Württembergs mit ca. 100 Schülerinnen und Schülern erprobt und evaluiert worden. Bei der Evaluation wurden die Schülergruppen mithilfe eines Beobachtungsbogens beobachtet, anschließend wurden Interviews mit den Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrkräften geführt. Die Auswertung ergab, dass bislang in allen neunten Klassen der Realschule ein engagiertes und differenziertes Nachdenken über Berufsfindung und Berufswege ausgelöst wurde. Generell zeigte die Evaluation ein Interesse aller Zielgruppen an dieser Art der Berufsorientierung, was angesichts teilweise großer Verständnisschwierigkeiten bei einzelnen Zielgruppen als bemerkenswert empfunden wurde (in berufsvorbereitenden Maßnahmen wurden z. T. Begriffe wie „Gewerkschaft“ oder „mein Wohlergehen“ nicht verstanden). Bei der Adaption für andere Schularten sollte daher eine sprachliche und inhaltliche Anpassung auf die unterschiedlichen Niveaus im Bereich Vorwissen vorgenommen werden. Auch das unterschiedliche Alter der Schülerinnen und Schüler ist zu berücksichtigen, da die Berufsorientierung je nach Schulart in unterschiedlichen Klassenstufen angesiedelt ist.

Darüber hinaus wäre eine Weiterentwicklung des Brettspiels zur Vorbereitung auf das (Berufs-)Leben in Form eines interaktiven Planspiels wünschenswert. Zu diesem Zweck können die Bereiche „Beruf”, „Schule”, „Freundschaft”, „Familie”, „Partnerschaft” und „Mein Wohlergehen” in einzelne Stationen abgewandelt werden. Diese Stationen würden, wie in einem Planspiel üblich, mit verschiedenen Akteurinnen und Akteuren aus den Bereichen Berufsorientierung, Schul- und Berufsausbildung besetzt werden und würden dann möglichst ganzheitliche Arbeitsaufgaben beinhalten. Hier müssen die Schülerinnen und Schüler verschiedene Aufgaben nicht nur in der Vorstellung, sondern realitätsnah bewältigen, weshalb sie sich mit den verschiedenen Entwicklungsaufgaben noch intensiver und aktiver auseinandersetzen.

Eine Erweiterung des Brettspiels zu einem Planspiel bringt zahlreiche Vorteile mit sich: Durch Simulation und das tatsächliche Erleben/Erproben von realen Situationen (z. B. die Arbeitsagentur aufsuchen) im Rahmen des Planspiels können die Schülerinnen und Schüler einen realitätsnahen und praxisbezogenen Einblick in konkrete Herausforderungen und Zusammenhänge gewinnen. Dabei werden sie durch das Treffen eigener Entscheidungen mit den Folgen ihres Handelns konfrontiert (Reich 2007), d. h., die Realisierungskompetenz zur Umsetzung beruflicher Aspirationen könnte gestärkt werden. Ein Planspiel bringt außerdem die Möglichkeit mit sich, eine Vernetzung der verschiedenen Bausteine sowie der (potenziell) an der Berufsorientierung beteiligten Akteure vorzunehmen. Durch die Erweiterung des Brettspiels auf ein Planspiel würde auch dem Wunsch vonseiten der Lehrkräfte gerecht, bei der Berufsorientierung noch stärkere Bezüge zur Arbeitsrealwelt herzustellen und in diesem Rahmen die Lerninhalte künftig intensiver mit arbeitsweltlichen Realsituationen zu verknüpfen.

Literatur

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[1]http://www.kultusportal-bw.de/,Lde/Startseite/schulebw/Kontingentstundentafel  (15.09.2014).

[2]     X steht für das arithmetische Mittel der jeweiligen Frage auf einer Skala von 1=geringe Ausprägung bis 4=sehr hohe Ausprägung. SD meint die Standardabweichung, also die Streuung der Werte um diesen Erwartungswert. Beide Werte ergeben sich aus den Angaben der befragten Schülerinnen und Schüler.

[3]     Für nähere Informationen siehe:  http://www.kultusportal-bw.de/,Lde/Startseite/schulebw/Kompetenzanalyse+Profil+AC+an+Realschulen (15.09.2014).

[4]http://www.qualiservice.org/index.php?id=40  (15.09.2014).

[5]     Das Konzept der Entwicklungsaufgaben von Havighurst wurde von Oerter/Dreher (2008) grundlegend überarbeitet und an die veränderten beruflichen und lebenslaufbezogenen Bedingungen der heutigen Zeit angepasst.

[6]     Nach den  Erfahrungen der Pretests ist das möglich. Empfohlen wird von uns jedoch eher ein Einsatz des Spiels in Klassenstufe 9.

Betriebsbegegnungen in der Berufsorientierung. Das Beispiel "Berlin braucht dich!"

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Einleitung

Berlin braucht dich! geht zurück auf eine Initiative der Beauftragten des Berliner Senats für Integration und Migration aus dem Jahr 2006, ungeförderte betriebliche Berufsausbildung für Jugendliche aus Einwandererfamilien zu öffnen. Seit 2009 arbeiten Schulen und Betriebe, zunächst  aus dem öffentlichen Sektor, seit 2013 auch aus der Metall- und Elektroindustrie, eng in diesem Vorhaben zusammen. Das Berufliche Qualifizierungsnetzwerk für Migrantinnen und Migranten (BQN Berlin) unterstützt und moderiert diesen Entwicklungsprozess der fortlaufenden Vernetzung zwischen Schulen und Betrieben. Im Zentrum steht dabei das Bestreben, den Lernort Betrieb im Rahmen einer systematischen Berufsorientierung aufzuwerten und dafür Sorge zu tragen, dass die Betriebsbegegnungen interkulturell und diskriminierungsfrei gestaltet sind.

Der folgende Beitrag gibt einen Einblick in die “Werkstatt” von Berlin braucht dich!. Zunächst werden die Anlage des Vorhabens, seine Begründung und sein heutiger Entwicklungsstand skizziert (Punkt 1). In seiner integrationspolitischen Dimension nimmt das Vorhaben Bezug auf die Teilhabe von Jugendlichen mit Migrationshintergrund an Berufsausbildung, so wie sie sich in Berlin darstellt (Punkt 2).

Danach geht es um Kernelemente von Berlin braucht dich!: die Abfolge von Betriebsbegegnungen ab Klassenstufe 7 und die Kooperation von Betrieben und Schulen in Form eines Konsortiums (Punkt 3). Schließlich wird gezeigt, wie sich im Zuge der Auseinandersetzung mit den gegebenen betrieblichen und schulischen Realitäten ein Modellansatz für die Berliner Berufsorientierung herausentwickelt hat (Punkt 4 und 5). In dieser Hinsicht ist in Berlin am Übergang Schule-Arbeitswelt einiges in Bewegung (Punkt 6).

1 Das Vorhaben: Berlin braucht dich!

Berlin braucht dich! hatte von Anfang an die Perspektive, ungeförderte duale Ausbildung für Jugendliche aus Einwandererfamilien zu öffnen, und dies vor allem auch in beruflichen Feldern mit qualitativ hochwertigen Anforderungsprofilen.  Angesprochen wurden durch Berlin braucht dich! zunächst die Jugendlichen selbst, um sie über ihre Möglichkeiten einer Ausbildung beim Land Berlin zu informieren und diese Option bekannt zu machen. Mit der Verwendung des Begriffs „Öffnung“ sind mehrere Voraussetzungen verbunden: a) dass eine solche bisher nicht oder nicht in der wünschenswerten Weise erfolgt ist,  b) dass Gründe hierfür nicht nur bei den Jugendlichen selbst, sondern zugleich auch im Ausbildungssystem, insbesondere bei den Betrieben, zu suchen sind, und c) dass es kein a priori gibt, sondern dass es sich bei Öffnung um einen Prozess der Erprobung handelt.

Als erfolgversprechender „Hebel“, um diesen integrationspolitisch gewollten Prozess in Gang zu bringen, wurde Berlin braucht dich! für den Öffentlichen Dienst und die Betriebe mit Landesbeteiligung entwickelt. Zunächst in Form einer Kampagne wurde mit der Annahme gearbeitet, dass es eine größere Gruppe von schulisch gut qualifizierten und motivierten Jugendlichen mit Migrationshintergrund gibt, die aus einer Kombination von Fremd- und Selbstzuschreibung heraus bisher nicht in qualifizierter ungeförderter Ausbildung angekommen sind. Die Erwartungen fokussierten sich dabei auf die Jugendlichen und ihre Bereitschaft, sich zu bewerben sowie auf die beteiligten Betriebe und ihre Öffnung für Berliner Jugendliche aus Einwandererfamilien.

Es zeigte sich aber rasch, dass eine Kampagne nicht ausreichen würde, um den Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in erheblichem Umfang, wirksam und dauerhaft in der Berufsausbildung zu erhöhen. Als Konsequenz hieraus wurde die Kampagne durch den Unterbau eines gestuften Systems von Betriebsbegegnungen ergänzt. Verbunden ist damit die Annahme, dass früh einsetzende und sich erweiternde anregende Begegnungen mit der Welt der Betriebe geeignet sei, die Distanz zur Arbeitswelt zu verringern und Berufsausbildung als eine reale Option, die einer ernsthaften Prüfung unterzogen wird, bei den Jugendlichen zu etablieren.

Erst mit dieser Erweiterung im Jahr 2009 kommen Betriebe und Schulen als Konsortialpartner ins Spiel. Ihre Zusammenarbeit für die Entwicklung des gestuften Systems von Betriebsbegegnungen ist zunächst explizit integrationspolitisch motiviert. Erst allmählich schieben sich bei den beteiligten Betrieben auch reale personalpolitische Motive der Nachwuchsgewinnung mit in den Vordergrund.

Der integrationspolitische Ansatz wird dadurch abgesichert, dass nur solche Schulen partizipieren, die einen hohen bis sehr hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund aufweisen. Es geht jedoch nicht generell um Sekundarschulen mit hohem Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, sondern um jene Sekundarschulen, deren Anteil an Schulabgängern/innen, die in eine ungeförderte Berufsausbildung münden, erheblich unterdurchschnittlich ist.

An diesen Schulen ist der Anteil der Jugendlichen, die arbeitsweltfern aufwachsen, besonders hoch: „Den Schülerinnen und Schülern ist die Arbeitswelt oder das Spektrum der verschiedenen Berufe größtenteils nicht bekannt, weil viele Eltern überhaupt nicht arbeiten. Ihnen Mut zu machen, die Schwelle zu übertreten und sie an die Arbeitswelt heranzuführen – das ist besonders wichtig. Für diese Jugendlichen ist es nicht leicht, die Hürde zu nehmen und ein Praktikum in einem Betrieb zu machen. Wir versuchen, unseren Schülerinnen und Schülern die Ängste zu nehmen, denn die meisten haben den Wunsch, einen Beruf zu erlernen. (…) Dieses Zusammenführen der Jugendlichen aus den jeweiligen Berlin braucht dich! Schulen mit den Betrieben macht Berlin braucht dich! besonders.“ (Ausschnitt aus transkribiertem Interview mit Lehrerin S.F., geführt am 28.04.2014, veröffentlicht auf: http://www.berlin-braucht-dich.de/erfolgsgeschichten/lehrer-innen/sabine-funk/ ).

Was als Kampagne im Öffentlichen Dienst begann, weitete sich bald auf die Betriebe mit Landesbeteiligung und seit 2013 auch auf die Berliner Metall- und Elektroindustrie aus. Heute besteht ein Netzwerk aus über 30 Schulen und mehr als 60 Unternehmen, das  Berlin braucht dich! Konsortium. Es bietet einen Rahmen, um Strukturen, Verfahren und Einstellungen der Akteure aus Schule und Berufsausbildung nachhaltig und zukunftsweisend öffnen zu können. Denn: gemeinsames Ziel der Akteure von Berlin braucht dich! ist es, Jugendlichen, die sich in Bezug auf Erfahrungen und Orientierungen fern von der Arbeitswelt bewegen, betriebliche Ausbildung und anschließende Facharbeitertätigkeit als eine realistische Perspektive überhaupt verfügbar zu machen.

2 Hintergrund: Barrieren zu Dualer Ausbildung

Laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg haben rund 27 % der Einwohnerinnen und Einwohner der bundesdeutschen Hauptstadt einen sogenannten Migrationshintergrund (zur Definition des Migrationshintergrund vgl. Statistisches Bundesamt 2007). Bei den unter 15-Jährigen liegt der Anteil bei etwa 43 % (Amt für Statistik Berlin Brandenburg 2012) – eine Entwicklung, die sich in Berlin auch deutlich im Schulsystem ausdrückt und durch eine starke Konzentrationen auf Schulen im Innenstadtbereich geprägt ist. Im Jahr 2012 hatte bereits jede dritte der rund 800 Schulen in Berlin einen über 40 %igen Anteil von Schülerinnen und Schülern „nichtdeutscher Herkunftssprache (ndH)“ – das Erfassungsmerkmal der Berliner Schulverwaltung. 139 Schulen weisen einen Anteil von mehr als 60 % auf, und an 68 Schulen, vorwiegend in den Bezirken Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln, liegt der Anteil bei über 80 % (vgl. Köhler/Anders: „Immer mehr Schüler mit Migrationshintergrund“, Berliner Morgenpost vom 19.01.2012 http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article1884994/Immer-mehr-Schueler-mit-Migrationshintergrund.html - aufgerufen am 15.04.2014).

Schüler/innen mit Migrationshintergrund haben in den letzten Jahren bezogen auf die erreichten Schulabschlüsse bessere Ergebnisse erreicht, dennoch zeigen sich merkliche Unterschiede. Immer noch verlassen Schülerinnen und Schüler die Schule häufiger ohne einen Abschluss (11,5 % der Schüler/innen ndH im Vergleich zu 7,6 % aller Schüler/innen und Schülern). Ein gutes Drittel aller Schulabgänger/innen mit und ohne ndH verlässt in Berlin die Schule mit einem mittleren Schulabschluss. Beim Erreichen der allgemeinen Hochschulreife zeigen sich dann wiederum sehr deutliche Unterschiede: diesen Abschluss erreichen Schüler/innen ndH zu knapp 29 %, insg. liegt der Anteil allerdings bei 43 % (Senatsverwaltung für Bildung 2014).

Auch wenn inzwischen knapp 60 % der Schüler/innen ndH den Mittleren Abschluss oder das Abitur erreichen, drückt sich diese Entwicklung nicht im Übergang von der Schule in eine qualifizierte Ausbildung aus: Im Bericht zur Umsetzung des Integrationskonzepts 2007 für den Zeitraum 2009 bis September 2011 wird festgehalten: „Der Anteil der ausländischen Jugendlichen an allen Ausbildungsverhältnissen ist seit Verabschiedung des Integrationskonzeptes leicht angestiegen auf 5,5 % (2007: 4,2 % – nach Migrationshintergrund aufgeschlüsselte Zahlen liegen leider nicht vor, was besonders in dieser Altersgruppe bedeutsam wäre).“

Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil ist die Ausbildungsquote dieser Jugendlichen nach wie vor sehr gering. Und auch die Ergebnisse des Mikrozensus 2011 zeigen für Berlin, dass der Zugang zu qualifizierter Berufsausbildung in Berlin ungleich verteilt ist. So verfügten am Stichtag 39,5 % der Berliner/innen ohne Migrationshintergrund über eine duale Ausbildung oder einen vergleichbaren beruflichen Abschluss, aber nur 16,1 % der Berliner/innen mit Migrationshintergrund (vgl. Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2012).

Die oben aufgeführten Zahlen zur Übergangssituation Schule-Beruf beleuchten schlaglichtartig, dass sowohl das Bildungs- als auch das Ausbildungssystem vor großen Herausforderungen stehen (Arbeitsgemeinschaft Weinheimer Initiative 2013). Zukünftig wird es noch bedeutsamer werden, dass die Leistungsfähigkeit der Systeme zur Entwicklung von Potenzialen und zur Nachwuchssicherung von Fachkräften gesteigert wird. Reformansätze im Übergang Schule-Beruf haben dabei der unterschiedlichen Situation von Schulen in Bezug auf die erreichten Übergänge in qualifizierte Berufsausbildung Rechnung zu tragen.

Bei Berlin braucht dich! entwickeln Schulen und Betriebe im Konsortium gemeinsam Ansätze einer im Betrieb stattfindenden Berufsorientierung, die bereits ab Jahrgangstufe 7 beginnt; in regelmäßigen Partnertreffen erarbeiten Schulen und Betriebe­ gemeinsam, wie das betriebliche Lernen im Betrieb systematisch und strukturiert aufgebaut und in die schulische Berufsorientierung integriert werden kann.  Die zentrale Bedeutung des Lernorts Betrieb steht im Zentrum des systematischen Aufbaus der Übergänge von der Klasse 7 bis 10: Das Angebot der schulischen Berufsorientierung wird mit dem Angebot der Berlin braucht dich! Betriebe methodisch-inhaltlich und zeitlich abgestimmt, so dass ein systematischer Aufbau der Berufswahlkompetenz der Schüler/innen von Klasse 7 möglich ist.

3 Im Zentrum: Betriebsbegegnungen

Um ein vielseitiges Angebot an Betriebsbegegnungen von Klasse 7 bis Klasse 10 zu gewährleisten wurde  der Aufbau des Berlin braucht dich! Konsortiums aus Schulen und Betrieben als notwendige Erfolgsbedingung erachtet. Eine betriebsnahe Berufsorientierung in Form eines Systems von Betriebsbegegnungen könne sich nur entwickeln, so die Annahme, wenn eine enge und verbindliche Zusammenarbeit und Annäherung der Arbeits- an die Schulwelt und umgekehrt gewährleistet ist. Dahinter stand die Einschätzung einer bestehenden wechselseitigen Fremdheit zwischen beiden Teilsystemen Schule und Betrieb (Hurrelmann 2014).

Eine weitere wichtige Annahme war, dass nur eine enge und respektvolle fachliche Zusammenarbeit und das damit entstehende wechselseitige Vertrauen die Basis dafür bildet, diffizile Fragen von Interkulturalität und Diskriminierung anzugehen, aber auch zu einer Öffnung der Betriebe gegenüber Jugendlichen „aus der zweiten Reihe“ zu gelangen, d.h. Jugendlichen, die sich von alleine noch nicht auf den Weg in Richtung Berufsausbildung gemacht haben.

Mit dem Aufbau eines vierstufigen Systems von Betriebsbegegnungen einher ging die gemeinsame Arbeit von Schulen und Betrieben an der Dokumentation ihrer Erfahrungen in einem Handbuch für Betriebsbegegnungen (BQN Berlin 2011). Das zentrale Anliegen dieses Handbuchs ist es, Qualitätsstandards zu formulieren und in praktischen Schritten für die Durchführung von Praktika festzuhalten und zu beschreiben. Eine aktualisierte Fassung dieses Handbuches mit einer zusätzlich erstellten Praxishandreichung für Betriebe der Metall- und Elektroindustrie liegt seit Januar 2015 vor (BQN Berlin 2015 a und b). Schulen und Betriebe haben auf Grundlage ihrer Expertise aus dem jeweiligen Bereich formuliert, was die Qualität von Praktika ausmacht, die Jugendliche dabei unterstützen, sich Wege in die Arbeitswelt zu erschließen. Die Qualitätsstandards gelten dabei nicht allein für Jugendliche aus Einwandererfamilien, aber sie berücksichtigen durchgehend eine interkulturelle Perspektive im betrieblichen und schulischen Handeln.

Eine Grundlage für die Erstellung dieser Handbücher war eine explorative qualitative Studie, die seitens BQN durchgeführt wurde. Mittels leitfadengestützter qualitativer Interviews wurden Jugendliche, Lehrkräfte und Betriebsvertreter/innen im Zeitraum Januar bis Juni 2014 befragt. Zentraler Fokus aller Interviews war die Frage nach den Gelingensbedingungen für einen erfolgreichen Übergang in Ausbildung aus der Perspektive der unterschiedlichen im Rahmen von Berlin braucht dich! einbezogenen Akteure/innen. Die Interviews wurden transkribiert; zentrale Ergebnisse wurden in den Handbüchern aufgenommen. Auswählte Interviewpassagen wurden darüber hinaus auf der Seite www.berlin-braucht-dich.de veröffentlicht.

Der Ansatz von Berlin braucht dich! konzentrierte sich von Beginn an auf eine spezifische Konzeption, die von Schulen und Betrieben gemeinsam erarbeitet wurde. Dabei wurden Betriebsbegegnungen ins Zentrum des Konzeptes gerückt. Es wurde ein über die Klassen 7 bis 10 aufeinander aufbauendes System von Betriebsbegegnungen entwickelt und erprobt. Das beim Öffentlichen Dienst, den Betrieben mit Landesbeteiligung und seit 2013 bei Betrieben der Metall- und Elektrobranche breit gefächerte Angebot an qualitativ hochwertigen Betriebsbegegnungen hat für die Berlin braucht dich! Schulen (Integrierte Sekundarschulen bzw. Gemeinschaftsschulen mit einem über 50 %igen Anteil von Schülern/innen ndH) eine hohe Attraktivität, trotz der mit diesem Angebot verbundenen erhöhten Anforderungen an Vorbereitung, Nachbereitung und Koordinierung.

Die Qualität dieser Betriebsbegegnungen ergibt sich für die einzelnen Schülerinnen und Schüler aus einem interessenbasierten Matchingverfahren und der Durchführungsqualität der betrieblichen Kontakte. Bei dem Matching geht es nicht darum, dass Schüler/innen „irgendeinen“ Platz in einem Praktikum erhalten, sondern betriebliche und arbeitsbezogene Erfahrungen dort sammeln können, wo sie ihre eigenen Interessen formulieren oder zumindest vermuten. Ansatzpunkte des Matching sind also die Interessen und die Motivation der Jugendlichen selbst. Die unterschiedlichen Betriebsbegegnungen unterstützen demnach die Jugendlichen dabei, eigene Vorstellungen mit der Realität von Arbeitswelt und konkreten Berufen abzugleichen.

3.1 Interkulturelle Öffnung und der Fokus Migration bei Berlin braucht dich!

Der Fokus Migration wird bei Berlin braucht dich! nicht als ein Handlungsfeld im Übergang Schule-Beruf neben anderen verstanden, sondern als Querschnittsaufgabe, die aber einer besonderen Aufmerksamkeit und einer eigenen professionellen Bearbeitung bedarf. Dabei drückt Interkulturelle Öffnung grundsätzliche Wertehaltungen aus, und setzt sich als ein Paradigma durch, „das für praktisches Handeln und politische Orientierung tragfähig scheint“ (Schröer 2007, 12). Für die kommunale Ebene hält Filsinger (2009) fest, dass sich in den letzten Jahren eine große Bandbreite interkulturell ausgerichteter Integrationspolitiken herausgebildet haben: „Herauszustellen ist besonders die zumindest programmatische Abkehr von einer Defizitperspektive, die es erlaubt, die Ressourcen und Potenziale der (jungen) Menschen mit Migrationshintergrund zu erkennen. Eine solche Perspektive lässt sich freilich nicht verordnen; sie verlangt vielmehr einen Bildungsprozess, im Rahmen dessen etwa (kulturalistische) Deutungsmuster eine Modifikation  erfahren können.“ (ebd., 86)

Was hier mit Blick auf die kommunale Ebene formuliert ist, gilt entsprechend für Betriebe und ihr betriebliches Handeln in Rekrutierungs- und Ausbildungsprozessen und bezogen auf die Personalentwicklung der Unternehmen insgesamt.  Die interkulturelle Öffnung als Ansatz auf betrieblicher Ebene umfasst dabei ganz wesentlich die Fähigkeit, Angebote zu erarbeiten, die Chancengleichheit zum Ausgangspunkt nehmen und die „barrierefrei“ (Terkessidis 2010) sind.

Insofern gehören auch Qualifizierungsangebote für Beschäftigte von Berlin braucht dich! Betrieben fest ins Konzept: Mit Trainings zur interkulturellen Sensibilisierung eröffnet sich ihnen die Möglichkeit, eigene Haltungen im persönlichen und beruflichen Handeln kritisch zu reflektieren und sich mit eigenen Vorurteilsstrukturen auseinander zu setzen. Diese Möglichkeit ist fester Bestandteil der Angebote von Berlin braucht dich!, die sich an das betriebliche und schulische Personal richten. In einem nächsten Schritt ist hier verstärkt die strukturelle Ebene betrieblicher und schulischer Organisation zu addressieren, um Strukturen dauerhafter aufzubrechen und zu verändern.

3.2 Positive Erfahrungen in der Arbeitswelt

„Berufswahlkompetenz“ entsteht durch Informationen über Betriebe, über Berufe, aber eben ganz wesentlich auch über eigenes Kennenlernen der Arbeitswelt im Betrieb und eine bewusste und motivierte Auseinandersetzung mit ihr, so die Grundannahme des Berlin braucht dich! Konsortium.

Auf die Frage, welche Erfahrungen im Praktikum wichtig waren, sagt eine ehemalige Berlin braucht dich! Schülerin: „Ich habe … erfahren, was man für Kompetenzen braucht, um diesen Beruf ausüben zu können. Man hat uns zwar in der Schule den beruflichen Alltag vorgestellt … , doch praktisch war es dann doch ganz anders. In meinem ersten Praktikum habe ich festgestellt, dass eine Ausbildung im medizinischen Bereich für mich nicht in Frage kommt. Danach habe ich mich umorientiert und dann in der 10. Klasse durch das dreiwöchige Praktikum […] gemerkt, dass ich später gerne im kaufmännischen Bereich arbeiten möchte.“ (Ausschnitt aus transkribiertem Interview mit Auszubildender A.O., geführt am 12.02.2014)

Die Kontrastierung von schulisch erworbenem Wissen, das letztlich zunächst theoretisch bleibt, und der Wirklichkeit der Arbeitswelt in einem Betrieb hat für die oben zitierte Schülerin den Unterschied ausgemacht: erst durch das tatsächliche Praxiserleben in Betrieben war für sie eine orientierte Entscheidung möglich.  Wichtig war hierbei, dass es nicht nur einen Kontakt mit der Arbeitswelt gab, sondern dass mehrere Optionen des Ausprobierens zur Verfügung standen: So konnte die Erfahrung gemacht werden, dass die eigene ursprüngliche Annahme, was man gerne machen würde, nicht deckungsgleich mit der beruflich-betrieblichen Realität war. In einem nächsten Schritt konnte dann ein anderes Berufsfeld erprobt werden.

Ein Auszubildender bei den Berliner Bäderbetrieben beschreibt seine Erfahrungen folgendermaßen: „In der 9. Klasse hat meine Lehrerin uns Praktika von Berlin braucht dich! vorgestellt. Da waren mehrere Angebote, einmal von der BSR und auch von der BVG und noch andere. Ich habe mich für die Berliner Bäderbetriebe entschieden. Die Ausbildung Fachangestellter für Bäderbetriebe kannte ich vorher überhaupt nicht. Erst durch Berlin braucht dich! habe ich davon erfahren. Im Praktikum ist mir klar geworden: Das gefällt mir, das will ich mal machen! […] Ich habe zwei Praktika gemacht. Das erste über Berlin braucht dich! und das zweite habe ich mir selbst besorgt. Wieder bei den Bäderbetrieben, weil es mir dort gefallen hat. Und dann habe ich noch den Bewerbertag von Berlin braucht dich! bei den Bäderbetrieben mitgemacht. […] Zwei Azubis haben uns vor Ort alles erklärt: Wie es bei der Ausbildung abläuft, wie lange sie dauert und was man verdient. Wir haben einen kleinen Einstellungstest geübt, der lief eigentlich ganz gut. Und dann haben die richtig Werbung gemacht: „Bewirb dich, bewirb dich, es ist richtig gut hier!“ Denn die suchen ja auch Leute mit Migrationshintergrund.“ (Ausschnitt aus transkribiertem Interview mit Auszubildendem M.H., geführt am 19.2.2014, veröffentlicht auf: http://www.berlin-braucht-dich.de/erfolgsgeschichten/auszubildende/mahmoud/)

Der Lernort Betrieb war auch für diesen Jugendlichen zentral, um mehr über einen Beruf zu erfahren, ja diesen überhaupt erst kennen zu lernen. Deutlich zeigt sich hier auch, wie die aufeinander aufbauenden Formate in den Betrieben wirken.

Für eine positive betriebliche Erfahrung seitens der Jugendlichen ist es nicht hinreichend, dass sie einen „Betrieb von innen“ sehen können, sondern die Qualität der betrieblichen Angebote. Aus Sicht eines Lehrers stellt sich dies so dar: „Das Besondere an Berlin braucht dich! ist, dass die Personalverantwortlichen der Betriebe dahinter stehen. Die Betriebsbegegnungen zeichnen sich deshalb durch überdurchschnittlich gute Konzepte aus - im Vergleich zu den Angeboten an Praktika, die die Schüler sonst so erleben.“ (Ausschnitt aus transkribiertem Interview mit M. M., geführt am 17.2.2014, veröffentlicht auf: http://www.berlin-braucht-dich.de/erfolgsgeschichten/lehrer-innen/michael-morsbach/)

Auch die Betriebe schätzen die neue Qualität von Berlin braucht dich! – für ihre Unternehmen und für die Jugendlichen. Ein Ausbildungsleiter formuliert dies so: „Das Besondere an Berlin braucht dich! ist für mich, die Vielfalt der unterschiedlichen Kulturen von Berliner Jugendlichen auch in die Unternehmen zu bringen. Berlin braucht dich! hilft Schülerinnen und Schülern, ihre Kompetenzen zu erkennen und diese für die Betriebe nutzbar zu machen.“ (Ausschnitt aus transkribiertem Interview mit C.K., geführt am 18.2.2014, veröffentlicht auf: http://www.berlin-braucht-dich.de/erfolgsgeschichten/ausbilder-innen/berliner-wasserbetriebe/)

Der Lernort Betrieb entfaltet besonders dann motivierende Impulse, wenn in Betrieben Vorbilder sichtbar werden können. So resümiert eine Fachbereichsleiterin des Öffentlichen Dienstes in Berlin: „Der Vorsitzende unserer Jugend- und Auszubildendenvertretung ist ein ehemaliger Azubi mit türkischem Migrationshintergrund. Trotz einer wenig motivierten Schulendphase kam er zu der Erkenntnis: Ich muss mich auf eigene Beine stellen. Er hat die Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten mit gutem Ergebnis absolviert, wurde übernommen, ist super engagiert - auch politisch. In unserer Öffentlichkeitsarbeit arbeiten wir eng mit ihm zusammen, weil er ein tolles Vorbild für alle Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist.“(Ausschnitt aus transkribiertem Interview mit A.O., geführt am 17.2.2014, veröffentlicht auf: http://www.berlin-braucht-dich.de/erfolgsgeschichten/ausbilder-innen/senatsverwaltung-fuer-inneres-und-sport/)

4 Systematisierung: Auf dem Weg zu einer “Qualifizierten Vierstufigkeit”

Berufsorientierung ist im schulischen Kontext ein verbindlicher Baustein, der für die unterschiedlichen Jahrgangsstufen ausdifferenzierte Angebote vorsieht; arbeitsweltbezogene Unterrichtsinhalte im Fach Wirtschaft-Arbeit-Technik werden beispielsweise ergänzt durch Potenzialanalysen und anschließende Werkstatttage, Beratungsangebote der Bundesagentur für Arbeit und die unterstützte Erstellung von Bewerbungsunterlagen und vieles mehr. Doch nicht nur in den Schulen, sondern auch in den öffentlichen wie privaten Betrieben Berlins gewinnt das Thema Berufsorientierung als ein Ansatz der vorausschauenden Fachkräftesicherung zunehmend an Bedeutung. Angesichts der immer schwächer ausgeprägten Orientierung der Jugendlichen in Richtung auf eine qualifizierte Ausbildung - bei gleichzeitigem Trend zum Abitur - hat im Betrieb stattfindende Berufsorientierung und das Lernen im Betrieb eine zunehmende und eigenständige Bedeutung für Betriebe.

Dies führte im Kontext von Berlin braucht dich! dazu, dass der praktizierte Ansatz einer Aufeinanderfolge verschiedener Formate von Betriebsbegegnungen ab Klasse 7 weiter systematisiert wurde. Es entstanden Anfänge eines übergreifenden Konzepts von durchgehender Berufsorientierung am Lernort Betrieb als wiederkehrendes Kernfeld. Die Konkretisierung dieses Ansatzes und seine konzeptionelle und praktische Ausgestaltung wurden und werden in Rahmen des konsortialen Zusammenwirkens von Schulen und Betrieben vorgenommen.  Dieses von Betrieben und Schulen gemeinsam getragene Konzept kann als „Qualifizierte Vierstufigkeit“ bezeichnet werden.

Die wichtigsten Elemente einer solchen „Qualifizierten Vierstufigkeit“ können wie folgt skizziert werden:

Betriebsbegegnungen, die aufeinander aufbauen

In der 7. Klasse: Der betrieblicher Erstkontakt, der in Form einer ersten Erkundungstour von drei bis vier Stunden einer Gruppe von maximal 12 Schüler/innen die Gelegenheit gibt einen Betrieb von innen kennenzulernen.

In der 8. Klasse: Das einwöchiges Schnupperpraktikum in einem Betrieb ermöglicht den Jugendlichen eine erste längere und systematische Erkundung eines Betriebes. Dieser berufliche Einblick dient als Beispiel für den Facettenreichtum der qualifizierten Facharbeit und für das erste Erkunden und Herausfinden von möglichen Zukunftsoptionen in der Arbeitswelt.

In der 9. Klasse: Das dreiwöchige Betriebspraktikum hat die entscheidende Funktion, im Hinblick auf die anstehende Berufswahl konkrete Berufsprofile zu vermitteln und gibt den Jugendlichen die Gelegenheit, sich bei beruflichen Tätigkeiten unter „Ernstbedingungen“ zu erproben.

In der 10. Klasse: Der Bewerbertag zielt auf eine konkrete Unterstützung im Bewerbungsprozess der Jugendlichen. Die Betriebe führen simulierte Bewerbungsverfahren durch mit dem Ziel für eine konkrete Bewerbung zu motivieren und Hemmungen und Ängste abzubauen (siehe dazu ausführlich das Handbuch für Betriebsbegegnungen, hrsg. BQN Berlin, 2015 a).

Mindeststandards

Die Betriebsbegegnungen müssen qualitativen Mindeststandards genügen, denn es geht um positive, motivierende und aufbauende Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler im betrieblichen Alltag und nicht um „irgendwelche“ Arbeitswelterfahrungen. Für jede Jahrgangsstufe gibt es ein altersgerechtes Konzept, das Standards der Vor- und Nachbereitung enthält sowie die Qualität und Ziele der Betriebskontakte und Praktika beschreibt. (siehe dazu ausführlich: Handbuch für Betriebsbegegnungen, 2015 a).

Einbettung in die Schulische Berufsorientierung

Das Lernen im Betrieb in Form der vierstufigen Betriebsbegegnungen sollte in die Berufsorientierung der Schule eingebettet sein. Eine Vernetzung zwischen externen und internen BO-Trägern sowie mit Fachlehrern/innen der vier Jahrgänge ermöglicht ein Zusammenführen von schulischen Berufsorientierungsaktivitäten mit den unterschiedlichen praktischen Erfahrungen im Betrieb und  macht aus einzelnen Betriebskontakten eine persönliche Entwicklungsgeschichte. Der mehrjährige Prozess schafft Orientierung und gibt größere Sicherheit, wenn die Entscheidung ansteht: Welche Ausbildung ist die Richtige für mich?

Berufliche Erfahrungsbreite sichern

Hinter der qualifizierten Vierstufigkeit steht das Ziel, den Jugendlichen vielfältige Arbeitswelteinblicke zu gewähren, um das Berufswahlspektrum der Jugendlichen wirkungsvoll zu erweitern. Dafür wurden die Berufe der Betriebspartner in vier Berufsfeldgruppen gegliedert: Gewerblich-technische Berufe, Büro- und Verwaltungsberufe, Gesundheitsberufe und Berufe für Schutz- und Sicherheitsberufe. Im Schuljahr 2014/15 wird mindestens eine fünfte Gruppe hinzukommen, die die sozialen und kreativ-kulturellen Berufsfelder abdeckt.

Interkulturalität

Ein differenzsensibler, interkulturell orientierter Umgang mit den Jugendlichen im Betrieb bildet eine weitere Säule der qualifizierten Vierstufigkeit. Dieser zielt auf die Stärkung der Handlungsfähigkeit und Kompetenzentwicklung der Jugendlichen. Sie ist vor allem eine Haltung, „die Jugendlichen dort abzuholen, wo sie stehen.“ Das bedeutet, der Betrieb muss sich auf junge Menschen einstellen.“ (Ausschnitt aus transkribiertem Interview C.K., geführt am 18.2.2014, veröffentlicht auf: http://www.berlin-braucht-dich.de/erfolgsgeschichten/ausbilder-innen/berliner-wasserbetriebe/)

“Peers”

Der kontinuierliche Einsatz von Auszubildenden als Paten/innen bzw. Begleiter/innen während der Betriebsbegegnung ermöglicht einen Kontakt auf gleicher Augenhöhe. Aus den Auswertungen der Betriebsbegegnungen im Rahmen von Berlin braucht dich! geht hervor, dass Bedenken, Bedürfnisse, Schwächen und Ängste gegenüber Auszubildenden offener und häufiger kommuniziert werden, wobei diese – ob mit oder ohne Migrationshintergrund –eine Vorbildrolle übernehmen, die von Lehrern/innen und berufsorientierenden Experten/innen wie Berufsberater/innen, nicht in gleicher Weise wirkungsvoll erfüllt werden kann.

5 Bessere Einbettung in die Schulische Berufsorientierung

Der Lern – und Begegnungsort Betrieb muss in die Schulische Berufsorientierung ab der 7. Klasse gut eingebettet sein: diese Überzeugung stand von Anfang an bei Berlin braucht dich! Pate. In den beteiligten Schulen erbrachten die angebotenen Berlin braucht dich! Betriebsbegegnungen allerdings nur einen – sehr begehrten – kleinen Teil dessen, was an Betriebskontakten für alle Schülerinnen und Schüler gebraucht wird. Somit wurde das, was von Berlin braucht dich! kam, oftmals in den Schulen als anspruchsvolles und z. T. für die Lehrkräfte aufwendiges Zusatzangebot erlebt.

Über diesen Stand  – so die gemeinsame Erkenntnis im Konsortium – könnte man nur hinaus gelangen, wenn man die Grundsätze, wie sie sich im Konzept der “Qualifizierten Vierstufigkeit” finden, in den beteiligten Schulen auf die gesamte dortige Berufsorientierung anwenden würde. Dies wird nun seit einem Jahr an mehreren Schulen erprobt.  

Hierfür wurden folgende Schritte und Maßnahmen von den Konsortialpartnern entwickelt und ihre Umsetzung begonnen:

Aufnahme der Vierstufigkeit im Schulcurriculum

Auf diesem Weg werden die Aufgaben der Schule und die entsprechenden Zeiten  für die Umsetzung der Betriebsbegegnungen von den Schulen für die Jahrgänge von 7 bis 10 festgeschrieben. Bereits für 7. Klässler/innen bekommt damit ein erster Kontakt mit der Arbeitswelt und das Reinschnuppern in Arbeitsprozesse eines Betriebes einen festen Bestandteil im Schulalltag.

Betriebe in die Schule: Berufsorientierende Workshops der Betriebe

Das Betriebsangebot in den Schulen wird zu bestimmten Zeitpunkten im Schuljahr angeboten, um die Übergänge ins Schnupperpraktikum, Betriebspraktikum oder Bewerbertag vorzubereiten. Vor den praktischen Erfahrungen in den Betrieben decken die Auszubildenden und weitere Betriebsvertreter  in den Schulen eine bestimmte Vorbereitung ab und klären Vorbehalte und  Fragen der Schüler/innen sowie Lehrer/innen. Die Entwicklung eines berufsorientierenden Angebots der Betriebe in den Schulen verfolgt folgende zentrale Ziele:
Es geht einmal darum, alle Schüler/innen der vier Jahrgänge zu erreichen und nicht nur ausgewählte, die Interesse für bestimmte Betriebserfahrungen bei den Lehrer/innen angemeldet haben. Zum anderen sollen die Workshops einen Überblick über berufliche  Angebote von  mindestens 4 Berufsfeldgruppen abdecken und über die Erfahrungsberichte der Azubis weitere Zugänge zur Arbeitswelt schaffen.

Abstimmung und Dialog zwischen allen Beteiligten der Berufsorientierung und dem Fachkollegium

Zur erfolgreichen Umsetzung der Vierstufigkeit sowie der  geeigneten Vor- und Nachbereitung gehört die Vernetzung, der Austausch und die Abstimmung zwischen allen Beteiligten der Berufsorientierung (BO-Lehrer/innen, Berufsberatern/innen und externen Berufsorientierungs-Trägern sowie Jahrgangsleitern/innen).

Austausch mit Betrieben: Betriebe als Kompetenzermittler der Schüler/innen
Betriebsvertreter aus dem Konsortium vermitteln oft positive Erfahrungen mit den Jugendlichen aus den Betriebsbegegnungen an die Lehrer/innen. Dies bestätigt die Ergebnisse einer Studie, dass Lehrer/innen ein eher pessimistisches Bild haben und der Meinung sind, dass ihre Schüler/innen in nahezu allen Bereichen nicht die nötigen Kompetenzen mitbringen (Rebmann et.al. 2007).

Schüler/innen als Multiplikatoren/innen in der Schule

Einige Schulen erproben seit einiger Zeit die Rolle der Schüler/innen als Multiplikatoren/innen von Betriebserfahrungen gezielt einzusetzen: Die eigenen Eindrücke, Erlebnisse  und Überlegungen zu den gemachten Erfahrungen im Betrieb werden systematisch aufgenommen und anderen Schülern/innen berichtet - sei es in der eigenen Klasse, in Parallelklassen sowie in unteren Jahrgängen.

6 Entwicklungen im Land Berlin

Die Entwicklung der Dualen Berufsausbildung in Deutschland unterliegt seit Jahren einem komplizierten Spannungsverhältnis, das sich gegenwärtig weiter zuspitzt: nämlich zwischen einem erhöhten Bedarf an Ausgebildeten zur künftigen Fachkräftesicherung, einem stagnierenden, bzw. abnehmenden Interesse von Jugendlichen an einer Berufsausbildung und fortbestehenden Zugangsbarrieren zu  ihr. Berlin steht hier aufgrund seines strukturschwachen Ausbildungsmarktes vor besonderen Herausforderungen, was u.a. den Regierenden Bürgermeister veranlasste, eine Sonderkommission Ausbildungsplatzsituation und Fachkräftebedarf einzuberufen.

Seit einigen Jahren verstärken sich nun Bemühungen um eine Neugestaltung der Übergänge von der Schule in die Arbeitswelt. Erste wichtige Anregungen hierzu lieferten 2012 die Ergebnisse des Berliner Projekts aus der Bundesinitiative „Regionales Übergangsmanagement“. Parallel hierzu wurden die schulische Berufsorientierung curricular neu geordnet und „Duales Lernen“, also die Kombination des Lernorts Schule mit anderen außerschulischen Lernorten, eingeführt.

Gegenwärtig ist das unter breiter Beteiligung entstandene Berliner Landeskonzept zur Berufs- und Studienorientierung vor seinem Erlass. Dieses sieht eine deutliche Aufwertung des Lernorts Betrieb im Rahmen der schulischen Berufsorientierung und die – optimale – Etablierung einer „Qualifizierten Vierstufigkeit“ vor. Ergänzend wurde ein Vorschlag zu einem einfachen Berichtsformat für Betriebsbegegnungen/Praktika entwickelt und erprobt, das die Kompetenz der Schüler/innen zur Berufswahlentscheidung ins Zentrum rückt. Auch hiervon wird eine höhere Aufmerksamkeit und damit Aufwertung des Lern- und Erfahrungsortes Betrieb erwartet. Ein Senatsbeschluss zur Errichtung dezentraler Jugendberufsagenturen rundet das Bild ab: hierin ordnet sich Berlin braucht dich! auch im Sinne der Platzierung des Fokus Migration als wichtige Querschnittsaufgabe ein.

In dem Maße aber, in dem der als unverzichtbar angesehene Lern- und Erfahrungsort Betrieb im Rahmen einer wirkungsvollen Berufs– (und Studien-) Orientierung in die Aufmerksamkeit rückt, wird als Herausforderung immer sichtbarer werden, dass gute Praktikumsplätze – gemessen am Bedarf – ein knappes Gut sind. Dies gilt im Übrigen auch für das Vorhaben Berlin braucht dich! im engeren Sinne. Hier müssen – insbesondere zwischen Politik und Sozialpartnern – dringend Lösungen gefunden werden.

7 Resümee und Ausblick

Für die Etablierung eines Systems der Betriebsbegegnungen im Sinne der „Qualifizierten Vierstufigkeit“ ab Klasse 7 spricht die Erfahrung, dass früh einsetzende und sich erweiternde anregende Begegnungen mit der Welt der Betriebe und Berufe geeignet sind, die Distanz zur Arbeitswelt zu verringern und Berufsausbildung als eine reale Option bei den Jugendlichen zu etablieren. Vor dem Hintergrund, dass die Übergangsprozesse von Jugendlichen mit Migrationshintergrund langwieriger  und die Einmündungschancen von Ausbildungsstellenbewerberinnen geringer sind als bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund  (Ulrich, J.G./Enggruber, R. 2014 sowie Granato, M. 2014) wird die Bedeutung der qualifizierten Vierstufigkeit auch als ein integrationspolitischer Ansatz deutlich.

Für Berlin braucht dich! hat sich gezeigt, dass die enge Zusammenarbeit zwischen Betrieben und Schulen in Form eines Konsortiums die Chance bietet, den Schülerinnen und Schülern ein breites Spektrum von Berufstätigkeiten als Erfahrungsfeld zu eröffnen und zugleich gemeinsam und verbindlich an der Qualität der Berufsorientierung zu arbeiten. „Gute Betriebsbegegnungen“ in dem Sinne, wie es in diesem Beitrag skizziert wurde, sind aber nach wie vor ein knappes Gut, vor allem, wenn man bedenkt, dass alle Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen Jahrgangsstufen sie benötigen. Hierfür müssen dringend Lösungen gefunden werden.

Einmündung in Ausbildung und Sicherung von Ausbildungserfolg bleiben allerdings der „Prüfstein“. Insofern greift die “Vierstufigkeit” noch zu kurz; sie muss durch gemeinsame Anstrengungen der Partner, gelungene Orientierungen in Ausbildungseintritte und -erfolge umzusetzen, erweitert werden.

Literatur

Amt für Statistik Berlin Brandenburg (2012): Statistischer Bericht – Einwohnerinnen und Einwohner im Land Berlin am 30. Juni 2012. Online: https://www.statistik-berlin-brandenburg.de/publikationen/Stat_Berichte/2012/SB_A01-05-00_2012h01_BE.pdf (15.04.2014).

Arbeitsgemeinschaft Weinheimer Initiative (Hrsg.) (2013): Lokale Bildungsverantwortung. Kommunale Koordinierung beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt. Stuttgart.

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2014): Bildung in Deutschland 2014. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung von Menschen mit Behinderungen. Bielefeld.

BQN Berlin (Hrsg.) (2011): Handbuch für Betriebsbegegnungen in den Klassen 7-10 und in Oberstufenzentren für Schulen und Betriebe im Berlin braucht dich! Konsortium. Entwurfsfassung zur Abstimmung. Berlin. Online: http://www.bqn-berlin.de/pdf/handbuch.pdf (15.04.2014)

BQN Berlin (Hrsg.) (2015a): Handbuch für Betriebsbegegnungen für Betriebe und Schulen im Berlin braucht dich! Konsortium. Berlin.

BQN Berlin (Hrsg.) (2015b): Perspektiven für Jugendliche und Betriebe. Berlin braucht dich! in der Metall- und Elektroindustrie. Berlin.

Bundesinstitut für Berufsbildung (2009): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2009. Informationen und Analysen zur Entwicklung der beruflichen Bildung. Online: http://datenreport.bibb.de/media2009/datenreport_bbb_090525_screen.pdf. (15.04.2014)

Capelle, J. (2014): Zukunftschancen: Ausbildungsbeteiligung und -förderung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Wiesbaden.

Dobischat, R./Kühnlein, G./Schurgatz, R. (2012): Ausbildungsreife. Ein umstrittener Begriff beim Übergang Jugendlicher in eine Berufsausbildung, Arbeitspapier 189, Hans-Böckler-Stiftung. Düsseldorf.

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Praxisorientiertes Lernen – Berufsorientierung als didaktische Verknüpfung technischer und ökonomischer Bildungsinhalte

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1 Einleitung

Bildung steht heute vor einem soziodemografischen Hintergrund, der durch beschleunigte Veränderungen der Lebensbedingungen, der Arbeitsmarktsituation und den Entwicklungen in der Wissensgesellschaft geprägt ist. Folgewirkungen der demographischen Entwicklungen auf die Anzahl von Schülern/innen, Auszubildende, Studierende und Absolventen/innen machen sich zunehmend bemerkbar. In Verbindung mit der allgemeinen Dynamik, den technologischen Entwicklungen und den Globalisierungsprozessen resultieren hieraus u.a. die sinkenden Interessenten/innen- und Bewerber/innenzahlen für technische Berufsausbildungen und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge sowie der gegenwärtige, vor allem von Wirtschaft und Politik beklagte, Mangel an (vor allem weiblichen) Existenzgründern und Nachwuchskräften im technischen sowie natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereich (vgl. Grüneberg/Wenke 2011, 5f.).

Gerade die nötigen Orientierungsaktivitäten für technische Berufsausbildungen und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge haben im Schulalltag der allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt einen noch zu geringen Stellenwert. Einerseits sind technische und ökonomische Bildungsinhalte sowie die Berufsorientierung fest in den Rahmenrichtlinien verankert (vgl. KMLSA 2011, 2012a-d) und sollen eine individuelle Berufsorientierung ermöglichen, jedoch sind die vermittelten Inhalte oftmals nur auf traditionelle (nicht technische) Berufsbilder ausgerichtet. Die technischen Ausbildungsberufe werden von den Schülern/innen gar nicht erst wahrgenommen, obwohl hier ein erheblicher Bedarf bei den regionalen Unternehmen besteht.

Auf der anderen Seite, sind, neben dem dringend benötigten Interesse an technischen Berufen und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen, Handlungskompetenzen im Bereich des unternehmerischen Denkens und Handelns notwendig, um in der sich wandelnden Arbeitswelt bestehen zu können (vgl. Hedke/Möller 2011, 3). Aus der einst arbeitsteiligen, hierarchisch fest strukturierten und standardisierten Arbeitsorganisation, entstehen flexible und individualisierte Formen der Arbeit. Das bedeutet, dass sich die Beschäftigten direkt mit ihren Kompetenzen in die Arbeit einbringen müssen. Es wird nach einem „Unternehmerischen Selbst“ verlangt, welches möglichst kreativ, flexibel, selbstoptimierend und eigenverantwortlich handelt (vgl. Famulla 2011, 16). Dementsprechend wird der Wunsch und die Forderung der Unternehmen deutlich, dass die Schulabgänger/innen neben ökonomischen Grundkenntnissen auch berufsrelevante Kompetenzen besitzen sollen (vgl. Hedke/Möller 2011, 3). Weitere Schwerpunkte müssen auf die Sensibilisierung für Unternehmensgründungen sowie die positive Motivation zur Selbstständigkeit und die Förderung des Unternehmergeistes gelegt werden. Damit diese Forderungen erfolgreich umgesetzt werden können, müssen Elemente der Entrepreneurship Education, welche die „... ökonomische Bildung nicht nur in den Köpfen, sondern auch in der Haltung von Jugendlichen verankert ...“ (Wiepcke 2008, 270), mehr in den Schulalltag integriert werden. Die Entrepreneurship Education „... umfasst dabei alle Bildungsmaßnahmen zur Weckung unternehmerischer Einstellung und Fertigkeiten und setzt darauf, die Beschäftigungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern zu fördern.“ (ebd.)

Auf Grundlage der Ausgangsbedingungen ist es dementsprechend unabdingbar, ein Berufsorientierungskonzept zu entwerfen, welche sowohl die technische, als auch die ökonomische Bildung berücksichtigt, um eine umfassende Berufsorientierung zu gewährleisten, damit die Schüler/innen im Sinne der Handlungsfähigkeit ihren zukünftigen beruflichen Weg selbst gestalten können.

Im vorliegenden Beitrag werden zu Beginn der theoretische Betrachtungsrahmen mit den Begrifflichkeiten Berufsorientierung und handlungsorientierte Didaktik näher eingeführt (Kapitel 2). Anschließend erfolgt die detaillierte Vorstellung des konzipierten und in der Sekundarschule umgesetzten Lehr-Lern-Arrangements „Praxisorientiertes Lernen“ zur verknüpfenden Vermittlung von technischen und ökonomischen Inhalten im Sinne einer praxisnahen Berufsorientierung (Kapitel 3). Abschließend werden die ersten Ergebnisse der Evaluation des mit Schüler/innen der Sekundarschule umgesetzten Lehr-Lern-Arrangements (Kapitel 4) und weitere Einsatzmöglichkeiten diskutiert (Kapitel 5).

2 Theoretischer Betrachtungsrahmen

2.1 Berufsorientierung

Im Allgemeinen werden unter Berufsorientierung alle Maßnahmen verstanden, die den Jugendlichen bei der Bewältigung des Übergangs von der Schule in den Beruf unterstützen (vgl. Butz/Deeken 2010; Famulla/Butz 2005; Schudy 2002; , 2).

Die aktuelle Literatur zum Thema zeigt, dass der Begriff Berufsorientierung vielfältig benutzt wird. Es existiert weder eine einheitliche Definition, noch eine einheitliche Bedeutung. Zur Eingrenzung des Begriffs werden zwei Wortdeutungen unterschieden. Die erste Bedeutung bezieht sich auf den Vorgang des sich Orientierens, im Sinne von „Zurechtfinden“. Diese Bedeutung weist dem Begriff einen prozesshaften Charakter im Sinne der Berufsfindung zu. Die zweite Bedeutung kennzeichnet Berufsorientierung als Berufswahlvorbereitung. Darunter sind alle Maßnahmen durch Schule und Berufsberatung zu verstehen, welche auf eine Orientierungs- sowie Entscheidungshilfe für die persönliche Berufswahl abzielen. Diese zwei Wortdeutungen des Begriffs Berufsorientierung werden durch Schudy, um die vier Bedeutungsvarianten „Subjektive Berufsorientierung“, „Berufsorientierung im Sinne von Berufswahlvorbereitung“, „Berufsorientierung von Bildungsinhalten und Unterrichtsmethoden“ sowie „Berufsorientierung im Sinne von arbeitsweltbezogener Allgemeinbildung“ erweitert (vgl. Schudy 2002, 9f.).

In den Projekten am Fachgebiet Aufbau- und Verbindungstechnik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg werden drei Bedeutungsvarianten der Berufsorientierung aufgenommen und innerhalb der angebotenen Unterrichtsmodule (Tabelle 3) umgesetzt. Dabei stehen die ersten beiden Module (Berufsorientierung und Bewerbungstraining) für die Facette „Berufsorientierung im Sinne von Berufswahlvorbereitung“. Die Module zielen auf eine Aneignung von Kenntnissen, Erkenntnissen, Erfahrungen und Fähigkeiten ab, die es den Schülern/innen ermöglichen, eine Entscheidung unter Berücksichtigung individueller Neigungen und aktueller Arbeitsmarktlage in Hinblick auf ihre Erstausbildung zu treffen.

Die technischen und ökonomischen Bausteine decken die Facette „Berufsorientierung im Sinne von arbeitsweltbezogener Allgemeinbildung“ ab, indem den Schülern/innen Möglichkeiten geboten werden, sich mit ökonomischen und technischen Herausforderungen der Arbeitswelt auseinanderzusetzen, welches auf eine Stärkung ihrer Handlungskompetenzen abzielt. Dabei haben die vier Module das übergeordnete Ziel, die Facette der „Subjektiven Berufsorientierung“ positiv zu beeinflussen, indem die Jugendlichen, Arbeit und Beruf als maßgebliche und unverzichtbare Elemente für ihre Berufsbiographie erkennen.

Die theoretische Betrachtung des Begriffs lässt deutlich erkennen, dass Berufsorientierung ein andauernder Prozess ist, indem Jugendlichen mit Kompetenzen ausgestattet werden müssen, die sie auf ihre späteren Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen vorbereiten. Ziel der Berufsorientierung muss es dementsprechend sein, die Handlungsfähigkeit der Schüler/innen zu fordern und zu fördern, damit sie ihre individuellen Arbeits- und Berufsbiographien selbst gestalten können. Daher gilt für die weiteren Ausführungen folgende Definition, welche die genannten Punkte kompakt zusammenfasst: „Berufsorientierung ist ein lebenslanger Prozess der Annäherung und Abstimmung zwischen Interessen, Wünschen, Wissen und Können des Individuums auf der einen und Möglichkeiten, Bedarfe und Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt auf der anderen Seite. Beide Seiten, und damit auch der Prozess der Berufsorientierung, sind sowohl von gesellschaftlichen Werten, Normen und Ansprüchen, die wiederum einem ständigen Wandel unterliegen, als auch den technologischen und sozialen Entwicklungen im Wirtschafts- und Beschäftigungssystem geprägt.“ (Famulla/Butz 2005)

2.2 Handlungsorientierte Didaktik

Neben den fachlichen Inhalten der technischen und ökonomischen Bildung im Sinne einer umfassenden Berufsorientierung, bedarf es einer Unterrichtssequenz, welche die Kompetenzentwicklung fordert und fördert. Es reicht nicht mehr aus, auf bloße fachliche Qualifikationen zu setzen. Aus diesem Grund muss den Schülern/innen die Aufgabe gestellt werden, ihre individuellen Fähigkeiten weiterzuentwickeln und selbstverantwortlich zu handeln. Daher müssen Lernprozesse so gestaltet werden, dass die Lernenden befähigt werden, selbstständig zu arbeiten. Demzufolge rückt die methodisch-didaktische Gestaltung der Lernsituationen in den Vordergrund. Die Handlungsorientierung dient als theoretische Grundlage für die Gestaltung der Lernprozesse, in denen die Schüler/innen durch selbständiges Handeln lernen. Die ökonomischen und technischen Bildungsinhalte (Theorie) werden in die Praxis transferiert (praxisorientiertes Lernen), wodurch die Schüler/innen durch aktives Tun, der Durchführung einer Handlung, und nicht nur durch gedankliches Nachvollziehen, die Lerninhalte durchführen. Die Theorie wird in der Praxis, in realen Situationen, erlebt und gelernt. Durch diesen Theorie-Praxis-Transfer werden berufliche Handlungskompetenzen gefördert.

Handlungsorientierter Unterricht „... ist ein ganzheitlicher und schüleraktiver Unterricht, in dem die zwischen dem Lehrer und den Schülern/innen vereinbarten Handlungsprodukte die Gestaltung des Unterrichtsprozesses leiten, sodass Kopf- und Handarbeit der Schüler/innen in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden können.“ (Jank/Meyer 2011, 315) Somit stehen nicht die fachlichen Inhalte im Mittelpunkt, sondern diese mit allen Sinnen zu erlernen, wobei das Lernen mit Kopf, Hand, Fuß und Herz realisiert werden soll (vgl. ebd.). Handlungsorientierter Unterricht (Tabelle 1) zeichnet sich dadurch aus, dass das Handeln des Lernenden im Mittelpunkt des Lernprozesses steht.

Tabelle 1:     Ausgewählte Merkmale des handlungsorientierten Unterrichts (vgl. Jank/Meyer 2011, 316-319)

Merkmal Beschreibung
Ganzheitlichkeit

-      Vollständige Handlung

-      Enger Praxisbezug

-      Fächerübergreifend

Aktivität der Lernenden

-      Selbstständiges Lernen

-      Verknüpfung von Kopf- und Handarbeit

-      Problemlösung

-      Interaktionsbetonte Methoden

Zielgruppenorientierung

-      Berücksichtigung vorhandener Erfahrungen

-      Berücksichtigung von Interessen

Hierbei tritt die Lehrkraft in den Hintergrund und fungiert als Moderator/in der Lernsequenz. Sie greift auf inhaltlicher Ebene nicht in das Unterrichtsgeschehen ein, sondern organisiert die Lernsituation von außen. Diese Rollenverteilung unterstützt das selbstständige Arbeiten der Schüler/innen. Durch die praxisnahen, komplexen und problemlösungsorientierten Aufgaben, werden die Schüler/innen angeregt, aktiv, konstruktiv und zielorientiert die Lerninhalte zu bearbeiten. Das bereits erworbene Wissen wird mit den neuen Lerneinheiten verknüpft. Die Aufgabenstellungen sind dabei methodisch abwechslungsreich. Im Mittelpunkt der Beurteilung stehen nicht die Ergebnisse, sondern der Weg zum Ergebnis und der Lernprozess.

Das Unterrichtskonzept zum praxisorientierten Lernen, welches am Fachgebiet Aufbau- und Verbindungstechnik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg entstanden ist, wurde auf Grundlage des handlungsorientierten Unterrichts entworfen und in der Praxis realisiert.

3 Das Lehr-Lern-Arrangement „Praxisorientiertes Lernen“

3.1 Kurzvorstellung des „Praxisorientierten Lernens“

Das Konzept des praxisorientierten Lernens im Sinne einer praxisbezogenen Berufsorientierung vereint technische und ökonomische Bildung sowie die Umsetzung in der Praxis an einem außerschulischen Lernort. Durch das Zusammenspiel dieser Bereiche, erlangen die Schüler/innen Kenntnisse über verschiedene technische Berufsbilder, direkte Einblicke in ein Unternehmen bzw. den Organisationsablauf, ökonomisches und technisches Grundwissen sowie wirtschaftsbezogene Kompetenzen, um ihre persönliche und berufliche Zukunft bewusst und aktiv gestalten zu können.

Die ökonomischen Bildungsinhalte (Entrepreneurship Education) vermitteln Handlungskompetenzen des unternehmerischen Denkens und Handelns, welche immer wichtiger in der Berufsausbildung und im späteren Berufsleben werden. Die technischen Inhalte im Sinne einer Techniksensibilisierung tragen dem Fachkräftebedarf und dem Mangel an Ausbildungsplatzbewerbern für technische Berufe Rechnung und sollen den Schülern/innen die beruflichen Perspektiven in diesen Beschäftigungsfeldern aufzeigen. Die folgende Tabelle zeigt, inwieweit sich das Konzept exemplarisch direkt in ausgewählte Kompetenzbereiche und -schwerpunkte der gültigen Fachlehrpläne der Sekundarschule in Sachsen-Anhalt einordnen lassen können (Tabelle 2).

Tabelle 2:     Exemplarische Einordnung in die Fachlehrpläne (KMLSA 2012a-d)

Fachlehrplan Kompetenzbereich/-schwerpunkt
Wirtschaft

-      Entwicklungen im Handel vergleichen und bewerten

-      Unternehmerisches Handeln erkunden und erproben

-      Berufsperspektiven erkunden und planen

Technik

-      Den Computer als Werkzeug nutzen

-      Technische Systeme beschreiben und analysieren

Geographie

-      Strukturen und Prozesse in Wirtschaftsräumen analysieren und erläutern

-      Räume unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit analysieren

-      Raumausstattung, Raumnutzung und Raumgestaltung analysieren und erläutern

Deutsch

-      Sachbezogen, situationsangemessen und adressatengerecht sprechen und zuhören

-      Sachbezogen, situationsangemessen und adressatengerecht schreiben

-      Sachtexte verstehen, reflektieren und nutzen

-      Medien verstehen, reflektieren und nutzen

Konzipiert wurde das Lehr-Lernarrangement „Praxisorientierten Lernen“ am Fachgebiet Aufbau- und Verbindungstechnik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Das Fachgebiet engagiert sich in einer Vielzahl von Projekten, Initiativen und Netzwerken zur Berufs- und Studienorientierung sowie zur technischen und ökonomischen Bildung.

Gemeinsam haben alle diese Projekte, dass sie direkt in den allgemein- und berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt durchgeführt werden, aus verschiedenen handlungsorientierten Unterrichtseinheiten bestehen, zu unterschiedlichsten Themenbereichen und praxisorientierten Kooperation mit regionalen Unternehmen durchgeführt werden (Tabelle 3).

Die handlungsorientierten Unterrichtsmodule werden sowohl direkt in den Schulen (z.B. Blockveranstaltungen, Arbeitsgemeinschaften, Projektwochen, unterrichtsintegriert) angeboten, als auch in partizipierenden regionalen Unternehmen (z.B. Unternehmerwerkstatt, Praxistag, Praktika) und direkt vor Ort an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (z.B. Praktika, Herbst-Uni, CampusDays, individuelle Schnuppertage, Zukunftstag) umgesetzt. Zusätzlich werden Lehrerfortbildungen angeboten, damit die Lehrer/innen die entwickelten Unterrichtsmodule selbstständig z.B. im Technik- oder Wirtschaftsunterricht umsetzen können. Die benötigten Materialien werden den Lehrkräften zur Verfügung gestellt.

Tabelle 3:     Themenblöcke und Unterrichtsmodule (Auszug)

1. Berufs- und Studienorientierung

1.1 Bildungswege in Deutschland

1.2 Berufsausbildung in Deutschland

1.3 Studium in Deutschland

1.4 Beruflicher Neigungstest

1.5 ...

2. Bewerbungstraining

2.1 Vorbereitungsphase

2.2 Stellensuche

2.3 Schriftliche Bewerbung

2.4 Vorstellungsgespräch

2.5 ...

3. Ökonomische Bildung

3.1 Markt und Preisbildung

3.2 Standortanalyse

3.3 Werbung und Marketing

3.4 Einnahmen und Ausgaben

3.5 ...

4. Technische Bildung

4.1 Arbeit und Produktion

4.2 Fertigungsverfahren

4.3 Information und Kommunikation

4.4 Technische Systeme

4.5 ...

3.2 Umsetzung des „Praxisorientierten Lernens“

Das Konzept „Praxisorientiertes Lernen“ fordert und fördert das eigenverantwortliche und selbstgesteuerte Lernen im Unterricht und in außerschulischen Lernsituationen. Es werden dabei formelle, also das Lernen im Unterricht und informelle Lernkontexte, außerschulisches Lernen, durch Lernaufgaben, welche im Rahmen des Unterrichts erarbeitet werden, verbunden. Im Vorfeld des praxisorientierten Lernens strukturieren Lehrer/in (Schule), Trainer/in (Universität) und Ausbilder/in (Partnerunternehmen) die einzelnen Bausteine und legen den Ablaufplan sowie Termine fest. Weiterhin müssen im Vorfeld schul- und unternehmensspezifische Rahmenbedingungen abgestimmt werden.

In kleinen Projektgruppen von maximal zehn Schülern/innen werden innerhalb der Unterrichtseinheiten ökonomische und technische Aspekte einer Produktidee bearbeitet. Nachdem die Schüler/innen die wirtschaftlichen Grundbegriffe und Abteilungen in Unternehmen erarbeitet haben, durchlaufen sie den Weg von der Produktentwicklung über die Produktionsplanung bis zur Produktherstellung und Vermarktung (Tabelle 3). Dazu wird in der Projektgruppe eine Produktidee erarbeitet (Baustein 1), um im nächsten Schritt eine technische Zeichnung anzufertigen, welche die Grundlage für die Herstellung eines Prototyps (Baustein 2) beispielsweise aus Papier bildet. Anschließend folgt die Produktionsplanung, in dem der Arbeitsablauf und die Materialbestellung erstellt werden (Baustein 3). Diese Dokumente werden den Ausbildern/innen (Unternehmenspartner/innen) zur Vorbereitung des Praxistags übermittelt. Während dieser Bearbeitungsphase werden gleichzeitig passend zum jeweiligen Arbeitsschritt technische Berufsbilder erarbeitet, wie beispielsweise die dualen Berufsausbildungen Industriemechaniker/in, Verfahrensmechaniker/in für Kunststoff- und Kautschuktechnik, Technische/r Produktdesigner/in oder Mikrotechnologe/in (Tabelle 4).

Tabelle 4:     Bausteine im Projektorientierten Lernen, Partner und Berufe

Baustein Verantwortung Mögliche Berufe (Auswahl)
1. Ideengenerierung

-      Lehrer/in

-      (Trainer/in)

-      Mediengestalter/in

-      Technische/r Produktdesigner/in

2. Prototyp

-      Lehrer/in

-      (Trainer/in)

-      Konstruktionsmechaniker/in

-      Technische/r Modellbauer/in

3. Produktionsplanung

-      Ausbilder/in

-      (Trainer/in)

-      Industriemechaniker/in

-      Produktionstechnologe/in

4. Herstellung

-      Ausbilder/in

-      (Trainer/in)

-      Mikrotechnologe/in

-      Verfahrensmechaniker/in

5. Businessplan

-      Trainer/in

-      (Lehrer/in)

-      Informatikkaufmann/frau

-      IT-System-Kaufmann/frau

Der nächste Schritt des praxisorientierten Lernens fokussiert das Herstellen der Produktidee (Baustein 4 durch die Schüler/innen ) im Partnerunternehmen. Während des Praxistags am außerschulischen Lernort (Werkstatt des Partnerunternehmens) lernen die Schüler/innen das Unternehmen sowie die Organisationsabläufe kennen und erfahren direkt in der Praxis, wie ein Produkt hergestellt wird. Die Betreuung der Schüler/innen erfolgt u.a. durch die Auszubildenden des Partnerunternehmens. Dadurch wird gewährleistet, dass die vorgestellten Berufsbilder durch Gespräche mit den Auszubildenden vertieft werden.

Den abschließenden Teil (Baustein 5) bildet das Stationenlernen „Businessplan“. Anhand des entwickelten und hergestellten Produkts werden die Stationen Finanzierung, Marketing, SWOT-Analyse, Nachhaltigkeit und Standortfaktoren durchlaufen (Tabelle 3). Dabei wird die Gruppe in Zweier-Teams geteilt, so dass jede Station durch ein Team besetzt ist. Der Abschluss bildet eine Präsentation und Reflektion der Schüler/innen sowohl über die Arbeitsergebnisse, als auch über die eigenen gemachten Erfahrungen.

In den folgenden Abschnitten werden die einzelnen Bausteine des Lehr-Lern-Arrangements „Praxisorientiertes Lernen“ vorgestellt.

3.2.1 Baustein 1+2: Ideenfindung und Prototyp

Die beiden Bausteine sind insgesamt für drei Stunden je neunzig Minuten konzipiert. Während der Einführung werden die benötigten wirtschaftlichen Begriffe, die Abteilungen eines Unternehmens und die Kooperationspartner kennengelernt. Dazu dient u.a. ein für Schüler/innen geeignetes Brettplanspiel zur Berufsorientierung. Die dadurch kennengelernten Begriffe und Abteilungen werden in einem zweiten Schritt auf das Partnerunternehmen transferiert. Bereits an dieser Stelle bietet sich an, abteilungsspezifische Berufsbilder durch die Schüler/innen erarbeiten zu lassen.

Vor der Ideengenerierung wird die Kreativität durch spezifische Übungen und Techniken gefördert. Zur eigentlichen Ideengenerierung empfiehlt sich das „Beutelspiel“. Ein beliebiger Beutel beinhaltet eine kleine Auswahl von „Krimskrams“, wie Pappteller, Schwamm, Plastebesteck, Kugeln, Klammern und ähnliches. Wichtig ist, dass genügend Fixierungsmaterial, wie Klebestreifen, Bänder, Gummis vorhanden ist. Ziel ist es innerhalb von zwanzig Minuten eine Produkt- oder Geschäftsidee pro Schüler/innen-Gruppe zu generieren. Es empfiehlt sich weiterhin, bereits den Werkstoff (z.B. GFK) des Partnerunternehmens zu nutzen. Aus der Produktidee entsteht in einem zweiten Schritt ein Prototyp. An dieser Stelle müssen mit den Schülern/innen die Maß- und Vorgaben des Partnerunternehmens (Ausbilder/in) besprochen werden. Es wird der einzusetzende Werkstoff vorgestellt und mit Hilfe problemlösungsorientierter Aufgaben näher kennengelernt. Bevor der Prototyp des Objekts aus z.B. Papier gebaut wird, muss eine technische Skizze erstellt werden. Innerhalb dieser Sequenz werden weitere technische Berufsbilder vorgestellt.

3.2.2 Baustein 3+4: Produktionsplanung und -herstellung

Diese beiden Bausteine beinhalten eine neunzigminütige Vorbereitung auf den Praxistag sowie die Durchführung im Partnerunternehmen als Tagesexkursion. Während der Vorbereitung wird eine Materialbestellung durch die Schüler/innen angefertigt und dem Partnerunternehmen gesendet, ein Produktionsplan mit den jeweiligen Arbeitsschritten erstellt sowie sich mit dem Thema Sicherheit am Arbeitsplatz befasst. Ziel ist es durch problemlösungsorientierte Aufgabenstellungen den Produktionsablauf in einem Unternehmen im Vorfeld des Praxistages zu verstehen.

3.2.3 Baustein 5: Stationenlernen „Businessplan“

Der Baustein „Businessplan“ ermöglicht den Schüler/innen mit Hilfe der Methode des Stationenlernens (auch Lernzirkel genannt) eine erste Auseinandersetzung mit den Bestandteilen eines Geschäftsplans. Das Lernen an Stationen ist eine Form des offenen Unterrichts, welches selbstorganisiertes Lernen mit einer hohen Eigenständigkeit in den Mittelpunkt stellt. Der Businessplan wird in seine Bestandteile zerlegt und von den Schüler/innen an verschiedenen Stationen selbstständig bearbeitet.

Dafür werden in einem Raum verschiedene Stationen eingerichtet (Tabelle 5), an denen verschiedene Materialien und eindeutig formulierte Arbeitsaufträge bereitliegen. Die zu lösenden Aufgaben und Materialien sind dabei didaktisch so aufbereitet, dass die Schüler/innen sich individuell mit der jeweiligen Stationsthematik beschäftigen können. An den Stationen kommen unterschiedliche Medien und Materialien (z.B. Videos, Podcasts, Expertenvortrag) zum Einsatz, um unterschiedlichen Lerntypen (z.B. visuell, audiovisuell) gerecht werden zu können. Die zeitliche Vorgabe der Stationen ist gleich und wird durch ein Klingelzeichen signalisiert. Daraufhin verlassen die jeweiligen Schüler/innen die Station, um Platz für die nachfolgende Gruppe zu machen. Im Anschluss der Stationsarbeit stellen die Schüler/innen oder Gruppen mit Hilfe einer Präsentation ihre Ergebnisse vor.

Tabelle 5:     Baustein 5: Stationenlernen „Businessplan“

Station Grundidee Material
Finanzierung Die Schüler/innen lernen verschiedene Kostenarten kennen und erkennen welche Kosten zur Herstellung ihrer Produkte eine Rolle spielen.

-      Aufgabenblatt

-      Excelarbeitsblatt

Marketing Die Schüler/innen erarbeiten das Alleinstellungsmerkmal ihrer Produktidee, entwerfen einen Produktnamen und einen Slogan.

-      Aufgabenblatt

-      Best-Practice-Videos

Wettbewerbssituation
(SWOT-Analyse)
Die Schüler/innen beurteilen die eigene wirtschaftliche Lage sowie die Entwicklungen in der eigenen Branche und entwerfen mit Hilfe der SWOT-Analyse eine geeignete Unternehmensstrategie.

-      Aufgabenblatt

-      Vortrag

Nachhaltigkeit Die Schüler/innen ermitteln anhand des „Drei-Säulen-Modells“ die möglichen Nachhaltigkeitsaspekte ihres Produkts.

-      Aufgabenblatt

-      Podcast

Standortfaktoren Die Schüler/innen lernen verschiedene Standortfaktoren kennen und führen eine Standortanalyse durch. -      Arbeitsheft

4 Evaluation des Lehr-Lern-Arrangements

Die Evaluation des vorgestellten Lehr-Lern-Arrangements „Praxisorientiertes Lernen“ garantiert, dass die gesetzten Zielstellungen, wie die Berufsorientierung für technische Berufsausbildungen, die verknüpfende Vermittlung von ökonomischen und technischen Bildungsinhalten sowie Entwicklung von Handlungskompetenzen erreicht werden. Die dabei gesetzten Ziele der Evaluation unterteilen sich in die folgenden Bereiche:

  • Evaluation der Einflussfaktoren auf die Berufswahl
  • Evaluation des Vermittlungserfolgs
  • Evaluation des Unterrichtsprozesses

Die Evaluation der Einflussfaktoren auf die Berufswahl der Schüler/innen kennzeichnet die Eruierung möglicher Aspekte, welche im Berufswahlprozess und bei der Berufswahlentscheidung eine entscheidende Rolle spielen. Die Evaluation des Vermittlungserfolgs ist charakterisiert durch die Erhebung des Wissenstandes der Schüler/innen einmal vor und einmal nach der Teilnahme am praxisorientierten Lernens. Die zwei Messpunkte mit der gezielten Wissensabfrage vor und nach Durchführung des didaktischen Konzepts und der dazwischenliegenden Intervention sollen gewährleisten, dass konkrete Rückschlüsse auf den Wissensgewinn der Schüler/innen gezogen werden können. Die Evaluation des Unterrichtsprozesses innerhalb der praktischen Umsetzung des entwickelten POL-Konzepts soll didaktische und organisatorische Frage- und Problemstellungen bei der Durchführung erfassen, um Adaptions- und Optimierungspotentiale zu eruieren, welche der Verbesserung des POL-Ansatzes dienen.

Die Erhebung der benötigten Daten innerhalb der Durchführungen des didaktischen Konzepts erfolgte anhand einer standardisierten Schüler/innen-Befragung (Fragebogen). Entsprechend der Zielformulierungen des Evaluations- und Erhebungsansatzes wurden Einzelfragen zu den entsprechenden Punkten konzipiert. Der Schüler/innen-Fragebogen bestand aus folgenden Themenkomplexen:

  • Daten der Teilnehmer/innen
  • Fragen zu Einflussfaktoren auf die Berufswahl
  • Fragen zum technischen und ökonomischen Grundwissen (Vermittlungserfolg)
  • Fragen zum Unterrichtsprozess

Gleichzeitig wurde ein standardisierter Lehrer/innen- und Ausbilder/innen-Fragebogen eingesetzt, welcher die individuellen Einschätzungen der betreuenden Lehrer/innen und Ausbilder/innen zum didaktischen Konzept „Praxisorientiertes Lernen (POL)“ erheben sollte, um diese mit den Einschätzungen der Schüler/innen vergleichen zu können.

4.1 Soziodemografische Daten

Insgesamt wurde das hier vorgestellte Lehr-Lern-Arrangement „Praxisorientiertes Lernen (POL)“ an drei Sekundarschulen in Kooperation mit drei Unternehmen in Sachen-Anhalt mit 83 Schüler/innen der neunten Klasse durchgeführt (Stand Juni 2014). Für die Auswertung der vorliegenden Stichprobe konnten 78 Fragebögen (N=78) berücksichtigt werden. Die Stichprobe setzt sich aus 42 Schülern (53,8%) und 36 Schülerinnen (46,2%) zusammen. Alle befragten Schüler/innen besuchten die neunte Klasse der Sekundarschule. Insgesamt machten 24,4% der befragten Schüler/innen keine Angaben über einen möglichen Berufswunsch. Dabei ließ sich kein großer Unterschied zwischen den befragten Jungen (23,8%) und Mädchen (25,0%) feststellen. Von den Schüler/innen, die einen Berufswunsch angaben, wählten 23,7% einen Beruf aus dem technischen Bereich. Differenziert nach Geschlecht streben 37,5% der männlichen Schüler, aber nur 7,5% der weiblichen Schüler eine duale Ausbildung in einem technischen Beruf an.

4.2 Evaluation der Einflussfaktoren auf die Berufswahl

Die Auswertung der Fragebögen hinsichtlich möglicher Einflussfaktoren auf die Berufswahl der befragten Schüler/innen zeigt, dass vor allem das Praktikum, die Eltern und das Internet einen starken bzw. sehr starken Einfluss auf die Schüler/innen haben (Tabelle 6). Über ein Drittel (34,6%) der befragten Schüler/innen gab an, dass das Praktikum sie „sehr stark“ bezüglich ihrer Berufswahl beeinflusst hat (stark: 42,3%).

Tabelle 6:     Beeinflussungsfaktoren auf die Berufswahl

Faktor sehr stark stark schwach sehr schwach Mittelwert
Praktikum 34,6% 42,3% 14,1% 9,0% 1,97
Eltern 14,1% 39,7% 29,5% 16,7% 2,49
Internet 10,3% 29,5% 33,3% 26,9% 2,77
Agentur für Arbeit 6,4% 26,9% 35,9% 30,8% 2,91
Freunde 5,1% 19,2% 42,3% 33,3% 3,04
Lehrer/in 5,1% 17,9% 41,0% 35,9% 3,08
Bekannte 3,8% 17,9% 43,6% 34,6% 3,09
Geschwister 3,8% 15,4% 26,9% 53,8% 3,31
Bekannte 3,8% 17,9% 43,6% 34,6% 3,09
Fernsehen/Radio 1,3% 6,4% 39,7% 52,6% 3,44
Zeitung 2,6% 9,0% 29,5% 59,0% 3,45

Auf dem zweiten Platz folgen die Eltern (sehr stark: 14,1%, stark: 39,7%). Die schwächste Beeinflussung auf die Berufswahl üben die beiden Faktoren Fernsehen/Radio (schwach: 39,7%, sehr schwach 52,6%) und Zeitung (schwach: 29,5%, sehr schwach: 59,0%) aus.

Differenziert nach Schülern und Schülerinnen lassen sich keine signifikanten Unterschiede innerhalb der Beeinflussungsfaktoren erkennen. Sowohl bei den Schülern als auch bei den Schülerinnen üben die Faktoren Praktikum, Eltern und Internet die größte Beeinflussung auf die individuelle Berufswahl aus. Die Faktoren Fernsehen/Radio und Zeitung weisen auch hier den geringsten Beeinflussungsgrad auf. Diese Beobachtungen werden durch die Betrachtung der Mittelwerte bestätigt (Tabelle 4). Die Faktoren Praktikum (MW: 1,97), Eltern (MW: 2,49) und Internet (MW: 2,77) weisen die kleinsten und die Faktoren Fernsehen/Radio (MW: 3,44) und Zeitung (MW: 3,45) die größten Mittelwerte auf.

Gefragt nach bereits besuchten Veranstaltungen zur Berufsorientierung gaben 89,7% der Sekundarschüler/innen an, dass sie ein Praktikum absolviert haben. Damit liegt das Praktikum deutlich vor allen anderen Veranstaltungen zur Berufsorientierung. Hier spielt die Tatsache eine Rolle, dass das Praktikum in Sachsen-Anhalt verpflichtend im Fachlehrplan geregelt ist. Auf den nachfolgenden Plätzen ordnen sich der Besuch von Berufsorientierungsmessen (67,9%) und der Girl’s/Boy’s Day (56,4%) ein.

4.3 Evaluation des Vermittlungserfolgs

Die Bewertung des Vermittlungserfolgs des konzipierten Konzepts erfolgte anhand einer Erhebung des Fachwissens der Schüler/innen durch einen standardisierten Fragebogen, welcher vor und nach dem Unterrichtskonzept „Praxisorientiertes Lernen“ durch die teilnehmenden Schüler/innen ausgefüllt wurde. Der Fragebogen bestand zum einen aus Fragen zum ökonomischen und technischen Fachwissen und zum anderen aus Fragen zum individuellen Stand der Berufsorientierung der Schüler/innen. Dabei wurden zum einen der Wissenstand der Teilnehmer/innen zu den benannten Themenkomplexen vor und nach der Durchführung erhoben und, im Sinne einer Überprüfung des Fachwissens, mit einander verglichen. Die Intention dabei war es, mögliche Rückschlüsse auf notwendige inhaltliche und methodische Anpassungen für zukünftige Durchführungen zu erhalten. Zum anderen diente die Erhebung nach der Intervention zur Leistungsüberprüfung der Schüler/innen. Die Auswertung der Fragebögen ergab, dass die Schüler/innen vor der Teilnahme am „Praxisorientierten Lernen“ deutlich schlechter abschnitten als nach der Teilnahme. Hierfür wurden aus dem Schülerfragebogen die Anzahl der Antworten mit voller Punktzahl aus dem Eingangsfragebogen mit der Anzahl der Antworten mit voller Punktzahl aus dem Ausgangsfragebogen verglichen. Tabelle 7 zeigt auszugsweise die prozentuale Gegenüberstellung der Teilnehmer/innen, die im Eingangsfragebogen die maximale Punktzahl erzielt und der Teilnehmer/innen, die im Ausgangsfragebogen die maximale Punktanzahl erreicht haben. Gleichzeitig wird dargestellt, inwieweit sich die Anzahl der vollständig richtigen Antworten prozentual verändert hat, wobei deutlich wird, dass die Anzahl der vollständig richtig beantworteten Fragen nach der Teilnahme deutlich höher lagen als vor der Absolvierung des „Praxisorientierten Lernens“.

Beispielsweise wurde die Frage nach den Akteuren im einfachen Wirtschaftskreislauf von mehr als der Hälfte der Schüler/innen (52,6%) nach der Teilnahme richtig beantwortet. Vorher war nur etwa jede/r vierte Schüler/in (26,9%) dazu in der Lage, was einer Steigerung von 25,6% entspricht. Die Untersuchung hinsichtlich geschlechtsspezifischer Unterschiede innerhalb der Ergebnisse liefert keine signifikanten Differenzen bezüglich der befragten Schüler und Schülerinnen. Die Erhebung des Vorwissens der Schüler/innen und die Evaluation des Vermittlungserfolgs zeigen, dass bestimmte Themen stärker (z.B. Markt, Dauer Berufsausbildung) bzw. schwächer (z.B. Standortfaktoren, regionale Arbeitgeber) zum fachlichen Wissen der befragten Schüler/innen gehören.

Tabelle 7:     Antworten mit Maximalpunktzahl im Eingangs- (EF) und Ausgangsfragebogen (AF) (Auszug aus den Ergebnissen)

Fragestellung EF AF AF-EF
Was bedeutet die Abkürzung GmbH? 41,0% 57,7% + 16,7%
Wer sind die Akteure im einfachen Wirtschaftskreislauf? 26,9% 52,6% + 25,6%
Was ist ein Markt? Auf dem Markt treffen sich ... 78,2% 85,9% + 7,7%
Ein steigender Preis für ein Gut bedeutet, dass ... 16,7% 25,6% + 9,0%
Nennen Sie drei Standortfaktoren. 2,6% 34,6% + 32,1%
Erläutern Sie den Unterschied zwischen Brutto- und Nettogehalt. 6,4% 17,9% + 11,5%
Unter einer Dualen Berufsausbildung versteht man, ... 65,4% 87,2% + 21,8%
Nennen Sie drei Berufsausbildungen. 30,8% 55,1% + 24,4%
Nennen Sie drei regionale Arbeitgeber. 7,7% 26,9% + 19,2%
Wie lange dauert in der Regel eine Duale Berufsausbildung? 55,1% 74,4% + 19,2%

Befragt nach der individuellen Wahrnehmung des eigenen Kenntniszuwachses, gaben 74,4% der Schüler/innen nach der Teilnahme an, dass ihre theoretischen Kenntnisse über die behandelten Aspekte in den Bereichen Berufsorientierung, technische und ökonomische Bildung verbessert haben. Dass hierzu vor allem die didaktisch-methodische Ausgestaltung des Unterrichts und somit die eingesetzten Unterrichtsmethoden beigetragen haben, gaben 83,3% der Schüler/innen an. Dieser subjektive Eindruck wurde durch die befragten Ausbilder/innen und Lehrer/innen bekräftigt. Ihren wirtschaftlichen und technischen Kenntnisstand, ihr Wissens über spätere Ausbildungswege sowie die eigenen Kompetenzen (z.B. Kommunikations-, Kreativitäts- und Präsentationsfähigkeiten) schätzte die Mehrheit der Schüler/innen nach der Teilnahme deutlich besser als vor der Durchführung ein.

4.4 Evaluation des Unterrichtsprozesses

Die Zielstellung des Konzepts „Praxisorientiertes Lernen“ im Sinne einer Berufsorientierung ist die Verknüpfung von technischen und ökonomischen Bildungsinhalten sowie die praktische Umsetzung sowohl in der Schule als auch an einem außerschulischen Lernort. Gleichzeitig werden Kenntnisse über verschiedene technische Berufsbilder, direkte Einblicke in Unternehmen sowie entsprechende Fach-, Personal- und Sozialkompetenzen (u.a. Handlungskompetenzen des unternehmerischen Denkens und Handelns) an die Schüler/innen vermittelt. Hierfür wurde die theoretische Grundlage für die Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements „Praxisorientiertes Lernen“ auf das methodisch-didaktische Konzept des handlungsorientierten Unterrichts gelegt (vgl. Jank/Meyer 2011, 316-319).

Befragt nach der methodischen Ausgestaltung der Unterrichtssequenz (Tabelle 8) gaben 71,8% der teilnehmenden Schüler/innen an, dass es ihnen durch das „Stationenlernen“ leichter gefallen ist, den Themenkomplex „Businessplan“ zu verstehen. Besonders hervorgehoben und positiv beurteilt wurde der Einsatz der Best-Practice-Videos (sehr gut: 41,0%, gut: 44,9%, MW: 1,77) und des Podcast (sehr gut: 39,7%, gut: 48,7%, MW: 1,74). Zugleich beurteilten 85,9% der Teilnehmer/innen als gut bis sehr gut, dass verschiedene Themenkomplexe in Gruppenarbeit erarbeitet wurden. Ähnliche Ergebnisse erzielten das eingesetzte Brettplanspiel zur Berufsorientierung (sehr gut: 37,2%, gut: 39,7%, MW: 1,90) und das Beutelspiel zur Ideengenerierung (sehr gut: 42,3%, gut: 33,3%, MW: 1,85). Fast die Hälfte der Schüler/innen empfanden es als sehr gut, dass sie die theoretischen Inhalte direkt am Lernort Unternehmen anwenden konnten (sehr gut: 46,2%, gut: 42,3%, MW: 1,69).

Tabelle 8:     Bewertung der methodischen Ausgestaltung der Unterrichtssequenz

  sehr gut gut schlecht sehr schlecht MW
Best-Practice-Videos 41,0% 44,9% 10,3% 3,8% 1,77
Podcast 39,7% 48,7% 9,0% 2,6% 1,74
Gruppenarbeit 38,5% 47,4% 7,7% 6,4% 1,82
Brettplanspiel 37,2% 39,7% 19,2% 3,8% 1,90
Beutelspiel 42,3% 33,3% 21,8% 2,6% 1,85
Lernort Unternehmen 46,2% 42,3% 7,7% 3,8% 1,69

Das didaktische Konzept „Praxisorientiertes Lernen“ mit seinem lernortübergreifenden und praxisorientierten Ansatz wird von den Teilnehmern/innen als zielführendes Lehr-Lern-Arrangement wahrgenommen, welches das Verstehen von technischen und ökonomischen Zusammenhänge erleichtert und unterstützt. Unter anderem gaben die Schüler/innen an, dass sich nach ihren subjektiven Einschätzungen ihre Fähigkeit frei vor einer Gruppe zu sprechen, verbessert hat. Über 80,0% der Teilnehmer/innen sagten, dass sich ihre technischen (trifft voll zu: 37,2%, trifft zu: 46,2%) und ökonomischen (trifft voll zu: 33,3%, trifft zu: 48,7%) Kenntnisse durch die didaktisch-methodische Unterrichtsgestaltung verbessert haben. Diese Eindrücke werden von den befragten Ausbildern/innen und Lehrern/innen bestätigt.

Zusammenfassend zeigte die Evaluation, dass das konzipierte und umgesetzte Unterrichtskonzept „Praxisorientiertes Lernen“, die mit dem didaktischen Ansatz verfolgten Leitziele, der zielgruppenspezifischen und handlungsorientierten Begleitung von individuellen Berufswahlentscheidungsprozessen, erreicht. Damit kann das vorgestellte Lehr-Lern-Arrangement einen Anteil zur verknüpfenden Vermittlung von ökonomischen und technischen Bildungsinhalten im Sinne einer praxisnahen Berufsorientierung von Schülern/innen der Sekundarschule in Sachsen-Anhalt beitragen.

5 Fazit und Ausblick

Berufsorientierung und -vorbereitung zählen an vielen allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt zu den Bestandteilen des Schulprogramms und finden sich in speziellen Konzepten zur Berufswahlvorbereitung, aber nicht immer im täglichen Unterricht, wieder. Die allgemeine Zielstellung der Berufsorientierung in Sachsen-Anhalt lassen sich mit Persönlichkeitsentwicklung, Teilhabe an der Gesellschaft sowie Berufswahlkompetenz und Ausbildungsreife zusammenfassen (vgl. KMLSA 2011). Die Aufgaben eines berufsorientierenden Unterrichts umfassen u.a., die Schüler/innen in einem umfassenden Sinne zur Arbeits-, Berufs- und Studienwahl zu befähigen, ihnen Lebenschancen zu eröffnen und diese zu erweitern, ihnen Handlungspositionen zu verdeutlichen, ihre Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu steigern sowie ihre Eigenverantwortung und Selbstständigkeit zu stärken (vgl. KMLSA 2011).

Die entwickelte und vorgestellte Unterrichtssequenz steht exemplarisch für die Verknüpfung von technischer und ökonomischer Bildung im Sinner einer praxisnahen Berufsorientierung und zielt auf eine Integration von Elementen der Entrepreneurship Education an den Lernorten Schule und Unternehmen. Weiterhin wird durch diese Bemühungen eine Techniksensibilisierung angestrebt, um dem drohenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken, indem insbesondere für technische Berufe und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge begeistert wird. Andere Betrachtungen zur Berufs- und Studienorientierung im Spannungsfeld zwischen ökonomischen und technischen Anforderungen der Arbeitswelt in Sachsen-Anhalt zeigen, dass die technischen Berufsausbildungen und die ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge in den beruflichen Zukunftsplanungen der Schüler/innen eine eher untergeordnete Rollen spielen (vgl. Brämer/Vieback/Hirsch 2012, ebd. 2013). Dies gilt insbesondere für Schülerinnen, die noch viel stärker an diese Themenfelder herangeführt werden müssen. Möglich wären hier z.B. verstärkte Marketingmaßnahmen, um die Potentiale und Entwicklungsmöglichkeiten einer beruflichen Zukunft im technischen Bereich noch stärker hervorzuheben. Die Berufsorientierungsdefinition nach Schudy (vgl. Schudy 2002, 9f.) legitimiert explizit die sowohl ökonomische als auch die technische Bildung als Teile der schulischen Berufsorientierung. Auf der einen Seite existieren in Sachsen-Anhalt bereits eine Vielzahl von Projekten und Initiativen zur Berufs- und Studienorientierung sowie zu allen Facetten des Unternehmertums, auf der anderen Seite scheint es aber so, als wenn diese in den allgemeinbildenden Schulen noch nicht richtig angenommen werden. Hier fehlen weitere aussagekräftige Untersuchungen und Längsschnittstudien zu den Erfolgen und strukturellen Auswirkungen dieser vielfältigen Maßnahmen und Initiativen an allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt. Diese ersten Ergebnisse lassen erahnen, dass, trotz der Verankerung dieser Themen in den Rahmenrichtlinien und Lehrplänen sowie im Schulprogramm, der Berufs- und Studienorientierung sowie der ökonomischen und technischen Bildung an den allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt eine noch größere Beachtung geschenkt werden muss. Dies gilt insbesondere für die technischen Berufsausbildungen und die ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge, wo der Nachwuchsbedarf am größten ist.

Damit technikorientierte Entrepreneurship-Inhalte im Sinne einer praxisorientierten Berufsorientierung einen stärkeren Einzug in die allgemeinbildende Schule erhalten können, müssen die Lehrer/innen noch stärker mit einbezogen werden. Es gilt entsprechende Fortbildungsformate für Lehrer/innen zu entwickeln, die ihnen helfen, Themen, wie Entrepreneurship, Gründerkompetenz aber auch technische Bildung und Berufsorientierung für ihre Schüler/innen kompetent und zielorientiert im Unterricht umzusetzen, um diese auf ihre spätere in Ausbildungs- und Berufsentscheidungen vorzubereiten. Das bedeutet weiterhin, dass diese Zielstellungen, die schulische praxisorientierte Vermittlung von technischem und ökonomischem Wissen voraussetzen. Hierfür müssen technische und ökonomische Bildungsinhalte eine noch stärkere Verankerung in der Lehramtsausbildung und den Fachlehrplänen finden. Wenn technische Berufsausbildungen einen neuen Aufschwung erhalten sollen, muss die technische Bildung bereits im schulischen Kontext weiter ausgebaut werden, da eine frühzeitige Sensibilisierung für technische Berufe die Chancen für die potentielle Wahl für ein technisches Berufsfeld und ein späteres ingenieurwissenschaftliches Studienfach erhöhen kann. Für eine technik- und praxisnahe Berufsorientierung ist es von entscheidender Bedeutung, kombinierte Angebote aus dem Bereich der technischen und ökonomischen Bildung zu schaffen und den Jugendlichen flächendeckend in ganz Deutschland zur Verfügung zu stellen. Hier gilt es vor allem externe Partner und außerschulische Lernorte stärker in den schulischen Bildungsprozess zu implementieren.

Zusammenfassend bedeutet dies für die Verknüpfung von technischen und ökonomischen Inhalten, dass das Erkennen und Verstehen komplexer wirtschaftlicher und technischer Zusammenhänge und Problemstellungen im Berufswahlprozess, einen gezielten Einsatz von handlungsorientierten Lehr-Lern-Arrangements bedarf (vgl. Jank/Meyer 2011, 315ff.).

Literatur

Brämer, S./Vieback, L/Hirsch, S. (2012): Berufs- und Studienorientierung als Instrument der Fachkräftesicherung. In: Friedrich, K./Pasternack, P. (Hrsg.): Demographischer Wandel als Querschnittsaufgabe. Halle-Wittenberg. 253-270.

Brämer, S./Vieback, L/Hirsch, S. (2013): Ingenieurwissenschaftliche Sensibilisierung an allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt. In: Bünning, F. (Hrsg.): Initiativen und Effekte der Berufsorientierung an Gymnasien, Real- und Förderschulen Sachen-Anhalts. Magdeburg. 77-160.

Butz, B./Deeken, S. (2010): Berufsorientierung: Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung. Bonn.

Famulla,G.-E. (2011): Weil sich die Lebenswelt ökonomisiert. Ökonomische Bildung aus Sicht der Wirtschaftsverbände. Working Paper No. 2. Bielefeld. Online: http://www.iboeb.org/famulla_oekon-bildung_wp2.pdf (04.09.2014).

Famulla, G.-E./Butz, B. (2005): Berufsorientierung. Online: http://www.swa-programm.de/texte_material/glossar/index_html_stichwort=Berufsorientierung.html (03.09.2014).

Grüneberg, J./Wenke, I.-G. (2011): Arbeitsmarkt. Elektrotechnik, Informationstechnik. Offenbach.

Hedtke, R./Möller, L. (2011): Wem gehört die ökonomische Bildung? Notizen zur Verflechtung von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Working Paper No. 1. Bielefeld. Online: http://www.iboeb.org/moeller_hedtke_netzwerkstudie.pdf (04.09.2014).

Jank, W./Meyer, H. (2011): Didaktische Modelle. Berlin.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2011): Information zu Maßnahmen der Berufsorientierung an Schulen in Sachsen-Anhalt. Magdeburg.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2012a): Fachlehrplan Sekundarschule. Wirtschaft. Schuljahrgänge 7-10. Magdeburg.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2012b): Fachlehrplan Sekundarschule. Technik. Schuljahrgänge 5-10. Magdeburg.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2012c): Fachlehrplan Sekundarschule. Geographie. Schuljahrgänge 5-10. Magdeburg.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2012d): Fachlehrplan Sekundarschule. Deutsch. Schuljahrgänge 5-10. Magdeburg.

Schudy, J. (Hrsg.) (2002): Berufsorientierung in der Schule. Bad Heilbrunn.

Wiepcke, C. (2008): Entrepreneurship Education im Fokus von Employability und Nachhaltigkeit. In: Loerwald, D./Wiesweg, M./Zoerner, A. (Hrsg.): Ökonomik der Gesellschaft. Festschrift für Gerd-Jan Krol. Wiesbaden. 267-281.

Beförderung der Berufsorientierung von Jugendlichen im beruflichen Übergangssystem auf der Folie eines konstruktivistisch-kognitionstheoretischen Lernverständnisse

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1 Einleitung

Das Bildungssystem in Deutschland hat Jugendliche für den erfolgreichen Übergang von der Schule in das Beschäftigungssystem vorzubereiten und zur Arbeits- und Berufswelt hinzuführen (vgl. Dedering 2002, 27; KMK 1993, 1997). Die gegenwärtige Arbeits- und Berufswelt ist von Umbrüchen und Veränderungen wie dem Entstehen neuer Erwerbsformen, einem steigenden Innovationstempo, einer Flexibilisierung und Technisierung von Arbeitsprozessen sowie dem Paradigmenwechsel von einer Qualifikations- zu einer Kompetenzorientierung gekennzeichnet (vgl. Bellmann/Stegmaier 2007, 10). Hinzu kommt ein demographischer Wandel, der sich in einem prognostizierten Rückgang der leistungsaktiven Bevölkerung (vgl. Famulla et al. 2003, 2). Tatsächlich gelingt es jedoch vielen Jugendlichen nicht, den Übergang von der Schule in das Beschäftigungssystem problemlos zu meistern (vgl. BMBF 2011, 12).

Dies zeigt sich u. a. im Umfang des beruflichen Übergangssystems. Dieses sieht sich trotz der demographischen Veränderungen nach wie vor einer hohen Teilnehmer/-innen-Zahl gegenüber (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012a, 101ff.; BMBF 2011, 12). Insbesondere in die teilqualifizierenden Berufsfachschulen mündet ein Großteil dieser Jugendlichen ein (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012b, 103f.). Sie werden häufig von Seiten der Wirtschaft trotz erfolgreichem Abschluss der mittleren Reife als nicht-ausbildungsreif beurteilt (vgl. DIHK 2011, 3). Dennoch kann keineswegs von einem Scheitern der Berufsorientierung in den Bildungsgängen der Sekundarstufe I und II die Rede sein. Vielmehr kann beobachtet werden, dass ausbildende Unternehmen tendenziell höhere Anforderungen an zukünftige Auszubildende stellen und Schüler(inne)n mit Hochschulzugangsberechtigung den Vorrang geben, so dass die Jugendlichen höherwertige Schulabschlüsse anstreben, die vielfach nachträglich an berufsbildenden Schulen erreicht werden (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012a, 100f.). So bieten auch Berufsfachschulen für Jugendliche die Chance, innerhalb eines Schuljahres den Realschulabschluss zu verbessern (vgl. KMK 2007b, 3).

Da die Jugendlichen bereits in der Realschule arbeits- und berufsorientierende Maßnahmen durchlaufen haben, werden sie in der einjährigen Berufsfachschule keineswegs zum ersten Mal mit Fragen der Berufsorientierung und Berufswahl konfrontiert (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012a, S. 100; Kremer 2010, 1f.). Aus diesem Grund stellt sich dem beruflichen Übergangssystem zusätzlich eine qualitative Problematik, die es bedingt, den Jugendlichen in seiner verlängerten Phase der beruflichen Orientierung und Entwicklung als Individuum stärker zu fokussieren und passgenaue pädagogische Angebote zu unterbreiten (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012a, 100, 122; Bojanowski/Eckert 2012, 9). In diesen Angeboten gilt es, die berufliche Handlungskompetenz der Jugendlichen zu befördern, um in variierenden beruflichen wie privaten Situationen fachlich angemessen und individuell sowie sozial verantwortlich handeln zu können (vgl. KMK 2007a, 10).

Um diesen Kompetenzerwerb zu unterstützen, gilt es, die arbeits- und berufsorientierenden Maßnahmen hinsichtlich der ihnen zugrundeliegenden Theorie der beruflichen Entwicklung und Berufswahl sowie des zugrundeliegenden Verständnisses von individuellem Lernen und Kompetenzerwerb zu überprüfen und zu reflektieren (vgl. im Folgenden Porath 2013).

2 Lernen aus konstruktivistisch-kognitionstheoretischer Sicht

Während in einer instruktionsorientierten Sicht des Lernens davon ausgegangen wird, dass das Wissen über die Welt relativ stabil, beschreibbar und unabhängig von individuellen Erfahrungen ist und somit vom Lehrenden an den Lernenden vermittelt werden kann, wird in konstruktivistischen Ansätzen das Individuum fokussiert, welches sich auf Basis von Wahrnehmungen und Erfahrungen sein Wissen von der Welt selbst konstruiert (vgl. Rebmann/Schlömer 2010, 8; Rebmann/Tenfelde 2008, 35). Der Kern dieser Denkweise liegt erstens darin, dass Lernen als individueller, aktiver Konstruktionsprozess des Wahrnehmens, des Erfahrung-Machens, des Erwerbs und der Strukturierens von Wissen sowie des Handelns aufgefasst wird. Wissen wird nicht vom Individuum passiv aufgenommen, sondern selbst konstruiert (vgl. Rebmann 2001, 75).

Lernen ist darüber hinaus auch ein grundlegend interaktiver Prozess (vgl. Rebmann 2001, 75). Dem kommunikativen Austausch und dem sprachlichen Aushandeln von Handlungsstrategien und Problemlösungen kommt eine große Bedeutung im Lernprozess zu. Über Sprache und Kommunikation können Bedeutungen ausgehandelt und geteiltes Wissen erzeugt werden, welches das individuelle Wissen sozial orientiert (vgl. Rebmann 2004, 16). Dies impliziert Verantwortung und Bedeutungsoffenheit, da es mehr als einen gangbaren Weg gibt, das Wissen so zu gestalten, dass es in den eigenen Bezugsrahmen passt (vgl. Humbert 2005, 36; Siebert 2000, 9; von Foerster 2009, 44; von Glasersfeld 2009, 32).

Die Berufswahl und berufliche Entwicklung sowie deren Maßnahmen lassen sich unter Berücksichtigung verschiedener Theorien, Ansätze und Modelle erklären (vgl. z. B. Bußhoff 1984, 29, 2009, 27; Gmelch 2003, 8ff.; Hoppe 1980, 94, 156; Seifert 1977, 176ff.). Diese Ansätze fokussieren je nach Ausrichtung das Individuum, die Umwelt des Individuums oder die Interaktion zwischen Individuum und Umwelt und sind auch heute noch geeignet, „individuelle berufsorientierende Prozesse im gesellschaftlichen Kontext zu begleiten“ (Nickel 2010, S. 82). Mit dem dargestellten Lernverständnis lassen sich aus diesen Ansätzen besonders gut die Sichtweise auf berufliche Entwicklung als Interaktionsprozess, als Entscheidungsprozess, als Entwicklungsprozess und als Lernprozess vereinbaren, welche im Folgenden beschrieben werden (vgl. im Folgenden Porath 2013).

3 Individuelle Arbeits- und Berufsorientierung

3.1 Zum Begriff der Arbeits- und Berufsorientierung

Zeitlich umfasst die berufliche Orientierung die Spanne „von den ersten bewußten, aber noch unsicheren Fragen zur künftigen Berufstätigkeit bis zur planmäßigen Analyse beruflicher Alternativen“ (Dibbern 1993, 26). Die berufliche Orientierung zielt nach aktuellem Verständnis auf die Problematik der individuellen Berufswahlvorbereitung ab und verfolgt die Entwicklung von Berufswahlkompetenz (vgl. Ermert/Friedrich 1990, 2), die als die Fähigkeit und Bereitschaft zu verstehen ist, „die in bestimmten beruflichen Entwicklungsphasen gestellten Berufswahlaufgaben wahrzunehmen, ihren Problemgehalt zu analysieren, dabei die in ihnen liegenden Chancen zur Selbstbestimmung zu entdecken und zu Handlungsmöglichkeiten auszuarbeiten, diese zu entscheiden und mit persönlichen sowie sozialen Bindungsfolgen zu versehen, d. h. zu verantworten, und sie in ein situationsgerechtes Verwirklichungshandeln einzubringen“ (Bußhoff 1984, 67). Mit anderen Worten stellt Berufsorientierung einen Prozess dar, in dem die eigenen beruflichen Interessen und Fähigkeiten im Kontext der Anforderungen der Wirtschafts- und Arbeitswelt, des familiären Herkunftsmilieus und der verschiedenen gesellschaftlichen Sozialisationsinstanzen entwickelt und angemessene berufliche Präferenzen herausgebildet werden (vgl. Kaminski et al. 2010, 4; von Wensierski/Schützler/Schütt 2005, 14). Berufsorientierung dient folglich auch der Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen und stellt einen individuellen und mehrjährigen Prozess dar, in dessen Verlauf zunächst nur eine temporäre Wahl eines Tätigkeitsfeldes erfolgt (vgl. Kaminski et al. 2010, 5). Daher ist die berufliche Orientierung um eine Orientierung auf die Charakteristika der Arbeitswelt zu ergänzen. Arbeitsorientierung bezieht sich auf die komplexe Arbeitswelt mit ihren Teilbereichen Wirtschaft, Haushalt und Beruf und stellt somit eine weite Betrachtungsebene dar. Sie dient der Entwicklung allgemeiner Arbeitskompetenzen, die notwendig sind, um die Arbeitswelt verstehen und mitgestalten zu können (vgl. Dedering 2005, 217).

3.2 Theorien und Erklärungsansätze zur beruflichen Entwicklung und Berufswahl aus konstruktivistisch-kognitionstheoretischer Sicht

3.2.1 Berufliche Entwicklung als Interaktionsprozess

Werden berufliche Orientierung und Entwicklung als Interaktionsprozess verstanden, treten der Sich-beruflich-Orientierende und seine verschiedenen Interaktionspartner/-innen in Interaktion und Kommunikation. Im Rahmen dieser bringen beide Seiten ihre jeweils individuellen Vorstellungen und Ziele sowie die Handlungsprämissen beruflichen Verhaltens einander näher (vgl. Hoppe 1980, 102; Nickel 2010, 96). Ries (1970, 433) unterscheidet fünf auf Dauer angelegte soziale Gruppen der Interaktionspartner/-innen, die Orientierung bei der Berufswahl geben:

Die erste Gruppe der Berater/-innen erfüllt im Interaktionsprozess einen gesetzlichen Auftrag zur Berufsaufklärung, Einzelberatung und der Vermittlung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen (vgl. Hoppe 1980, 137f.). Je nach Schulform und Bildungsgang gestalten sich die Bedeutung und der Grad der Professionalität der zweiten Gruppe der Lehrer/-innen. Den Interaktionen zwischen Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n wird eine „spezifische Bedeutung für die Herausbildung der Entscheidungsprämissen der individuellen Entscheidungssituationen“ beigemessen (Hoppe 1980, 138). Die Lehrkräfte haben die Aufgabe, über die Vermittlung von Berufsinformationen hinaus, die Wünsche und individuellen Berufs- und Lebensziele der Jugendlichen herauszuarbeiten und in deren berufsbiographische Entwicklung einzubinden (vgl. Nissen, Keddi/Pfeil 2003, 138f.). Eher unbewusst in ihren Informationsangeboten agiert die dritte Gruppe der Eltern, Freunde und Freundinnen, Nachbar(inne)n, Verwandten und Kolleg(inn)en. Sie sind maßgeblich daran beteiligt, berufsbezogene Werthaltungen und Interessen sowie ein berufsbezogenes Anspruchsniveau aufzubauen (vgl. Gmelch 2003, 9; Nickel 2010, 96). Konkretes Wissen über berufsrelevante Alternativen, Einkommen, Zugangsvoraussetzungen oder benötigte Kompetenzen wird meist nur vereinzelt und nebensächlich eingebracht (vgl. Hoppe 1980, 138; Nickel 2010, 96). Unternehmen und Verbände als vierte Gruppe sind Nachfrager der Jugendlichen, die sich auf qualifizierte Fachkräftegewinnung ausrichten (vgl. Hoppe 1980, 138). Mit zunehmender Bedeutung der Massenmedien im Alltag der Jugendlichen steigt ebenso die Bedeutung dieser Medien als fünfte Interaktionsgruppe (vgl. Beinke 2006b, 24ff.; Hoppe 1980, 138f.). Das Internet stellt für die Jugendlichen ein immer wichtigeres Instrument dar, mit dem sie sich die individuell relevanten Informationen zeitlich, örtlich und personell unabhängig selbst beschaffen (vgl. Struwe 2010, 13).

Die Interaktionspartner/-innen setzen sich handelnd mit verschiedenen Wertorientierungen auseinander, finden so individuelle Möglichkeiten und Berufsalternativen für den Jugendlichen und grenzen deren Anzahl ein (vgl. Nickel 2010, 100). In dieser Auseinandersetzung bewertet der Jugendliche die Informationen der Interaktionspartner/-innen auf der Basis seiner bisherigen Erfahrungswelt, selektiert diese und integriert sie schließlich in seine alte Erfahrungsbasis. Dem Selbstkonzept des Individuums kommt hierbei eine entscheidende Rolle zu, da dieses die Strukturierung und Zuordnung der wahrgenommenen Informationen zu bereits vorhandenen kognitiven Konzepten beeinflusst (vgl. Lohmann/Prose 1975, 62f.). Es stellt die individuellen Erfahrungen einer Person mit sich selbst dar (vgl. Super 1957, 81). Zum beruflichen Selbstkonzept zählen die fachlichen und überfachlichen Fähigkeiten, die ein Jugendlicher als Stärke im Berufskontext ansieht, sowie die eigenen Schwächen. Das Selbstkonzept entwickelt und verändert sich in der Interaktion mit Anderen, z. B. durch Gespräche mit Lehrer(inne)n, in denen diese Feedback geben (vgl. Lohmann/Prose 1975, 63). Einfluss haben hierbei die individuellen Wertorientierungen. So kann z. B. ein Jugendlicher eine eher soziale Orientierung besitzen und möchte anderen Menschen helfen. Oder er ist aufgrund einer beruflichen Leistungsorientierung bereit, großen beruflichen Einsatz zu zeigen, dafür in privaten Bereichen Opfer zu bringen, ist aufstiegs- oder machtorientiert. Wird der Beruf zur Einkommenserzielung für die Befriedigung Konsum- und Freizeitwünsche gesehen, liegt eine Daseins- und Genussorientierung vor (vgl. Lange 1978, 11).Für die Berufswahl ist entscheidend, dass ein Jugendlicher eine größtmögliche Kongruenz zwischen beruflichem Selbstkonzept und den eigenen Vorstellungen über die Berufsstruktur, wie z. B. über notwendige Voraussetzungen zur Ausübung des Berufes, anfallende Tätigkeiten, vorfindliche Arbeits- und Rahmenbedingungen, an den Beruf geknüpfte Rollenerwartungen, erkennen kann (vgl. Seifert 1977, 205). Der Erfolg der beruflichen Entwicklung ist eng verbunden mit dem Grad der Übereinstimmung von beruflichen Interessen und dem Berufswunsch bzw. dem tatsächlich ausgebübten Beruf der Jugendlichen. Luttenberger et al. (2014, 9ff.) konnten jedoch aufzeigen, dass insbesondere Jugendliche mit geringem Übereinstimmungsgrad sich zugleich in Bezug auf berufliche Informationen und Orientierungshilfen von Eltern und Peer-Groups wenig unterstützt fühlen. Kompetenten Lehrkräften kommt aus diesem Grund eine bedeutsame Rolle zu, mögliche Defizite in der familiären und freundschaftlichen Unterstützung, trotz einer generell nach wie vor starken Einflussnahme dieser beiden Interaktionsgruppen, aufzufangen. So nehmen die Lehrkräfte zum einen eine Vorbildfunktion ein und schaffen zum anderen einen Erfahrungsraum, in dem die Jugendlichen die eigenen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen erkennen und erproben und Entscheidungskriterien zur Berufswahl herausbilden können. Wird nun diese Entscheidung des Individuums fokussiert, dann wird berufliche Entwicklung als Entscheidungsprozess konzipiert.

3.2.2 Berufliche Entwicklung als Entscheidungsprozess

Im Entscheidungsprozess der Berufswahl wählt das Individuum entsprechend seiner Interessen und Neigungen sowie Eignungen und Fähigkeiten einen Beruf aus einer Vielzahl von Berufsalternativen (vgl. Lange 1978, 4f.; Müller 1983, 158). Als besonders bedeutende Einflussfaktoren im Berufswahlprozess werden u. a. Interessen und Informiertheit der Jugendlichen sowie das mit dem Beruf verbundene Prestige angesehen (vgl. Jungo 2009, 79). Bei den offenen Entscheidungsmodellen, die von nicht vollkommen strukturierten Entscheidungssituationen und nicht-statischen Entscheidungsregeln ausgehen, wird das Entscheidungsverhalten der Individuen als Problemlösungsverhalten verstanden (vgl. Beinke 1999, 77; Bußhoff 1984, 40; Nickel 2010, 88). In diesem Problemlösungsprozess differenziert Lange (1978) in Handlungs- und Interaktionssituationen. Die Handlungssituation ist die subjektive Berufswahlsituation, in der das Individuum sich anhand spezifischer Entscheidungskriterien für einen bestimmten Beruf entscheiden muss (vgl. Lange 1978, 9). Die Interaktionssituation ist der Zeitraum, in dem mehrere Interaktionspartner/-innen miteinander interagieren, um das Problem der Berufswahl zu lösen (vgl. Lange 1978, 7).

In der Handlungssituation kommen evaluative, kognitive und modale Entscheidungskriterien zum Tragen. Zu den evaluativen Entscheidungsprämissen zählen neben den beruflichen Wertorientierungen die individuellen beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das Wissen bezüglich der eigenen Wertorientierungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die Einschätzung hinsichtlich der Passung des Bündels an Fähigkeiten und Orientierungen bestimmen dann die Wahl eines Berufsbereichs (vgl. Bußhoff 1984, 45; Lange 1978, 14). Als weiteres evaluatives Entscheidungskriterium wird das Anspruchsniveau zur Klärung der Berufswahl herangezogen. Operationalisiert wird das berufliche Anspruchsniveau durch die Kombination kurzfristiger und langfristiger sowie idealistischer und realistischer Prestigewünsche an den Beruf (vgl. Lange 1978, 15). Um nun die beruflichen Alternativen identifizieren zu können, die zu den eigenen evaluativen Entscheidungskriterien passen und somit eine mögliche Lösung des Berufswahlproblems herbeiführen, bedarf es kognitiver Entscheidungskriterien, die helfen, die beruflichen Alternativen wahrzunehmen und zu strukturieren (vgl. Bußhoff 1984, 45; Lange 1978, 17f.). Die subjektiv wahrgenommenen Berufswahlalternativen, die lediglich einen Ausschnitt aller existierender Berufe darstellen, werden nun mit den evaluativen Entscheidungskriterien verglichen und auf die ernsthaft zu berücksichtigenden Berufswahlalternativen reduziert. Für die Auswahl eines Berufes aus dem Spektrum der ernsthaft zu berücksichtigenden Berufswahlalternativen zieht das Individuum schließlich modale Entscheidungskriterien in Form von Entscheidungsregeln heran (vgl. Lange 1978, 17f.).

Je nach Ausprägungsgrad der Entscheidungsregeln treffen die Jugendlichen entweder eine rationale oder eine zufällige Entscheidung oder Wursteln sich auf Grundlage eher undifferenzierten Berufswissens durch die Berufswahlsituation (vgl. Bußhoff 1984, 46). Da in Anlehnung an Hirschi (2013, 35), die Berufswahl und berufliche Laufbahn immer stärker vom Individuum selbst bestimmt werden, haben insbesondere die Entscheidungsrichtlinien, nach denen jede Person ihre individuelle Laufbahngestaltung vornimmt, mehr Bedeutung denn je. Berufliche Orientierung hat die Jugendlichen also darin zu unterstützen, ihre eigenen Werte, Ziele und Entscheidungskriterien bewusst zu machen, damit sie diese für authentische laufbahnrelevante Handlungen heranziehen können und Vorgaben von Unternehmen und Arbeitsmarkt weniger Gewicht zu geben (vgl. Hirschi 2013, 35).

Wird Berufsorientierung nicht als einmaliger Entscheidungszeitpunkt, sondern als eine Reihe berufsbezogener Entscheidungen in den unterschiedlichen Lebensphasen des Individuums betrachtet, dann wird sie als Teil des gesamten Prozesses der Persönlichkeitsentwicklung verstanden (vgl. Hoppe 1980, 94).

3.2.3 Berufliche Entwicklung als Entwicklungsprozess

Die Entscheidungen des Individuums hängen deutlich von den subjektiven Interessen und Bedürfnissen ab, die sich zusammen mit den Fähigkeiten, Fertigkeiten und Präferenzen mit fortscheitendem Lebensalter des Individuums entwickeln, modifizieren und an Bedeutung gewinnen (vgl. Gmelch 2003, 8; Hoppe 1980, 102).

Im Laufe des individuellen Reifungsprozesses verändern sich das (berufliche) Selbstkonzept, die Fähigkeiten und Interessen sowie damit auch die Berufspräferenzen. Das berufliche Selbstkonzept, geprägt durch berufliche Erfahrungen und Berufspräferenzen versucht das Individuum mit den sich bietenden Berufsrollen in Einklang zu bringen. Je größer diese Übereinstimmung ist, desto höher ist die berufliche Zufriedenheit (vgl. Ries 1970, 35; Pollmann 1993, 51f.). Super et al. (1965) modellieren diesen Prozess in fünf Stadien.

Im Stadium des Wachstums (0-14 Jahre) entwickelt sich das Selbstkonzept des Individuums durch die Identifikation mit Bezugspersonen in der Familie und im schulischen Umfeld (vgl. Nickel 2010, 93; Super et al. 1965, 40). Individuelle Bedürfnisse und Phantasievorstellungen bestimmen die beruflichen Rollen, die das Individuum spielt und wählt. Im Verlauf der Phase gewinnen Interessen an Bedeutung, erst zum Ende der Phase werden erstmals die Fähigkeiten in die beruflichen Betrachtungen mit einbezogen (vgl. Super et al. 1965, 40).

Im Stadium der Exploration (15-24 Jahre) sammelt das Individuum weitere schulische und freizeitliche Erfahrungen und erprobt sich in verschiedenen beruflichen Rollen und vorübergehenden ersten Beschäftigungsverhältnissen (vgl. Super et al. 1965, 40). Diese Phase ist durch eine stetige Selbstüberprüfung gekennzeichnet (vgl. Bußhoff 1984, 18f.). Das Individuum tätigt erste Versuchswahlen und bezieht neben den eigenen Interessen und Fähigkeiten erstmals auch Realisierungsmöglichkeiten in berufliche Entscheidungen mit ein. Getroffene Entscheidungen für den Übergang von der Schule in eine Ausbildung oder das Beschäftigungssystem unterliegen in dieser Phase einer ständigen Überprüfung und Erprobung hinsichtlich der Tragfähigkeit einer gewählten beruflichen Position für das weitere Berufsleben (vgl. Bußhoff 1984, 19; Scheller 1976, 40; Super et al. 1965, 40).

Im Stadium der Konsolidierung (25-45 Jahre) versucht das Individuum eine Daueranstellung in dem als geeignet eingeschätzten Tätigkeitsfeld zu finden (vgl. Bußhoff 1984, 40; Super et al. 1965, 41). Das Stadium der Erhaltung und Festigung dauert bis zur Pensionierung an (vgl. Oram 2007, 46). Veränderungen finden in dieser Zeit kaum noch statt. Werden neue Aufgaben angenommen, dann stehen sie zumeist in Verbindung mit der bisherigen beruflichen Laufbahn (vgl. Bußhoff 1984, 19; Super et al. 1965, 41). Im Stadium des beruflichen Abbaus nehmen die beruflichen Aktivitäten ab, bis das Individuum in das Ruhestadium übergeht und seine beruflichen Aktivitäten ganz beendet (vgl. Oram 2007, 46; Scheller 1976, 40).

Zusammenfassend zeichnet sich dieses Berufslaufbahnmodell durch einen progressiven Anstieg der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten und einen zunehmenden Realitätsbezug im Verlauf der beruflichen Orientierung und der Entwicklung des Selbstkonzeptes aus (vgl. Nickel 2010, 94). Auch Hirschi (2013, 27) führt verschiedene eigene Studien auf, die belegen, dass „die Kongruenz zwischen Interessen und Berufswünschen im Jugendalter mit steigenden Jahrgang zunimmt, weil Jugendliche mit zunehmenden Alter besser in der Lage sind, ihre Berufswünsche den persönlichen Interessen anzupassen“. Allerdings konnte aufgezeigt werden, dass das starre Festhalten an einer Phaseneinteilung der beruflichen Entwicklung der dynamischen Interaktion zwischen der Person und seiner Umwelt nicht gerecht wird (vgl. Hirschi 2013, 28ff.). Wird nun die Entwicklung des (beruflichen) Selbstkonzeptes durch laufbahnrelevante Handlungen und berufliche Lernerfahrungen als Resultat der Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt in den Blick genommen, wird berufliche Entwicklung aus lerntheoretischer Perspektive erklärt.

3.2.4 Berufliche Entwicklung als Lernprozess

Nach dem lerntheoretischen Berufswahlmodell nach Krumboltz, Mitchell und Jones (1976) geschieht Lernen auf Basis von Erbfaktoren wie Geschlecht, ethnischer Herkunft, körperlicher und geistiger Behinderungen, Intelligenz sowie Begabungen und Umweltbedingungen, wie sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Gegebenheiten sowie durch das Zusammenwirken mit Anderen.

Dies führt zur Entwicklung des beruflichen Selbstkonzeptes und zur Ausbildung eines Umweltbildes und von Problemlösungsmethoden (vgl. Bußhoff 1984, 29). Ein solches Lernen ist maßgeblich durch die Bewertung der eigenen Fähigkeiten und Interessen bestimmt. Eine solche Bewertung beruht zum einen auf dem Feedback der Interaktionspartner/-innen und zum anderen auf dem Vergleich mit früheren Verhaltensweisen und Leistungen oder dem Vergleich mit anderen Personen (vgl. Krumboltz/Mitchell/Jones 1976). Wiederholt sich dieser Vorgang, so bildet das Individuum eine generalisierte Selbsteinschätzung und bildet auf dieser Grundlage Fähigkeiten, Interessen, Präferenzen und Werteinstellungen heraus (vgl. Bußhoff 1984, 31). Darüber hinaus verfestigen sich die Selbstwirksamkeitserwartungen, mit den eigenen Fähigkeiten die erforderlichen beruflichen Handlungen auszuführen (vgl. Bußhoff 2009, 30). Das Umweltbild stellt einen bestimmten Umfang an Erfahrungen dar, die sich auf Ereignisse und Abläufe beziehen, die in der Vergangenheit unter bestimmten Bedingungen eingetreten und mit der Erwartung versehen sind, dass sie bei Vorlage der entsprechenden Bedingungen erneut eintreffen (vgl. Bußhoff 2009, 31). Um diese Umweltsituationen zu bewältigen, am eigenen Selbstbild zu reflektieren und Vorhersagen für die eigene berufliche Zukunft zu treffen, bedarf es ausgeprägter Problemlösungsmethoden (vgl. Krumboltz/Mitchell/Jones 1976, 74). Der Zeitpunkt der Berufswahl stellt eine kritische Periode dar, in der das Selbstkonzept, das Umweltbild und die bisher erfolgreich erlebten Problemlösungsfähigkeiten nicht mehr passend bzw. ausreichend sind und Vergleiche und Bewertungen den Jugendlichen eher schwer fallen. Darüber hinaus fehlen häufig konkrete Vorstellungen über Berufe und Methoden zur Lösung des Berufswahlproblems (vgl. Bußhoff 2009, 31). Somit wird nach neuen Problemlösungsmethoden gesucht. Diese beeinflussen zusammen mit dem Selbstkonzept die Tendenz der Berufswahl und führen schließlich zu berufsrelevanten Handlungen.Je nach Erfolg bzw. Misserfolg der Handlungen werden die Problemlösungsmethoden für zukünftige Handlungen beibehalten bzw. verworfen (vgl. Bußhoff 2009). Deutlich wird, dass hier die subjektive Bedeutungszuschreibung der Jugendlichen, die ihre berufliche Entwicklung selbst gestalten, fokussiert wird (vgl. Hirschi 2013, 31). Aktuelle Trends und Modelle, wie die Chaos-Theorie der Laufbahnentwicklung oder die konstruktivistische Laufbahnberatung, berücksichtigen dies stärker als klassische Theorien der Berufswahl und erweitern diese, indem sie den Menschen als komplexes System sehen, das sich durch permanente Interaktion mit der Umwelt entwickelt. Allerdings sind diese Trends zum Teil noch nicht konkret überprüfbar, da sie zumeist noch großen Forschungsbedarf aufweisen (vgl. Hirschi 2013, 30ff.).

3.2.5 Zusammenführung der theoretischen Ansätze

Die hier dargestellten Ansätze richten ihren Blick zumeist lediglich auf einen ausgewählten Aspekt der Berufswahl. Diese Fokussierung wird der Komplexität dieses Prozesses jedoch nicht gerecht. Aus diesem Grund wird hier eine Art Metatheorie, die von einem zentralen Aspekt der beruflichen Entwicklung ausgeht und schrittweise die Aussagen der vier hier beschriebenen Erklärungsansätze, Theorien und Modelle zum Prozess der beruflichen Entwicklung und Berufswahl integriert, vorgestellt (vgl. Abbildung 1).

Zentraler Ausgangspunkt des Berufswahlprozesses ist ein Entscheidungsinitial, wodurch das Individuum vor dem Problem steht, seinen bisherigen Status als Schüler/-in aufzugeben und einen neuen Status, eine Berufsrolle, einzunehmen (vgl. Bußhoff 1984, 51). Die berufliche Entwicklung kann daher mit einem Problemlöseprozess verglichen werden, in dem das Individuum fortwährend Differenzierungen seines Selbstkonzeptes vornimmt, um letztlich eine Entscheidung zu treffen, die hilft, das Problem zu beheben. Dazu antizipiert das Individuum die in Betracht kommenden Berufsrollen. Auf der Basis von Informationen überprüft das Individuum die von ihm wahrgenommenen Berufsrollen und bringt sie in eine Rangreihe. Diese ist durch das Selbstkonzept bestimmt, das die angesammelten Werthaltungen und Einstellungen sowie persönliche Voraussetzungen darstellt, die sich aus den subjektiven Erfahrungen des Individuums ergeben. Wenn sich die Differenzierungen im Entscheidungsprozess bewähren, kann das Individuum seine Aktivität in zielgerichtete Verhaltenssequenzen überführen und wird Handlungen vornehmen, um einen Beruf – im rationalen Fall zuoberst der Rangreihe – zu ergreifen.

Abbildung 1: Metatheoretisches Modell zur Erklärung der beruflichen EntwicklungAbbildung 1: Metatheoretisches Modell zur Erklärung der beruflichen Entwicklung

Die Entscheidung des Individuums für einen Beruf stellt die Handlungssituation dar. In dieser kommt es zur Anwendung von evaluativen, kognitiven und modalen Entscheidungskriterien. Diese bilden sich in Interaktionssituationen heraus. Im Rahmen dieser interagieren in einem bestimmten Zeitraum mehrere Interaktionspartner/-innen miteinander, um das Problem der Berufswahl zu lösen. Aus entwicklungstheoretischer Sicht trifft das Individuum nicht nur eine, sondern eine Reihe von Entscheidungen. Diese sind abhängig vom Differenzierungsgrad des beruflichen Selbstkonzeptes. So tätigt das Individuum zunächst Phantasiewahlen, später Versuchswahlen und abschließend realistische Berufswahlen. Mit dem Ansteigen der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten und der Ausdifferenzierung der eigenen Wertorientierungen, steigt auch der Realitätsbezug der Berufswahlen.

Die Entwicklung des Selbstkonzeptes ist das Resultat sozialer Lernprozesse. Demnach sind das eigene Verhalten und die Persönlichkeitsstruktur durch Rückgriff auf vergangene Lernerfahrungen beschreibbar. Die Erbfaktoren sowie die externen Umweltbedingungen wirken sich auf die Entwicklung des Selbstkonzeptes aus und sind Grundlage zur Herausbildung von Problemlösestrategien, die das Individuum im Entscheidungsprozess benötigt. Diese setzt das Individuum in beruflichen und berufsrelevanten Handlungen und Verhaltensweisen ein, die wiederum Basis für neue Lernerfahrungen sind. Der Umfang der Erfahrungen, die das Individuum in der Vergangenheit in Form von bestimmten Ereignissen und Abläufen unter bestimmten Bedingungen gemacht hat, stellt das Umweltbild dar. Selbstbild und Umweltbild versucht das Individuum im Prozess der beruflichen Entwicklung in Einklang zu bringen. Verhaltensweisen und Einstellungen werden vom Individuum dauerhaft erworben, wenn diese zu einem befriedigenden Resultat führen. Reichen die bisher erlernten und erlebten Problemlösefähigkeiten hierfür nicht mehr aus, ist das Individuum gezwungen, bestehende Konzepte zu verändern oder neu zu lernen. Das Individuum nimmt also wie in der Betrachtung als Entwicklungsprozess ausgeführt Differenzierungen aufgrund neuer Lernerfahrungen vor.

Feedback und Interaktion kommen in diesem Prozess besondere Bedeutung zu. Fünf Gruppen der Interaktionspartner/-innen lassen sich als wichtig für den Prozess der beruflichen Entwicklung identifizieren: die Berater/-innen; die Lehrkräfte; die Unternehmen und Verbände; die Eltern, Freunde und Freundinnen, Nachbar(inne)n und Kolleg(inn)en sowie die Vertreter/-innen der Massenmedien. Sie beeinflussen die Wahrnehmung der unterschiedlichen Berufswahlalternativen, den Selektionsprozess zur Wahrnehmung und Bewertung der Informationen und die Entscheidungsprämissen.

3.3 Konstruktivistische arbeits- und berufsorientierende Lernaufgaben

Lehrkräfte, als zweite Gruppe der Interaktionspartner/-innen im Berufsorientierungsprozess, stehen bei der Konstruktion arbeits- und berufsorientierender Maßnahmen vor der Herausforderung, in ihren didaktisch-methodischen Planungen und Umsetzungen die Forderungen individuumsbezogener Arbeits- und Berufsorientierung und die Kernelemente einer konstruktivistischen Theorie des Wissenserwerbs zu berücksichtigen. Die Entwicklung konstruktivistischer Lernaufgaben wird als Möglichkeit erachtet, diesen Anforderungen zu begegnen. Lernaufgaben, als Kernstücke der didaktischen Planung eines Unterrichts, zielen verstärkt auf die Anregung des Lernprozesses ab, statt ein konkretes Ergebnis zu fokussieren (vgl. Fischer/Gerdsmeier 2007, 184; Kastrup/Tenfelde 2008, 7). Sie sind eine „Aufforderung an Lernende, eine bestimmte Handlung auszuführen, eine Frage zu beantworten, ein Problem zu lösen, eine Anweisung umzusetzen, einen Auftrag zu realisieren, aber auch, eine Entscheidung zu fällen und selbst Fragen zu stellen, die helfen, ein Problemfeld zu erhellen“ (Pahl 1998, 13). Lernaufgaben sollten sich direkt auf die Berufsarbeit beziehen, Relevanz für Bildungs- und Lernprozesse ebenso wie für die berufliche Praxis selbst besitzen und situationsgebunden, übertragbar sowie transferfähig sein (vgl. Pahl 1998, 16; Schemme 1998, 7; Schöpf 2005, 19).

Sie sollten also den Erwerb beruflicher Handlungskompetenz, als Leitziel der beruflichen Bildung, unterstützen (vgl. KMK 2007a, 10). Dazu zählen zum einen fachliche Kompetenzen in Form von Kenntnissen über die Wirtschafts- und Arbeitswelt, über Berufsbilder, die beruflichen regionalen Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsmarktchancen, die Strukturmerkmale einer industriellen Gesellschaft sowie die Funktionszusammenhänge in Unternehmen (vgl. Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände 2003, 15; Schlömer/Tenfelde 2008, 190). Zum anderen bedarf es ebenfalls ausgeprägter Methoden-, Gestaltungs-, Sozial- und Abstraktionskompetenzen sowie moralisch-ethischer Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und Kritikfähigkeit, Veränderungsbereitschaft, Problemlöse- und Entscheidungsfähigkeit, Selbsteinschätzungskompetenzen und Reflexionsfähigkeit, Kompetenzen des Arbeitsverhaltens wie Eigeninitiative und -verantwortung, Lernbereitschaft und Belastbarkeit, Transferfähigkeit, die Fähigkeit zum vernetzten Denken, Leistungsorientierung, Offenheit sowie selbstständiges und planvolles Arbeiten (vgl. von Berlepsch/Lexis/Wieland 2005, 47; Brandes 2005, 43; KMK 2003; Scheffler/Focke-Lehmann/Möhlmann 2003, 17).

Um diesen individuellen Kompetenzerwerb zu unterstützen, sollten Lernaufgaben folgenden didaktischen Merkmalen entsprechen (vgl. Dehnbostel 2007, 57ff.; Erdmann/Höpfner/Schedel 1998, 101; Frieling et al. 2006, 44ff.; Gerdsmeier/Köller 2008, 26):

Lernaufgaben sollten die Selbststeuerung und Selbstständigkeit unterstützen. Dies kann gelingen, indem Lernenden Möglichkeiten eingeräumt werden, Freiheitsgrade und Mitgestaltungsmöglichkeiten in Form von Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsspielräumen wahrzunehmen. Sie sollten außerdem Problem- und Komplexitätsorientierung sowie Variabilität und Anforderungsvielfalt aufweisen, um auf die vielschichtigen beruflichen Anforderungen vorzubereiten. Demnach sind problemhaltige Aufgaben zu favorisieren, die sich im Hinblick auf die zu erreichenden Ziele und Lösungswege als eher schlecht strukturiert charakterisieren lassen. Da Lernaufgaben das Ziel haben sollten, berufliche (Selbstkonzept)Entwicklung als Teil der Persönlichkeitsentwicklung zu befördern, gelten eine hohe Anforderungs- und Tätigkeitsvielfalt sowie häufiger Tätigkeits- und Methodenwechsel als wichtige Merkmale. Daraus ergibt sich, dass für den Lernprozess auch entscheidend ist, dass sowohl Inhalte als auch Methodik der Aufgaben durch den Arbeits- und Lebensweltbezug für die Lernenden eine authentische Situiertheit aufweisen. Auch sollten Lernaufgaben die Interaktion und Kommunikation befördern, da Lernen immer auch ein sozialer Prozess ist. Das Ausmaß der gewünschten Kommunikation zwischen den Lernenden und zu Lehrkräften sowie die daraus resultierenden Hilfestellungen und Anregungen werden so zu einem entscheidenden Kriterium. Darüber hinaus benötigen Lernende Möglichkeiten des Feedbacks und der Reflexion. So können sie ihre Handlungen reflektieren, für nachfolgende Handlungen gegebenenfalls verändern und schließlich kognitive Umstrukturierungen vornehmen.

In der Zusammenführung der Theorien zur Erklärung der Berufswahl, der Forderung zum Erwerb beruflicher Handlungskompetenzen, dem hier dargestellten Verständnis von Lernen und den sich daraus ergebenden didaktischen Anforderungen an Lernaufgaben, ergibt sich ein vierdimensionaler Entwicklungsraum für die Konstruktion von Lernaufgaben. Dieser umfasst:

  1. eine Inhaltsdimension, die sich aus den Inhalten arbeits- und berufsorientierender Lernaufgaben ergibt,
  2. eine Zieldimension, die sich aus den Teilkompetenzen der beruflichen Handlungskompetenz als Leitziel der beruflichen Bildung ergibt,
  3. eine Lernprozessdimension, die die Schlüsselstellen effektiven Lernens an den Übergängen der kognitiven Teilprozesse des Erfahrung-Machens, des Erwerbs und der Strukturierung von Wissen, des Handelns sowie der sprachlichen Auseinandersetzung fokussiert und
  4. eine didaktisch-methodische Dimension, die Hinweise gibt, wie Lernaufgaben kompetenzförderlich konstruiert werden können.

Aufgaben, die diese Dimensionen berücksichtigen, können Lehrkräfte unterstützen, effektive arbeits- und berufsorientierende Lernprozesse zu initiieren und anzuregen.

4 Entwicklung der Arbeits- und Berufsorientierung in Klassen der einjährigen Berufsfachschule Wirtschaft – eine Interventionsstudie

4.1 Untersuchungsdesign der einjährigen Interventionsstudie

Das hier vorgestellte metatheoretische Modell der beruflichen Orientierung und Entwicklung sowie der vierdimensionale Entwicklungsraum zur Konstruktion von arbeits- und berufsorientierenden Lernaufgaben bildeten die theoretische Grundlage für eine einjährige Interventionsstudie in sechs Klassen der einjährigen Berufsfachschule Wirtschaft mit der Eingangsvoraussetzung des Realschulabschlusses an einer Schule in der Weser-Ems-Region in Niedersachsen (vgl. im Folgenden Porath 2013). Im Rahmen dieser Interventionsstudie wird sollte erstens der Frage nachgegangen werden, wie sich die Arbeits- und Berufsorientierung bei Jugendlichen im Verlauf des Besuchs der einjährigen Berufsfachschule Wirtschaft entwickelt. Darüber hinaus sollte beantwortet werden, welchen Einfluss arbeits- und berufsorientierende Lernaufgaben auf die Beförderung der beruflichen Orientierung der Schüler/-innen haben (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: UntersuchungsdesginAbbildung 2: Untersuchungsdesgin

Die Beantwortung der Fragen erforderte eine Langzeitstudie mit Experimental- und Kontrollgruppendesign. So wurden zunächst drei exemplarische arbeits- und berufsorientierende Lernaufgaben konstruiert, die zu verschiedenen Zeitpunkten im Schuljahr bei den drei Klassen der Experimentalgruppe eingesetzt wurden (daher im Folgenden als Lernaufgabengruppe bezeichnet). Diese Lernaufgaben sind ein interaktives konsensorientiertes Spiel zur Förderung beruflicher Handlungskompetenz, in dem z. B. Rollenspiele und auf den Alltag der Jugendlichen abgewandelte Assessment-Center-Übungen in Teamarbeit durchgeführt werden, eine Dilemma-Diskussion zum Stellenbesetzungsprozess und der Entwurf von Szenarien zur Entwicklung der Arbeitswelt.

Die drei Klassen der Kontrollgruppe verblieben im herkömmlichen Unterricht ohne Einsatz der Aufgaben. Insgesamt nahmen an allen drei Zeitpunkten der Erhebung mittels Bilderzeichnen 96 Schüler/-innen teil. „Bildungs-, Lern- und Sozialisationsprozesse werden heute viel stärker als früher durch Bilder beeinflusst.“ (Marotzki/Niesyto 2006, 7). Das Zeichnen eines Bildes stellt einen Vorgang des Erinnerns dar (vgl. Griebel 2008, 108). Die Person gibt ihre eigene Wahrnehmung in Form eines Bildes wider. Das Bild ist somit zentraler Bestandteil der individuellen Wahrnehmung, der Wirklichkeitserfahrung, -repräsentation und -konstruktion (vgl. Marotzki/Niesyto 2006, 7). Die Bilderstellung ist nach Klippert (1991, 62) die wohl kreativste und gleichzeitig aber auch schwierigste Methode zur aspekthaften Skizzierung des Berufswahlprozesses. Sie verfolgt das Ziel, die Schüler/-innen zur aktiven Auseinandersetzung ihrer bisherigen Wahrnehmungen mit der Berufs- und Arbeitswelt zu motivieren und sie zur verstärkten Selbstwahrnehmung anzuregen (vgl. Klippert 1991, 99ff.). Zusätzlich ermöglicht sie den Einbezug der affektiven Ebene neben der kognitiven Ebene, sodass auch Probleme und Ängste Ausdruck finden können.

Um den Stand und die Entwicklung der Arbeits- und Berufsorientierung in den sechs Klassen der Studie zu erheben, wurde aus dem metatheoretischen Modell der beruflichen Orientierung und Entwicklung eine Bildvorlage erstellt, auf der die Schüler/-innen ihre Vorstellungen zu folgenden vier Aussagen/Fragen der beruflichen Orientierung zu Beginn, zur Mitte (nach Einsatz der ersten Lernaufgabe) und zum Ende des Schuljahres (nach Einsatz der zweiten und dritte Lernaufgabe) zeichnerisch darstellen:

  1. „Über berufliche Wege nach der Schule, über Ausbildungsmöglichkeiten und Jobchancen hier in der Umgebung weiß ich: …“ (Wissen um die aktuelle Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation),
  2. „Meine Interessen/Stärken, die ich für eine Arbeit im kaufmännischen Berufsfeld mitbringe, sind:
    Meine Schwächen sind generell: …“ (Selbstkonzept),
  3. „Die Anforderungen an Arbeitnehmer/-innen in kaufmännischen Berufen sind meiner Meinung nach folgende: …“ (Berufskonzept),
  4. „Folgende Personen und/oder Motive haben mich beeinflusst, mich für das kaufmännische Berufsfeld zu entscheiden: …“ (Berufswahl).

Die Bilder wurden zunächst inhaltsanalytisch ausgewertet. Der erste Schritt umfasste die Frage, was auf dem Bild zu sehen ist (vgl. Dann 1992, 3). In einem zweiten Schritt wurde gefragt, was die Motive des Bildes bedeuten (vgl. Kerner/Duroy 1977, 43). Im dritten Schritt wurden diese Interpretationen einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen, deren Ergebnis die Erstellung eines Kategorienschemas, als Deutung des Bildmaterials hinsichtlich der zugrundeliegenden Struktur, ist (vgl. Bortz/Döring 2006, 332).

Zur Überprüfung dieser inhaltsanalytischen Auswertung wurde eine kommunikative Validierung in zwölf Einzelinterviews, durch Konfrontation mit Störfragen und Alternativhypothesen zur expliziten und reflektierten Auseinandersetzung mit den eigenen Erklärungsversuchen, vorgenommen (vgl. Scheele/Groeben 1988, 35ff.). Ergebnis der Interviews waren Konzeptkarten zur Berufswahl, die als Grundlage für sechs separate Gruppendiskussionen mit jeder Klasse der Studie dienten, in denen die Schüler/-innen aus den Konzeptkarten der Bildinterpretationen eine Struktur mit Hilfe des Regelwerks der Heidelberger Struktur-Lege-Technik legten (vgl. Dann 1992, 13). Im Dialog-Konsens-Verfahren wurde abschließend aus der Struktur des Kategorienschemas und der Schüler/-innen-Struktur eine gemeinsame Konsensstruktur erarbeitet.

Die Ergebnisse der Studie werden im Folgenden beschrieben.

4.2 Entwicklung der Arbeits- und Berufsorientierung im Verlauf der einjährigen Berufsfachschule Wirtschaft

Im Rahmen der Untersuchung zeigt sich, dass die Schüler/-innen beider Untersuchungsgruppen bereits zu Beginn des Schuljahres eine eher differenzierte Arbeits- und Berufsorientierung haben, da sie sich bereits im beruflichen Orientierungsprozess befinden und schon in der Realschule mit arbeits- und berufsorientierenden Fragen konfrontiert wurden (vgl. im Folgenden Porath 2013, 199ff.). Auffällig ist, dass die Jugendlichen eine Vielzahl von Berufen aus unterschiedlichen Branchen und Berufsfeldern zeichnen. Sie kennen also mehr als nur die eigenen Wunschberufe. Im Verlaufe des Schuljahres sprechen die Jugendlichen dann weniger Berufe und Beschäftigungsbereiche an, sie scheinen sich stärker zu fokussieren und ihre Berufswahl zu verfestigen.

Hinsichtlich ihrer Stärken betonen die Jugendlichen das Vorhandensein von Arbeitstugenden und Einstellungen als berufsfeldübergreifende Voraussetzungen sowie von fachlichen und sozialen Kompetenzen. Auch in der Wahrnehmung der eigenen Schwächen stehen die Arbeitstugenden und Einstellungen sowie fachliche und soziale Kompetenzen im Vordergrund. Daneben werden aber Defizite in den Methoden-, Abstraktions- und moralisch-ethischen Kompetenzen erkannt. Insgesamt benennt ein Großteil der Schüler/-innen genau die Fähigkeiten als Stärken, die sie zugleich als Schwächen bei sich ausmachen. Dies ändert sich auch im Verlauf des Schuljahres kaum.

Befragt nach dem Berufskonzept identifizieren die Jugendlichen in erster Linie Arbeitstugenden und Einstellungen sowie fachliche und soziale Kompetenzen. Im Vergleich dazu setzen sie sich im Verlauf des Schuljahres etwas weniger mit Tätigkeiten auseinander, die in kaufmännischen Berufen ausgeführt werden. Diese Vorstellungen der Schüler/-innen zum Berufskonzept ändern sich ebenfalls wie die Aussagen zum Selbstkonzept nur geringfügig.

Die Bilder zu den Einflusspersonen auf die Berufswahl beziehen sich vorrangig auf informell-persönliche Einflussfaktoren des sozialen Umfeldes und formell-institutionelle Einflussfaktoren sowie auf die eigene unbeeinflusste Entscheidung. Eher selten werden die eigene Arbeits- und Berufserfahrung oder der Wunsch, Zeit zu überbrücken als ausschlaggebend für die Entscheidung dargestellt. Zu den Einflussmotiven werden Motivatoren, materielle und immaterielle Anreize, kaufmännisches Interesse und die eigene Arbeits- und Berufserfahrung gezeichnet. Besonders auffällig sind die Veränderungen der materiellen und immateriellen Anreize. Zu Beginn der Untersuchung nehmen immaterielle Anreize den größten bzw. zweitgrößten Stellenwert für die Jugendlichen im Entscheidungsprozess ein. Dies kehrt sich bis zum Ende des Schuljahres um, so dass wesentlich häufiger der Wunsch nach einem guten Verdienst und der Befriedigung von Konsumwünschen angegeben wird. Insgesamt lässt sich eine starke Dominanz des kaufmännischen Interesses als Entscheidungsgröße feststellen, die im Laufe des Schuljahres jedoch geringer wird.

4.3 Einfluss konstruktivistischer Lernaufgaben auf die Entwicklung der Arbeits- und Berufsorientierung

Die an die eingesetzten Lernaufgaben geknüpften Veränderungserwartungen im Antwortverhalten der Lernaufgabengruppe konnten nur zum Teil beobachtet werden bzw. trafen teilweise auch in der Kontrollgruppe ein. Somit kann keine eindeutige Aussage getroffen werden, ob die Schüler/-innen nach dem Einsatz der exemplarischen Lernaufgaben eine stärkere Arbeits- und Berufsorientierung haben als die Schüler/-innen der Kontrollgruppe (vgl. im Folgenden Porath 2013, 199ff.).

So gestaltet sich die Entwicklung des Selbstkonzeptes in der Lernaufgabengruppe eher besser. Die berufsfeldübergreifenden Stärken und die außerberuflichen Tätigkeitserfahrungen steigen in der Lernaufgabengruppe, während sie in der Kontrollgruppe sinken. Die Jugendlichen der Lernaufgabengruppe nehmen somit ein breiteres Spektrum an Fähigkeiten und Interessen als Bestandteil ihres Selbstkonzeptes wahr. Zugleich betrachten sie auch ihre Defizite in den Teilkompetenzen der beruflichen Handlungskompetenz differenzierter als die Jugendlichen der Kontrollgruppe und berücksichtigen ein insgesamt breiteres Spektrum an Schwächen. Hinsichtlich ihrer Berufswahlmotive erkennen die Jugendlichen der Lernaufgabengruppe im Verlauf der Untersuchung die gleichzeitige Bedeutsamkeit der materiellen und immateriellen Anreize, des kaufmännischen Interesses und der eigenen Arbeits- und Berufserfahrung. Insbesondere die Wichtigkeit der immateriellen Anreize steigt. Darüber hinaus betonen sie in stärkerem Ausmaß, dass sie trotz oder gerade wegen zahlreicher Motive und Kontakte zu den verschiedenen Interaktionsgruppen ihre Entscheidung selbst getroffen haben. Somit haben sie am Ende des Schuljahres einen differenzierteren Blick auf ihre berufliche Entscheidung als die Kontrollgruppenjugendlichen.

Eine schlechtere Arbeits- und Berufsorientierung als die Kontrollgruppe weisen die Schüler/-innen der Lernaufgabengruppe hinsichtlich der Informationsquellen auf, da sie insgesamt weniger Interaktionspartner/-innen zeichnen. Darüber hinaus sinkt auch die Wahrnehmung von Stärken in der beruflichen Handlungskompetenz in der Lernaufgabengruppe im Jahresverlauf. In der Bedeutung der Kontrollgruppe wachsen diese, dennoch bleibt der Umfang konsequent hinter dem der Lernaufgabengruppe zurück. Den Jugendlichen der Lernaufgabengruppe gelingt es insgesamt eher schlechter, sich ausschließlich auf beruflich relevante Stärken und Interessen im Antwortverhalten zu beschränken. Der aufgrund der Lernaufgaben zu erwartende Anstieg der informell-persönlichen Einflussfaktoren bis zum Ende der Untersuchung zeigt sich in der Lernaufgabengruppe nicht. Darüber hinaus scheint sich bei ihnen das Bewusstsein für die Bedeutung medialer Informationsquellen als fünfte Gruppe der Interaktionspartner/-innen nicht weiter zu entwickeln, so dass sie nur vier der fünf Interaktionspartner/-innen in ihrem Berufsorientierungsprozess kennen oder nutzen. Die Jugendlichen der Kontrollgruppe hingegen verweisen in ihren Bildern auf die Bedeutung aller fünf Interaktionsgruppen. Zusätzlich sind sie sich der Wichtigkeit eigener Arbeits- und Berufserfahrungen stärker bewusst.

Ohne Unterschied zwischen beiden Gruppen zeigen sich die Veränderungen der potentiellen Arbeitgeber. Sowohl in der Lernaufgabengruppe als auch in der Kontrollgruppe zeigt sich ein Anstieg der wahrgenommenen potentiellen Arbeitgeber. In beiden Gruppen werden jedoch weniger wahrgenommene Beschäftigungsbereiche gezeichnet. Im Bereich des Selbstkonzeptes sinkt das kaufmännische Interesse als Entscheidungsgröße für die Berufsfachschule Wirtschaft und spätere kaufmännische Ausbildungsberufe in beiden Untersuchungsgruppen. Mängel hinsichtlich des Interesses für das Berufsfeld und den Beruf benennen zum Ende des Schuljahres beide Gruppen jedoch auch nicht. Darüber hinaus legen die Jugendlichen der Lernaufgaben- und der Kontrollgruppe den Fokus auf ihre Stärken in den Arbeitstugenden und Einstellungen als Aspekt der berufsfeldübergreifenden Voraussetzungen sowie auf fachliche und soziale Kompetenzen als Teilkompetenzen der beruflichen Handlungskompetenz und vernachlässigen weitere Fähigkeiten größtenteils. Dies trifft für beide Gruppen auch in Bezug auf die wahrgenommenen Anforderungen an kaufmännische Arbeitnehmer/-innen zu. Daneben zeigt sich, dass beide Gruppen berufsfeldübergreifende Voraussetzungen, Aspekte des Arbeitsalltags und der beruflichen Handlungskompetenz auch zum Ende des Schuljahres nicht als gleichbedeutend im Berufskonzept wahrnehmen. Zusätzlich sehen sie sich in ihrem Urteil höheren Anforderungen im Bereich der Fremdsprachen und zu verrichtenden Arbeitstätigkeiten ausgesetzt, als dies von Unternehmensseite signalisiert wird. Die identifizierte Stärke des kaufmännischen Interesses nehmen sie auch zum Ende des Schuljahres immer noch nicht zugleich als Anforderung an sie wahr. Beide Gruppen weisen bis zum Ende des Schuljahres eine eher uneinheitliche Entwicklung der formell-institutionellen Einflussfaktoren auf, die zwar im Bereich der Einflussmotive steigen, aber im Bereich der Einflusspersonen sinken.

Von den fünf zu unterscheidenden Wertorientierungen haben sich drei bei den Jugendlichen herausgebildet: die Daseins- und Genussorientierung, die Freizeitorientierung und die berufliche Leistungsorientierung. Auch zum Ende des Schuljahres weisen die Schüler/-innen immer noch eine eher differenzierte berufliche Orientierung auf. Sie befinden sich zwischen dem Beginn der Phase der Verwirklichung und Anpassung und somit zugleich dem Beginn des Stadiums der Exploration bzw. der Versuchswahlen und dem Übergang von den Versuchswahlen zu den realistischen Berufswünschen innerhalb des Stadiums der Exploration. Dies ist möglicherweise eine Erklärung dafür, dass sowohl vom Selbstkonzept als auch vom Berufskonzept den Jugendlichen jeweils nur bestimmte Aspekte bewusst sind, während andere Aspekte, wie die eigenen Neigungen und Interessen, aber auch Verdienst-, Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten in den jeweiligen Berufen ihnen entweder noch unbewusst oder zum Zeitpunkt der Untersuchung zu gering ausgeprägt sind.

5 Fazit

Mit der Ausarbeitung des metatheoretischen Modells der beruflichen Orientierung und Entwicklung in der vorliegenden Arbeit wurde ein Versuch unternommen, die verschiedenen Theorien der Berufsorientierung integrativ zu einem Gesamterklärungsansatz zu vereinen. Das Antwortverhalten der Jugendlichen der durchgeführten Längsschnittstudie bestätigt die Berechtigung des metatheoretischen Modell dargestellten und vereinten Erklärungsansätze, wenn auch nicht gleichermaßen für Lernaufgaben- und Kontrollgruppe. Darauf aufbauend ist nun zu überlegen, wie dieses metatheoretische Modell operationalisiert werden kann, um es einerseits für die Konzeption arbeits- und berufsorientierender Maßnahmen zu nutzen und andererseits für die Messung arbeits- und berufsorientierenden Kompetenzerwerbs zu transferieren.

Der große Anteil der Entwicklungen, die sich sowohl in der Lernaufgabengruppe als auch in der Kontrollgruppe zeigen, ebenso wie die Veränderungen, in denen die Lernaufgabengruppe hinter der Kontrollgruppe zurückbleiben, können möglicherweise durch das verpflichtende Betriebspraktikum zur Mitte des Schuljahres der Berufsfachschule erklärt werden. Die Schüler/-innen sammeln hier betriebliche und berufliche Realerfahrungen, die ihr Antwortverhalten unabhängig vom Einsatz der Lernaufgaben beeinflussen können. Auch der Umfang der Antworten zur eigenen Arbeits- und Berufserfahrung als Einflussgröße der Berufswahl durch die Kontrollgruppenjugendlichen spricht hierfür. Die Bedeutung von eigenen Arbeits- und Berufserfahrungen zur Gewinnung von berufsrelevanten Informationen z. B. durch Praxistage, Betriebspraktika oder Auszubildenden-Patenschaften können z. B. auch Beinke (2005a, 2008b, 2013, 11ff.) und Ahrens (2007, 194) belegen.

Als Vergleich zur Beantwortung der Frage nach einer stärkeren Arbeits- und Berufsorientierung bei den Schüler(inne)n der Lernaufgabengruppe wurden die Jugendlichen der Kontrollgruppe und bestehende Studien zur Berufswahl und –orientierung von Jugendlichen herangezogen. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass es zwar eine Vielzahl an Befragungen von Jugendlichen, Eltern, Lehrkräften und Unternehmen zu den Einflusspersonen und Berufswahlmotiven der Jugendlichen sowie zu den betrieblichen Realerfahrungen in Form von z. B. Praxistagen und Betriebspraktika gibt. Konkrete Bestandteile des Selbstkonzepts und deren Ausprägungen, also die Fähigkeiten, Kenntnisse, Fertigkeiten und Arbeitstugenden der Jugendlichen, sowie die Anforderungen und Strukturen von verschiedenen Berufen und Berufsfeldern werden jedoch eher einseitig von Fachleuten der Wirtschaft, Bildung, Kammern und Verbände betrachtet (vgl. hierzu z. B. Beinke 2006a, 2008a, 2008b; DIHK 2011; Eberhard 2006; Ehrenthal/Eberhard/Ulrich 2005; Ernst 1997; Knauf/Oechsle/Rosowski 2009; Saterdag/Stegmann 1980; von Wensierski/Schützler/Schütt 2005). In einer Studie von Rebmann et al. (2007) wurden darüber hinaus explizit Lehrkräfte zu den Stärken und Schwächen der Jugendlichen und Anforderungen an zukünftige Auszubildende zusätzlich zu Unternehmensvertreter(inne)n befragt. Studien, die sich direkt mit den Stärken und Schwächen der Schüler/-innen im Urteil der Schüler/-innen und somit der Betroffenen der Übergangsproblematik befassen, scheint es nicht zu geben. Diese Forschungslücke greift die vorgestellte Untersuchung auf und befragt Jugendliche neben ihren Berufswünschen und Einflussfaktoren der Berufswahl nach ihren selbst wahrgenommen Stärken und Schwächen und den wahrgenommenen Anforderungen im gewählten Berufsfeld. In diesem Bereich gilt es weiter zu forschen, um Vergleichswerte zu schaffen. Darüber hinaus sind Studien zu Stärken-Schwächen-Profilen aus Sicht der Jugendlichen notwendig, um Differenzen zu den Unternehmenseinschätzungen, wie sie sich in den Ergebnissen dieser Studie abzeichnen, aufzudecken und konkrete Strategien zur Behebung der Differenzen und zur Förderung realistischerer Selbsteinschätzungen zu erarbeiten. So können möglicherweise einerseits Ausbildungsabbrüche aufgrund fehlender oder unzureichender Berufsinformationen und beruflicher Orientierung, die ca. 30 % aller Ausbildungsabbrüche begründen, verringert werden (vgl. BMB 2009, 13). Andererseits eröffnen sich so vielleicht erweiterte Berufswahlalternativen für die Jugendlichen, indem differenzierte Tätigkeiten in bisher unberücksichtigten Berufen wahrgenommen und mit den eigenen Interessen und Fähigkeiten in Einklang gebracht werden. Dies würde zugleich der Forderung nachkommen, angesichts eines aufgrund der demographischen Entwicklungen langfristig zu erwartenden Fachkräftemangels, zumindest in bestimmten, z. T. weniger attraktiven, Branchen und Berufsfeldern, ungenutzte Potenziale von Jugendlichen zu erschließen (vgl. BMBF 2009, 7).

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Berufsorientierung als integraler Bestandteil schulischer Bildung: ein Erfahrungsbericht

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1 Das Projekt MINTecHohenlohe

1.1 Wie es zu dem Projekt kam

Die Innovationsregion realisierte Anfang des neuen Jahrtausends gemeinsam mit der Gewerblichen Schule Künzelsau Umschulungsmaßnahmen für Ungelernte und Hilfsarbeiter, um sie für höhere Tätigkeiten weiter zu qualifizieren. Doch diese Maßnahmen reichten nicht aus, um den Fachkräftebedarf der Region zu decken. Der Fachkräftemangel ist in der ländlichen Region Hohenlohe, im Nordosten Baden-Württembergs, in der einige Weltmarktführer, sog. Hidden Champions, angesiedelt sind, schon länger präsent. Die ansässigen Industriebetriebe können z. T. ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen, qualifizierte Fachkräfte und Akademiker präferieren Industrieregionen wie Stuttgart, München oder Ulm, junge Menschen verlassen die Region, um zu studieren und kehren nicht wieder zurück. So entstand die Idee, den Nachwuchs aus der Region selbst zu rekrutieren und entsprechend auszubilden. Gemeinsam mit weiteren Akteuren aus dem Bildungsbereich einigte man sich darauf, eine Berufsorientierung im MINT-Bereich kontinuierlich über alle Bildungsstufen hinweg ermöglichen zu wollen, um jungen Menschen im Sinne einer umfassenden Berufsorientierung möglichst viele Anlässe zu bieten, Interesse, Kompetenzen und Fähigkeiten im Bereich Naturwissenschaft und Technik zu entwickeln. Selbst wenn ein junger Mensch dann feststellt, dass er keinen Spaß an MINT-Themen hat, so hat diese Form der Berufsorientierung ihr Ziel erreicht. Denn in diesem Fall kann der junge Mensch mit gutem Gewissen MINT-Berufe aus seinem Berufswahlspektrum streichen.

2.2 Die Ausgestaltung des Projekts

So wurde das Projekt MINTecHohenlohe 2007 von der Innovationsregion Kocher & Jagst e.V. initiiert, um Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, sich selbst im Bereich Naturwissenschaft und Technik auszuprobieren und gleichzeitig Einblicke in die Berufs- und Arbeitswelt der Region zu erhalten. Das von der Innovationsregion und ihren Mitgliedsbetrieben finanzierte und durchgeführte Projekt wurde durch die Baden-Württemberg Stiftung über eine Laufzeit von vier Jahren gefördert. Zu Beginn des Projekts wurde unter Federführung der Projektleitung und des Zentrums für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm (ZNL) in Zusammenarbeit mit einem Team von Lehrkräften aus verschiedenen allgemein bildenden Schularten (Grundschule, Haupt- und Realschule, Gymnasium) sowie der Fachschule für Sozialpädagogik ein pädagogischer Leitfaden erstellt. Demzufolge sollten kleine Projekteinheiten entwickelt werden, die Kindern und Jugendlichen einen forschenden und entdeckenden bzw. handlungsorientierten Zugang zu Naturwissenschaft und Technik ermöglichen. Diese Projekteinheiten wurden für alle Bildungsbereiche entwickelt, beginnend beim Kindergarten, über die Grundschule bis zur Sekundarstufe II. Die Akteure waren sich darin einig, dass eine nachhaltige Interessenentwicklung Zeit braucht und es für Kinder und Jugendliche immer wieder möglich sein muss, sich handelnd mit den unterschiedlichsten Themen auseinanderzusetzen, damit sich ein Interesse überhaupt entwickeln kann, das am Ende der Schulzeit in eine bewusste Berufswahlentscheidung mündet.

Nachfolgend werden die dem Projekt zugrunde liegenden bildungstheoretischen Hintergründe dargestellt sowie die konkrete Umsetzung des Projekts in die Praxis.

2 Maßnahmen gegen fehlende Berufsorientierung

Das Thema „Berufsorientierung“ gewinnt für Jugendliche und ihre Eltern allgemein erst dann an Bedeutung, wenn der Schulabschluss in greifbare Nähe gerückt und eine Entscheidung über den weiteren Lebensweg dringlich geworden ist. Wer die üblichen Bewerbungsfristen nicht einhält, kommt im laufenden Ausbildungsjahrgang nicht mehr zum Zuge, oft bleibt nur das Arbeiten in gering bezahlten Gelegenheitsjobs mit der Hoffnung auf eine Ausbildungsstelle im nächsten Jahr oder aber die Entscheidung für eine Ausbildung, die nicht wirklich den eigenen Fähigkeiten und Interessen entspricht. Gleiches gilt für Gymnasiasten, die die Entscheidung für ein Studienfach treffen müssen. Wenn sich angehende Abiturienten erst am Ende der Kursstufe mit ihrer beruflichen Zukunft auseinandersetzen, ist die Gefahr, ein Studienfach zu wählen, das nicht zum persönlichen Kompetenz- und Interessensprofil passt, relativ hoch. In den vergangenen Jahren wurde eine Vielzahl „neuer“ Studiengänge geschaffen, deren Bezeichnung nichts anderes darstellt als alter Wein in neuen Schläuchen. So handelt es sich beispielsweise beim Studiengang „Energieökologie und -management“ an der Reinhold-Würth-Hochschule in Künzelsau um ein Studium der Elektrotechnik, das um Aspekte der Energieeffizienz erweitert wurde. Wer sich als angehender Studierender nicht ausgiebig mit den Studieninhalten auseinandersetzt, sondern sich von der interessant klingenden Bezeichnung leiten lässt, muss die Gefahr des Scheiterns einplanen.

Wie die aktuelle DIHK-Ausbildungsumfrage ergab, ist die mangelnde Ausbildungsreife heutiger Schulabgänger der Grund dafür, dass viele freie Lehrstellen nicht besetzt werden können (Deutsche Industrie- und Handelskammer 2014). Hinzu kommt die fehlende Berufsorientierung vieler Schulabgänger – als Lösung bieten die befragten Unternehmen nun zunehmend Praktika an, um den Schülerinnen und Schülern eine frühzeitige Berufsorientierung zu ermöglichen. Die befragten Betriebe sind sich alle einig: unklare Berufsvorstellungen wirken sich inzwischen zunehmend als Ausbildungshemmnis aus (Deutsche Industrie- und Handelskammer 2014, 22). Deshalb wurde im Projekt MINTecHohenlohe der Fokus auf eine praxisbezogene Berufsorientierung in der Schule gelegt, wohl wissend, dass Schülerinnen und Schüler möglichst viele Primärerfahrungen benötigen, um ihre Neigungen, Interessen und Fähigkeiten ausloten zu können.

2.1 Berufsorientierung in der Schule

Es gibt Schulen, die das Thema Berufsorientierung wichtig nehmen und ihren Schülerinnen und Schülern vielfältigste Möglichkeiten bieten, sich selbst auszuprobieren und die eigenen Fähigkeiten zu entdecken. Doch wie die Erfahrung zeigt, sieht die Praxis in den Schulen vor Ort oft ganz anders aus, obwohl in den Bildungsplänen allgemein bildender Schulen die Berufsorientierung explizit erwähnt wird. Besonders in den Gymnasien besteht im Hinblick auf die Studien- und Berufsorientierung Nachholbedarf (Rademacker 2012; Lenz 2014). In Hessen wurde deshalb eine Strategie entwickelt, um die lokale Vermittlungsarbeit im Übergang Schule –Beruf zu optimieren (Lenz 2014). Im Rahmen dieser Strategie wurden zentrale Handlungsfelder identifiziert, mit deren Hilfe Jugendliche frühzeitig zur Auseinandersetzung mit der Berufs- und Studienorientierung angeregt, die Selbsterkundung der Jugendlichen gefördert, die Elternarbeit ausgebaut und die Berufs- und Studienorientierung stärker in den Unterricht integriert werden sollen. An Gymnasien der Region Hohenlohe gibt es bislang solche Ansätze nicht. Meist werden lediglich in der Kursstufe eintägige Exkursionen zu den Studieninformationstagen angeboten, an denen die Schülerinnen und Schüler zur nächstgelegenen Hochschule fahren und sich dort über das Studienangebot informieren. Andere, wenn auch nur vereinzelt, genutzte Möglichkeiten bestehen darin, dass Hochschulprofessoren an die Schule kommen und dort über den Studiengang berichten, in dem sie selbst tätig sind. Vor einigen Jahren wurde in der Region Hohenlohe zwar die jährlich durchgeführte eintägige Informationsveranstaltung „Berufe live4you“ etabliert, um Jugendlichen Informationen zu verschiedensten Berufen aus erster Hand zu liefern. Doch wie Helen Knauf in einer anderen Studie feststellte, betrachten nur Schülerinnen und Schüler, die bereits erste Pläne haben, informationsorientierte Angebote als eine echte Hilfe (Knauf 2005). Schülerinnen und Schüler, die jedoch noch orientierungslos sind, fühlen sich durch informationsorientierte Angebote nicht angesprochen. Für diese sind andere Angebote erforderlich.

An Gymnasien ist ein einwöchiges Betriebspraktikum (Bogy-Praktikum in Baden-Württemberg: Bogy = Berufsorientierung am Gymnasium) in Klassenstufe 9-11 obligatorisch, in dem die Schülerinnen und Schüler in einen Betrieb hineinschnuppern. Mehr Angebote zur Berufsorientierung gibt es meist nicht, und, wie Michael Schuhen in seiner Veröffentlichung schreibt, reicht die Berufswahlorientierung an Gymnasien nicht aus, um Schülerinnen und Schülern die Frage zu beantworten, welche Berufe und die damit verbundenen Anforderungen zu ihren Fähigkeiten und Interessen passen (Schuhen 2009). Die mit einem Betriebspraktikum verbundenen Chancen und Möglichkeiten bleiben häufig ungenutzt, weil eine didaktische Einbindung in ein umfassendes Berufsorientierungskonzept fehlt, bzw. bei den Lehrkräften kein Bewusstsein für die Bedeutsamkeit einer schulbegleitenden Berufsorientierung vorhanden ist (Butz 2006). Häufig fühlen sich nur einzelne Lehrkräfte einer Schule für die schulische Berufsorientierung verantwortlich, mit der Folge, „dass Schülerinnen und Schüler die angebotenen berufsorientierenden Maßnahmen als undifferenzierte „Einzelaktionen“ betrachten, dadurch keinen substanziellen Lebensweltbezug herstellen und schließlich einen Ertrag der schulischen Berufsorientierung für sich kaum feststellen können“ (Dreer 2013, 337).

Obwohl die Kultusministerkonferenz bereits 1993 die Hinführung zur Berufs- und Arbeitswelt für die Sekundarstufe I verbindlich festgelegt hat, fehlt die curriculare Einbindung in die einzelnen Unterrichtsfächer und insbesondere ein eigenständiges Fach „Berufsorientierung“ (Schuhen 2009, 5). Im Zusammenhang mit der in vielen Bundesländern üblichen früheren Einschulung und der Verkürzung der Schulzeit durch das 8-jährige Gymnasium fällt die Phase der Berufsorientierung außerdem in eine Zeit, in der die Gymnasiasten aus entwicklungspsychologischer Sicht stark mit sich selbst beschäftigt und Fragen der beruflichen und persönlichen Zukunftsgestaltung in weite Ferne gerückt sind. Somit wird dem Thema Berufsorientierung nicht die Bedeutung beigemessen, die es für eine erfolgreiche Zukunfts- und Lebensplanung eigentlich haben sollte.

Die Ergebnisse der von Knauf und Rosowski durchgeführten Längsschnittstudie zur Tragfähigkeit der Studien- und Berufswahl von Abiturienten weisen darauf hin, dass „die frühzeitige Herausbildung konkreter Pläne eine wichtige Voraussetzung für einen kontinuierlichen biografischen Verlauf nach dem Abitur bildet, während umgekehrt noch sehr vage Pläne kurz vor dem Abitur die Wahrscheinlichkeit eines diskontinuierlichen biografischen Verlaufs nach dem Abitur erhöhen“ (Knauf/Rosowski 2009, 298).

An der Gewerblichen Schule Künzelsau fiel in den Vollzeitschularten (Technisches Berufskolleg, Zweijährige Berufsfachschule…) auf, dass viele Schülerinnen und Schüler auch gegen Ende ihrer Schulzeit keine konkrete Vorstellung darüber haben, welchen Beruf sie ergreifen möchten. Daneben gibt es selbst in der Berufsschule Jugendliche, die sich nicht wirklich bewusst für ihren Ausbildungsberuf entschieden haben. Sie haben die Ausbildung gewählt, weil sie den Ausbildungsplatz über Beziehungen erhalten haben. Eine hausinterne Befragung der Schülerinnen und Schüler zeigte, dass nur wenige ihren Berufswahlprozess bewusst durchlaufen haben. Häufig treffen die jungen Menschen ihre Berufswahl auf Basis des einzigen Berufspraktikums, das in jeder Schulart obligatorisch zu absolvieren ist. Damit engen sie ihr Berufswahlspektrum jedoch von vorneherein ein. Nur wenige Schüler absolvieren zusätzlich freiwillige Praktika, um in andere Bereiche hinein zu schnuppern.

Unter Berücksichtigung dieser Erfahrungen und Erkenntnisse wurde deutlich, dass das Thema Berufsorientierung in den Schulen der Region nicht den Stellenwert hat, den es eigentlich haben sollte, um allen Jugendlichen eine umfassende Berufsorientierung zu ermöglichen. Hier bestand also ein großer Handlungsbedarf. Als logische Konsequenz entstand die Idee, durch konkrete handlungsorientierte, an den jeweiligen Bildungsplänen der MINT-Fächer orientierte Projekte, die im Rahmen des Unterrichts durchgeführt werden, die Vielfalt unterschiedlichster Berufsbereiche aufzuzeigen. Von ihrer Wirkung her sind diese Projekte entsprechenden Berufspraktika gleichzusetzen, denn bei der Planung und Konzeption der Projekte wurde durchgängig darauf geachtet, dass die Schülerinnen und Schüler erkennen, wofür sie das in der Schule erworbene Wissen brauchen, also wie es in der betrieblichen Praxis zur Anwendung kommt. Dies wurde dadurch ermöglicht, dass sowohl Ausbilder als auch Auszubildende bei der Planung und Konzeption der einzelnen Projekte beteiligt waren. Damit wurde indirekt das Lernfeldkonzept der Berufsausbildung curricular in die Sekundarstufe eingebunden. Die Aufgabenstellung eines Projektes erforderte seitens der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler, dass sie sich nicht nur mit den theoretischen Grundlagen des Projektthemas auseinandersetzen mussten, sondern auch mit der anwendungsbezogenen/technischen Nutzung physikalischer, chemischer oder biologischer Phänomene. Seitens der Lehrkräfte wurden dabei keine Vorgaben zur Vorgehensweise gemacht, die Schülerinnen und Schüler erarbeiteten sich das für die Realisierung des Projekts erforderliche Wissen selbständig auf forschend-entdeckende Weise.

2.2 Die Rolle der Lehrer im Prozess der Berufsorientierung

Im Bildungsplan für die Realschulen in Baden-Württemberg heißt es: „Als Thema der Schulgemeinschaft weist jedes Fach und jeder Fächerverbund an geeigneten Stellen auf berufsorientierende Aspekte hin und schafft praktische Bezüge zur Arbeitswelt….Die Lehrkräfte sind regelmäßig im Dialog mit außerschulischen Experten aus Betrieben, Behörden und den auf der Realschule aufbauenden Schulen“ (Ministerium für Kultus Jugend und Sport Baden-Württemberg Bildungsplan 2004 Realschule, 184). Die Vorgaben im Bildungsplan setzen allerdings voraus, dass Lehrer Kontakte zur Berufswelt aufbauen und pflegen können, um sie im Rahmen der Berufsorientierung für ihre Schülerinnen und Schüler zu nutzen. Wie es sich vor Ort in der konkreten Praxis des Projekts MINTecHohenlohe jedoch herausgestellt hat, ist dem häufig nicht so. Ein Mensch, der einst als Kind und Jugendlicher die Schule besucht, anschließend an einer Hochschule sein Lehramtsstudium absolviert hat und dann als Lehrkraft in die Schule zurückgekehrt ist, tut sich in der Regel mit dem Kontext „betriebliche Lebenswelt“ schwer. Aufgrund dessen bestand ein weiteres Ziel des Projekts MINTecHohenlohe darin, interessierte Lehrerinnen und Lehrer in die Projektarbeit aktiv einzubinden und sie beim Aufbau von Kontakten zu Betrieben der Region zu unterstützen. Dazu wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, in der sich die Lehrkräfte in regelmäßen Treffen untereinander austauschen konnten. Parallel dazu etablierte sich eine Arbeitsgruppe aus Ausbildern und Personalverantwortlichen, die ihrerseits im Rahmen ihrer Treffen Möglichkeiten erarbeiteten, um Lehrkräften entsprechende Kooperationsangebote unterbreiten zu können.

2.3 Berufsorientierung im Elternhaus

Allgemein könnte man denken, das Thema Berufsorientierung habe im Elternhaus einen höheren Stellenwert als in der Schule. Wie aktuelle Tendenzen zeigen, streben die meisten Eltern für ihre Kinder einen höheren Schulabschluss an. In Baden-Württemberg kommen deshalb an Hauptschulen keine Eingangsklassen mehr zustande, besonders im ländlichen Raum wurden bereits einige Hauptschulen geschlossen. Demnach haben Eltern wohl ein primäres Interesse daran, ihre Kinder in eine berufliche Zukunft zu entlassen, die ihnen ein erfolgreiches und zufriedenstellendes Berufs- und Arbeitsleben ermöglicht. Schließt man daraus, Eltern könnten die Fähigkeiten und Stärken ihrer Kinder gut einschätzen und diese mit den konkreten Anforderungen verschiedenster Ausbildungsberufe abgleichen, um eine möglichst große Passung herzustellen, so sieht die Realität leider anders aus. Ein an der Gewerblichen Schule Künzelsau regelmäßig zu Beginn eines Schuljahres durchgeführter Elternsprechtag für die Eltern neu beschulter Berufsfachschüler ermöglichte tiefergehende Einblicke in innerfamiliäre Denkstrukturen. Auf die Frage, welche Stärken und Schwächen ihr Sohn oder ihre Tochter habe, konnten alle Eltern sofort sämtliche Schwächen und Defizite ihres Kindes beschreiben. Die Stärken ihres Kindes jedoch waren ihnen nicht bewusst, eine mögliche berufliche Zukunft ihres Sohnes bzw. ihrer Tochter häufig noch gar nicht präsent. Das Wichtigste war jeweils, erst einmal einen höheren Schulabschluss zu schaffen, dann würde man weitersehen. Wie genau Eltern die Berufsorientierung ihrer Kinder beeinflussen, ist noch nicht ausreichend erforscht worden (Maschetzke 2009). Klar jedoch ist, dass die Komplexität des elterlichen Einflusses auf einem Doppelcharakter beruht, „zum einen nehmen sie durch ihre Erwartungshaltungen oder durch konkrete Ratschläge direkten Einfluss auf die Berufsfindung. Zum anderen wirken sie indirekt durch ihre eigene Berufstätigkeit als positives oder negatives Vorbild auf den Berufswahlprozess ein“ (Kleffner et al. 1996, 14; zit. n. Maschetzke 2009, 182). In der täglichen Berufsschulpraxis erlebt man häufig Jugendliche, die einen Ausbildungsberuf erlernen, weil die Eltern wollten, dass sie einmal den elterlichen Betrieb übernehmen oder Jugendliche, die ihren Ausbildungsplatz durch elterliche Kontakte erhalten haben, und deren Fähigkeiten in beiden Fällen keinerlei Passung zum Anforderungsprofil des Ausbildungsberufes aufwiesen. In diesen Fällen ist es in der Regel absehbar, dass die Jugendlichen sich während der Ausbildung äußerst schwer tun und die Ausbildung nur mit allergrößten Mühen und Anstrengungen abschließen, wenn sie nicht schon vorher scheitern. Dies deckt sich mit der „elterlichen Nötigung“, die Dimbath (Dimbath 2003, 245) im Rahmen der überarbeiteten Fassung seiner Dissertation beschreibt. Auf eine solche Weise kann der individuellen Persönlichkeit eines Jugendlichen keine Rechnung getragen werden. Damit Eltern in der Lage sind, ihre Kinder auf dem Wege der Berufsorientierung optimal zu begleiten und zu unterstützen, müssen auch sie sich mit den stetig wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Arbeit sowie aktuellen Trends in Wirtschaft, Industrie und Gesellschaft auseinandersetzen. Wichtig ist dabei der Blick über den Tellerrand, denn in Anbetracht der großen Zahl an möglichen Ausbildungsberufen und Studiengängen bietet sich für jeden Jugendlichen die Möglichkeit eines passgenauen Abgleichs zwischen seinen persönlichen Interessen bzw. Fähigkeiten und den Anforderungen des Ausbildungsberufes bzw. des Studiengangs. Die Jugendlichen bei diesem Abgleich objektiv und unvoreingenommen zu begleiten, ist die beste Unterstützung, die Eltern ihren Kindern angedeihen lassen können. Damit nehmen Eltern die Verantwortung wahr, „die sie als wichtigster Sozialisator im Prozess der beruflichen und vorberuflichen Sozialisation“ innehaben (Beinke o.J., 69). Denn „die Schule allein mit ihrem klassischen Unterricht kann die ihr angedachte Rolle als Hilfe zur Erfassung der Bedingungen in der Berufs- und Arbeitswelt nicht behaupten“ (Beinke o.J., 70). So wurden im Rahmen von MINTecHohenlohe in den beteiligten Industriebetrieben während der gesamten Projektlaufzeit immer wieder Informationsveranstaltungen durchgeführt, mit dem Ziel, Eltern ebenfalls Einblicke in verschiedenste Berufsfelder zu ermöglichen. Dadurch konnten sie im Zuge ihrer Beratungsfunktion weitere Berufe in Betracht ziehen, die bisher nicht in ihrem Fokus lagen. Des Weiteren wurden Elternabende in den teilnehmenden Schulen angeboten, um sie über die Hintergründe des Projekts zu informieren und den Berufsorientierungsprozess in den Vordergrund zu rücken.

2.4 Berufsorientierung innerhalb der Peergroup

Die Peergroup, der der einzelne Jugendliche angehört, hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Berufsorientierung des Einzelnen. So „sind Einschätzungen des Arbeitsmarktes und der Berufswelt der Gleichaltrigen von Modeströmungen und zeitgeistigen Rollenbildern geprägt“ (Meisel 2007, 4). Nicht selten treffen Jugendliche ihre Berufswahl aufgrund des intensiven Wunsches, mit der besten Freundin bzw. dem besten Freund gemeinsam eine Ausbildung zu absolvieren, unabhängig von den eigenen persönlichen Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Der dieser Entscheidung zugrunde liegende Gedanke, durch die starke soziale Bindung zum Freund/zur Freundin und den daraus resultierenden sozialen und emotionalen Halt die vermeintlich schwer zu bewältigende Ausbildung erfolgreich abschließen zu können, ist nachvollziehbar, besonders vor dem Hintergrund der häufig bei Jugendlichen anzutreffenden Unsicherheit beim Eintritt ins Berufs- und Erwerbsleben. Wie es sich in der Praxis dann zeigt, erweist sich eine solche Entscheidung als Fehlentscheidung, die nur unter großem Aufwand und durch persönliche innere Wachstums- und Reifungsprozesse zu korrigieren ist. Die einzelnen Individuen der Peergroup befinden sich in der Regel alle in derselben persönlichen Situation, die sich im Hinblick auf eine tiefergehende Berufsorientierung als unzureichend herausstellt. Die Entwicklung eigener Interessen und eines stabilen Bewusstseins für die eigenen Fähigkeiten und Stärken bilden die Grundlage für von der Peergroup unabhängige Entscheidungen, so dass der Interessen- und Persönlichkeitsentwicklung innerhalb der Schule mehr Bedeutung beigemessen werden muss. Das Angebot, am Projekt MINTecHohenlohe teilnehmen zu können, richtete sich jeweils an alle Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs. So war nicht nur die Möglichkeit gegeben, dass Jugendliche mit ihren Freunden daran teilnehmen können, sondern dass sie sich innerhalb ihrer Peergroup auch über ihre Erfahrungen austauschen.

2.5 Einflüsse der Medien

Medien sind durch ihre alltägliche Präsenz aus dem Alltag der heutigen Jugend nicht mehr wegzudenken. Im Fernsehen beispielsweise sind bestimmte Berufe häufig vertreten, wie Kinderärztin, Krankenschwester, Anwältin oder Richter, während andere Berufe, wie Elektroniker, Programmierer oder Werkzeugmechaniker, so gut wie gar nicht vorkommen. Der Einfluss der Medien auf die Berufsorientierung darf nicht unterschätzt werden, weil sie durch ihre einseitige Darstellung geschlechtsspezifische Vorstellungen manifestieren. Um diesem entgegenzusteuern, hat sich die MINTiFF-Initiative unter anderem das Ziel gesetzt, das Potenzial von Fernsehfilmen und -serien für die Popularisierung von MINT-Berufen zu erkunden. Die Untersuchung zur Sozialisations- und Bildungswirksamkeit von TV-Spielfilmen und -Serien ergab, dass nicht nur das traditionelle Bild von MINT-Berufen als Männerdomäne, sondern auch traditionelle Vorstellungen der Geschlechterrollen nach wie vor eine hohe Wirkung erzielen (Esch 2011). Im Gegensatz zum deutschen Fernsehen weisen viele US-Formate einen hohen MINT-Bildungsgehalt auf. So wurde in den USA durch die Serie CSI: Vegas ein Run auf die entsprechenden Studiengänge und Berufe ausgelöst (Esch 2014). In Deutschland wird das Potenzial der Medien für eine Berufsorientierung außerhalb des Mainstreams leider nicht genutzt, erste zaghafte Ansätze sind jedoch erkennbar. So wirbt beispielsweise ein Unternehmen der Region Hohenlohe in regionalen Kinos anhand eines Werbespots mit jugendlichen Hauptdarstellern um Auszubildende für technische Berufe. Inzwischen werden soziale Medien und Netzwerke wie Facebook zunehmend von Unternehmen für die Werbung um Auszubildende genutzt. Im Bewusstsein dessen wurde das Projekt MINTecHohenlohe medial begleitet. Es gab eine eigene Homepage, Radio- und Fernsehberichte sowie Reportagen in der regionalen Presse. Dadurch konnte der Bekanntheitsgrad des Projektes enorm gesteigert werden.

3 Ansätze zur Verbesserung der Berufsorientierung

3.1 Entwicklung von Interessen und eines Fähigkeitsselbstkonzeptes als Stabilisierungsfaktor bei der Berufsorientierung

Wie Mechthild Oechsle feststellt, erleichtern ausgeprägte Interessenprofile, besondere Fähigkeiten und Talente den Berufsorientierungsprozess offensichtlich und vermitteln Sicherheit über die einzuschlagende Richtung (Oechsle 2009, 127). Wie aber entwickeln sich Interessen?

Nach Krapp besteht das Konstrukt „Interesse“ aus zwei verschiedenen Komponenten. Das situationale Interesse ist ein einmaliger und situationsspezifischer Zustand, der durch besondere Anreize einer konkreten Situation hervorgerufen wird. Im Gegensatz dazu ist das individuelle Interesse ein dispositionales Merkmal eines Menschen, wobei davon ausgegangen wird, dass das individuelle Interesse langfristig Bestand hat und in unterschiedlichsten Situationen zum Ausdruck kommt (Krapp 1992, zitiert nach Daniels 2008, 17). „Ist das individuelle Interesse gering oder die Person gerade erst im Begriff, ein individuelles Interesse zu entwickeln, ist die Qualität der äußeren Anregung besonders wichtig. Sie kann die Person dazu veranlassen, ihre Aufmerksamkeit auf den Gegenstand zu richten und sich in der Folge über längere Zeit mit ihm zu beschäftigen“ (Hidi et al. 2004, zit. n. Daniels 2008, 18). Umgekehrt sind die situativen Rahmenbedingungen nicht mehr von so großer Bedeutung, wenn eine Person bereits ein starkes individuelles Interesse entwickelt hat. Für die Interessenentwicklung von Kindern und Jugendlichen bedeutet dies – wenn man davon ausgeht, dass für den Unterrichtsgegenstand bislang noch kein individuelles Interesse vorhanden ist – dass die Lehrkraft auf die situationalen Rahmenbedingungen ein besonderes Augenmerk haben muss. Die von Hidi und Renninger beschriebenen vier Phasen der Interessenentwicklung spiegeln demzufolge die Anforderungen an die Lehrkraft wider. In der ersten Phase der Interessenentwicklung wird das situationale Interesse hervorgerufen, in der zweiten Phase das situationale Interesse aufrecht erhalten, in der dritten beginnt das individuelle Interesse und in der vierten ist das individuelle Interesse gut entwickelt (Hidi/Renninger 2006, zit. n. Daniels 2008, 19).

Abbildung 1: Phasen der InteressenentwicklungAbbildung 1: Phasen der Interessenentwicklung

Dieses Phasenmodell stellt für die unterrichtende Lehrkraft eine besondere Herausforderung dar, denn nicht jeder Schüler bringt dasselbe Vorwissen und ein möglicherweise schon vorhandenes Interesse mit, außerdem befindet sich nicht jeder Schüler in derselben Phase der Interessenentwicklung.

Für eine fundierte Berufsorientierung und -wahlentscheidung, die auf personalen Interessen beruht, muss demzufolge allen Phasen der Interessenentwicklung eine höhere Bedeutung beigemessen werden. Damit die für eine nachhaltige Interessenentwicklung erforderliche Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler über längere Zeit aufrecht erhalten werden kann, sollte die Lehrkraft nicht nur Wert auf einen entsprechenden Unterrichtseinstieg legen (um das situationale Interesse zu wecken), sondern sich im Rahmen der didaktischen Analyse überlegen, welche Methoden, Unterrichtsformen und Medien dafür geeignet sind. Erfahrungsgemäß kann sich aus länger aufrecht erhaltenem situationalem Interesse mit der Zeit ein individuelles Interesse entwickeln. „Sind die Erfahrungen einer Person bei der Beschäftigung mit einem Gegenstandsbereich häufig positiv, ist sie eher bereit, sich auch in Zukunft mit diesem zu beschäftigen und entwickelt so mit der Zeit bestimmte Vorlieben für diesen Handlungs- und Wissensbereich“ (Daniels 2008, 21).

Die Entwicklung von Interessen ist für Jugendliche deshalb so wichtig, weil – wie bereits empirisch belegt – ein enger Zusammenhang zwischen den Interessen und dem Selbstkonzept eines Menschen besteht. Dieser Zusammenhang führt sogar so weit, dass „das Kurswahlverhalten der Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe entscheidend durch Selbstkonzepte und Interessen beeinflusst wird“ (Köller et al. 2006, 3). Die Kurswahl in der Oberstufe wirkt sich ihrerseits auf die Berufs- und Studienwahl aus, und damit ergibt sich eine Kausalkette zwischen Interesse, Selbstkonzept und Berufswahl. Eine Studie von CHE und EINSTIEG belegt den Zusammenhang zwischen der Wahl des Studienfaches und der Kurswahl von Abiturienten/innen (Hachmeister et al. 2007, 17).

3.2 Interessengeleitete Berufsorientierung

Hat ein Jugendlicher während seiner Schullaufbahn immer wieder die Möglichkeit gehabt, stabile Interessen zu entwickeln, so ist damit die beste Voraussetzung für eine optimale Berufswahl gegeben. Interesse und Motivation stehen in einem engen Zusammenhang, und wer mehr interessiert und deshalb entsprechend motiviert ist, leistet mehr und hat dadurch mehr Erfolg. Erfolg im Beruf ist seinerseits die Voraussetzung für beruflichen Aufstieg und persönliche Weiterentwicklung. Selbst wenn die personalen Fähigkeiten eines Menschen den an ihn gestellten Anforderungen (noch) nicht ganz entsprechen, so führt in der Regel eine motivational bedingte langfristige Ausdauer, gepaart mit einer gewissen Anstrengungsbereitschaft, zum Ansteigen der personalen Fähigkeiten – wenn die Anforderungen gerade so hoch sind, dass die Person diese mit einem zu bewältigendem Maß an Anstrengung auch erreichen kann.

Die Bedeutsamkeit der Interessen für eine erfolgreiche Berufsorientierung und Berufswahlentscheidung darf allerdings nicht dazu verführen, die für einen bestimmten Beruf erforderlichen Fähigkeiten außer Acht zu lassen. Werden allein die Interessen bei der Berufswahl berücksichtigt, so kann dies leicht in eine Fehlentscheidung münden. Wenn sich eine Abiturientin sehr für Medizin interessiert, andererseits aber kein Blut riechen kann, ist sie für den Beruf der Medizinerin ungeeignet. So muss neben der Berücksichtigung der Interessen eines Jugendlichen ein Abgleich der zukünftigen beruflichen Anforderungen mit seinen Fähigkeiten erfolgen.

3.3 Entwicklung eines Fähigkeitsselbstkonzepts durch Handlungsorientierung

Eine gute schulische Berufsorientierung erfolgt durch

  • eine fächerübergreifende Einbindung berufsorientierender Maßnahmen über die gesamte Schulzeit hinweg
  • die Schaffung von Möglichkeiten für die Schülerinnen und Schüler, eigene Stärken zu entdecken und ihr Entwicklungspotenzial auszuschöpfen
  • Vermittlung der Kompetenz, sich selbst und die eigenen Fähigkeiten objektiv einzuschätzen
  • Lernanlässe, die eigenständiges und zielgerichtetes Lernen ermöglichen, um damit die Grundlage für lebenslanges Lernen zu schaffen
  • Herstellung klarer Bezüge des Lernstoffs zu Inhalten und Aspekten der Arbeits- und Berufswelt
  • Interesse weckende und aufrechterhaltende Unterrichtsgestaltung mit dem Ziel der Entwicklung stabiler (Fähigkeits-) Selbstkonzepte

Um eigene Stärken und Schwächen kennenzulernen und Interessen zu entwickeln, braucht es dazu geeignete Lernanlässe.

In diesem Sinne wurde im Projekt MINTecHohenlohe der Schwerpunkt auf die Handlungsorientierung gelegt, und zwar über alle Bildungsbereiche hinweg, vom Kindergarten bis zum Ende der Sekundarstufe II. Dabei ging es unter anderem darum, konkretes berufliches Handeln kennenzulernen und praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, wie z. B. in der Blechbearbeitung. Die Projekte thematisierten in den jeweiligen Curricula vorhandene Bildungsinhalte mit dem Ziel, sie in Relation zur Berufswelt zu setzen. Besonders hilfreich war in diesem Zusammenhang die Kooperation mit Industriebetrieben, so dass die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen erste Einblicke in die Berufswelt gewinnen konnten. Je älter die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren, umso stärker wurde seitens der Projektverantwortlichen die Berufsorientierung in das Projekt integriert.

3.3.1 MINTecHohenlohe im vorschulischen Bereich

An der Fachschule für Sozialpädagogik in Öhringen wurde zunächst eine Fortbildung für Erzieherinnen im MINT-Bereich etabliert, um die Erzieherinnen zu eigenem Handeln im MINT-Bereich zu befähigen. Lehrkräfte der Fachschule für Sozialpädagogik realisierten – basierend auf den Inhalten der MINT-Fortbildung – mit Erzieherinnen der am Projekt MINTecHohenlohe beteiligten Kindergärten MINTecProjekte, in denen sich Kinder forschend und entdeckend mit den unterschiedlichsten, für sie interessanten naturwissenschaftlich-technischen Themen projekthaft auseinandersetzen können. Bezüge zur Arbeitswelt werden durch Besichtigungen von Betrieben und Institutionen hergestellt. Die Kinder besuchten beispielsweise den Bauhof, konnten im Räumfahrzeug mitfahren, halfen bei der Reparatur von defekten Möbeln. Bei der Feuerwehr erhielten sie Einblicke in die Tätigkeit der Feuerwehrleute, in Betrieben lernten sie die verschiedensten Tätigkeitsfelder (Produktion, Lager,…) auf kindgerechte Weise kennen.

Nun könnten Kritiker meinen, es sei völlig überzogen, bereits Kindergartenkinder mit Naturwissenschaften und Technik zu konfrontieren, nur damit die Betriebe irgendwann einmal genügend Fachkräfte haben. Diesem Argument lässt sich Folgendes entgegensetzen: Eine Gesellschaft ohne Wirtschaft ist nicht überlebensfähig, und anders herum ist eine Wirtschaft ohne Fachkräfte nicht überlebensfähig. Sowohl Wirtschaft als auch Gesellschaft sind Bestandteile des gesellschaftlichen Gesamtsystems und stehen in Wechselwirkung miteinander. Kinder und Jugendliche wachsen nicht in einem wirtschaftsfreien Raum auf, im Gegenteil, sie sollten durch eine umfassende Bildung auf eine entsprechende gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe vorbereitet werden. Es versteht sich von selbst, dass die am Projekt MINTecHohenlohe beteiligten Firmen keine unlauteren und vereinnahmenden Methoden anwenden, um Jugendliche für sich einzunehmen. Dies wird unter anderem durch eine enge Zusammenarbeit mit Bildungsträgern, Bildungseinrichtungen, Schulamt und Kultusministerium sichergestellt.

3.3.2 Einbindung von Auszubildenden als Lernpartner

An MINTecProjekten, die in Kooperation mit Industriebetrieben durchgeführt wurden, waren stets Auszubildende als Lernpartner beteiligt, die Lehrkräfte und Erzieherinnen bei der Umsetzung dieser Projekte unterstützten. Auf ihre Aufgabe als Lernpartner wurden die Auszubildenden umfassend vorbereitet. Dazu erhielten sie eine Schulung zu folgenden Themen:

  • Aufgaben als Lernpartner
  • Gruppenprozesse
  • Entwicklungspsychologie
  • Erste Hilfe bei Kindern und Jugendlichen

Daneben waren Auszubildende an der Entwicklung von MINTecProjekten beteiligt, deren Inhalte gemeinsam mit Lehrkräften und Erzieherinnen festgelegt wurden und sowohl dem Bildungsplan als auch der Lebenswelt der Kinder/Jugendlichen entlehnt sind. Der Vorteil daran ist, dass bei den jungen Auszubildenden die eigene Kindheit noch nicht zu lange zurück liegt, und sie daher viel eher nachvollziehen können, welche Themen für Kinder bzw. Jugendliche interessant sind. Aufgrund der Beteiligung von Auszubildenden lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer junge Menschen aus Betrieben kennen, die in diesem Zusammenhang automatisch eine Vorbildfunktion einnehmen. Durch die Besichtigung des Arbeitsplatzes der Auszubildenden und handlungsorientierte Projekte in der Lehrwerkstatt, in denen Kinder bzw. Jugendliche und Auszubildende zusammenarbeiten, entstehen Beziehungen zwischen Kindern/Jugendlichen und Auszubildenden, die einer ersten beruflichen Orientierung dienlich sind. Außerdem wird für die Jugendlichen deutlich, welche Anforderungen in einem bestimmten Beruf zu erfüllen sind. Der Abgleich zwischen personalen Voraussetzungen und beruflichen Anforderungen wird somit erleichtert.

3.3.3 MINTecHohenlohe im schulischen Bereich

Bedingt durch die Förderrichtlinien der Baden-Württemberg Stiftung musste das Projekt während der Förderdauer von vier Jahren (bis Sommer 2011) außerhalb des regulären Unterrichts umgesetzt werden, da die Sicherstellung von regulärem Unterricht Landesaufgabe ist und nicht von der Baden-Württemberg Stiftung finanziert werden darf. So wurden Projekte in den Schulen auf freiwilliger Basis am Nachmittag außerhalb des regulären Unterrichts angeboten. In der Regel interessierten sich mehr Kinder und Jugendliche für das Projekt, als Plätze vorhanden waren.

Basierend auf den Ergebnissen einer Befragung, dass sich insbesondere Grundschullehrerinnen mit naturwissenschaftlich-technischen Bildungsinhalten schwer tun, wurden in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg Lehrerfortbildungen für das forschend- entdeckende Lernen in Naturwissenschaft und Technik angeboten. Nicht selten wird in der Grundschule der elektrische Stromkreis nur mit Papier und Bleistift behandelt, obwohl gerade dieses Thema für eine praktische Auseinandersetzung optimal geeignet ist. Durch die Fortbildungen konnten Lehrkräfte darin motiviert werden, im Projektunterricht forschend-entdeckende, handlungsorientierte Lerngelegenheiten für die Kinder zu schaffen. Wie im Kindergarten wurden auch im schulischen Bereich Auszubildende als Lernpartner eingesetzt. Jeder Auszubildende betreute eine Gruppe von max. 3 bis 4 Schülern, die Federführung hatte jedoch immer die Lehrkraft. Auf diese Weise konnten Lehrkräfte bei der Durchführung der Projekte personell unterstützt werden, wodurch eine starke Entlastung der Lehrkräfte erreicht wurde. Natürlich mussten sich die Auszubildenden im Vorfeld eines Projektes mit den theoretischen Grundlagen und möglichen Problemstellungen auseinandersetzen. Dabei konnten sie ihr in der Berufsschule erworbenes Fachwissen anwenden. Es wurden nicht nur Auszubildende aus dem gewerblich-technischen Bereich eingesetzt, sondern zusätzlich aus dem kaufmännischen Bereich. Somit konnten alle Beteiligten voneinander lernen und fachübergreifende Aspekte in die einzelnen Projekte integriert werden.

Abbildung 2: Auszubildender als Lernpartner unterstützt einen SchülerAbbildung 2: Auszubildender als Lernpartner unterstützt einen Schüler

Um jungen Menschen während ihrer Schullaufbahn kontinuierlich vielfältigste Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Naturwissenschaft und Technik zu bieten sowie die in der Primarstufe begonnene Arbeit fortzuführen, wurden MINTecProjekte über alle Schulstufen hinweg durchgeführt – unter Einbindung von Fachlehrern, die an den jeweiligen Schulen unterrichten. Dem Aspekt der Berufsorientierung wurde im Laufe der Sekundarstufe eine stetig steigende Bedeutung beigemessen, indem die Schülerinnen und Schüler Informationen zu verschiedensten Berufsfeldern aus erster Hand erhalten. Die zum Lernpartner ausgebildeten Auszubildenden standen hierbei als Gesprächspartner und Mentoren zur Verfügung und übernahmen somit indirekt die Funktion von Ausbildungsbotschaftern.

3.4 Das Projekt MINTecHohenlohe nach Auslaufen der Förderung

Nach Auslaufen der Förderung des Projekts durch die Baden-Württemberg Stiftung entfiel die Rahmenbedingung, die MINTecProjekte außerhalb des regulären Unterrichts durchzuführen. Damit konnte das Projekt in den Regelunterricht der beteiligten Schulen integriert werden. Für die Lehrkräfte bedeutete dies eine Entlastung, da sie das Projekt nun im Rahmen ihres Deputats umsetzen konnten. Nach wie vor werden Auszubildende als Lernpartner ausgebildet und von den Mitgliedsbetrieben der Innovationsregion für die Mitarbeit in MINTecProjekten abgeordnet. Bei der Evaluation des Projekts, die regelmäßig mit Hilfe von Fragebogen und durch Interviews vom Projektträger durchgeführt wurde, ergaben sich folgende Vorteile:

  • Das Interesse der Schülerinnen und Schüler kann auf vielfältigste Weise geweckt und stabilisiert werden.
  • Entlastung der Lehrkraft durch Einbindung von als Lernpartner geschulten Auszubildenden bei der Durchführung von handlungsorientierten Unterrichtseinheiten.
  • Das Material für die MINTecProjekte wird von den Betrieben bezahlt.
  • Die Schülerinnen und Schüler erhalten „ganz nebenbei“ kontinuierliche Einblicke in die Berufs- und Arbeitswelt.
  • Die Schülerinnen und Schüler können Kontakte zu Betrieben knüpfen und sich im Rahmen der MINTecProjekte ausprobieren.
  • Durch die breite thematische Abdeckung des gesamten MINT-Bereichs und die zusätzliche Einbindung Auszubildender aus kaufmännischen Berufen ist eine umfassende Berufsorientierung möglich.
  • Lehrer/Lehrerinnen erhalten im Rahmen der Projektarbeit einen anderen Blick auf ihre Schüler, lernen sie besser kennen und können handlungsorientierte Lernformen ausprobieren, die ihren Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit bieten, entsprechende Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln.
  • Die Schule gewinnt durch ihre Teilnahme am Projekt ein zusätzliches Alleinstellungsmerkmal, kann so ihr Schulprofil stärken und hat damit bessere Chancen im Wettbewerb mit anderen Schulen.
  • Die Berufsorientierung ist in den Unterricht integriert und erfolgt kontinuierlich über die gesamte Schulzeit.
  • Die Auszubildenden erfahren durch ihre Mitarbeit in den Projekten einen „Perspektivwechsel“ und können dadurch ihre sozialen Fähigkeiten weiterentwickeln.
  • Die Betriebe haben die Gelegenheit, ihre Ausbildungsmöglichkeiten umfassend darzustellen.

Das Gesamtsystem kann dabei als „Lernende Organisation“ verortet werden, die sich stetig weiter entwickelt unter Berücksichtigung bisher gesammelter Erfahrungen, die evaluativ regelmäßig ausgewertet werden.

3.5 Das Projekt MINTecHohenlohe heute

Das Projekt wird immer noch fortgeführt, konnte also nachhaltig in der regionalen Bildungslandschaft verankert werden. Inzwischen ist die Organisation des Projekts an die Bildungsregion Hohenlohekreis übergegangen.

An der Gewerblichen Schule Künzelsau wurde 2011 ein MINT-Zentrum eingerichtet, das für Lehrkräfte Fortbildungen in den Bereichen Naturwissenschaft und Technik anbietet. Zusätzlich werden an der Gewerblichen Schule MINTecProjekte durchgeführt, deren Inhalte konkrete Bezüge zu Ausbildungsberufen aufweisen, wie zum Beispiel in der Kunststofftechnik (Ausbildung zum Verfahrensmechaniker für Kunststofftechnik). So lernen die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler frühzeitig das berufliche Umfeld bzw. die Berufsschule kennen und können für sich überprüfen, welcher der vorgestellten Berufe für sie von Interesse ist.

Ein besonderer Schwerpunkt liegt außerdem auf dem Zugang zu technischen Berufen für Mädchen. In monoedukativen Unterrichtseinheiten können sie sich in kreativer Weise mit den gestaltenden Aspekten von Technik auseinandersetzen – ein Zugang, der für Mädchen ideal geeignet ist, weil er kein technisches Wissen voraussetzt und das Gestaltungspotenzial, das Technik ebenfalls aufweist, in den Vordergrund rückt.

Weiterhin wurde an der Gewerblichen Schule Künzelsau ein Schüler-Forschungs- und Technikzentrum eingerichtet. Es wird im Rahmen des regulären Unterrichts genutzt, aber auch für weitere Projekte, die in Kooperation mit allgemein bildenden Schulen durchgeführt werden.

3.6 Fazit

Mit einer Anschubfinanzierung ist es relativ leicht, Bildungsprojekte zu realisieren. Problematisch wird es in der Regel, wenn die Förderung ausgelaufen ist und keine nachhaltigen Konzepte für eine langfristige Fortführung erarbeitet wurden. In der Region Hohenlohe ist es sehr gut gelungen, das Projekt MINTecHohenlohe zu verstetigen, da alle Akteure den Wert des Projekts erkannt haben und ihren Beitrag zum Fortbestehen leisten. Durch die Zusammenarbeit der Innovationsregion mit Landkreis, Schulamt, allgemein bildenden und beruflichen Schulen, Betrieben, Kultusministerium und weiteren Akteuren war es möglich, ein stringentes, handlungsorientiertes System zu etablieren, das Kindern und Jugendlichen eine optimale Vorbereitung ihrer Berufswahlentscheidung erlaubt und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit gibt, eigene Stärken zu entdecken.

Zug um Zug sollen weitere Bildungsinhalte integriert werden. Derzeit wird zunehmend die ökonomische Bildung berücksichtigt, sowie das Schüler-Forschungs- und Technikzentrum ausgebaut.

Wenn in einer Region sich alle Akteure zusammentun, lässt sich viel bewegen. Dazu muss jedoch zunächst ein tragfähiges Netzwerk geschaffen werden, und es muss allen klar sein, dass man einen langen Atem haben muss. Aber es lohnt sich.

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Links

Informationen zum Projekt MINTecHohenlohe http://www.mintec-hohenlohe.de (05.09.2014)

Sprachsensibilität – Herausforderung bei der Kompetenzfeststellung im Rahmen der Berufsorientierung

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1 Berufsorientierung von Jugendlichen mit Sprachförderbedarf

Der Übergang von der allgemeinbildenden Schule in eine berufliche Ausbildung gestaltet sich in Deutschland für viele Jugendliche als problematisch. Belegt wird diese Aussage z. B. durch 21.034 unversorgte Bewerber und zusätzliche 62.530 Personen, die weiterhin nach einem Ausbildungsplatz suchen, obwohl sie in 2012/13 eine Alternative zur beruflichen Ausbildung begonnen haben (vgl. BMBF 2014, 33).

Auf der Suche nach den Ursachen, finden sich verschiedene Erklärungsansätze für die Diskrepanz zwischen Bewerberangebot und Stellen. Aus Sicht der Unternehmen treten dabei verstärkt Defizite in der Berufsorientierung sowie in den Sozial- und Selbstkompetenzen in den Vordergrund, die sich auf die falsche Wahl des Ausbildungsberufes und mangelnden Ausbildungserfolg auswirken können (vgl. DIHK 2013, 26ff.). Um diesen Problemen entgegenzuwirken, sollen neben Programmen zur Begleitung und Unterstützung von Jugendlichen während der Ausbildungszeit auch solche zur frühzeitigen Unterstützung der Berufsorientierung entwickelt und umgesetzt werden (vgl. BMBF 2014, 54).

Der Prozess der Berufsorientierung kann dabei in drei Handlungsfelder eingeteilt werden: das Handlungsfeld der Orientierung (hier gilt es, die eigenen Kompetenzen sowie berufliche Möglichkeiten besser kennenzulernen), das Handlungsfeld der Verzahnung (hier gilt es, das eigene Kompetenzprofil mit den Anforderungen konkreter Berufe abzugleichen) und das Handlungsfeld der Realisierung (hier gilt es, den Bewerbungsprozess erfolgreich zu gestalten) (vgl. Kremer/Wilde 2006, 9f.). In Anlehnung an diese Handlungsfelder lassen sich vier konkrete Situationen der Berufsorientierung identifizieren (siehe Abbildung 1):

Abbildung 1: Handlungsbereiche und Situationen der Berufsorientierung (Kremer 2010, 6)Abbildung 1: Handlungsbereiche und Situationen der Berufsorientierung (Kremer 2010, 6)

Im Folgenden fokussieren wir die erste Phase der Berufsorientierung. Dort gibt es inzwischen eine Vielzahl an Verfahren, deren erklärtes Ziel es ist, die eigenen Kompetenzen für die Jugendlichen transparent zu machen. Dabei reicht die Bandbreite von kurzen Online-Tests (vgl. z. B. IHK Nürnberg 2014) über professionell begleitete Selbsterkundungen, (vgl. z. B. DIE 2014) bis hin zu komplexen handlungsorientierten Verfahren (vgl. z. B. INBAS 2014). Als handlungsorientierte Verfahren gelten dabei Assessment Center und Varianten davon, wie bspw. entwicklungsorientierte Development Center (vgl. Druckrey 2007, 19). 

Gegenüber rein schriftlichen Feststellungsverfahren bieten handlungsorientierte Verfahren für Jugendliche mit sprachlichen Defiziten einen wesentlichen Vorteil: Es gibt keine Fixierung auf eine elaborierte Bildungssprache, die die Jugendlichen in Arbeitsanweisungen, Testaufgaben oder Fragebögen durch eine entsprechende Lesekompetenz erst einmal „knacken müssen“ (vgl. Ohm/Kuhn/Funk 2007).

Handlungsorientierte Verfahren bieten hier stattdessen die Möglichkeit einer Kombination aus Lese- und Hörverständnis sowie Sprech- und Schreibkompetenz und vereinen damit verschiedenste sprachliche Anforderungen, so dass die Teilnehmenden auch die Schriftsprache durchbrechen können. Jedoch führt dies zu sprachlich komplexen Arrangements, die andere Schwierigkeiten mit sich bringen. Die eher mündlich orientierten Aufgaben müssen oftmals gemeinsam mit anderen Teilnehmenden in Bewährungs- und Prüfsituationen gemeistert werden. Dabei kommt den Sprachkompetenzen als kommunikative Kompetenz eine große Bedeutung zu. Gemeint ist damit der soziale Akt des Sprechens, bei dem die Kommunikation nicht dem bloßen Übermitteln von Informationen, sondern der gegenseitigen Verständigung dient. Entscheidend ist dabei in der Beobachtung und Bewertung nicht nur der Sprachgebrauch an sich, sondern auch die Einhaltung von normativen Regeln, d.h. die Anpassung des Sprechens an die jeweilige Situation bzw. den Gesprächspartner in seiner Rolle. Dies erfordert soziolinguistische Kompetenz, die jenseits der reinen Rezeption oder Produktion von Sprache liegt (vgl. Nodari 2002).

Darüber hinaus ist Sprachkompetenz an die personale Identität geknüpft (vgl. Bialystok/Hakuta 1994, 134). Mit dem Sprechen zeige ich mich als Person. Besonders ausgeprägt ist das, wenn ich von mir selbst erzähle – wie in biographischen Übungen von handlungsorientierten Verfahren. Sofern Deutsch nicht die eigene Muttersprache ist, kann sich eine Grenze auftun: ich kann nicht sagen, was ich sagen will; ich muss mich mit der Wahl einfacherer Worte, unterhalb des Sprachniveaus meiner Muttersprache, begnügen. Diese Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung kann als Rückschritt erlebt werden und zu Frustrationserlebnissen führen, die dann auch andere Kompetenzbereiche beeinflussen.

2 Das Verfahren MISSION:possible

Das hier vorgestellte Kompetenzfeststellungsverfahren MISSION:possible versteht sich innerhalb des Berufsorientierungsprozesses als sprachsensibles Verfahren zur Unterstützung der Selbstentdeckung von Jugendlichen, indem es das Offenlegen der Selbst- und Sozialkompetenzen trotz sprachlicher Schwierigkeiten unterstützt. Das Verfahren kann außerdem als entwicklungsförderliches Verfahren zur Kompetenzfeststellung bezeichnet werden. Das Ziel ist also nicht nur die bloße Feststellung von Kompetenzen. Vielmehr soll auch eine individuelle Kompetenzentwicklung angeregt und unterstützt werden (vgl. Gillen, 2007, S. 149ff.). Wo möglich sollen dabei integriert auch sprachliche Kompetenzen mitgefördert werden.

Mit Blick auf Zielgruppe und Zielsetzung konzentriert sich MISSION:possible auf Handlungskompetenzen, die einen direkten Bezug zur Berufsorientierung haben, bzw. diese unterstützen:

Sozialkompetenz: Kommunikationsfähigkeit, Kritikfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Teamfähigkeit

Selbstkompetenz: Selbstkonzept (hier: eigene Interessen, Stärken und Ziele kennen/entwickeln), Selbstreflexion (hier: eigene Interessen, Stärken und Ziele reflektieren)

MISSION:possible ist ein Prozess, der aus mehreren Phasen besteht – von der Eingangsdiagnose über eine kontinuierliche Kompetenzentwicklung im Unterricht bis hin zur Ausgangsdiagnose mit abschließendem Feedback. Im Rahmen des Beitrages konzentrieren wir uns auf die Eingangsdiagnose. Diese ist als zweitägiges handlungsorientiertes Development Center gestaltet. Die Jugendlichen nehmen an 18 unterschiedlichen Übungen teil und werden dabei von geschultem Personal beobachtet. Folgende Methoden stehen hinter den Übungen: Selbstreflexion, biografische Interviews, Selbstpräsentation, Rollenspiele, kooperative Lernformen, Critical Incidents, erlebnispädagogische Übungen, Peer-Feedback, gemeinsame Reflexionsrunden.

Eine Besonderheit des Verfahrens ist, dass alle eingesetzten Übungen in eine Abenteuergeschichte (Bergtour mit der Klasse) eingebunden sind, die als Rahmenhandlung dient und sich bewusst von schulischen Themen absetzt. Dadurch sollen die einzelnen Übungen in einen nachvollziehbaren und motivierenden Zusammenhang gebracht werden.

Eine weitere Besonderheit bildet die besondere Rolle der Beobachtende. Diese übernehmen nicht nur die Aufgabe der Beobachtung, Beschreibung und Bewertung der Sozial- bzw. Selbstkompetenzen. Sie sind entsprechend des Kompetenzfördercharakters des Verfahrens darüber hinaus Partner für die Jugendlichen, die bei Problemen unterstützen und im Rahmen der Biografie-orientierten Übungen auch die Rolle des Interviewers und Impulsgebers übernehmen, der zur Selbstreflexion anregt und – falls notwendig – dabei unterstützt.

3 Theoretische Grundlagen einer sprachsensiblen Kompetenzfeststellung

Wenn hier eine sprachsensible Kompetenzfeststellung angesprochen ist, bezieht sich dies nach unserem Verständnis auf verschiedene Ansatzpunkte und Strategien, wie sie auch im Sinne einer sprachsensiblen Didaktik (vgl. Kimmelmann 2013 sowie Kimmelmann 2010, 437ff.) kombiniert werden, um sprachliche Schwierigkeiten in Lernkontexten zu minimieren. Im Rahmen von Mission:possible wurden diese erstmals und erprobungsweise auf den Kontext einer Kompetenzfeststellung im Rahmen der Berufsorientierung modifiziert übertragen.

Anpassung der sprachlichen Heerausforderungen an die vorhandenen Sprachkompetenzen (sprachliche Zielgruppenorientierung)

Die Anpassung sprachlicher Herausforderungen wird dabei mit Blick auf ein Gleichgewicht zu den primären Kompetenzanforderungen gesehen  Es geht also nicht um eine pauschale sprachliche Vereinfachung, sondern um eine gezielte Minimierung der sprachlichen Anforderungen an den Stellen, an denen sprachliche Kompetenzen nicht im Fokus stehen oder die primär zu erbringenden Selbst- und Sozialkompetenzen sehr komplex sind. Andererseits sollte das Verfahren auch gezielt Möglichkeiten bieten, sprachlich-kommunikative Kompetenzen zu zeigen, wo diese im Mittelpunkt stehen (z.B. bei der Kommunikationsfähigkeit). An diesen Stellen sollte das verlangte Niveau knapp über dem vorhandenen Sprachstand der Jugendlichen liegen, um sie zu fordern, aber nicht zu überfordern (vgl. Leisen 2010).

Schaffung sprachlich anregender unterschiedlicher Handlungssituationen 

Sprachliche Kompetenzen können in ihren Teilkompetenzen Lesen, Schreiben, Sprechen und Hören bei den Jugendlichen sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Dies impliziert die Schaffung von Lernsituationen, die auf unterschiedliche Sprachkompetenzen differenzierter Niveaus zielen (vgl. Portmann-Tselikas 1998, 123f.). Um einseitige Überlastungen und damit Verzerrungen der Kompetenzfeststellung zu vermeiden, sollten also diesem Prinzip folgend unterschiedliche sprachliche Zugänge und Leistungen in das Verfahren integriert werden. So können sich die Teilnehmenden auch in ihren sprachlichen Stärken präsentieren. Interaktive Handlungssituationen, die ausgehend von der Alltagskommunikation zunächst mündlich und erst dann schriftlich sprachlich anspruchsvolle Elemente integrieren bieten hier – in Anlehnung an die Praxis im Fachunterricht (vgl. Portmann-Tselikas 1998; Gibbons 2006) -bessere Möglichkeiten als zentriert gelenkte input-lastige Vorgehensweisen.

Sprachlich anregend und damit erfolgsversprechender mit Blick auf einen erfolgreichen Einsatz von Sprachkompetenzen sind dabei Handlungssituationen, die nicht nur vom Niveau, sondern auch vom Inhalt an Vorerfahrungen der Jugendlichen ansetzen (vgl. Gibbons 2006). Biographie-orientierte und authentische Situationen mit direktem Lebensweltbezug, in die sich die Jugendlichen gut hineinversetzen können, erscheinen hier für eine Kompetenzfeststellung sehr geeignet.

Bereitstellung sprachlicher Hilfestellungen

Die Bereitstellung sprachlicher Hilfestellungen (z.B. Bilder, mündliche oder visuelle Veranschaulichung, Formulierungshilfen), kann auch bei der Kompetenzfeststellung dazu beitragen, dass Jugendliche hohe sprachliche Schwierigkeiten eigenständiger meistern, ohne die primär festzustellenden Kompetenzen aus dem Blick zu verlieren. Angebotene Hilfen der Sprachsensibilisierung sollten dabei so wenig wie möglich, jedoch in ausreichendem Maße angeboten werden (vgl. Leisen 2010).

Konstruktiver Umgang mit Fehlern

Sprachliche Defizite bzw. Kompetenzen werden nicht zuletzt auch von motivationalen Faktoren beeinflusst. Sprechhemmungen, Vermeidungsverhalten aber auch fehlendes Problembewusstsein der Jugendlichen in ihrem Sprachgebrauch können vermieden werden, indem u. a. eine konstruktive Fehlerkultur etabliert wird (vgl. Bethscheider/Käferlein/Kimmelmann 2014). Hierzu zählen beispielsweise konstruktives Feedback während des gesamten Prozesses sowie ein Fokus auf die sprachlichen Stärken statt Schwächen der Teilnehmenden. Dies erscheint uns im Kontext der Kompetenzfeststellung im gleichen Maße relevant sowie umsetzbar. Ziel des Prozesses ist nach unserem Verständnis in Anlehnung an Vonken (2011, 30) „kompetentes Handeln“ – und damit genau genommen eine erfolgreiche Performanz – in zweierlei Hinsicht: erstens die Fähigkeit, unsichere bzw. unbekannte Situationen zu bewältigen und zweitens, die kreative Schaffung und Gestaltung von Situationen. Dies trifft beispielsweise dann zu, wenn der Teilnehmende aktiv von sich aus sprachliche Handlungen in die Übungssituationen einbringt und in der Interaktion mit den Anderen sprachlich neues ausprobiert. In diesem Verständnis von kompetentem (Sprach-) Handeln ist die Sprachkompetenz an eine soziale Kommunikationsfähigkeit, gebunden und bedarf einer sprachsensiblen Umgebung, die auch motivierenden Charakter hat.

4 Sprachsensible Gestaltung von MISSION:possible

Das vorgestellte Kompetenzfeststellungsverfahren MISSION:possible vereint die skizzierten Ansatzpunkte einer sprachsensiblen Kompetenzfeststellung bei seiner übergreifenden Gestaltung. Ferner wurden auch die eingesetzten Übungen bewusst im oben beschriebenen Sinne gestaltet und werden deshalb im Folgenden als spezifische Strukturelemente der Sprachsensibilität bezeichnet wird.

4.1 Übergreifende sprachsensible Gestaltung des Verfahrens

Anpassung der sprachlichen Heerausforderungen an die vorhandenen Sprachkompetenzen (sprachliche Zielgruppenorientierung)

In Phasen der Moderation durch das Kompetenzfeststellungsverfahren werden möglichst einfache Wörter und Sätze verwendet, um keine unnötigen sprachlichen Herausforderungen aufzubauen. Nicht zu vermeidende schwierige Wörter und Fachbegriffe werden durch die Moderatoren nochmals gesondert erklärt. Auch während des Organisationsprozesses sind die Moderierenden auf zusätzlichen Unterstützungsbedarf eingestellt und halten alternative Erklärungen parat.

Schaffung sprachlich anregender und unterschiedlicher Handlungssituationen 

Durch den Methodenmix des Development Centers werden unterschiedliche sprachliche Kanäle angesprochen bzw. gefordert. Zusätzlich werden sowohl die Rahmenhandlung als auch Arbeitsaufträge von den Moderierenden mündlich erklärt und gleichzeitig durch PowerPoint-Folien bzw. Flipcharts unterstützt, d.h. angesprochen wird sowohl das Hörverstehen als auch das Leseverstehen.

Bereitstellung von Hilfestellungen

Zur Veranschaulichung der Rahmenhandlung werden auf den PowerPoint-Folien und Flipcharts vielfältige Bilder verwendet. Auch Videos werden eingesetzt. Die Beobachtenden stehen bei ausgewiesenen Übungen als unterstützende Partner zur Verfügung, um den Jugendlichen bei sprachlichen Problemen zu helfen.

Konstruktiver Umgang mit Fehlern

Bereits zu Beginn des Verfahrens wird die sprachsensible Gestaltung des Verfahrens gegenüber den Teilnehmenden offengelegt. Diese Ernsthaftigkeit der Orientierung an den Teilnehmenden soll sich bei den Lernenden in der Qualität ihrer Beiträge und der Motivation, sich auf die einzelnen Übungen des Workshops einzulassen, wiederspiegeln.

Zusätzlich werden direkt in der Anfangsphase des Development Centers Übungen durchgeführt, in denen durch die weiter gefasste Rolle der Beobachtenden als Impulsgeber ein Vertrauensverhältnis zwischen Teilnehmenden und Beobachtenden aufgebaut werden kann. Diese wurden hierfür geschult, Zutrauen in die Fähigkeiten der Teilnehmenden zu vermitteln.

Während des Verfahrens wird – wie auch bei den Sozial- und Selbstkompetenzen – der Fokus auf die vorhandenen sprachlichen Stärken und nicht auf die Fehler gelegt. Eine Rückmeldung an die Teilnehmenden erfolgt ausschließlich mit Blick auf das gezeigte Können und beobachtete Potenzial für die weitere Förderung.

4.2 Spezifische Strukturelemente der Sprachsensibilität

4.2.1 Biografie-orientierte Übungen

Das Verfahren umfasst insgesamt drei Biografie-orientierte Übungen, in denen sich die Teilnehmenden direkt mit ihren Interessen, Stärken und Zielen auseinandersetzen. Die Teilnehmenden entscheiden dabei selbst, was und wie ausführlich sie über sich erzählen und können damit eigenständig zwischen Selbstdarstellung und Selbstschutz tarieren. Dies soll die Offenheit der Teilnehmenden unterstützen. Sprachliche Unterstützung erfolgt durch die geschulten Beobachtenden, die an dieser Stelle als Gesprächspartner fungieren und damit dank einfacher Redemitteln und offener Fragen den Erzählfluss in Gang halten können.

4.2.2 Präsentationen

Präsentationen stellen einen gezielten Sprechanlass dar und werden in eine motivationale und sprachförderliche Atmosphäre eingebunden. Ergebnisse aus den Biografie-orientierten Übungen, die von den Jugendlichen schriftlich formuliert werden, werden nochmals mündlich durch die Jugendlichen präsentiert. Somit können auch fehlerhafte bzw. ergänzungsbedürftige schriftliche Formulierungen in der mündlichen Performanz erläutert werden – was als Stärke bei den Teilnehmenden dokumentiert wird.

4.2.3 Erlebnispädagogische Übungen

In die Rahmenhandlung sind insgesamt drei erlebnispädagogische Übungen integriert, die an der Handlungsbereitschaft der Jugendlichen ansetzen. Die Lösung der Aufgabe ist auch auf nicht-kognitivem Weg durch Ausprobieren, Zusammenarbeit oder Diskussion erreichbar. Zugleich gibt es auch die Möglichkeit, sich nicht-sprachlich aktiv bei der Suche nach der Lösung einzubringen (z.B. Hilfe anbieten, Empathie zeigen). Das sprachliche Anforderungsniveau kann bei diesen Übungen also zugunsten der zu zeigenden Selbst- und Sozialkompetenzen reduziert werden.

4.2.4 Kooperative Lernformen

Als Ergänzung zu den bisher skizzierten Übungsformaten wurden insgesamt drei kooperative Partner- und Gruppenarbeiten gestaltet, um eine gegenseitige sprachliche Unterstützung der Jugendlichen im Sinne einer sprachlichen Hilfestellung zu ermöglichen.

5 Empirische Untersuchung

5. 1 Forschungsfrage und -design

In der hier vorzustellenden Teilstudie der Gesamtevaluation des Verfahrens soll gezeigt werden, wie ein handlungsorientiertes Verfahren zur Feststellung der Sozial- und Selbstkompetenzen von Jugendlichen einer Deutschförderklasse (Mittelschule) im Rahmen der Berufsorientierung sprachsensibel gestaltet und durchgeführt werden kann.

Zur Beantwortung der Forschungsfrage wird der Ansatz der qualitativen Evaluationsforschung verfolgt, da diese besonders wertvolle Ergebnisse liefert, wenn die verschiedenen subjektiven  Meinungen und Bewertungen von verschiedenen Beteiligten gesammelt werden, um z. B. durch Vergleiche zu einer Erkenntnis bzw. zu einer Bewertung einer Intervention zu gelangen (vgl. Flick 2006, 18ff.).

Außerdem versteht sich die hier durchgeführte Evaluation als formative Evaluation, um „die Programmdurchführung zu optimieren und die Programmkonzeption zu verbessern“ (Gollwitzer/Jäger 2009, 124). Im konkreten Fall soll also die Basis geschaffen werden, um Konzeption und Durchführung des Verfahrens MISSION:possible hinsichtlich der Sprachsensibilität in der Zukunft weiter zu optimieren. Zugleich sollen Hinweise zur sprachsensiblen Gestaltung für ähnliche Kompetenzfeststellungsverfahren generiert werden.

5.2 Partner, Sampling, Datenerhebung und Datenauswertung

Die skizzierte sprachsensible Version von MISSION:possible wurde in einer Deutschförderklasse der Klassenstufe 8 mit 13 Schüler/innen an einer bayerischen Mittelschule durchgeführt. In der Klasse befinden sich ausschließlich Jugendliche mit Migrationshintergrund, die erst seit relativ kurzer Zeit in Deutschland leben und dementsprechende Defizite in der deutschen Sprache aufweisen. 

Außerdem wurden an derselben Schule im Vorfeld acht Lehrkräfte als Beobachtende ausgebildet. Sechs von ihnen nahmen bei der Durchführung des Development Centers auch in dieser Rolle teil.     

Die Datenerhebung erfolgte mit Hilfe einer ausgewählten Teilgruppe der teilnehmenden Jugendlichen und Lehrkräfte. Für die Bestimmung des gezielten Samplings verwendeten wir das Auswahlkriterium der Extremfälle (vgl. Mayring 2002, 43), um evtl. auch gegensätzliche Perspektiven zu erheben und so eine möglichst umfassende und differenzierte Bewertung des Verfahrens zu erhalten. Die interviewten Personen stellen insofern Extremfälle dar, da sie im Hinblick auf verschiedene Kriterien gegensätzliche Ausprägungen aufweisen. Bei den Lehrkräften sind diese Kriterien das Geschlecht und die Berufserfahrung. Bei den Jugendlichen wurden das Geschlecht, die Ausprägung der Sozial- und Selbstkompetenz sowie die Kompetenz in der deutschen Sprache als Kriterien gewählt. Die entsprechenden Kompetenzausprägungen wurden im Rahmen des Development Centers durch Beobachtungen erhoben.

Tabelle 1:     Sampling Jugendliche

Auswahlkriterium vier Jugendliche
Geschlecht zwei weibliche und zwei männliche Jugendliche
Ausprägung der Sozial- und Selbstkompetenz zwei Jugendliche mit einer stärkeren Ausprägung der Sozialkompetenz und zwei Jugendliche mit einer stärkeren Ausprägung der Selbstkompetenz
Sprachkompetenz in der deutschen Sprache zwei Jugendliche mit großen Sprachdefiziten und zwei Jugendliche mit mittleren Sprachdefiziten

Tabelle 2:     Sampling Lehrkräfte

Auswahlkriterium vier Lehrkräfte
Geschlecht drei weibliche und eine männliche Lehrkraft
Berufserfahrung zwei erfahrene Lehrkräfte und zwei unerfahrene Lehrkräfte

Durch die Einbeziehung von zwei unterschiedlichen Gruppen an involvierten Personen – Lehrkräfte und Jugendliche – wurde im Rahmen der Datenerhebung gleichzeitig eine personelle Triangulation verfolgt.

Zur Erhebung der qualitativen Daten wurden Leitfadeninterviews geführt. Da das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit nicht ausschließlich in der Bewertung des zu untersuchenden Verfahrens liegt, sondern darüber hinaus auch angestrebt wird, über die Evaluationsergebnisse zu Erkenntnissen mit Blick auf sprachsensible Gestaltungsmöglichkeiten von Kompetenzfeststellungsverfahren im Allgemeinen zu gelangen, wurden die Interviews als problemzentrierte Interviews (Witzel 1985, 227ff.) gestaltet. Demnach wurde ein Leitfaden entworfen, der neben erzählgenerierenden Impulsfragen auch Stichpunkte (Checks) für detaillierte Nachfragen enthält, die aus den oben skizzierten Ansatzpunkten einer sprachsensiblen Kompetenzfeststellung abgeleitet wurden. Möglichen sprachlichen Schwierigkeiten der befragten Jugendlichen wurde durch eine entsprechende einfache Wortwahl sowie einem ausreichend groß bemessenen Zeitraum für das Interview Rechnung getragen.

Die Auswertung der Interviews erfolgte nach Kriterien der qualitativen Inhaltsanalyse, um das Kategoriensystem von der Theorie geleitet am Datenmaterial entwickeln zu können und dabei auch größere Mengen an Datenmaterial systematisch auszuwerten (vgl. Mayring 2002, 114ff.).

Erwähnt sei an dieser Stelle noch, dass das hier skizzierte Verfahren bereits im vorhergehenden Schuljahr einem Pre-Test in einer Deutschförderklasse unterzogen wurde, dessen Erkenntnisse als Modifikationen in die hier evaluierte Version von MISSION:possible eingeflossen sind.

6 Ergebnisse

6.1 Bewertung der sprachlichen Strukturelemente

6.1.1 Biografie-orientierte Übungen

Perspektive der Jugendlichen

Aus Sicht der Jugendlichen waren die Biografie-orientierten Übungen ein Sprechanlass, der ihnen Freude bereitete (S 3). Manche Schüler erlebten es als besonders positiv, dass sie motiviert wurden, über sich selbst und die eigenen Ziele nachzudenken (S 3, S 4). Zwar kann die eigene Zurückhaltung ein Hemmnis sein, andererseits gelingt es auch einem schüchternen Menschen eher, Formulierungen für die eigene Person zu finden (S 1).

Grundsätzlich nahmen die Jugendlichen die Beobachtenden in den Biografie-orientierten Übungen gerne als niedrigschwelliges Angebot an, um sich Unterstützung bei sprachlichen Verständnisproblemen zu holen. Allerdings wird aus den Aussagen der Jugendlichen deutlich, welch große Rolle dabei die Einschätzung der Unterstützerperson spielte. Subjektive Kriterien waren hierbei sympathisches Auftreten, aktives Ansprechen der Jugendlichen und Bekanntheit aus dem Schulkontext (S 1, S 3, S 4). Auch unerwartete Kontrolleffekte aus der Nähe zwischen Jugendlichen und Beobachtenden – Lehrkräfte der eigenen Schule – wurden manchem Jugendlichen bewusst. Ein Schüler reflektiert darüber, dass er nicht den „coolen Typen“ spielen kann, da eine derartig überzogene Selbstdarstellung bei den schuleigenen Lehrkräften einen schlechten Eindruck erzeugen würde (S 1). Trotz dieser Wahrnehmung geben die Jugendlichen Beobachtenden aus dem eigenen Schulkontext klar den Vorzug vor schulfremden Personen (S 1, S 3, S 4). Hier fehlt ihnen das notwendige Vertrauen, bzw. es besteht die Angst, sich vor Fremden unwiderruflich zu blamieren (S 1).

So steigerten die schuleigenen Beobachtenden die Offenheit der Jugendlichen, sich auf das Development Center einzulassen (S 3, S 4). Auch positive Verstärkungseffekte stellten sich ein: Belobigende Kommentare einer Beobachtenden haben beispielsweise eine Jugendliche motiviert, sich bei den folgenden Übungen noch mehr anzustrengen (S 3).

Perspektive der Lehrkräfte

Die Lehrkräfte waren insgesamt positiv überrascht und beeindruckt von der Bereitschaft der Jugendlichen, offen über sich zu sprechen. Diese Offenheit beförderte die Sprachproduktion an sich, half aber auch bei der Bewältigung auftretender Hemmnisse. Drei Gründen war diese Offenheit zu verdanken. Erstens: Das große Interesse der Jugendlichen, sich im Klassenverband einmal exponieren zu dürfen – was im normalen Schulalltag eine Seltenheit darstellt. Zweitens: Die Freundlichkeit und Vertrauenswürdigkeit der Moderatoren und der Lehrkräfte. Drittens: Das Development Center als leistungsdruckfreier Kommunikationsraum, was vor dem Hintergrund des ergebnisorientierten Schulkontextes besonders deutlich wahrgenommen wurde (L 1, L 3, L 4).

Ein Erwachsener als zugewandter und interessierter Gesprächspartner, der offene Fragen stellt, war – so die Wahrnehmung der Beobachtenden – für die Jugendlichen ein willkommener Sprechanlass. Im schulischen Kontext existiert ein Erwachsener herkömmlicherweise lediglich in seiner Rolle als Lehrkraft (L 4). Zudem leistete der Erwachsene als Gesprächspartner durch behutsame Fragen Unterstützung bei der Bewältigung der Biografie-orientierten Fragen, die die Jugendlichen in der Regel so das erste Mal beantworteten (L 1).

Die Komplexität der Unterstützung in den Biografie-orientierten Übungen erfuhr eine Lehrkraft als schwierigen Balanceakt zwischen behutsamer Unterstützung und zu ergebnisorientierter Steuerung. Eine passive Kommunikationshaltung der Jugendlichen wurde hier als zusätzliche Herausforderung gesehen beim Versuch, einer möglichst neutralen, das Gegenüber lediglich spiegelnder Haltung (L 3).

Eine Einschränkung für Biografie-orientierte Übungen sieht eine Lehrkraft bei Jugendlichen, die bestimmte Teile ihres persönlichen Lebens nicht öffentlich machen möchten, da sie einem Tabu unterliegen (L 3). Persönliches unterliegt auch immer einer kulturellen Prägung. Wenn Jugendliche bewusst oder unbewusst wahrnehmen, dass ihre Vorstellungen vom hiesigen westlichen Kollektiv nicht ohne weiteres toleriert werden, hat dies Auswirkungen auf ihre Darstellung ihres Selbstkonzeptes (L 3). Hier zeigen sich interkulturelle Relevanzpunkte, die bei sprachsensiblen Verfahren – aufgrund der besonderen Zielgruppe – stärker zum Ausdruck kommen können.

Fazit:

Mit sehr kleinen Einschränkungen wird die Biografie-Orientierung sowohl von Jugendlichen als auch von Lehrkräften sehr positiv erlebt. Die Arbeit mit der eigenen Biografie regt zur Selbstreflexion an und bietet gleichzeitig Sprechanlässe und somit die Möglichkeit zur Entwicklung der Sprachkompetenz. Das Angebot, nach eigener Relevanzsetzung von sich erzählen zu dürfen, erzeugte bei den Teilnehmenden die notwendige offene Haltung und Motivation. Arbeit mit der eigenen Biografie ist daher ein idealer Ansatzpunkt für gezielte Sprachförderung. Sie erlaubt in inhaltlicher und sprachfördernder Hinsicht einen individuellen Zuschnitt. Dabei unterstützt die Biografie-Orientierung auch das eigentliche Ziel: Die Selbstentdeckung hinsichtlich der eigenen Kompetenzen zur Unterstützung der Berufsorientierung.

Der Erfolg der Übungen ist jedoch in hohem Maße abhängig von der positiven Einstellung, dem ehrlichen Interesse, der Empathie und Sozialkompetenz der Lehrkräfte, die als Beobachtende agieren. Vor dem beruflichen Hintergrund der Beobachtenden wird die Sensibilisierung für den Rollenwechsel zu einem zentralen Bestandteil der Schulung vor dem Development Center. Für Lehrkräfte steht die Ergebnisorientierung im Unterricht in der Begegnung mit den Schülerinnen und Schülern im Vordergrund. Mit dem Paradigma der Ergebnis- und Notenorientierung bricht das Konzept von „MISSION:possible“ jedoch vollständig.

Anzumerken ist noch, dass die Biografie-orientierten Übungen im Development Center als zeitintensive Einzelarbeiten der Teilnehmenden angelegt waren. Diese Einzelarbeiten erwiesen sich als „Auszeiten“, die für die Teilnehmenden wichtig waren, damit sie das Gehörte und Gelernte für sich bearbeiten und einordnen konnten. Zudem boten diese „Auszeiten“ – beispielsweise während einer kreativen Gestaltungsphase – Gelegenheit zur wechselseitigen Beobachtung. Dies hatte für Teilnehmende auch motivierende Effekte.

6.1.2 Präsentationen

Perspektive der Jugendlichen

Aus Sicht der Jugendlichen stellten Präsentationen im Rahmen des Development Centers eine besondere persönliche Bewährungsprobe dar. Vor der Präsentation nahmen die Jugendlichen einen inneren Widerstand wahr. Die Angst vor dem eigenen Scheitern trieb sie um (S 3, S 4). Als soziale Sanktion des Publikums für einen „misslungenen“ Vortrag antizipierten die Jugendlichen öffentliches Bloßstellen durch Gelächter (S 1, S 3, S 4). Nach der Präsentation wurde ihnen deutlich, welche positiven Effekte es hatte, sich dieser Herausforderung gestellt zu haben. Sie berichten von Erleichterung (S 4), von gesteigertem Selbstbewusstsein und weniger Angst, vor anderen Menschen zu reden (S 1, S 3). Mit der Präsentation konnte ein Sinn verknüpft werden, da es den Jugendlichen gelang, inhaltlich das zu vermitteln, was sie tatsächlich beabsichtigt hatten (S 1). Dank der Überwindung der anfänglichen Angst und der Bewältigung der eigenen Unsicherheit kam es auch zu einer gesteigerten Selbstwirksamkeitserwartung: „(…) dann weiß man, dass man was machen kann; dass nicht nur etwas Schlimmes passiert, sondern dass auch etwas Gutes passieren kann. Also sozusagen: man kann alles schaffen, wenn man nur will und man es probiert.“ (S 1)

Dies umfasst auch konkrete Erfolgserlebnisse im Hinblick auf die eigene Sprachkompetenz. Ein Jugendlicher berichtet beispielsweise von einer Erweiterung seines Wortschatzes, indem er während der Präsentation konzentriert der Wortwahl seiner Klassenkameraden folgte (S 1).

Sicherheit im Präsentieren von Ergebnissen aus der Biografie-orientierten Einzelarbeit vermittelte auch der exklusive Zugriff auf die eigene Biographie. Eine Jugendliche benennt es explizit als Unterstützung, dass nur sie ihre Interessen, Stärken und Ziele erläutern kann. Niemand kann ihre Äußerungen infrage stellen (S 3).

Perspektive der Lehrkräfte

Aus Sicht der Lehrkräfte bewirkten die Präsentationen eine Stärkung des sprachbezogenen Selbstkonzepts der Jugendlichen. Zunächst motivierte die Möglichkeit, „etwas sagen zu dürfen“ und dabei selbst im Mittelpunkt zu stehen, zur engagierten Vorbereitung der Präsentation (L 1). Nach der Präsentation war bei allen Jugendlichen ein enormer Stolz über den erfolgreichen Verlauf zu beobachten. Dies stellt einen idealen Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der Sprachkompetenz dar. Eine Beobachtende benennt den psychologischen Effekt der gelungenen Präsentation mit den Worten: „Ja, endlich sieht das mal einer!“ Die eigene Anstrengungsbereitschaft im Spracherwerb wird so sichtbar (L 4). Wichtig für eine nachhaltige Motivierung war auch der „gute“ Abschluss des Vortrags mit Applaus seitens des Publikums.

Eine weitere Stärkung des sprachbezogenen Selbstkonzepts ergab sich aus den Nachfragen des Publikums im Anschluss an die Präsentation. Dies versetzte die Vortragenden in die Situation, „ihr Ding“ vor anderen ad hoc verteidigen zu müssen (L 3).

Dank der exponierten Selbstdarstellung der Vortragenden im Rahmen einer Präsentation ergaben sich dabei vielfältige Gelegenheiten zum Lernen am Modell. D.h. das Beobachten der Präsentation der Mitschülerinnen und Mitschüler gab den Anstoß zu Überlegungen, die sich positiv auf die eigene Sprachproduktion und den eigenen Spracherwerb auswirken können. Die Konzentrationsbereitschaft während der Präsentation war bei den Jugendlichen enorm. Sie registrierten sehr genau, wie die anderen die Präsentation sprachlich gemeistert haben (L 3). Der besondere Sprechanlass der Präsentation gab – so ein Beobachtende - Impulse für die Erweiterung des eigenen sprachlichen Spektrums. Die Jugendlichen wechselten bewusst aus ihrer „Sprachvarietät, die sie normalerweise so untereinander pflegen“ in einen elaborierten Code (L 3).

Insgesamt käme der Ansatz des Förderns durch Fordern, z.B. durch einen Kurzvortrag vor Plenum, bei Lehrkräften im Deutschförderbereich oftmals zu kurz, merkte eine Beobachtende selbstkritisch an, und zwar aus Sorge vor Überforderung der Schüler. Das Development Center habe ihr gezeigt, dass die positiven Effekte überwögen.

Fazit:

Eine wichtige Erkenntnis ist, dass eine Verknüpfung von Biografie-orientierter Übung und anschließender Präsentation in der „Klassenöffentlichkeit“ mit Blick auf Sprachsensibilität absolut sinnvoll ist. Die Präsentation ermöglicht eine sprachliche Selbstentdeckung im geschützten Rahmen: Ich entdecke mich als aktiv deutsch sprechende Person vor einem Publikum. Zum einen befördert dies ein positives Selbstkonzept. Zum anderen kann dies zur Steigerung der Sprachkompetenz motivieren, aber auch die Einsicht in die Notwendigkeit der eigenen Sprachförderung bringen – was zentral ist, um das nächsthöhere Sprachniveau zu erreichen.

Im Hinblick auf die Berufsorientierung bietet die Präsentation der eigenen Biografie also eine Möglichkeit, sich selbst zu entdecken, sich selbst als erfolgreich zu erleben sowie eine für den gelungenen beruflichen Einstieg zentrale sprachliche Fähigkeit – die Selbstpräsentation – zu üben.

6.1.3 Erlebnispädagogische Übungen

Perspektive der Jugendlichen

Die erlebnispädagogischen Übungen brachten den Jugendlichen viel Spaß, obwohl der (sprachliche) Lösungsweg teilweise als kompliziert erlebt wurde (S 1, S 3, S 4). Dies ist aus motivationalen Gründen vorteilhaft, zumal Spaß im schulischen Kontext sonst meistens nur während der selbstbestimmten Zeit in den Pausen erlebt wird (S 4).

Perspektive der Lehrkräfte

Die Lehrkräfte haben bei den Jugendlichen insgesamt ebenfalls eine hohe Motivation wahrgenommen. Die Übungen regten die Schülerinnen und Schüler direkt zum Handeln und zur Kommunikation an. Erlebnispädagogische Übungen forderten auch zurückhaltende und stillere Jugendliche heraus, sich aktiv an der Suche nach der richtigen Lösung zu beteiligen und dies auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Dabei spielten der Zeitfaktor und damit der prozesshafte Verlauf einer erlebnispädagogischen Übung eine entscheidende Rolle. Vielfältige gescheiterte Anläufe auf der Suche nach der richtigen Lösung setzten schließlich Handlungs- und Sprechpotenziale der stilleren Teilnehmenden frei. Diese nutzten sodann die Gelegenheit, vermeintliche Meinungsführer innerhalb des Klassenverbands herauszufordern und ihre eigene Position einzubringen (L 1). Da die Jugendlichen zum Zeitpunkt des Development Centers bereits mehrere Monate in einem Klassenverband waren, verfügten sie über eine „gemeinsame Sprache“ und verstanden sich trotz unterschiedlicher Sprachniveaus. Die erlebnispädagogischen Übungen erlaubten außerdem ein „Sprachbad“. Die Sprachförderung bzw. das Einschleifen von sprachlichen Routinen läuft hier quasi nebenbei (L 1).

Die Übungen boten aber gleichzeitig die Chance, erfolgreich zu handeln – also die eigene Sozialkompetenz zu zeigen und zu erleben – ohne eine sprachliche Performanz vollziehen zu müssen (L 3). Ein Jugendlicher kann z.B. Sozialkompetenz zeigen, indem er den anderen Jugendlichen – auch ohne Worte - hilft. Somit kommt die erlebnispädagogische Übung gerade den Schülern bzw. Klassen mit sprachlichen Problemen entgegen (L 3).

Fazit:

Insgesamt zeigt sich, dass erlebnispädagogische Übungen sehr gut geeignet sind, die eigenen Stärken unabhängig von den Sprachkompetenzen zu vermitteln. Bemerkenswert ist, dass erlebnispädagogische Übungen sowohl sprachlich entlastend als auch sprachlich anregend wirken und somit sowohl eher stille als auch sehr redselige Jugendliche ansprechen. Jeder hat die Möglichkeit sich auf seine Art – mit wenigen oder vielen Worten – einzubringen. Somit dient die erlebnispädagogische Übung quasi als Instrument der sprachlichen Binnendifferenzierung. Alle Jugendlichen bekommen so die Chance, ihre individuellen Stärken in der Teamarbeit zu erleben, also für die Berufsorientierung relevante eigene Kompetenzen herauszufinden. Und alle Jugendlichen bekommen die Möglichkeit zu einem Erfolgserlebnis – einem Erlebnis, das die Selbstwirksamkeitserwartung für zukünftige Herausforderungen wie bspw. der erfolgreichen beruflichen Orientierung unterstützen kann.

6.1.4 Kooperative Lernformen

Perspektive der Jugendlichen

Die mit den kooperativen Lernformen verbundenen Hoffnungen einer gegenseitigen sprachlichen Unterstützung der Jugendlichen zeigen sich in den Interviews bestätigt. Eine sprachlich starke Jugendliche erlebte sich selbst als Unterstützerin für eine sprachlich schwächere Klassenkameradin und verbindet ein (sprachliches) Erfolgserlebnis mit dieser Methode (S 3). Eine sprachlich schwache Schülerin erlebte die Hilfe durch Gruppenmitglieder während der kooperativen Lernformen ebenfalls positiv und verbindet mit der Methode ein (sprachliches) Unterstützungsangebot (S 4).

Perspektive der Lehrkräfte

Die eingesetzten kooperativen Lernformen (Think-Pair-Share) förderten bzw. forderten gezielt die Kommunikation in der Gruppe und wurden insofern als positiv sprachfördernd wahrgenommen (L 3). Im Gegensatz zu einer „normalen“ Gruppenarbeit bieten sie den Schülern eine wichtige – auch sprachliche – Unterstützung, indem klar geregelt ist, wann wer mit wem, bzw. vor wem spricht und wann jeder für sich selbst im Stillen nachdenkt (L 4). Dies erscheint nach Auskunft der Lehrkraft gerade bei Jugendlichen dieses Schultyps bedeutsam, da hier oftmals die Bereitschaft zum Zuhören fehlt, wenn in Partner- oder Gruppenkonstellation ein Thema bearbeitet wird. Klare und differenzierte Aufträge an die Teammitglieder sind dann sehr hilfreich. Wenn beispielsweise in einem Partnerteam einer den Auftrag hat, dem anderen ein Feedback für die Mitarbeit zu geben, kann sich dieser andere nicht so einfach aus der Verantwortung herausnehmen und schweigen (L 4).

Fazit:

Die kooperativen Lernformen fordern zum Sprechen heraus. Durch die erforderliche Kommunikation und gegenseitige Unterstützung in der Gruppe werden für sprachlich stärkere Schüler Erfolgserlebnisse und für sprachlich schwächere Schüler Unterstützungserlebnisse ermöglicht. Dadurch wirkt kooperatives Lernen auf alle Jugendlichen sprachfördernd. Wichtig ist die korrekte Gestaltung der Lernformen, d.h. die Einhaltung der Struktur (Think-Pair-Share) und wichtiger Grundregeln.

6.2 Zentrale Herausforderungen in der Umsetzung

6.2.1 Mangelnde Motivation

Als große Herausforderung zeigt sich die mangelnde Motivation von einigen Jugendlichen, sich insbesondere sprachlich an den Übungen innerhalb des Development Centers zu beteiligen. Dies offenbarte sich z.B. in der Passivität einiger Jugendlicher während der Übungen. Sie zeigte sich aber auch darin, dass manche Jugendliche nicht aktiv bei den Moderierenden nachgefragt haben, wenn sie den Arbeitsauftrag für eine Übung nicht verstanden haben. Dieses Verhalten und die dahinterstehende Einstellung wurden nicht nur von Lehrkräften (L 2), sondern auch von motivierten Jugendlichen (S 1) kritisiert, die stattdessen ein proaktives Mitbringen von Wörterbücher (in ihrer jeweiligen Sprache) dieser Lernenden einfordern, um diese bei Verständnisproblemen während des Development Centers – und darüber hinaus auch im täglichen Unterricht – verwenden zu können.

Zudem zeigte sich mangelnde Motivation in einer fehlenden Offenheit für sprachliche Hilfestellungen. Manche Schüler zeigten keine Bereitschaft bzw. keine Fähigkeit, sprachliche Hilfestellungen der Moderierenden anzunehmen (L 1). Die fehlende Offenheit wird dabei auf ein fehlendes Verständnis über den Sinn und Zweck einer Übung zurückgeführt. Dies hat sich insbesondere bei erlebnispädagogischen Übungen gezeigt (L 1). Eine Beobachtende benennt den Bildungshintergrund der Schüler als zusätzlichen Einflussfaktor. Die Aufforderung zur Auseinandersetzung mit den eigenen Interessen, Stärken und Erfolgen oder die Beschäftigung mit den eigenen Lebenszielen setzt ein gewisses Planungsdenken voraus. Im Elternhaus der Schüler besteht keine Bereitschaft dazu. Es herrscht dort eher ein kurzfristiges Denken vor (L1).

6.2.2 Angst, sich zu blamieren

Eine weitere Herausforderung besteht in der Angst der Jugendlichen, sich in bestimmten Situationen bzw. bei bestimmten Übungen zu blamieren. Diese Angst wurde – wie bereits unter Punkt 6.1.2 ausgeführt – v.a. vor den Präsentationen oder bei Verständnisschwierigkeiten mit einem Arbeitsauftrag erlebt.

7 Handlungsempfehlungen

Die dargestellten Ergebnisse bestätigen die prinzipielle Eignung der vorgeschlagenen vier Strukturelemente sowie Prinzipien zur sprachsensiblen Gestaltung eines handlungsorientierten Kompetenzfeststellungsverfahrens, lassen aber auch ergänzende Handlungsempfehlungen zu:

Zu den Biografie-orientierten Übungen

Es könnte sein, dass die Auseinandersetzung mit biographischen Fragestellungen für die Teilnehmenden eines Kompetenzfeststellungsverfahrens eine Premiere darstellt, da sich in ihrem sonstigen Lebensumfeld niemand dafür interessiert. Dies kann insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund betreffen. Hierauf muss behutsam eingegangen werden.

Offenheit in den Vorgaben erzeugt Freiheit und fördert den Mut, es so gut zu tun, wie ich es kann. Für die Interviewer und Impulsgeber in den Biografie-orientierten Übungen bedeutet dies die Arbeit an der Grenze zwischen dem, was an Sprachroutine bei dem Teilnehmenden vorhanden ist und dem, was „sprachliches Neuland“ darstellt. Hier können die Begleiter mit Hilfe des Angebots von 2-3 neuen sprachlichen Routinen passgenaue Sprachförderung betreiben.

Zu den Präsentationen

Es hat sich gezeigt, dass Beobachtende die Jugendlichen bei der sprachförderlichen Vorbereitung der Präsentation zusätzlich unterstützen können. Dazu zählt das Bereitstellen von Redemitteln für Beginn, Hauptteil und Abschluss der Präsentation, aber auch Angebote für das freie Reden (bspw. Unterstützung beim Satzbau oder beim Erarbeiten von neuem Wortschatz) an sich. Dafür ist eine entsprechende Schulung der Beobachtenden erforderlich.

Zu den erlebnispädagogischen Übungen

Die soziale Kohärenz in der Klasse – gibt es eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsames Kommunikationsniveau und ein ausgeprägtes Gruppengefühl – hat nicht nur Einfluss auf den Verlauf der erlebnispädagogischen Übungen, sondern umgekehrt, kann der Verlauf der Übungen ebenso als Barometer für soziale Kohärenz in der teilnehmenden Schulklasse angesehen werden. Hier liegen Informationen für das Entwicklungspotenzial der Klassengemeinschaft, die von der Klassenleitung durch den weiteren Einsatz erlebnispädagogischer Übungen im Rahmen von Schulprojekten oder geeigneten Unterrichtseinheiten aufgegriffen und genutzt werden sollten.

Zu den kooperativen Lernformen

Wenn in die Kompetenzfeststellung zahlreiche Partner- und Kleingruppenarbeiten integriert sind, sollte vorab geklärt werden, wie vertraut die Jugendlichen mit dieser Lernform sind. Liegen diesbezüglich wenig bis keine (positiven) Erfahrungen vor, ist der Gedanke der konstruktiven sprachlichen Unterstützung durch Mitglieder aus der eigenen Kleingruppe vermutlich nicht ad hoc zu vermitteln.

Um die Kooperation in den Partner- und Kleingruppenarbeiten im Development Center zu verbessern, könnten sowohl die Fragevorgaben als auch mögliche Antworten sprachlich und visuell noch stärker standardisiert werden. So kann die Sprachproduktion zwischen den Gesprächspartnern besser gelingen. Auch die Ergebnispräsentation im Plenum wird dadurch erleichtert.

Zur mangelnden Motivation der Jugendlichen

Um die notwendige Motivation zu erzeugen, ist es erforderlich, den Jugendlichen Sinn und Nutzen des Development Centers und der darin enthaltenen Übungen noch transparenter zu machen. Es muss klar werden, dass die angestrebte Selbstentdeckung eine zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufsorientierung und somit auch für einen erfolgreichen Einstieg in das Berufsleben ist. Dabei muss klar werden, wie eng die Entwicklung der eigenen Sprachkompetenz an die eigenen beruflichen Chancen gekoppelt ist. Diese Herausforderung kann während eines zweitägigen Development Centers nur teilweise bewältigt werden. Bereits vor Beginn des Development Centers sollte die Lehrkraft die Jugendlichen entsprechend vorbereiten.

Zur Angst, sich zu blamieren

Um möglichen Ängsten entgegenzuwirken, sollten klare Regeln zum Schutz der einzelnen Teilnehmenden vereinbart werden, die zu einer Atmosphäre der Sicherheit beitragen. Außerdem scheint es hilfreich, die Jugendlichen im Unterricht schrittweise auf die Herausforderungen während der Kompetenzfeststellung vorzubereiten.

8 Schlussfolgerung und Ausblick

Aufgrund der Erkenntnisse aus der hier durchgeführten Evaluation lassen sich verschiedene Schlussfolgerungen für die Sprachsensibilität als Herausforderung bei der Kompetenzfeststellung im Rahmen der Berufsorientierung ziehen:

Es ist möglich ein Development Center als handlungsorientiertes Verfahren zur Feststellung der Sozial- und Selbstkompetenzen sprachsensibel zu gestalten. Eine durchdachte sprachsensible Gestaltung kann Jugendlichen mit sprachlichen Schwierigkeiten nicht nur eine erfolgreiche Teilnahme an der Kompetenzfeststellung ermöglichen, sondern sie kann darüber hinaus auch die Förderung der sprachlichen Kompetenzen der teilnehmenden Jugendlichen anregen und unterstützen.

Die Entwicklung, Durchführung und Implementierung bedeutet in der Praxis eine große Herausforderung, aber auch eine große Chance – nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für die Schulentwicklung, die professionelle Weiterentwicklung von Lehrkräften und die Verbesserung der Qualität des Unterrichts. Hierzu bedarf es allerdings einiger Anstrengungen und Investitionen: Es erweist sich als sinnvoll und notwendig, ein solches Verfahren in der Schule zu verankern, indem die Lehrkräfte als Beobachtende am Verfahren teilnehmen und im Vorfeld dazu ausgebildet werden. Im Rahmen dieser Aus- und Weiterbildung gilt es jedoch nicht nur, entsprechende handwerkliche Fähigkeiten mit Blick auf die Sprachsensibilität zu entwickeln, sondern in einem ersten Schritt, die dafür notwendige und förderliche stärkenorientierte Einstellung zu fördern. Dies betrifft insbesondere den Umgang mit sprachlichen Defiziten oder auch Fehlern der Jugendlichen. Diese dürfen nicht zu einem verzerrten Bild hinsichtlich der Selbst- und Sozialkompetenzen im Allgemeinen führen.

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Berufsorientierung als unbeliebte Zusatzaufgabe? Einstellungen und Selbstwirksamkeitserleben von Lehrpersonen zur Berufsorientierung im Gemeinsamen Lernen der Sekundarstufe 1

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1 Schule & Berufsorientierung – neue Herausforderung in der Inklusion

Die individuelle Zukunftsplanung und die Auseinandersetzung mit möglichen (beruflichen) Anschlusswegen sind für Schülerinnen und Schüler vor der Transition in die nachschulische Lebenswelt von wachsender Bedeutung (vgl. Butz 2008, 48f.). Die Schule respektive die Lehrpersonen nehmen als Begleiter in dieser Zeit, neben Elternhaus und Peers, eine zentrale Rolle ein. Die Bedeutung im Schulkontext wird deutlich durch die Festlegung der Berufsorientierung als „verpflichtender Bestandteil für alle Bildungsgänge [der Sekundarstufe I]“ (KMK 2013, 9). Bisher wird sie jedoch, je nach Bildungsgang, in unterschiedlicher Intensität realisiert. Mit steigenden Abschlüssen verliert Berufsorientierung an Bedeutung: An Gymnasien und auch Realschulen zumeist als (gesonderte) Projekte realisiert, erfolgt an Gesamt- und Hauptschulen eine starke und mit dem Unterricht verzahnte Fokussierung. Die größte Relevanz hat die Berufsorientierung im deutschen Schulsystem in Förderschulen (hervorzuheben ist insbesondere der zieldifferente Bildungsgang des Förderschwerpunkts Lernen) – sie ist zentrale, handlungsleitende Aufgabe (vgl. Hofsäss 2007, 23; KMK 2008, 18).

Die Berufsorientierung gilt für Sonderpädagogen als didaktische Kernaufgabe (vgl. Hofsäss 2007, 23) und insbesondere im Förderschwerpunkt Lernen als zentrale Inhaltsorientierung aller Lehrpersonen – indem „eine qualifizierte Vorbereitung auf Beruf und Beschäftigung sowie auf den Übergang in die Arbeitswelt […] wesentliche Bereiche in Erziehung und Unterricht […] im Förderschwerpunkt Lernen [sind]“ (KMK 2008, 18). Demgegenüber sinkt die Einbindung der Lehrperson mit steigender Schulform – Gymnasiallehrpersonen sind i. d. R. nur gering mit der Thematik konfrontiert (vgl. Butz 2008, 243; Dimbath 2007, 168).Diese lehramtsspezifischen Differenzen und die schulscharfe Trennung der Bedürfnisse der Schülerschaft verändern sich; die Heterogenität in allen Schulformen steigt. In Folge des Inklusionsprozesses wird die allgemeine Schule zum vorrangigen Ort der sonderpädagogischen Unterstützung (vgl. MSW NRW 2014a). In allen Schulformen der Sekundarstufe I steigt somit der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf (Schuljahr 2012: 40%) (vgl. KMK 2012). Neben den allgemeinen Unterrichtsfächern ist auch die Berufsorientierung als zentrale Aufgabe der Sek. I an die Bedürfnisse aller Schülerinnen und Schüler anzupassen. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die Schülergruppe mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt Lernen, deren zieldifferenter Bildungsgang der Berufsorientierung eine besonders hohe Bedeutung zuschreibt, mit ca. 49%(in NRW) (MSW NRW 2014b, 27) den größten Anteil der integrativ beschulten Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I stellen.

Die Berufsorientierung wird somit zur zentralen Aufgabe aller Schulformen der Sekundarstufe I, die der Neuausrichtung und des Ausbaus bedarf. Zu berücksichtigen sind für die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf beispielsweise neue Kooperationspartner, erweiterte Praxiselemente, geeignete Diagnostik- und Förderansätze sowie spezifische Anschlusswege im Übergangssystem. Zu beachten ist zudem, dass Berufsorientierung zugleich Aspekte der allgemeinen Lebensgestaltung einbezieht. Insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit ‚schlechten‘ Startbedingungen in die nachschulische Lebenswelt ist diese umfassende Begleitung relevant (vgl. Regionales Bildungsnetzwerk Ennepe-Ruhr Kreis 2013, 1; Kellinghaus-Klingberg/Schwager 2002, 93). Sowohl im Inklusionsprozess im Gesamten als auch bei der Berufsorientierung im Kontext dessen sind die Lehrpersonen besonders gefordert. Bei der Berufsorientierung sind es zum einen speziell die Studien-und Berufswahlkoordinatoren – als konzeptionell und curricular (Haupt-)Verantwortliche für die Berufsorientierung der Schule, die zukünftig für ALLE Schülerinnen und Schüler der Schule zuständig sind (vgl. Franz 2014, 5f.). Zum anderen sind die gesamten Kollegien gefordert.

2 Lehrpersonen als Schlüsselpersonen der schulischen Berufsorientierung

Als überfachliche Aufgabe ohne festes Bezugsfach ist die Berufsorientierung „integraler Bestandteil einer allgemeinen Orientierung der Schule auf die Arbeits- und Berufswelt“ (Kellinghaus-Klingberg/Schwager 2002, 91). Die Berufsorientierung wird somit zur jahrgangs- und fächerübergreifenden Aufgabe der Sekundarstufe I, die gemeinschaftlich von Kollegien zu tragen ist (vgl. Butz 2008, 46). Neben dem Studien- und Berufswahlkoordinator sind folglich alle Lehrpersonen (wenn auch in unterschiedlichem Umfang) mit der Aufgabe der Berufsorientierung konfrontiert.

2.1 Relevanz der Lehrpersonen in der schulischen Berufsorientierung

Die Überfachlichkeit der Berufsorientierung bedingt jedoch häufig deren Einordnung als außerhalb des Allgemeinbildungsauftrags liegende Aufgabe, die dem fachbezogenen Unterricht nachgeordnet wird. ‚Einzelkämpferphänomen‘ und ‚Verantwortungsdiffusion‘ als zentrale Schlagwörter der Praxis schulischer Berufsorientierung fassen die häufig fehlende Bereitschaft und das mangelnde Interesse der Lehrpersonen an dieser überfachlichen Aufgabe zusammen (vgl. Dreer/Kracke 2011; Knauf 2009). Als ergänzende Aufgabe – im Kontrast zu studierten Unterrichtsfächern mit eindeutiger Fachverantwortung – nimmt die Berufsorientierung für Lehrpersonen eine Sonderrolle ein. Einfluss nehmen zudem die skizzierten Schulformunterschiede, da die Ausgestaltung in Intensität und Umfang infolge der mit den Bildungsgängen verbundenen Abschlüsse variiert. Verbunden ist dies zugleich mit unterschiedlichen Sichtweisen der Lehrpersonen auf die Relevanz der Berufsorientierung (vgl. Dimbath 2007, 175).

Die Ausgestaltung und Umsetzung der Berufsorientierung in der Sekundarstufe I ist somit schulformspezifisch – die Zielsetzungen der Schulformen bedingen differenzierte Gewichtungen der Thematik – und schulspezifisch geprägt, indem die Schulen individuelle Curricula entwickeln; auch wenn beispielsweise in NRW die Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss“ aktuell die Zielsetzung einer schulformübergreifenden verbindlichen Ausgestaltung der Berufsorientierung mittels Standardinstrumenten verfolgt. Unabhängig von den schulischen Vorgaben ist Berufsorientierung jedoch letztendlich immer lehrerspezifisch. Die Lehrpersonen sind für die Umsetzung und Ausgestaltung im Schulalltag verantwortlich und werden somit zu zentralen Kräften der Berufsorientierung. Die Lehrpersonen „sind dafür zuständig, ob in diesem Bereich überhaupt gearbeitet wird bzw. welche Inhalte auf welche Weise vermittelt werden“ (Düggeli 2009, 50).Von Bedeutung ist grundlegend die individuelle Bereitschaft der Lehrpersonen, die sich im persönlichen Engagement widerspiegelt. „Berufsorientierende Inhalte sind zwar prinzipiell im Lehrplan der einzelnen Fächer vorgesehen; die Art und Weise der Thematisierung obliegt jedoch dem Engagement des Lehrers oder der Lehrerin“ (Dimbath 2007, 175).

2.2 Professionelle Handlungskompetenz in der schulischen Berufsorientierung

Die Bereitschaft der Lehrpersonen zur Berufsorientierung, die das Engagement bedingt, rückt somit in den Fokus der Bedingungen einer effektiven Berufsorientierung. Insbesondere im Hinblick auf die erweiterte Zielgruppe der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, welche eine noch individuellere und engere Begleitung benötigen (vgl. Kellinghaus-Klingberg/Schwager 2002), ist die Bereitschaft der Lehrpersonen eine Basisvoraussetzung.

Ausdifferenziert in motivationale, volitionale und soziale Aspekte (vgl. Weinert 2001) ist die Bereitschaft zu Handeln eine Kompetenzfacette der professionellen Handlungskompetenz von Lehrpersonen in der Domäne Berufsorientierung (Abbildung 1). Im Kontext der Bereitschaft liegt der Fokus auf den professionellen Überzeugungen und Werthaltungen sowie motivationalen Orientierungen der Lehrpersonen. Als nicht-kognitive Komponente grenzt sich die Bereitschaft zu Handeln somit vom Professionswissen als zweite Kompetenzfacette ab (vgl. Baumert/Kunter 2006). Die kognitive Komponente in der Berufsorientierung bezieht sich auf dieses Professionswissen in den zentralen Aufgabenbereichen: Unterrichten, Organisieren, Kooperieren und professionelle Partner (vgl. Dreer 2013). Beide Facetten sind gleichwertig zu gewichten und für professionelles Lehrerhandeln in der Berufsorientierung unabdingbar (vgl. Kunter 2011, 259).

Abbildung 1:  Professionelle Handlungskompetenz von Lehrpersonen in der Domäne Berufsorientierung (leicht verändert nach Dreer 2013, 149; Schaper 2009)Abbildung 1: Professionelle Handlungskompetenz von Lehrpersonen in der Domäne Berufsorientierung (leicht verändert nach Dreer 2013, 149; Schaper 2009)

Wissenschaftliche Diskussionsbeiträge verweisen übereinstimmend auf die Bedeutung der professionellen Handlungskompetenz der Lehrpersonen in der schulischen Berufsorientierung als grundlegende Bedingung für hohe Qualität (vgl. Butz 2008; Brüggemann/Pichl 2011). Geschlossen konstatieren die Autoren jedoch zugleich ein schulformübergreifendes Qualifikationsdefizit der Lehrpersonen (vgl. Deeken 2008; Dreer/Kracke 2011). Neben den (allgemeinen) Lehrpersonen schließt dies auch die Studien- und Berufswahlkoordinatoren als Experten ein, die sich „ohne kontinuierliche Weiterbildung nicht optimal zu dieser pädagogischen und didaktischen Herausforderung befähigt [fühlen]“ (Brüggemann/Pichl 2011, 453).

Bezogen werden die Forschungserkenntnisse dabei ausschließlich auf die kognitive Facette professioneller Handlungskompetenz – das Professionswissen. „Im Bereich der Lehrerinnen- und Lehrerqualifikationen [in der Berufsorientierung] zeigen sich Lücken in praktisch allen denkbaren Bereichen. Es fehlt an berufs- und arbeitsweltbezogenem fachlichen Wissen, es fehlt an entwicklungspsychologischem Wissen, es fehlt an kommunikativen Fähigkeiten, es fehlt an organisatorischem Wissen“ (Butz 2008, 58). Vernachlässigt wird die zweiseitige Zusammensetzung der professionellen Handlungskompetenz, unter die Wissen und Bereitschaften fallen. Erforderlich ist der Einbezug der motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften der Lehrpersonen in der Berufsorientierung. Autoren betonen zwar deren gleichwertige Bedeutung und heben die Problematik ihrer Ausprägung in Kollegien hervor; die Erkenntnisse beziehen sich jedoch ausschließlich auf Aussagen Dritter über Lehrpersonen: der Studien- und Berufswahlkoordinatoren, Schülerinnen und Schüler oder Eltern (vgl. Knauf 2009). So stellen beispielsweise Dreer und Kracke (2011, 33) fest, dass aus Sicht von Studien- und Berufswahlkoordinatoren „in den Kollegien eine engagierte sowie qualifizierte Mitarbeit [in der Berufsorientierung] an den Schulen häufig nur unzureichend stattfindet.“

Insbesondere die Bereitschaft zu Handeln ist genauer zu hinterfragen, da sie als handlungsleitend betrachtet wird und wesentlichen Einfluss auf das Verhalten und Agieren von Lehrpersonen hat. Die Bereitschaft bildet die Basis des wahrgenommenen Engagements einer Lehrperson in der Berufsorientierung. Relevant ist sie zudem im Kontext der Inklusion, da die Bereitschaft der Lehrpersonen die Grundlage einer gelingenden Realisierung der Inklusion im Schulalltag bildet. Durch die Fokussierung der Lehrpersonensicht auf die Berufsorientierung im Kontext der Inklusion wird die Bereitschaft zur zentralen Forschungsfrage. Aufbauend auf Kunter (2011), Baumert und Kunter (2006) und Schaper (2009) kann die Bereitschaft als Teil der professionellen Handlungskompetenz über das Konzept der Einstellung und Lehrerselbstwirksamkeit beschrieben und erfasst werden. Einstellungen bilden die Überzeugungen und Werthaltungen ab, während die motivationalen Orientierungen über die Selbstwirksamkeit erfasst werden und im Zusammenspiel die sozialen, volitionalen und motivationalen Bereitschaften und Fähigkeiten bedingen (Abbildung 1).

3 Einstellung & Selbstwirksamkeit von Lehrpersonen

Ausgewählt vor dem Hintergrund ihrer Relevanz für die übergeordnete Thematik der Berufsorientierung im Gemeinsamen Unterricht, werden im Folgenden Forschungserkenntnisse zu den zentralen Kategorien der Einstellung und Lehrerselbstwirksamkeit skizziert.

„Attitude is a psychological tendency that is expressed by evaluating a particular entity with some degreee of favor or disfavor“ (Eagly/Chaiken 1993, 1). Einstellungen beziehen sich demnach auf sämtliche Aspekte des menschlichen Lebens. Sie beinhalten kognitive, affektive und behaviorale Komponenten, die positiv oder negativ gewichtet sein können (vgl. Aiken 1996, 226). Die Einstellung einer Person bildet die Basis der Einschätzung einer Situation und möglicher Handlungen (vgl. Kunz/Luder/Moretti 2010). Der direkte Zusammenhang von Einstellungen und Handeln ist jedoch umstritten – vielmehr ist von einer Verhaltensrelevanz der Einstellung auszugehen, die die menschlichen Intentionen beeinflusst. Stand in der schulischen Forschung lange Zeit vorrangig das Professionswissen im Fokus, gewinnen zunehmend nicht-kognitive Komponenten wie Einstellungen an Bedeutung (vgl. Kunter 2011). In der gegenwärtigen Fachdiskussion bezieht sich die schulische Einstellungsforschung vor allem auf die Inklusionsdebatte und die Perspektive unterschiedlicher Akteure (z. B. Avramidis/Norwich 2002). Die Studien konstatieren übereinstimmend die Bedeutsamkeit der positiven Einstellung aller Akteure als Basis einer gelingenden Umsetzung von Innovationen wie der Inklusion.

Untersucht wurden neben der Inklusion auch Einstellungen von Lehrpersonen zu ausgewählten Unterrichtsfächern oder -themen (vorrangig Mathematik und Naturwissenschaften). Studien zu fächerübergreifenden Aufgabenbereichen, wie der Berufsorientierung, sind jedoch nur in geringem Umfang vertreten. Einzelerhebungen zu Einstellungen zur Berufsorientierung finden sich im deutschsprachigen Raum nicht; die wenigen existenten Instrumente sind in übergeordnete Erhebungen mit anderen Schwerpunkten integriert und umfassen zumeist nur zwei bis vier Items (u. A. Dreer 2013). Im Unterschied zu spezifischen Fächern können internationale Studien im Kontext Berufsorientierung aufgrund der fehlenden Vergleichbarkeit zudem nicht bzw. nur begrenzt einbezogen werden – bedingt durch das spezifische deutsche Übergangs-, Ausbildungs- und Berufssystem.

Neben der Einstellung sollte im Kontext der Bereitschaft zu Handeln jedoch zudem die Selbstwirksamkeit als Komponente der motivationalen Orientierung einbezogen werden. Im Unterschied zur Einstellung wird bei der Kompetenzeinschätzung einer Person ein direkter Zusammenhang mit dem praktischen Handeln angenommen. Von Interesse ist im Kontext der vorliegenden Arbeit die Lehrerselbstwirksamkeit als bereichsspezifische Form der allgemeinen Selbstwirksamkeit.Basierend auf der sozial-kognitiven Theorie Banduras (1997) ist Lehrerselbstwirksamkeit zu definieren als „teachers’ belief in her or his ability to organize and execute the courses of action required to successfully accomplish a specific teaching task in a particular context“ (Tschannen-Moran/Woolfolk Hoy/Hoy 1998, 233). Im Fokus steht die subjektive Einschätzung der eigenen Fähigkeiten durch Lehrpersonen, die kontextspezifisch zu interpretieren ist. Die Selbstwirksamkeit von Lehrpersonen ist demnach in Bezug zu einzelnen Unterrichtsfächern und Kontexten zu setzen (vgl. Gibson/Dembo 1984). Nur wenige Studien berücksichtigen jedoch diese Spezifität und erheben die Lehrerselbstwirksamkeit in einzelnen Fächern mit domänenspezifischen Instrumenten (Bandura 1997, 243; Riggs/Enochs 1990). Spezifische Erhebungen verweisen auf eine niedrige Selbstwirksamkeit von Lehrpersonen im fachfremden Unterricht (vgl. Ross et al. 1999) und zeigen kontextbezogen den Einfluss der Schulform auf – Lehrpersonen der Primarstufe verfügen demnach über eine höhere Selbstwirksamkeit als Lehrpersonen der Sekundarstufe I (Coladarci/Breton 1997). Die Ausprägung der Selbstwirksamkeit bedingt indirekt den Handlungserfolg, indem sie – in motivationaler und volitionaler Hinsicht – die Auswahl von Handlungen, die Ausdauer bei Schwierigkeiten und die investierte Anstrengung beeinflusst (vgl. Schmitz/Schwarzer 2000, 13). So sind Lehrpersonen mit hoher Selbstwirksamkeit motivierter, offener gegenüber Innovationen, betrachten den Umgang mit schwierigen Schülerinnen und Schülern als zu bewältigende Herausforderung und zeigen ein höheres Engagement (u. A. Coladarci/Breton 1997; Tschannen-Moran et al. 1998). Eine hohe Lehrerselbstwirksamkeit wirkt sich demnach auch positiv auf die Einstellung zur Inklusion aus (Coladarci/Breton, 1997; Heyl/Seifried 2014) und stärkt die Bereitschaft Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf zu unterrichten und zu betreuen (Brownell/Pajares, 1999).

Als relevant wird eine hohe Selbstwirksamkeit der Lehrpersonen auch für die fächerübergreifende Aufgabe der Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf erachtet. Als (nicht-studierter/fachfremder) Arbeitsbereich erfordert die Berufsorientierung ein besonderes Engagement und die individuelle Einarbeitung – sowie im Kontext der Inklusion – innovative Ansätze und die vertiefte Beschäftigung mit der Zielgruppe. Studien, die die Lehrerselbstwirksamkeit in der Berufsorientierung – sowohl allgemein, als auch im Kontext von Inklusion – untersuchen, stehen jedoch bislang noch aus.

Die Forschungsergebnisse zeigen die Bedeutsamkeit von Einstellungen und Selbstwirksamkeitserleben als Basis engagierten pädagogischen Handelns auf und verweisen zugleich auf ein Forschungsdefizit im fokussierten Kontext der schulischen Berufsorientierung (im Gemeinsamen Lernen).

4 Empirische Erhebung

Ausgehend vom geschilderten Problemhintergrund besteht das Ziel der vorliegenden Studie in der Erhebung und dem Vergleich der Einstellung von Lehrpersonen verschiedener Schulformen zur Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf. Zudem wird untersucht, welchen Einfluss die Lehrer-Selbstwirksamkeit in der Berufsorientierung, die Rahmenbedingungen der Berufsorientierung an der jeweiligen Schule sowie Einstellung der Lehrpersonen zur Inklusion und ihre Erfahrungen mit Inklusion haben.

4.1 Methodik

Tabelle 1: Stichprobenverteilung nach Ausbildung und Schulform (Lehrpersonen)

  Schulform Gesamt-
summe
Haupt-
schule
Real-
schule
Gesamt-
schule
Gym-
nasium
Sekundar-
schule
Förder-
schule
Aus-
bildung
Regelschule 126 48 39 2 10 5 230
Sonderpädagogik 12 7 9 0 0 113 141
Gesamtsumme 138 55 48 2 10 118 371

In die Erhebung im Schuljahr 2013/2014 wurden 201 Schulen aus dem Regierungsbezirk Arnsberg in Nordrhein-Westfalen einbezogen. Die Stichprobe umfasst Regelschulen (Haupt-, Real-, Gesamtschulen, Sekundar- und Gemeinschaftsschulen sowie Gymnasien) mit integrativen Lerngruppen (n=153) sowie Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen (n=48). Die höchsten Rückläufe waren bei den Förderschulen (54%) und den Hauptschulen (48%) zu verzeichnen, am geringsten waren sie bei den Gymnasien (4%) sowie den Gemeinschafts- (0%) und Sekundarschulen (1%). Gründe für die differierenden Rücklaufquoten sind darin zu sehen, dass die Berufsorientierung nach Auskunft der Studien- und Berufswahlkoordinatoren überwiegend (45%) erst in der 7. Klasse beginnt, die Inklusion sich in der Sekundarstufe I jedoch noch im Aufbau befindet. Insbesondere die Gemeinschafts- und Sekundarschulen als neue Schulformen sowie die Gymnasien verfügen noch nicht über entsprechende Erfahrungen.

Insgesamt wurden die Daten von 69 Studien- und Berufswahlkoordinatoren (n=43 Regelschulen und n=26 Förderschulen) und 371 Lehrpersonen (Regelschullehrer, Sonderpädagogen im GU und Sonderpädagogen an Förderschulen – siehe Tabelle 1) erhoben. Von den Lehrpersonen waren 66% weiblich und 34% männlich, mit einem Durchschnittsalter von 46-60 Jahren. Die Studien- und Berufswahlkoordinatoren waren zu 60% männlich und zu 40% weiblich und mehrheitlich zwischen 46-60 Jahre alt. Die mittlere Berufstätigkeit der Lehrpersonen und der Studien- und Berufswahlkoordinatoren lag bei 11-20 Jahren. In ihrer Funktion als Studien- und Berufswahlkoordinatoren waren die befragten Personen mehrheitlich zwischen 5-10 Jahren tätig. Der Median der Lehrpersonen pro erfasstem Studien- und Berufswahlkoordinator liegt bei 4 (MAD = 5).

Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurde eine standardisierte Fragebogenerhebung durchgeführt, die die Einstellung von Lehrpersonen und die Lehrer-Selbstwirksamkeitin der Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern (1) ohne und (2) mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf (Eigenentwicklung) erhebt. Im Kontext von Inklusion wurden zudem die Einstellung zur Integration (EZI-D, Kunz et al. 2010) und die allgemeine Lehrer-Selbstwirksamkeit (Schwarzer/Jerusalem 1999) ermittelt. Als deskriptive Daten wurden das Geschlecht, das Alter, die Berufserfahrung sowie die Erfahrungen mit Gemeinsamen Unterricht der Lehrpersonen erhoben. Die Rahmenbedingungen der Berufsorientierung an Schulen, mit den drei Schwerpunkten Angebotsstruktur und -gestaltung, Kooperationen und Qualifikationen des Kollegiums, wurden über die Studien- und Berufswahlkoordinatoren hinterfragt.

Das Instrument zur Erfassung der Einstellung von Lehrpersonen zur Berufsorientierung stellt – aufgrund fehlender geeigneter Instrumente (vgl. Kapitel 3) – eine Eigenentwicklung dar und umfasst 11 Items, die die Perspektive der Lehrpersonen auf zentrale Inhalts- und Aufgabenbereiche fokussieren. Diese wurden auf einer sechsstufigen Skala von „stimme gar nicht zu“ bis „stimme völlig zu“ erfasst (Beispielitem „Die schulische Berufsorientierung ist Aufgabe aller Lehrpersonen der Schule und darf nicht Aufgabe einzelner ausgewählter Lehrpersonen sein.“) (Cronbach’s αSUSmitspU=.67; Cronbach’s αSUS_RS=.64). Die Items wurden durch Rückgriff auf theoretische Ausführungen effektiver Berufsorientierung formuliert (u. a. Butz 2008; Deeken 2008) und hinterfragen Sichtweise und Bereitschaft der Lehrpersonen zur Verantwortungsübernahme in der Berufsorientierung (z. B. Stellenwert Berufsorientierung im Schulalltag, Bereitschaft zur Integration der Berufsorientierung in den eigenen Unterricht, Relevanz der Berufsorientierung für die Schülerschaft, erlebte Zuständigkeiten in der Berufsorientierung).

Die 11 Items umfassende Skala zur Erhebung der Lehrer-Selbstwirksamkeit in der Berufsorientierung ist ebenfalls neu entwickelt worden und umfasst eine sechsstufige Skala („stimme gar nicht – stimme völlig zu“). Die subjektive Einschätzung der Fähigkeiten bezieht sich auf die (Kompetenz-)Anforderungen an Lehrpersonen in der Berufsorientierung. Die Itemformulierung erfolgte unter Rückgriff auf Forschungserkenntnisse zu zentralen Aufgabenbereichen in der Domäne Berufsorientierung: Unterrichten, Organisieren, Kooperieren, professionelle Partner (vgl. Dreer 2013). Ausgewählt wurden 11 spezifische Anforderungsbereiche, die in Items überführt wurden (Beispielitem „Ich kenne geeignete Medien und Materialien zum Einsatz in der schulischen Berufsorientierung und kann diese gezielt im Unterricht einsetzen“). Eine Reliabilitätsüberprüfung der vorliegenden Werte ergab sehr gute interne Konsistenzen (Cronbach’s αSUSmitspU=.94; Cronbach’s αSUS_RS=.90).

Beide Instrumente liegen in zwei Versionen vor und beziehen sich zum einen auf Schülerinnen und Schüler ohne und zum anderen auf solche mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, so dass eine differenzierte Sichtweise ermöglicht wird. Die Skalen mit Bezug zu Regelschülern wurden nur den Regelschullehrern vorgelegt. In einem zuvor durchgeführten Pretest zeigten beide Instrumente zufriedenstellende Werte.

Der EZI-D (Kunz et al. 2010) umfasst die Komponenten schulische Förderung und Integration sowie soziale Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf. Mittels 11 Items, die auf einer sechsstufigen Likert-Skala beantwortet werden, wird die Einstellung von Lehrpersonen zur Integration erfasst („Je mehr Zeit Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen in einer Regelklasse verbringen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die Qualität ihrer schulischen Förderung verbessert“). Eine Reliabilitätsüberprüfung der vorliegenden Werte ergab zufriedenstellende interne Konsistenzen (Cronbach’s α=.87).

Zur Messung der allgemeinen motivationalen Orientierung der Lehrpersonen wurde als bewährtes Instrument zudem die Lehrer-Selbstwirksamkeitsskala von Schwarzer und Jerusalem (1999) eingesetzt, die zentrale Kompetenzbereiche des Lehrerberufs umfasst. In einer modifizierten Version wurden diese auf einer sechsstufigen Skala („stimme gar nicht zu – stimme völlig zu“) erfasst. Die Reliabilitätsüberprüfung der vorliegenden Werte ergab einen Cronbach’s Alpha von .84 und ist zufriedenstellend.

4.2 Ergebnisse

Im Folgenden werden erste Ergebnisse der im Sommer 2014 abgeschlossenen Erhebung vorgestellt. Eine ausführliche Darstellung und Diskussion erfolgt zu einem späteren Zeitpunkt in einer Monographie. Ausgehend von der Vorstellung ausgewählter Rahmenbedingungen werden deshalb einige ausgesuchte Daten der Skalen zur Erhebung von Einstellungen zur Berufsorientierung, der Selbstwirksamkeit in der Berufsorientierung sowie zur Einstellung zur Integration thematisiert.

4.2.1 Rahmenbedingungen der Berufsorientierung

An der schulischen Berufsorientierung wirken verschiedene Personengruppen mit. Differenziert nach Organisation und Durchführung der Berufsorientierung zeigten sich unterschiedliche Perspektiven der Studien- und Berufswahlkoordinatoren (n=69) und Lehrpersonen (n=371) auf die Anteile der Beteiligten an der schulischen Berufsorientierung.

Insgesamt zeigten die Einschätzungen, dass neben den Studien- und Berufswahlkoordinatoren die Klassenlehrpersonen die Hauptinvolvierten in der schulischen Berufsorientierung für Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf waren. Die Organisation lag dabei aus der Perspektive aller Befragten vorrangig in den Händen der Studien-und Berufswahlkoordinatoren – diese schätzten ihren Anteil selbst im Vergleich zu den Lehrpersonen noch höher ein. Hohe Anteile in der Organisation der Berufsorientierung hatten zudem die Klassenlehrer und aus Sicht der Lehrpersonen die Sonderpädagogen. Die Fachlehrer, Schulleitungen und Externen waren demgegenüber nach Einschätzung der Befragten mit weniger als 60% in die Organisation eingebunden.

Mit dem Schwerpunkt der Durchführung (siehe Abbildung 2) übernehmen die Klassenlehrer den Hauptanteil der schulischen Berufsorientierung. Während die Studien- und Berufswahlkoordinatoren ihren eigenen Anteil als zurückgehend einschätzen, sehen die Lehrpersonen diese weiterhin als zentrale Beteiligte an – mit einer noch stärkeren Einbindung als in der Organisation. Verstärkt eingebunden werden zudem aus beiden Perspektiven die Fachlehrer sowie externe Personen. Die Sonderpädagogen haben einen mit der Organisation vergleichbaren Anteil, der deutlich hinter dem der Klassenlehrer zurückbleibt. Die Lehrpersonen schätzen deren Anteil jedoch erneut höher ein als die Studien- und Berufswahlkoordinatoren. Niedrig bleibt weiterhin der Anteil der Schulleitungen.

Anmerkung. Die Einschätzung der Beteiligung der Sonderpädagogen bezieht sich auf das Gemeinsame Lernen und wurde ausschließlich von an Regelschulen tätigen Befragten eingeschätzt (n=253 Lehrpersonen, n=43 StuBos), alle anderen Einschätzungen umfassen die gesamte Stichprobe (n=371 Lehrpersonen, n=69 StuBos).

Abbildung 2: Anteile in der Durchführung der Berufsorientierung (aus Perspektive der Studien- und Berufswahlkoordinatoren & Lehrpersonen)Anmerkung. Die Einschätzung der Beteiligung der Sonderpädagogen bezieht sich auf das Gemeinsame Lernen und wurde ausschließlich von an Regelschulen tätigen Befragten eingeschätzt (n=253 Lehrpersonen, n=43 StuBos), alle anderen Einschätzungen umfassen die gesamte Stichprobe (n=371 Lehrpersonen, n=69 StuBos).

Abbildung 2: Anteile in der Durchführung der Berufsorientierung (aus Perspektive der Studien- und Berufswahlkoordinatoren & Lehrpersonen)

Im Kontext der Berufsorientierung für Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf sind Veränderungen und Neuerungen der Berufsorientierungsangebote in den Schulen erforderlich. Die Veränderungen bestehender Angebote stiegen mit dem Erfahrungszeitraum der Schulen mit der neuen Schülergruppe. Hatten Schulen mit weniger als 3 Jahren Erfahrung mit Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf nur zu 13% (n=16) Veränderungen der Berufsorientierungsangebote vorgenommen, bestätigten dies 47% (n=15) der Schulen mit 4-6 Jahren Erfahrung und 58% (n=12) der Schulen mit mehr als sechsjähriger Erfahrung. Neue Angebote führten die Schulen demgegenüber seltener ein, mehr als die Hälfte aller Schulen (58%) gab keine Neuerungen an, 23% befanden sich in der Planung – dies waren vorrangig Schulen mit kurzen Erfahrungszeiträumen.

Von Interesse war zudem, ob die Schulen Fortbildungen zur Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf wahrgenommen haben. Mit 23% bestätigten weniger als ein Viertel der befragten Schulen (n=10) die Teilnahme, 26% (n=11) der Schulen gaben an die Teilnahme zu planen. Über die Hälfte der befragten Regelschulen hatten Fortbildungen demgegenüber noch gar nicht thematisiert (n=22).

4.2.2 Einstellung von Regelschullehrpersonen zur Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf

Im Fokus der Erhebung steht, aufgrund der theoretischen Erkenntnisse, die Einstellung der Lehrpersonen zur Berufsorientierung von Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf. Der theoretische Mittelwert beider Skalen liegt bei einem Minimalwert von 1 und einem Maximalwert von 6 bei 3.5 Punkten.

Mit 4.65 Punkten (n=268, SD=.62) liegt der Mittelwert der Regelschullehrpersonen zur ‚Einstellung zur Berufsorientierung von Schülern ohne Unterstützungsbedarf‘ über dem theoretischen Mittelwert (Tabelle 2). Die durchschnittliche Varianz liegt bei .38. Die Kollegien der Hauptschulen (M=4.69, SD=.60) und Sekundarschulen (M=4.62, SD=.63) waren am positivsten zur Berufsorientierung eingestellt. Es lagen jedoch keine signifikanten Unterschiede zu den anderen Schulformen vor. Ein für den Faktor Schulform gefundener signifikanter Haupteffekt (F(4,258)=4.43, p<0.05* – bedingt durch die Gymnasien (M=3.27)) ist aufgrund der Stichprobengröße (n=3) nicht zu interpretieren.

Tabelle 2:     Einstellung zur Berufsorientierung von Regelschülernund von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf

Einstellung zur Berufsorientierung von N Minimum Maximum Mittelwert SD Varianz
Regelschülern 268 2.36 5.82 4.65 .62 .38
SuS mit spU 440 1.25 6.00 4.63 .65 .42

Die Studien- und Berufswahlkoordinatoren zeigten eine durchgehend positivere Einstellung zur Berufsorientierung von Regelschülern (M=4.85, SD=.59) als ihre Kollegien (M=4.61, SD=.62). Es lagen jedoch keine signifikanten Haupteffekte für die Faktoren Schulform oder Rolle (Lehrperson/Studien- und Berufswahlkoordinator) vor.

4.2.3 Einstellung von Regelschullehrpersonen und Sonderpädagogen zur Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf

Die Auswertung der Item-Mittelwerte der Skala ‚Einstellung zur Berufsorientierung von Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf‘ für die Gesamtstichprobe verweist auf einen etwas niedrigeren Mittelwert als bei den Regelschülern (M=4.63, SD=.65), liegt jedoch immer noch über dem theoretischen Mittelwert. Die Varianz ist mit .42 etwas höher (Tabelle 2).

Die höchsten und zudem überdurchschnittlichen Mittelwerte wiesen die Sonderpädagogen (M=4.81, SD=.57) auf, gefolgt von den Studien- und Berufswahlkoordinatoren an Förderschulen (M=4.78, SD=.50). Eine Varianzanalyse zeigte einen signifikanten Haupteffekt für den Faktor Ausbildung der Lehrpersonen (F(5,424)=4.01, p <0.05*). Niedrigere Mittelwerte der Regelschullehrpersonen (M=4.48, SD=.67) und der Studien- und Berufswahlkoordinatoren der Regelschulen (M=4.69, SD=.67) verdeutlichten dies. Sie lagen unter den Werten der Einstellung zur Berufsorientierung von Regelschülern (siehe vorheriger Abschnitt).

4.2.4 Selbstwirksamkeit der (Regelschul-)Lehrpersonen in der Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf

Die Analyse der Selbstwirksamkeit von Lehrpersonen in der Berufsorientierung von Regelschülern zeigte, dass die Studien- und Berufswahlkoordinatoren der Regelschulen sich im Vergleich zu ihren Kollegien als wirksamer einschätzten (M=4.67, SD=.65). Sie unterschieden sich höchst signifikant von den Lehrpersonen ohne Verantwortung in der Berufsorientierung (F(1,258)=14.98, p<0.001***). Am Wirksamsten schätzten sich die Studien-und Berufswahlkoordinatoren am Gymnasium sowie der Realschule ein, es lagen jedoch keine signifikanten Schulformunterschiede vor (Item-Mittelwerte der Gesamtauswertung siehe Tabelle 3).

Tabelle 3:     Lehrer-Selbstwirksamkeit in der Berufsorientierung von Regelschülern und von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf

SWE in der BO von N Minimum Maximum Mittelwert SD Varianz
Regelschülern 268 1.09 6.00 3.98 .97 .93
SuS mit spU 440 1.00 6.00 3.53 1.25 1.57
4.2.5 Selbstwirksamkeit der Regelschullehrpersonen und Sonderpädagogen in der Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf

Insgesamt liegen die Item-Mittelwerte der Selbstwirksamkeitseinschätzung in der Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf mit einem Wert von M=3.53 unter dem Mittelwert in Bezug auf Regelschüler (vgl. Tabelle 3).

Am wirksamsten in der Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf schätzten sich mit einem Mittelwert von 4.85 (SD=.60) die Studien- und Berufswahlkoordinatoren der Förderschulen sowie die Sonderpädagogen an Förderschulen (M=4.33, SD=.97) und im Gemeinsamen Lernen ein. Die Sonderpädagogen unterschieden sich höchst signifikant von den Lehrpersonen mit Regelschulschwerpunkt (F(1,424)=20.82, p<0.001***).

Im Schulformvergleich der Regelschulen zeigten die Haupt- und Gesamtschulen die positivsten Werte. Die Studien- und Berufswahlkoordinatoren der Regelschulen beurteilten ihre Wirksamkeit im Unterschied zur Zielgruppe der Regelschüler durchgehend negativer; grenzten sich jedoch immer noch von den (Regelschul-)Kollegien, als Gruppe mit der negativsten Wirksamkeitseinschätzung im Gruppenvergleich ab.

4.2.6 Einstellung zur Integration

Von den befragten 440 Lehrpersonen verfügten 73% über Erfahrungen im Gemeinsamen Lernen, die zu 79% in der Sekundarstufe I gesammelt worden waren. Mehr als die Hälfte der Personen (56%) gab zudem an, Erfahrungen mit Integrativen Lerngruppen gesammelt zu haben. Die Gesamterfahrungszeiträume der Lehrpersonen umfassten bei über 40% der befragten Lehrpersonen durchschnittlich zwischen 2 bis 5 Jahre.

Die mit dem EZI-D erfasste ‚Einstellung zur Integration‘ aller Lehrpersonen lag im Gesamten leicht im negativen Bereich (n=440, M=3.29, SD=.94) und war bei den Sonderpädagogen (n=167, M=3.02, SD=.98) niedriger ausgeprägt als bei den Regelschullehrpersonen (n=273, M=3.46, SD=.88). Am negativsten war die Einstellung der Sonderpädagogen an Förderschulen (n=139, M=2.88, SD=.90). Die positivsten Einstellungen zu Integration vertraten demgegenüber die Regelschullehrer der Gesamt- (n=46, M=3.59, SD=.83) und Hauptschulen (n=151, M=3.58, SD=.89).

4.2.7 Allgemeine Lehrerselbstwirksamkeit

Die allgemeine Lehrerselbstwirksamkeit schätzten die befragten Personen insgesamt hoch und überdurchschnittlich ein (n=440, M=4.66, SD=.63). Die positivsten Selbstwirksamkeitserwartungen zeigten im Durchschnitt die Sonderpädagogen (Lehrpersonen und Studien- und Berufswahlkoordinatoren).

Im Vergleich zwischen Studien- und Berufswahlkoordinatoren der Regelschulen, Lehrpersonen an Regelschulen und Sonderpädagogen im Gemeinsamen Lernen wurde deutlich, dass die Studien- und Berufswahlkoordinatoren die höchsten Werte angaben, gefolgt von den Sonderpädagogen. Die niedrigsten Werte hatten stets die (Regelschul-)Kollegien. Im Schulvergleich gaben die Gymnasien und Realschulen die positivsten und die Sekundar- und Hauptschulen die negativsten Einschätzungen ihrer Selbstwirksamkeit ab. Es ergab sich ein signifikanter Haupteffekt für den Faktor Schulform (F(5,424)=2.34, p=<0.05*) sowie ein signifikanter Interaktionseffekt für die Faktoren Schulform und Ausbildung (Sonderpädagogik/Regelschullehramt) (F(3,424)=3.07, p<0.05*).

5 Diskussion und Ausblick

Die ersten hier vorgelegten Ergebnisse verdeutlichen grundlegend differenzierte Perspektiven auf den Prozess der Berufsorientierung im Gemeinsamen Lernen der Sekundarstufe I. Der Umfang der Involvierung in den Prozess der Berufsorientierung sowie die Profession der Lehrpersonen können auf Grundlage der ersten Analysen als zentrale Einflussgrößen identifiziert werden. Zu interpretieren sind die Ergebnisse vor dem Hintergrund, dass die befragten Personen überwiegend bereits längere Erfahrungen in der gemeinsamen Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf sammeln konnten und insbesondere die Regelschullehrer – entgegen der theoretischen Vorannahmen – positivere Einstellungen zur Integration zeigten als die Sonderpädagogen. Begründet werden können diese Unterschiede möglicherweise mit den gesammelten Erfahrungen der Personen sowie bezüglich der negativen Einstellung der Sonderpädagogen mit dem Einfluss der aktuell unsicheren Situation der Förderschulen und infolge dessen bedingter Zukunftsängste.

Es besteht Konsens über die Berufsorientierung aller Schülerinnen und Schüler als fächer- und professionsübergreifende Aufgabe der Sekundarstufe I, deren zentrale Personen aus Sicht der Befragten neben den Studien- und Berufswahlkoordinatoren vor allem die Klassenleitungen/ Regelschullehrpersonen sind. Dieses ergibt sich aus der überwiegenden Praxis der Integration der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in vorhandene Berufsorientierungsangebote der Schulen, die von den Regelschullehrpersonen verantwortet werden. Kritisch zu betrachten ist, dass die Regelschullehrpersonen insbesondere in der Durchführung diese Hauptverantwortung ablehnen und auf die Studien- und Berufswahlkoordinatoren sowie Sonderpädagogen verweisen. Es kann somit von einem mangelnden Bewusstsein der Regelschullehrpersonen für ihre zentrale Stellung in der Berufsorientierungspraxis ausgegangen werden. In der schulischen Praxis spiegelt sich dieses in dem von Dritten wahrgenommenen mangelnden Engagement der Lehrpersonen wieder. Die Ergebnisse der durchgeführten Erhebung verdeutlichen jedoch, dass die Ursachen für die eingenommenen Perspektiven der befragten Personen tiefer liegen: in den Einstellungen und dem Selbstwirksamkeitserleben der Lehrpersonen.

Grundsätzlich zeigen sich unabhängig von der Konfrontation aller Lehrpersonen mit der Berufsorientierung der Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf deutliche Unterschiede in der diesbezüglichen Einstellung. So ergeben sich professionsspezifische Unterschiede, die positivere Einstellungen zur Berufsorientierung der jeweiligen Zielgruppe (Sonderpädagogen – SuS mit sonderpäd. Unterstützungsbedarf/ Regelschullehrer – Regelschüler) hervorrufen. Es ergeben sich zudem rollenspezifische Unterschiede. Die Kollegien der Regelschulen und somit auch die besonders involvierten Klassenleitungen geben eine durchgehend negativere Einstellung zur Berufsorientierung als die Studien- und Berufswahlkoordinatoren an. Dies gilt verstärkt für die Berufsorientierung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, aber auch für die der Regelschüler. Eine Erklärung für die Unterschiede wird zum einem im mangelnden Bewusstsein für die Relevanz der Berufsorientierung im Schulalltag/ für die Schülerinnen und Schüler gesehen – begründet durch die überfachliche Rolle der Berufsorientierung, die fachfremd übernommen werden muss. Zum anderen können die gesammelten Erfahrungen bzw. der Kontakt mit dem Aufgabenfeld der Berufsorientierung als Einflussfaktor auf die Einstellung der Lehrpersonen betrachtet werden. Diese erklärt auch die Differenzen zwischen den Perspektiven der Studien- und Berufswahlkoordinatoren und der Gesamtkollegien. Gestützt wird die „Erfahrungshypothese“ auch durch weitere Erkenntnisse der durchgeführten Erhebung: Die Einstellungen differenzieren nach Schulformen. Vor allem in Schulformen, welche die Berufsorientierung eher als Randthema betrachten, zeigen die Befragten die negativsten Einstellungen und haben zugleich im Hinblick auf die Berufsorientierung der Schülerschaft mit Unterstützungsbedarfen die größten Handlungsbedarfe. Erforderlich sind grundsätzlich gesonderte und neue Angebote in der Berufsorientierung für die Schülerschaft mit besonderen Bedarfen, die bislang ausschließlich in bestehende (wenn vorhandene Angebote) integriert werden -eine Diskrepanz, die zu Lasten der Schülerinnen und Schüler geht und dringender Veränderung bedarf. Bereits bei der Ansprache der Schulen zur Vorstellung der Studie zeigten sich diese schulformspezifischen Differenzen mit der Konsequenz der ungleichen Stichprobenverteilung. Es ist somit von einer Wechselwirkung von Erfahrungen, Einstellungen und Handlungsbereitschaft auszugehen. Diese Ergebnisse sind von Bedeutung, da die positive Einstellung zur Berufsorientierung aller als Basis einer erfolgreichen Realisierung betrachtet wird. Sowohl die Kollegien, aber insbesondere die Studien- und Berufswahlkoordinatoren, sind maßgeblich für Ausgestaltung verantwortlich. Die Einsicht in die Bedeutsamkeit der Berufsorientierung für die Schülergruppe mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf und auch die Offenheit für neue Erfahrungsräume sind daher unabdingbar.

Zugleich wird jedoch auch die Unsicherheit der Beteiligten mit der Aufgabe der Berufsorientierung aller Schülerinnen und Schüler deutlich. Die Selbstwirksamkeitserwartung der Befragten in der Berufsorientierung fällt im Mittel negativer als die Einstellung aus, gilt jedoch zugleich als handlungsleitender. Zurückgeführt werden kann die negativere Gewichtung der Selbstwirksamkeit auf deren Praxisnähe: Bildet die Einstellung grundsätzliche Sichtweisen ab, bezieht sich die Selbstwirksamkeit auf subjektive Fähigkeitseinschätzungen. Die Lehrpersonen sind demzufolge subjektiv nicht bzw. nur wenig von ihren eigenen Fähigkeiten in der Berufsorientierung überzeugt. Der in der Erhebung aufgezeigte Aus- und Fortbildungsmangel (der Gesamtkollegien) in der Domäne Berufsorientierung wirkt sich in diesem Kontext aus. In der Konsequenz kann dies zu einer nicht ausreichenden Ausgestaltung der Berufsorientierung im Schulalltag führen, da nur eine hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung sich positiv auf die Motivation und das Handeln auswirken. Erneut ergeben sich rollenspezifische Unterschiede zwischen Studien- und Berufswahlkoordinatoren und Kollegien, die sich im Vergleich als weniger selbstwirksam einschätzen. In Bezug auf die Schülerschaft mit Unterstützungsbedarf wird zudem die Profession der Lehrpersonen zentral. Bewerten Sonderpädagogen sich im Hinblick auf die Berufsorientierung der Schülergruppe mit Unterstützungsbedarfen als hoch wirksam, trifft dies für die Regelschulehrpersonen vorrangig für die Zielgruppe der Regelschüler zu.

Die aus den ersten Analysen abgeleiteten rollen- und professionsspezifischen Einflüsse auf die Einstellungen und die Lehrerselbstwirksamkeit in der Berufsorientierung bestätigen grundlegend die übergeordnete Annahme der Berufsorientierung als unbeliebte Zusatzaufgabe der Kollegien im Gemeinsamen Lernen. Insbesondere die stark eingebundenen bzw. geforderten (Regelschul-)Lehrpersonen zeigen die negativsten Einstellungen und Selbstwirksamkeitseinschätzungen. Diese Erkenntnis ist in weiteren Analysen spezifischer zu untersuchen und auf weitere Einflussgrößen zu überprüfen. Bereits zum jetzigen Auswertungszeitpunkt sind jedoch die Faktoren der Erfahrungsräume und Weiterbildungsangebote als relevant zu erachten.

Deutlich wird grundlegend, dass die Annahme der Berufsorientierung als Aufgabe aller Lehrpersonen im Gemeinsamen Lernen für eine effektive Praxis nicht ausreicht. Um ihre Rolle als „unbeliebte Zusatzaufgabe“ zu überwinden, ist es erforderlich ein Bewusstsein für die Relevanz der differenzierten Einstellungen und Selbstwirksamkeitserwartungen involvierter Lehrpersonen in der Berufsorientierung zu schaffen. Dieses richtet sich sowohl an Verantwortliche in übergeordneten Organisationsebenen, wie den Koordinierungsstellen der Bezirksregierungen (in Nordrhein-Westfalen), aber auch an die Schulleitungen und Studien- und Berufswahlkoordinatoren. Multiplikatorenansätze zur Weiterbildung reichen nicht aus – erforderlich werden Angebote für Gesamtkollegien. Neben der Vermittlung von Professionswissen ist ein Schwerpunkt auf der Verdeutlichung der Relevanz und Notwendigkeit der umfassenden Berufsorientierung für die Schülerschaft mit besonderen Bedarfen zu setzen. Zudem sind die Einflussmöglichkeiten und die Bedeutsamkeit der (Klassen-)Lehrpersonen im Berufsorientierungsprozess aufzuzeigen. Unterstützend können zudem Supervisionsangebote zur Begleitung von Praxiserfahrungen wirken.

Die weiteren Schritte der vorgestellten Untersuchung orientieren sich an der Zielsetzung des vertieften und differenzierten Erkenntnisgewinns zu Einstellungen und Selbstwirksamkeitserwartungen von Lehrpersonen in der Berufsorientierung im Gemeinsamen Lernen sowie weiteren Einflussgrößen und Kontextbedingungen. Die Gesamterkenntnisse sollen zur Qualitätsverbesserung der Berufsorientierung im Gemeinsamen Lernen beitragen, indem Verantwortliche für die Relevanz der Bereitschaft von Lehrpersonen sensibilisiert und Fortbildungsangebote entsprechend weiterentwickelt werden.

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Die Einbettung der Berufsorientierung in die Curricula der allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I in NRW als eine berufspädagogische Entwicklungsaufgabe

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1 Rahmenbedingungen, Entwicklungen und Neuerungen im Übergang Schule – Beruf aus berufspädagogische Perspektive

Die Berufswelt ist durch einen vielfältigen Wandel (demographischer und technologischer Wandel usw.) gekennzeichnet und geht immer auch mit Veränderungen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Anforderungen einher. Dem Individuum wird eine zunehmende Verantwortung zugesprochen, denn vor dem Hintergrund sich ständig wandelnder gesellschaftlicher Anforderungen müssen sich auch die Akteure diesen Veränderungen anpassen können. Für die Schülerinnen und Schüler bedeutet der moderne Arbeitsmarkt eine steigende Notwendigkeit der Individualisierung der eigenen (Aus)Bildungsbiographie und stellt somit eine wachsende Bedeutung für die berufliche Orientierung als einen lebensbegleitenden Prozess dar. Die Herausforderung besteht daher für Lehrkräfte darin, mit den Schülerinnen und Schülern eine aktive Auseinandersetzung mit ihrer möglichen beruflichen Zukunft anzustreben.

1.1 Relevanz der beruflichen Orientierung

Für eine berufliche Einmündung spielt die Berufsorientierung eine entscheidende Rolle, denn „(E)eine fundierte berufliche Orientierung ist Voraussetzung für eine gelingende Berufswahl, die wiederum einen wesentlichen Einflussfaktor für eine erfolgreiche Einmündung in die berufliche Ausbildung darstellt“ (Benner/John 2011, 1).

Hier finden auch die Zahlen zur Ausbildungseinmündung sowie Abbruchquoten große Relevanz. In einer Befragung des BMBF zu den Gründen für den Ausbildungsabbruch gaben 30 % der Befragten eine Verbindung zur ihrer Berufswahl und der unzureichenden beruflichen Orientierung an. Bei insgesamt 42 % deckten sich die persönlichen Vorstellungen zum Berufsbild nicht mit den realen Anforderungen (vgl. BMBF 2009, 13). Fehlende Orientierung ist im Durchschnitt für 22 % der Befragten der Grund für die vorzeitige Beendigung des Ausbildungsverhältnisses, wobei hier eine unterschiedliche Verteilung auf die Fachbereiche vorliegt (bspw. hoher Ausbildungsabbruch im Gastronomiegewerbe) (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 7). Die Rolle, die Lehrerinnen und Lehrer bei der beruflichen Orientierung spielen, verdeutlichen Benner und John (2011), indem sie sowohl den Einfluss unterschiedlicher Bezugsgruppen und -systeme untersuchten als auch der Frage nachgingen, wer auf potenzielle Probleme hätte hinweisen sollen. In der Befragung von Jugendlichen zu Einflüssen ihrer Berufswahl wurden Lehrkräften (0-7,8 %) und Berufsberatern (1,3–5 %) der geringste Einfluss zugeschrieben. Im Gegensatz dazu stehen Lehrkräfte bei der Frage nach Personen, die auf eventuelle Probleme hätten hinweisen können, mit 20,3–31 % an erster Stelle (vgl. Benner/John 2011, 7f.). Es wird deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler die Verantwortung für die Aufklärung über berufliche Möglichkeiten und den damit verbundenen Problemstellungen bei den Lehrkräften durchaus sehen, diese jedoch in ihrer Einschätzung nur einen geringen Einfluss ausüben. Diese Ergebnisse werfen die Frage auf, welche Instrumente, Informationen und Maßnahmen den Lehrkräften an die Hand gegeben werden können, um ihrer Verantwortung entsprechend nachzukommen, und inwiefern diese innerhalb des Unterrichts verankert sind.

Die Jugendlichen müssen lernen, über eigene Fähigkeiten, Interessen und Talente zu reflektieren, diese zu testen und mit den an sie gestellten realen Anforderungen abzugleichen (vgl. Benner/John 2011, 10f.). Der Blick muss auf den kompletten Prozess der beruflichen Orientierung und anschließenden Berufswahl gerichtet werden. Der Gesamtzusammenhang zwischen allgemeinbildender Schule, beruflicher Schule und beruflicher Ausbildung muss berücksichtigt werden, damit die Übergänge von der schulischen in die berufliche Ausbildung kontinuierlich begleitet werden (vgl. Kremer 2011, 8). Die Kernelemente der beruflichen Orientierung, wie Diagnostik und Beratung, individuelle Begleitung (und Förderplanung), Lernmotivation und Selbstlernkompetenz sowie Betriebspraktika müssen in die Maßnahmen aufgenommen werden. Eine Abstimmung und Ausdifferenzierung der Maßnahmen auf die konkreten Zielgruppen und deren Bedarfe kann als grundlegend für eine erfolgreiche berufliche Orientierung angesehen werden (vgl. Euler/Severing 2010, 4ff.). Auch von Benner und John (2011) wird die Unterstützung des Lehrers als unerlässlich eingestuft, woraus sich eine notwendige curriculare Implementierung der Berufsorientierung ergibt (vgl. Benner/John 2011, 10f.).

Jugendliche, denen aus verschiedenen Gründen kein ungehinderter Übergang von der Schule in eine berufliche Ausbildung möglich war, finden sich häufig im sogenannten Übergangssystem wieder, das sich als Maßnahmenbündel beschreiben lässt und Jugendlichen eine (Übergangs-)Perspektive bieten soll, die keinen direkten Anschluss von der Sekundarstufe I in eine berufliche Ausbildung gefunden haben. Intendiert ist in diesem Rahmen, den Jugendlichen durch geeignete Maßnahmen einen Übergang in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Dieser Anspruch wird allerdings zum Großteil nicht eingelöst. Die Jugendlichen finden sich in dem Dschungel von angebotenen Maßnahmen nicht zurecht oder verweilen im System, indem sie eine Maßnahme beenden und in eine weitere einmünden. Der Vergleich des Systems mit einem Labyrinth, wie Münk/Rützel/Schmidt (2008) es umschreiben, ist durchaus zutreffend. Die Unübersichtlichkeit über die verschiedenen Maßnahmen des Bundes, der Bundesländer oder auch der einzelnen Kommunen ist selbst für Experten kaum noch zu durchschauen (vgl. Münk 2008, 31ff.).

Um jedoch die Potentiale des Übergangs nutzen zu können, wurde in NRW ein neues Gesamtkonzept zur Gestaltung der beruflichen Orientierung, ein „Neues Übergangssystem“, aufgelegt, welches die Schülerinnen und Schüler effektiver in ihrer Berufswahl unterstützen und so direkte Übergänge ermöglichen soll.

1.2 Bildungspolitische Rahmung in NRW

Unter dem Motto „Jeder Mensch in Nordrhein-Westfalen, der ausgebildet werden will, wird ausgebildet“ wurde 1996 der Ausbildungskonsens NRW von der Landesregierung initiiert. Die Mitwirkenden kommen aus Politik, Organisationen der Wirtschaft, Gewerkschaften, der Arbeitsverwaltung und den Kommunen[1]. Entschieden wird in diesem Gremium über strategische Fragen, aber auch über Verfahren und Instrumente im Konsens (vgl. MAIS NRW 2014, o. S.). Seit 2010 wird an einer Reform des Übergangssystems gearbeitet. Auslöser der Bemühungen war die Vielfalt der professionellen Angebote für Jugendliche im Übergang, die kaum noch einen Überblick zuließen. Des Weiteren wurde die bereits erwähnte Kritik der sogenannten „Warteschleife“ geübt, die den Verbleib von Jugendlichen in Übergangsmaßnahmen, ohne eine Verbesserung der persönlichen oder beruflichen Ausgangslage beschreibt (vgl. MAIS NRW 2012, 3). Zunächst wurde Anfang 2010 die erweiterte Arbeitsgemeinschaft „Rahmenkonzept für ein Gesamtsystem zur beruflichen Integration für Jugendliche mit Förderbedarf in NRW“ einberufen, im Juli 2010 folgte dann, bedingt durch einen Regierungswechsel, die Aufnahme als Element in den Koalitionsvertrag der rot-grünen Landesregierung. Die abschließende Beratung des Ausbildungskonsens veröffentliche im Februar 2012 das Papier „Kein Abschluss ohne Anschluss“ wobei eine schrittweise Umsetzung des Programms bereits Ende 2011 mit 7 Referenzkommunen begann (vgl. MAIS NRW 2012, 6f.). Im Gegensatz zu den vorherigen Maßnahmen des Übergangssystems, die sich auf die Jugendliche nach Abschluss der Sekundarstufe I konzentrierten und den Fokus auf sozial sowie marktbenachteiligten Jugendlichen legten, richtet sich das neue Programm im Endausbau an alle Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I sowie der gymnasialen Oberstufe und beginnt bereits ab Klasse 8 mit der Durchführung berufsorientierender Maßnahmen (vgl. MAIS NRW 2012, 44). Der bildungspolitische Anspruch des Programms ist es, die Ressourcen der Jugendlichen zu nutzen, um eine unmittelbare Einmündung in eine duale oder vollzeitschulische Ausbildung möglich zu machen. Für dieses Ziel muss einerseits die Qualifizierung der Jugendlichen den Aufnahmevoraussetzungen für die jeweiligen Ausbildungsberufe entsprechen und andererseits eine ausreichende berufliche Orientierung der Jugendlichen bereits bei Abschluss der allgemeinbildenden Schule erreicht sein (vgl. MAIS NRW 2012, 77).

Die Umsetzung des Programms erfolgt in vier zentralen Handlungsfeldern:

1. Berufs- und Studienorientierung

Die Berufs- und Studienorientierung soll an allen allgemeinbildenden Schulen durchgeführt werden, mit dem Ziel, Jugendlichen zu einer überlegten und realistischen Berufs- und Studienwahl zu verhelfen. Es sollen konkrete Wege zum jeweiligen Ziel erarbeitet und durch Standardelemente unterstützt werden. Unter diesen Standardelementen sind Instrumente und Phasen im Prozess zu verstehen. Beispielsweise wird durch das Element 5 „Potenzialanalyse“ in Klasse 8 ein Testverfahren durchgeführt (von einem externen Träger außerhalb der Schule), welches die Interessen, Stärken und Schwächen der Schülerinnen und Schüler erfasst und in den Berufswahlprozess einbindet. So können Schülerinnen und Schüler mehr über ihre eigenen Fähigkeiten erfahren und über berufliche Anforderungen reflektieren (vgl. MAIS NRW 2012, 29).

2. Übergangssystem Schule – Ausbildung

Es wird eine Systematisierung des Übergangssystems durch transparente Angebote durchgeführt, Maßnahmen mit gleichen Inhalten und Zielgruppen werden zusammengelegt, die Angebote insgesamt erheblich reduziert und eine eindeutige Zuordnung der Zielgruppen fokussiert.

3. Attraktivität des dualen Systems

Es werden Programme erstellt, um das duale System nicht nur bei Schülerinnen und Schülern, sondern auch bei deren familiären Umfeld attraktiv zu gestalten. Hierzu sollen beispielsweise jugendmediale Netzwerke genutzt werden, mit dem Ziel, in Zukunft mehr Fachkräfte dual auszubilden und so einem drohenden Fachkräftemangel entgegenwirken zu können.

4. Kommunale Koordinierung

Dieses Handlungsfeld hängt eng zusammen mit der Systematisierung des Übergangssystems und soll einer erneuten Unübersichtlichkeit oder Doppelung von Maßnahmen vorbeugen. In den Kommunen werden Institutionen benannt, welche sowohl die Koordinierung der Maßnahmen als auch die Qualitätssicherung übernehmen. Durch die entstehende Vernetzung aller am Prozess beteiligten Akteure soll Zusammenarbeit und Austausch initiiert werden (vgl. MAIS NRW, 2012, 8f.).

Diese Bereiche folgen vor allem dem Leitgedanken der Prävention statt Nachsorge. Durch zielgruppenspezifische Angebote soll der Gefahr einer „Warteschleife“ entgegengewirkt werden, und eine aufeinander abgestimmte Vorgehensweise soll Einstiege in eine  Berufsausbildung ermöglichen. Die Entwicklung von Perspektiven findet in der kommunalen Koordinierung statt, die die Beratung sowie Orientierung für alle am Prozess beteiligten Personen abstimmt (vgl. MAIS NRW 2012, 13).

Die Stadt Dortmund ist als eine der Referenzkommunen in NRW zu nennen, die kommunale Koordinierung (Handlungsfeld 4) liegt hier beim Regionalen Bildungsbüro (RBB). Das RBB beschäftigt sich nicht erst seit der Reform des Übergangssystems mit der Thematik, sondern arbeitete bereits in der Vergangenheit in Form von verschiedenen Projekten daran, die Situation des Jugendlichen im Übergang zu verbessern.. (vgl. Stadt Dortmund 2014, 24).

Für einen besseren Übergang in berufliche Ausbildungsgänge ist auch eine verbesserte berufliche Orientierung nötig. Ein Schwerpunkt ist es für NRW die Berufsorientierung als Kern in den Alltag der Schule einzubauen, nicht nur in den Stundenplan, sondern in den Fachunterricht zu integrieren. Auch das RBB als eine beteiligte Kommune in NRW bestätigt diesen Aspekt im zweiten kommunalen Bildungsbericht. „Sinnvolle Berufs- und Studienorientierung ist eine dauerhafte Querschnittsaufgabe der gesamten Schule, die früh beginnt, fächerübergreifend angelegt ist und die Jugendlichen begleitet ohne sie zu bevormunden“ (Stadt Dortmund 2014, 192).

1.3 Die Rolle der allgemeinbildenden Schulen

Um die Umsetzung des Programmes in NRW anschaulich zu benennen sind Standardelemente formuliert worden, von denen im Kontext dieser Veröffentlichung eines konkret in den Blick genommen wird, dass sich mit der Umsetzung an den allgemeinbildenden Schulen beschäftigt.

Im Standardelement 3 „Strukturen an Schulen“ findet sich das Element 3.1 „Curriculum“. Im schuleigenen Curriculum sollen demnach fächerübergreifende Inhalte zur Berufs- und Studienorientierung eingearbeitet werden. Die Festlegung der Inhalte und angesprochenen Kompetenzbereiche liegt in der Verantwortung der Fachlehrerinnen und Fachlehrer sowie der Schulleitung (vgl. MSW NRW 2012, 22). Die Bereiche, in denen die Schülerinnern und Schüler innerhalb der Fächer durch die Lehrkräfte gefördert werden sollen, umfassen:

  • „eigene Entscheidungen im Hinblick auf ihre Lebensplanung und den Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt vorbereiten und selbstverantwortlich treffen (Entscheidungs- und Handlungskompetenz)
  • Kenntnisse über Wirtschafts- und Arbeitswelt und über Bildungs- und Ausbildungswege, auch an Hochschulen, systematisieren
  • eigene Berufs- und Entwicklungschancen erkennen und sich über den Übergang in eine Ausbildung, in weitere schulische Bildungsgänge oder in ein Studium orientieren (Sach- und Urteilskompetenz)“ (MSW NRW 2012, 22).

Für die angesprochenen Fördermaßnahmen wurde ein zeitlicher Überblick festgelegt, wonach die einzelnen Elemente systematisch aufeinander aufbauen. 

Abbildung 1: Prozess der schulischen Berufs- und Studienorientierung in der Sekundarstufe I, eigene Abbildung nach MSW NRW (2015): Prozess der Schulischen Berufs- und Studienorientierung.Abbildung 1: Prozess der schulischen Berufs- und Studienorientierung in der Sekundarstufe I, eigene Abbildung nach MSW NRW (2015): Prozess der Schulischen Berufs- und Studienorientierung.

Neben der deutlich akzentuierten kontinuierlichen Beratung der Jugendlichen stehen vor allem die Aspekte „Potenziale erkennen“ und „Berufsfelder kennen lernen“ (durch Potenzialanalyse und Erkundung der Berufsfelder), „Praxis erproben“ (durch Erweiterung und Vertiefung von Praxiserfahrungen) und „Entscheidungen konkretisieren“ und „Übergänge gestalten“ (durch Hinweise zur Bewerbung, der Begleitung von Übergängen und einer Schwerpunktsetzung) im Vordergrund. Des Weiteren wird die Dokumentation im Portfolioinstrument als prozessbegleitendes Element eingeführt. Alle Schülerinnen und Schüler ab der Klasse 8 werden in diesen Prozess mit einbezogen, um vom Erkennen von Potenzialen über die Erfahrungen in der Praxis zu individuellen und passgenauen Anschlussmöglichkeiten und einem lückenlosen Übergang zu gelangen (vgl. MAIS NRW 2012, 23).

Den Lehrerinnen und Lehrern der Sekundarstufe I kommt eine besondere Rolle im Prozess der Berufsorientierung (und auch Studienorientierung) zu. Die Schule legt fest, wer im Rahmen der Berufs- und Studienorientierung sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch ihre Eltern berät und umfassende Projekte und Maßnahmen der Berufsorientierung übernimmt (vgl. MAIS NRW 2012, 17f.).

2 Vergleichende Analyse der curriculare Einbettung der berufsorientierenden Inhalte an den relevanten Schulformen

Nachdem die Rahmenbedingungen und Entwicklungen aufgezeigt wurden, folgt nun die Auseinandersetzung mit den vom Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen erlassenen curricularen Vorgaben anhand der Frage wie viel und welche Elemente der Berufsorientierung bereits in den Kernlehrplänen der Schulen in der Sekundarstufe I enthalten sind. Die Heranführung der Schülerinnen und Schüler an eine berufliche Orientierung beginnt in den allgemeinbildenden Schulen bereits in der Sekundarstufe I, wenn auch noch undifferenziert und nicht zielgerichtet, mit der Klasse 5. Berufsorientierung, Lebensplanung und die damit einhergehende Kompetenzorientierung sind Bereiche, die bereits früh ansetzen sollen. Die Schülerinnen und Schüler sollen sukzessiv ihrem jeweils individuellen Berufswunsch näher gebracht werden.

Das in NRW entwickelte Konzept der Kernlehrpläne ist an länderübergreifenden Bildungsstandards orientiert (vgl. MSW NRW 2014, o. S.). In diesen erstmals 2004 eingeführten Kernlehrplänen stehen die von den Kindern und Jugendlichen erwarteten Lernergebnisse im Mittelpunkt. Kernlehrpläne definieren in knapper und übersichtlicher Form verbindlich die wesentlichen Ergebnisse der unterrichtlichen Arbeit in der Sekundarstufe I und sollen kompetenzorientierten Unterricht befördern. Neben der fachlichen Kompetenz sind auch weitere Kompetenzen von Bedeutung für den weiteren Bildungsweg der Schülerinnen und Schüler sowie für ihren persönlichen und späteren beruflichen Alltag (vgl. MSW NRW 2014, o. S.).

2.1 Ablauf der Analyse und Auswertung

Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die Kernlehrpläne des allgemeinbildenden Schulwesens der Sekundarstufe I des Landes NRW. Aus diesen Kernlehrplänen wurden zuerst anhand der Schlüsselwörter „Beruf“ und „Arbeit“ relevante Stellen ermittelt um anschließend die Passagen einer detaillierten Analyse hinsichtlich Maßnahmen, die im weitesten Sinne auf eine berufliche Orientierung der Schülerinnen und Schüler abzielen, unterziehen zu können. Dabei ist zu beachten, dass in der vorliegenden Untersuchung die allgemeinbildende Schule und die Curricula der Sekundarstufe I den alleinigen Fokus und Erhebungsbereich bilden. Weitere für die Berufsorientierung von Jugendlichen relevante Faktoren, wie Peer-Groups oder Medien, finden daher keine Berücksichtigung.

Für die vorliegenden Analysen wird die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) herangezogen. Das Verfahren verläuft nach den hier aufgeführten Stufen (vgl. Mayring 2010, 60):

Tabelle 1:     Analyse und Auswertung

Analysestufen Analyse Kernlehrpläne
Die Analyse beginnt mit der Festlegung des Materials. Dabei wird nach der Datengrundlage gefragt, also nach den theoretischen Grundlagen und dem zu untersuchenden Material. Die theoretische Grundlage bzw. die Datengrundlage bezieht sich insbesondere auf die veröffentlichten Kernlehrpläne für die Sekundarstufe I aller allgemeinbildenden Schulformen in Nordrhein-Westfalen. Innehrhalb der Kernlehrpläne wird die Einbettung der beruflichen Orientierung berücksichtigt. Die Kriterien für die Analyse werden aus der Grundlagenliteratur und den Konzepten des neuen Übergangssystems gewonnen.
Anschließend folgen die Analyse der Entstehungssituation und die Betrachtung der formalen Charakteristika des Materials. Die länderspezifischen Kernlehrpläne wurden auf der Grundlage der von der KMK festgelegten Bildungsstandards erlassen. Sie beschreiben in Bezug auf die Schulform die zu erreichenden Kompetenzniveaus der Schülerinnen und Schüler am Ende der einzelnen Schuljahre im jeweiligen Fach. Der Kernlehrplan gibt die Mindestanforderungen der zu vermittelnden Lerninhalte an. Die Quelle ist öffentlich einsehbar, das Verfahren der Umsetzung in den Schulen bleibt für die durchgeführte Studie unberücksichtigt.
Die Richtung der Analyse wird entwickelt. Betrachtung finden dabei beispielsweise der soziokulturelle Rahmen und die Wirkung der Analyse. Die Relevanz einer guten Berufsorientierung ist unumstritten. Unklar ist jedoch die Auslegung, was eine gute Berufsorientierung ausmacht. NRW hat in diesem Kontext durch das neue NRW Programm einen Vorstoß unternommen und Standardelemente für eine gute Berufsorientierung entwickelt. Die Kernlehrpläne in NRW werden über alle allgemeinbildenden Schulformen (Sek. I) hinweg auf die Einbettung der dem NRW Programm entnommenen Kriterien analysiert.
Daraus resultiert die theoretische Differenzierung der Fragestellung. Die vorliegende Studie befasst sich mit der Fragestellung der Einbettung der Berufsorientierung in die Kernlehrpläne der allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I in NRW.
Die Bestimmung der Analysetechnik (Zusammenfassung, Explikation, Strukturierung) und die Definition der Analyseeinheit. Die Durchsicht der Kernlehrpläne erfolgt auf der Grundlage der durch die theoretische Fundierung und der Dokumente zum NRW Programm entwickelten Kriterien. Die Indikatoren werden mit einer Durchsicht der Kernlehrpläne gewonnen. Analysiert wird die Häufigkeit (Frequenzanalyse) unterschiedlicher Inhalte zur beruflichen Orientierung.
Der eigentliche Analysevorgang Durch die theoretische Fundierung und Darlegung des Standardelementes „Curriculum“ des NRW Programms wurden Kriterien für eine gute berufliche Orientierung gewonnen. Mit einer Frequenzanalyse werden die aus dem Material gewonnenen Indikatoren entsprechend der Kriterien ausgewertet.
Die Interpretation, um abschließend in Richtung der Hauptfragestellung die einzelnen Fälle zu generalisieren Durch die Analyse können die einzelnen Schulformen hinsichtlich ihrer Einbettung der berufsorientierenden Maßnahmen miteinander verglichen werden.Durch den Vergleich der Schulformen kann eine differenzierte Aussage über die Erfüllung der ausgeführten Kriterien gegeben werden.

2.2 Darstellung der abgeleiteten Kriterien zur beruflichen Orientierung

Aus den vorausgehenden Ausführungen zu den Zielsetzungen, insbesondere des neuen NRW Programms, lassen sich Kriterien für eine gute berufliche Orientierung im allgemeinbildenden Schulwesen ableiten und für die bevorstehende Analyse der Kernlehrpläne der Sekundarstufe I nutzen: 

  • Wissen (Berufsorientierung): Die Basis einer guten Berufsorientierung stellt die Informiertheit des Klientel (der Schülerinnen und Schüler) dar. Hierunter fallen alle Informationen sowohl zu berufsqualifizierenden Maßnahmen als auch zu den unterschiedlichen Berufsfeldern/Berufsbildern und Branchen sowie deren Qualifikationsvoraussetzungen.
  • Verbindung Beruf – Individuum: Für die Schülerinnen und Schüler ist es nicht nur wichtig, über die einzelnen Berufsfelder informiert zu werden, sie müssen auch in die Lage versetzt werden, diese Informationen auf ihre persönlichen Interessen und ihre Lebensumstände beziehen zu können. Es geht darum, eigene Berufswünsche zu entwickeln, Konsequenzen für eine Berufswahl zu erkennen und die individuellen Fähigkeiten in Bezug auf das Berufsprofil einschätzen zu können.
  • Lebensplanung und persönliche Entwicklung: Neben der gezielten Orientierung bzw. Vorbereitung auf die berufliche Biographie ist auch die Vermittlung eines Lebensplanentwurfs notwendig. Hierunter fallen allgemein die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, insbesondere die Teilhabe am kulturellen Leben, die familiale Planung, sowie der Stellenwert von Freunden, sozialem Engagement und die Einbeziehung persönlicher Lebensumstände. Die allgemeinbildende Schule muss die Schülerinnen und Schüler auf die anstehende Aufgabe vorbereiten und Fähigkeiten vermitteln, die gewonnenen Informationen auf die eigenen Lebensverhältnisse zu beziehen und daraus eine sinnvolle berufliche Planung abzuleiten. Zur Entwicklung eines Lebensplanentwurfes ist auch die Förderung der persönlichen Entwicklung und die Entfaltung der Kompetenzen und Fähigkeiten eines Subjekts von Relevanz. Hierunter fällt beispielsweise die Reflexionsfähigkeit. Die Schülerinnen und Schüler sollen die Fähigkeit erlangen, sowohl den eigenen Lebensweg und eigene Urteile als auch eigene Erfahrungen (aus der Praxis) reflektieren zu können, die dann in Entscheidungen münden. Im Kern werden die für die Berufsorientierung benötigten personalen und sozialen Kompetenzen aufgeführt.
  • Kooperation: Hierunter werden generell alle Kooperationen außerhalb des allgemeinbildenden Schulsystems verstanden. Differenziert wird nicht zwischen der Art der Kooperation und den einzelnen Kooperationspartnern wie Partner aus der Wirtschaft, der Bundesagentur für Arbeit oder aus den Berufskollegs.
  • Beratung und Begleitung: Hierunter fallen alle beratenden und begleitenden Tätigkeiten und Angebote des Lehrpersonals bezüglich der beruflichen Orientierung der Jugendlichen, ausgeschlossen sind Beratungsangebote von externer Seite. Auf die Einflussnahme weiterer Partner wie beispielsweise die Elternarbeit wird hier nicht näher eingegangen, da sich die Analyse auf die schulische Berufsorientierung, konkret auf das Lehrerhandeln, konzentriert. Es werden alle Prozesse eingeschlossen, die auf von den Lehrkräften initiierte Prozesse der Beratung und Begleitung bezüglich berufsorientierender Maßnahmen abzielen.
  • Praxiserkundung in der unterrichtlichen Verankerung: Die Erkundung der Praxis bezieht sich auf im Kernlehrplan fest verankerte Phasen, in denen die Schülerinnen und Schüler sich außerhalb der Schule in einem beruflichen, arbeitsbezogenen Kontext befinden. Ob sie selbst tätig werden oder sich die Abläufe in einem Betrieb lediglich anschauen, ist für die Betrachtung nicht relevant.
  • Kontinuität: Die Kontinuität zu gewährleisten ist ein starkes Kriterium für die berufliche Orientierung in den allgemeinbildenden Schulen. Diese bezieht sich sowohl auf den Aspekt der Wiederholung (Maßnahmen werden in jeder Klasse durchgeführt) als auch die Absicht die einzelnen Maßnahmen sinnvoll (spiralcurricular) aufeinander aufzubauen (die Durchführung findet nicht nur in jedem Jahrgang statt, thematisch bauen die Inhalte aufeinander auf).
  • Fachbezogen/Querschnitt: Die Implementierung der berufsorientierenden Inhalte kann sowohl in den jeweiligen Fächern (fachspezifisch oder fächerübergreifend) oder im Rahmen eines gesondertes Fach durchgeführt, als auch in der Kombination beider Varianten vermittelt werden.

2.3 Kriterien geleitete Auswertung der Kernlehrpläne

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Analyse der Kernlehrpläne Kriterien bezogen dargestellt.

Wissen (Berufsorientierung)

Das Wissen über den Arbeitsmarkt und berufliche Möglichkeiten, aber auch über Anforderungen ist grundlegend, um eine Entscheidung über den persönlichen beruflichen Werdegang zu treffen. In der Analyse der Curricula wurde dies deutlich, da der Bereich „Wissen (Berufsorientierung)“ insgesamt den größten Umfang ausmachte. Im Vergleich der Schulformen wird in der Hauptschule diese Thematik in den Unterricht im beträchtlichsten Maße vor allem im Fach Arbeitslehre (der Anteil an Unterrichtsstunden beträgt in den Klassen 07 – 10 jeweils drei Stunden) integriert. Hier geht es unter anderem darum, ein umfassendes Verständnis zum Begriff Arbeit zu vermitteln, geschlechtsspezifische Berufswahlverfahren zu hinterfragen oder auch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in den Berufswahlprozess einzubeziehen. Diese und ähnliche Thematiken sind in den Curricula der anderen Schulformen ebenfalls zu finden, wie die Bedeutung von Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt (Gymnasium), gesetzliche Rahmenbedingungen einzelner Berufsfelder (Realschule) oder Herausforderungen des beruflichen Alltags (Gesamtschule), allerdings in geringerem Umfang als dem an der Hauptschule.

Verbindung Beruf – Individuum

Das bereits beschriebene Wissen über den Arbeitsmarkt und seine Berufsfelder ist einer der ersten Schritte in der Berufsorientierung, die persönliche Auseinandersetzung mit der Thematik geht einen Schritt weiter und kann durch die Unterrichtseinheiten in der Schule angeregt und begleitet werden. Die Curricula der Hauptschule (eigene Berufswünsche benennen und entwickeln) und der Gesamtschule (eigene Kompetenzen kennen) weisen die meisten Inhalte auf. Im Fach Arbeitslehre der Gesamtschule geht es sogar ganz konkret um Kompetenzchecks und Eignungstests. Des Weiteren werden auch Konsequenzen der Berufswahl erörtert. Die Gesamtschule beschäftigt sich insgesamt umfassender als die anderen Schulformen mit der Anregung der Schülerinnen und Schüler auf unterschiedlichen Niveaustufen. In den Curricula der Realschule sollen die Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten einschätzen lernen, im Gymnasium wird nur im Fach Politik die Darstellung der eigenen Fähigkeiten und Interessen im Zusammenhang mit der beruflichen Entwicklung erwähnt. Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass das Standardelement der Potenzialanalyse in Klasse 8 verpflichtend für alle Schulformen formuliert worden ist und – da von externen Trägern durchgeführt - wohl auch keinen Einzug in das schulische Curriculum erhalten wird. Somit kommen diese auf Stärken-Schwächen-Analyse abzielenden Testverfahren allen Schülerinnen und Schülern zu Gute inklusive der Vor- und Nachbereitung im Unterricht.

Lebensplanung und persönliche Entwicklung

Zu der beruflichen Orientierung gehört auch die Lebensplanung, denn beide Bereiche wirken deutlich aufeinander ein. Ein Lebenslaufentwurf kann nur durch eine Auseinandersetzung mit dem privaten, gesellschaftlichen und beruflichen Umfeld erfolgen. Für die Relevanz in den Kernlehrplänen ist zu vermerken, dass eine Differenzierung von Wissen, Planung, Handlung und Reflexion nicht herzustellen ist. Besonders deutlich ist die Lebensplanung in der Hauptschule vertreten, am geringsten am Gymnasium. Auffällig für das Gymnasium ist, dass das Element der Lebensplanung nicht wie in den anderen Schulformen in den Haupt- sondern in den Nebenfächern verortet ist, der Schwerpunkt liegt hier inhaltlich auf der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Eine differenzierte Konkretisierung ist für das Gymnasium wie auch für die Gesamtschule (persönlicher Lebensgestaltung) und die Realschule (Lebensplanung und eigene Wertvorstellung) - wenn auch schon deutlicher aufgeschlüsselt - kaum gegeben. Für die Hauptschule wird das Thema der Lebensplanung aus mehreren Perspektiven analysiert. Thematisch werden die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Bürger sowie unterschiedliche Lebensstile und regionale Besonderheiten angesprochen. Die Jugendlichen werden jedoch auch dazu aufgefordert, sich mit eigenen Lebensentwürfen auseinanderzusetzen, ihre Wünsche und Werte zu reflektieren und eine individuelle Perspektive zu entwickeln. Für die Gestaltung eines Lebensplanentwurfes ist auch das Erkennen und die Entwicklung von Kompetenzen zu berücksichtigen. Um die Schülerinnen und Schüler in ihrer persönlichen Entwicklung zu stärken und zu unterstützen bietet das Curriculum der Hauptschule die vielfältigsten Möglichkeiten (im Rahmen der vorliegenden Analyse kann aufgrund des Vorgehens nur über die Möglichkeiten, nicht über die tatsächliche Umsetzung gesprochen werden). Die Inhalte und zu vermittelnden Fähigkeiten in den einzelnen Fächern sind kleinschrittig angelegt (selbstständig planen, miteinander reden und arbeiten) und zielen besonders auf die Förderung der Selbst- und Sozialkompetenz ab. Das Gymnasium und die Gesamtschule stellen die sozialen und interkulturellen Kompetenzen in den Mittelpunkt (soziales Engagement, Toleranz) und möchten dazu anregen, sich mit kontroversen Sichtweisen auseinanderzusetzen. Im Gymnasium wird dieser Anspruch besonders in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern durchgesetzt, in der Gesamtschule zum größten Teil im Fach Arbeitslehre. Die Realschule konzentriert die Förderung der persönlichen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler nicht auf ein Fach, sondern legt die Inhalte fächerübergreifend an (Voraussetzung für lebenslanges Lernen oder Selbstständigkeit).

Beratung und Begleitung

Sowohl die theoretische Auseinandersetzung mit der eigenen Lebens- sowie Berufsplanung als auch die Suche nach geeigneten Möglichkeiten, die Praxis zu erkunden, stellt Anforderungen an Schülerinnen und Schüler, die ohne Hilfe nicht immer gelöst werden können. Durch die Implementierung der berufsorientierenden Inhalte in den Unterricht, kommen den Lehrkräften so Beratungs- und Begleitungsfunktionen zu. In der curricularen Analyse zeigten sich die Ergebnisse diesbezüglich sehr übersichtlich. Als konkret niedergeschriebener Lerninhalt konnte dies nur in der Hauptschule (Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer auf Bedürfnisse der Lerngruppe einzugehen, Orientierungshilfe bieten) und der Gesamtschule (Beratungsmöglichkeiten) gefunden werden. Sowohl in den Curricula der Realschule, als auch in denen des Gymnasiums tauchten diese Begrifflichkeiten nicht auf. Insgesamt muss berücksichtigt werden, dass das Thema der Beratung und Begleitung auch eher in anderen schulischen Ordnungsmittel zu erwarten gewesen wäre.

Praxiserkundung in der unterrichtlichen Verankerung

Die Relevanz für die Schülerinnen und Schüler, einen Einblick in die berufliche Praxis zu bekommen, wird als wichtig für die Auseinandersetzung mit den einzelnen Berufsfeldern erachtet. Die Praxiserkundung findet prinzipiell in allen Schulformen Relevanz, jedoch in unterschiedlicher Ausprägung. In der Hauptschule findet man die Verankerung der Praxis in den Kernlehrplänen sehr differenziert vor und auch der Theorie-Praxis-Transfer wird hervorgehoben. In der Realschule wird das Thema Praxis besonders durch Praktikumsphasen aufgenommen und unterrichtsbegleitend als Praxisbezüge in den einzelnen Fächern herangezogen. In der Gesamtschule wird nur relativ unspezifisch von „Praktika“ gesprochen und für das Gymnasium lässt sich bezüglich des Praxisbezugs nur der Begriff „Ferienjob“ im Fach Französisch ausfindig machen. Hierbei ist anzumerken, dass schulische Praxisphasen durch den Runderlass zur Berufs- und Studienorientierung des Landes NRW geregelt sind. Hier werden Dauer, Organisation und rechtliche Absicherung bezüglich der Schülerbetriebspraktika formuliert.

Kooperation

Kooperationen mit Einrichtungen außerhalb des allgemeinbildenden Schulsystems werden besonders in den Schulformen Realschule und Hauptschule aufgeführt. Für die Realschulen scheinen besonders die Kooperationen mit Berufskollegs (neben dem Stichwort außerschulische Kooperationen) eine besondere Stellung einzunehmen. Der Begriff der Vernetzung ist hingegen nur an den Hauptschulen zu finden. In dieser Schulform wird auch der Vergleich von regionalen Ausbildungsangeboten und Berufsbildern thematisch angesprochen. Für das Gymnasium ist keine konkrete Verankerung von Kooperationen in den Kernlehrplänen zu finden.

Kontinuität und Fachbezug

Die vorgestellten Inhalte der beruflichen Orientierung finden durchgehend in den einzelnen Fächern statt. Zum einen wird der Bezug der Arbeit zum Fach hergestellt, zum anderen werden konkrete Handlungs- und Entwicklungshinweise für eine berufliche Orientierung gegeben. Hinweise auf eine fächerübergreifende Berufsorientierung lassen sich in den Kernlehrplänen finden, die Anmerkungen verbleiben aber bei Formulierungen, die zwar eine fächerübergreifende Ausrichtung der beruflichen Orientierung ermöglichen, jedoch nicht weiter ausgeführt werden.

Ein kontinuierlicher Aufbau der beruflichen Orientierung ist formal in der Hauptschule ab der Jahrgangsstufe 5/6; im Fach Arbeitslehre entsprechend ab der Jahrgangsstufe 7/8 und aufbauend in den verschiedenen Fächern bis zum Jahrgang 09/10 gegeben. Auch beim Anspruchsniveau kann von einer Steigerung gesprochen werden. Beginnend mit einer generellen Informiertheit über Berufe, Arbeitsfelder und die gesellschaftliche Integration werden in den folgenden Jahrgängen spezielle Aspekte ausgewählt und besprochen (Geschlechterverhältnis, Wertevermittlung) beziehungsweise Rückschlüsse auf die eigene Person durch die Benennung und Entwicklung von Berufswünschen gezogen. In der Gesamtschule wird die Arbeitslehre nach Kompetenzbereichen unterteilt. Im Mittelpunkt steht jedoch die Entwicklung von Kompetenzen, ein eindeutiger Berufsbezug im Sinne einer Passung von Kompetenzen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler und der Anforderungen einzelner Berufe ist nicht auszumachen. In den anderen Schulformen ist ein kontinuierlicher Aufbau nicht so deutlich zu erkennen.   

2.4 Zusammenfassende Darstellung

Aufgrund der Vorgehensweise der Untersuchung, die Kernlehrpläne mit den Begriffen „Arbeit“ und „Beruf“ zu durchsuchen, ist es nicht erstaunlich, dass das Kriterium „Wissen (Berufsorientierung)“ den größten Umfang ausmacht. Insgesamt sind in allen Schulformen Inhalte zu finden, die den Schülerinnen und Schülern Wissen über den Arbeitsmarkt, seine Entwicklung und die Einbettung der Berufsfelder darin vermitteln. Positiv anzumerken ist besonders der Bezug zu aktuellen Entwicklungen und dem Wandel des Arbeitsmarktes. Die Förderung der Verantwortung der Schülerinnen und Schüler wird auch im Hinblick auf die Lebensgestaltung vor dem aktuellen Kontext betrachtet.

In Anbetracht der Individualisierung des Arbeitsmarktes und der zunehmenden Verantwortung des Individuums für die eigenen Gelingens Chancen ist die „Verbindung Beruf-Individuum“ in welcher es um die persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Berufswahl geht für die Schülerinnen und Schüler sehr wichtig. Hier schneiden die Haupt- und Gesamtschule in diesem Zusammenhang gut ab, da nicht nur Inhalte vermittelt, sondern auch die Schülerinnen und Schüler dazu angeregt werden, dieses Wissen auf die eigene Situation zu beziehen und daraus mögliche berufliche Wege zu entwickeln. Diese Thematik innerhalb des Gymnasiums nur in einem Fach einzubeziehen, ist sehr kurz gedacht.

Die persönliche Entwicklung der Jugendlichen spielt eine entscheidende Rolle in diesem Prozess. Die Ausprägung der sozialen, personalen, interkulturellen und Selbstkompetenz unterstützt sie einerseits darin, eigene Entscheidungen mit einer entwickelten Urteilskraft treffen und reflektieren zu können, andererseits sind diese Kompetenzen neben fachlichen Qualifikationen wichtig, um auf dem Arbeitsmarkt und in einem Unternehmen bestehen zu können. Alle Schulformen folgen zwar diesem Anspruch, unterscheiden sich jedoch im Anspruchsniveau und der differenzierten Auseinandersetzung in den festgelegten Schwerpunkten. Nur durch diese Auseinandersetzung ist auch eine erfolgreiche Lebensplangestaltung möglich. Die unterschiedliche Herangehensweise an dieses Thema hängt stark vom Fach Arbeitslehre ab.

Dass lediglich bei zwei Schulformen der Begriff Beratung in den Kernlehrplänen auftaucht, ist als auffällig anzusehen. Die Jugendlichen im Berufswahlprozess sind oft überfordert mit der Flut an Informationen und benötigten objektive Begleitung und Beratung. In der eingangs genannten Erhebung wurde Lehrkräften eine große Bedeutung bei der Beratung zum beruflichen Werdegang von Schülerinnen und Schülern zugesprochen. Wenn dieser Aspekt in die Curricula aufgenommen werden würden, könnte der Beratung durch Lehrkräfte mehr Bedeutung verliehen und entsprechende Zeit im Unterricht eingeplant werden. Anzunehmen ist, dass diese Beratung und Begleitung der Schülerinnen und Schüler aktuell im Unterricht und während der Praxisphasen informell stattfindet und so nicht in den Curricula festgeschrieben ist.

Die auf Praxisphasen abzielenden Inhalte finden in unterschiedlicher Intensität statt. Während in der Hauptschule die Verankerung der Berufserkundung sehr deutlich in die Kernlehrpläne eingebracht und der Theorie-Praxis-Transfer hervorgehoben wird, ist die Thematik im Gymnasium nur in einem Fach vertreten. In dieser Schulform besteht noch Entwicklungspotential. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass ein Praktikum im Gymnasium in der Sekundarstufe I entfallen kann wenn in der Sekundarstufe II ein Praktikum durchgeführt wird. Möglicherweise werden aus diesem Grund weniger Praxisaspekte in den Kernlehrplänen des Gymnasiums der Sekundarstufe I angesprochen. Auch wenn die Schülerbetriebspraktika durch den Runderlass geregelt sind, findet die Vor- und Nachbereitung dieser sowie die damit zusammenhängende Beratung und Begleitung im Rahmen der Schule statt und ist somit auch als Aufgabe dieser zu verzeichnen. Aus diesen Gründen ist ein konkreter Einbezug der vor- sowie nachbereitenden Inhalte in die schulischen Curricula wünschenswert, wie die Hauptschule ihn bereits eingeführt hat.

Sowohl in Bezug auf die schulischen Praxisphasen ist die Kooperation der Institution Schule mit außerschulischen Partnern von Bedeutung, als auch bei der Planung des beruflichen Wegs nach Abschluss der Sekundarstufe I. Kooperationen mit Unternehmen und mit berufsbildenden Schulen sind ein Faktor, der den positiven Übergang der Schülerinnen und Schüler fördern kann. In der Haupt- und Realschule werden unterschiedliche Kooperationen explizit aufgeführt, in der Gesamtschule wird allgemein von enger Kooperation mit Betrieben gesprochen, für das Gymnasium sind keine konkreten Ausführungen zu finden. Der fehlende Bezug zu Kooperationspartner für das Gymnasium kann einerseits auf die Weiterführung in der Sekundarstufe II zurückgeführt werden, jedoch auch auf eine Ausrichtung auf ein anzustrebendes Hochschulstudium und der damit zusammenhängenden Studienberatung. Der Bezug zu Kooperationen sollte dennoch intensiver aufgenommen werden, da nicht ohne weiteres von einem direkten Übergang aller Schülerinnen und Schüler in die gymnasiale Oberstufe ausgegangen werden kann.

Neben den bereits angesprochenen Kriterien wie dem Wissen über Berufe, der persönlichen Auseinandersetzung damit und der Erprobung der eigenen Fähigkeiten in Praxisphasen können durch bestehende Kooperationen, die gewonnenen Erkenntnisse in konkrete Wege übergeleitet werden. Durch den persönlichen Kontakt werden Hemmungen bei den Schülerinnen und Schülern abgebaut und Berufswünsche mit realen Fakten abgeglichen. Diese Entwicklung ist für die Schülerinnen und Schüler aller Schulformen von Bedeutung und sollte dementsprechend in alle Curricula Einzug erhalten.

Elemente der beruflichen Orientierung spielen in allen Schulformen und in allen Jahrgangsstufen eine Rolle und sind zumeist in das einzelne Fach eingebettet. Eine fächerübergreifende berufliche Orientierung wird lediglich angedeutet. Insgesamt kann festgehalten werden, dass besonders die Hauptschulen das Thema Berufsorientierung sehr differenziert aufgreifen. Es finden sich jedoch auch in den Gesamt- und Realschulen einige Bezüge zu Aspekten der beruflichen Orientierung. Als Schlusslicht kann das Gymnasium betrachtet werden. Hier wurden insgesamt die wenigsten berufsorientierenden Aspekte gefunden.

3 Ansätze für eine weiterführende Qualitätsverbesserung

Insgesamt konnte festgestellt werden, dass alle Schulformen den Großteil der im Vorfeld zusammengestellten Kriterien vermitteln. Einige dargestellte Unterschiede werfen Fragen auf und geben Anregung zu weiteren Überlegungen.

  1. In Ansätzen ist ein Verweis auf Praktika in einzelnen Fächern bereits gegeben, die fachspezifische Verknüpfung bzw. eine Reflektion dieser Praxiserfahrung hat jedoch keine Einbettung in die Kernlehrpläne gefunden. Nur für die Hauptschule wird eine Verknüpfung von Theorie und Praxis angedeutet. Hier besteht Nachholbedarf, denn besonders die Reflexion über gemachte Praxiserfahrungen führen zu einer Kompetenzentwicklung und einer bewussten Auseinandersetzung mit der beruflichen Praxis.
  2. Ziel ist es, die Schülerinnen und Schüler optimal für den Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt vorzubereiten. Diese Vorbereitung erfolgt in den Schulformen besonders innerhalb der einzelnen Fächer, wobei die Intensität von Schulform und Fach sehr unterschiedlich ist. Besonders durch das Fach Arbeitslehre an den Haupt- und Gesamtschulen wird ein Großteil der berufsorientierenden Inhalte vermittelt, das Fehlen dieses Faches muss in der Realschule und dem Gymnasium ausgeglichen werden. Für eine gezielte berufliche Orientierung wäre zu überdenken, ob nicht eine fächerübergreifende Ausrichtung aus unterschiedlichen Blickwinkeln wünschenswert wäre. Eine fächerübergreifende Berufsorientierung darf allerdings nicht zu einer Reduktion der berufsorientierenden Inhalte in den einzelnen Fächern führen.
  3. In der Betrachtung der Kriterien ist erfreulich, dass eine Vielzahl der Elemente in den Curricula der Schulformen bereits zu finden sind, auch die Auseinandersetzung mit individuellen Stärken und deren Abgleich mit beruflichen Anforderungen konnte in der Analyse dargestellt werden. Deutlich vernachlässigte Punkte sind die Kontinuität und die Beratung. Vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Veränderungen am Arbeitsmarkt, dem Schwerpunkt der kontinuierlichen Beratung im NRW Programm und der Relevanz die Schülerinnen und Schüler mit aufeinander aufbauenden Inhalten der Berufsorientierung zu konfrontieren sollten diese Punkte nicht außer Acht gelassen werden. Des Weiteren muss in Zukunft die Vor- und Nachbereitung der verpflichtenden Potenzialanalyse in die Curricula eingebunden werden. Der Prozess des Einbezugs der erlangten Ergebnisse in den persönlichen Berufswahlprozess wird ebenfalls durch die Lehrkräfte begleitet werden müssen.

Aus den Unterschieden der Schulformen ergeben sich verschiedenartige Möglichkeiten und Begrenzungen für die Schülerinnen und Schüler. Da in jeder Schulform Besonderheiten, Stärken und Schwächen gefunden wurden, können hier die Schulformen voneinander lernen. Ein Austausch zwischen diesen wäre wünschenswert. Abschließend bleibt zu sagen, dass die Kerncurricula der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen größtenteils an die Anforderungen der Jugendlichen angepasst sind und sich so auch mit der Einführung des neuen Übergangssystems „Kein Abschluss ohne Anschluss“ vereinbaren lassen. An einzelnen Stellen muss und wird in Zukunft noch nachgebessert werden, um die konkreten Inhalte in die Curricula zu implementieren und die durch die Standardelemente entwickelten Punkte in den Alltag der Schule miteinzubeziehen.

Literatur

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[1]   Partner des Ausbildungskonsens: Staatskanzlei NRW; Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des NRW; Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW; Ministerium für Wirtschaft, Energie, Bauen, Wohnen und Verkehr NRW; Ministerium für Innovation, Wissenschaft, Forschung NRW; Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport NRW; Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter NRW; Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit; Landesvereinigung der Unternehmensverbände NRW e.V.; Deutscher Gewerkschaftsbund; IHK NRW – Die Industrie- und Handelskammern NRW e.V.; NRW Handwerkstag; Westdeutscher Handwerkskammertag; Unternehmerverband Handwerk NRW; Verband freier Berufe; Städtetag NRW; Städte- und Gemeindebund NRW; Landkreistag NRW; Kommunaler Arbeitgeberverband NRW

Berufswahl als Entscheidung. Zur Entwicklung eines Modells von der Berufswahl

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Einleitung

Die Berufswahl, insbesondere die primäre Berufswahl, d. h. nach Bußhoff (1995, 9) die Wahl beim Übergang von der Schule und dem Erreichen einer Erstposition im Beschäftigungssystem, kann als „Schicksalswahl“ (Achenbach 1992, 4) bezeichnet werden, denn sie ist von ausschlaggebenden und konsequenzenreichem Gewicht. Sie stiftet (immer noch) gesellschaftliche Identität, wenngleich sie lediglich einer Erstqualifikation entspricht und bezüglich der Erwerbsbiographie von mehreren Berufswechseln auszugehen ist.

Die Entscheidungsfindung als zielgerichtetes Verhalten ist kognitives Problemlösen, das die Lebensgeschichte verändert und Ausdruck von Identitätsbewährung ist. Deshalb gilt es zunächst, die Elemente des mehrdimensionalen Entscheidungsprozesses auszuweisen, das Entscheidungsproblem zu charakterisieren und die Entscheidung als Handlungsschluss und (u. U. auch als Belastungssituation) auszuweisen. Je nach Einschätzung des Entscheidungskonfliktes sind verschiedene Entscheidungsstrategien zu differenzieren.

Bei der Betrachtung des Wahlverhaltens i. e. S. wird aber schnell deutlich, dass es Unterschiede hinsichtlich der Wahl der Perspektive, der Auswahl der die Berufswahl bestimmenden Komponenten und der terminologischen Auslegungen in den einzelnen, zahlreich vorliegenden Berufswahl- und Berufsentwicklungskonzepten gibt. Hinsichtlich des Anspruches (vgl. BIBB 2006, 18), Berufswahlberatende bieten wissenschaftlich fundierte, systematische und strukturierte Berufsorientierung an, leisten die verschiedenen Konzepte zur Berufswahl Unterstützung in der (deutlicheren) Wahrnehmung subjektiver und objektiver Realitäten. Nach Sickendiek (2007, 53f.) helfen sie, Situationen und Sachverhalte zu erklären und Lösungsmöglichkeiten zu finden. Gleichsam eröffnen sie Diskussionsansätze für Sachfragen sowie Reflexions- und Bearbeitungsansätze. Die Auseinandersetzung Beratender mit der Vielzahl an Konzepten zur Berufswahl erscheint praktisch nicht realisierbar. Folglich ist es anstrebenswert, nach der Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten zur Berufswahl und deren Systematisierung, ein Modell in Form einer überschaubaren Abbildung bei großer Komplexität des Beziehungsgefüges zu entwickeln, was dieser Beitrag versucht. Das Ziel der (pädagogisch unterstützten) Berufsorientierung, „den gesamten Berufsorientierungsprozess so zu fördern, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die Jugendlichen die einzelnen Teilaufgaben des Berufswahlprozesses ... vollständig und vor allem rechtzeitig bearbeiten und lösen“ (Brüggemann/Rahn 2013, 16) wird erreichbar, denn die Abbildung des gesamten Prozesses macht diesen für alle Beteiligten transparenter. Die „Person-im-Kontext“ – lt. Hirschi (2013, 31) ein zentraler Ansatz moderner Konzepte zur Berufswahl – kann in den Blick genommen werden, denn das Modell ermöglicht beispielweise zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme von Berufswahlberatung die individuelle Verortung im Prozess der Berufsorientierung und das Management entsprechender Förderangebote. Es trägt also maßgeblich dazu bei, Strukturierungsprobleme zu lösen.

1 Entscheidungsaufgabe Berufswahl

Bezogen auf die Berufswahl ist zu konstatieren, „dass es sich um einen (begründeten) Prozess handelt, an dessen Ende immer eine Entscheidung steht, die aus der Wahl zwischen Alternativen hervorgeht und Grundlage für nachfolgendes Verhalten ist“ (Forßbohm 2010, 3). Das Finden der Entscheidung ist zielgerichtetes kognitives Problemlösen, auch wenn es von den Wählenden nicht als Problem wahrgenommen wird. Wesentliche Elemente in diesem persönlichen Entscheidungsprozess sind (1) ein defizitärer Ausgangszustand, (2) ein angestrebter Zielzustand und (3) noch zu entwickelnde oder bereits bekannte Operatoren zur Transformation des Ausgangszustandes in den Endzustand (vgl. Hellberg 2005, 33).

Eine Berufswahlentscheidung – Entscheidung als Handlungsentschluss – zu treffen, verläuft nach dem Stufenmodell von Beck (Abbildung 1) in seiner einfachsten Form in vier Phasen von (1) der Auslösung des Entscheidungsprozesses über (2) die Reflexion der Möglichkeiten und (3) die Reflexion der Kriterien zu (4) der Anwendung der Kriterien auf die Möglichkeiten.

Abbildung 1: Die Stufen des entscheidungsbezogenen Berufswahlprozesses (Beck 1976, 107)Abbildung 1: Die Stufen des entscheidungsbezogenen Berufswahlprozesses (Beck 1976, 107)

Dem folgende Modelle erweitern (vgl. Janis/Mann 1977, die die Phasen „Einschätzung der Herausforderung“, „Suche und Sichtung von Möglichkeiten“, „Abwägen der Möglichkeiten“, „Entscheidung und Planung der Realisierung“ und „Festhalten an der Entscheidung“ unterscheiden) bzw. fassen zusammen (vgl. Gati/Asher 2001, die in ihrem PIC-Ansatz die Phasen „Vorauswahl“, „Vertiefte Exploration“ und „Wahl“ unterscheiden), bilden aber immer die Komplexität der Entscheidung ab.

Das Problemlösen ist dann schwierig, „wenn das Problem mehrdimensional ist, wenn die benötigten bzw. zu berücksichtigenden Informationen umfangreich und widersprüchlich sind, wenn Unwissenheit über die zu erwartenden Folgen besteht, wenn der Entscheider sich über seine Ziele und Präferenzen unklar ist“ (Zimolong/Rohrmann 1990, 625). Die Berufswahl ist ein komplexes Entscheidungsproblem, folgt man der Charakterisierung von Orasanu/Connoly (1993, angeführt in Hellberg 2005, 58f.):

  • „Im Zuge der Berufswahl stehen die Wählenden unter einem gewissen Zeitdruck, denn die gesellschaftliche Erwartung von einer nahtlos an die Schulzeit anschließende Berufswahl ist existent.
  • Berufswahl findet in einer unbeständigen dynamischen Umwelt statt, d. h. Informationen, über die die Wählenden verfügen, sind ständigen Veränderungen unterworfen, mehrdeutig und folglich unvollständig.
  • Wechselnde Bedingungen führen auch zu wechselnden oder in Konkurrenz zueinander stehenden Zielen – ohnehin ein komplexes Phänomen mit zumeist unklaren Zielsetzungen – die zudem schlecht definiert werden können.
  • Dies wiederum verursacht ein zaghaftes, kleinschrittiges Herantasten bei dem auf Feedback-Schleifen zurückgegriffen wird.
  • Hinzu kommt, dass Vorgaben von Organisationen bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden müssen.
  • Die realite Berufswahl ist eine schlecht strukturierte Problemsituation, da es verschiedene Möglichkeiten der Problemlösung gibt.
  • Darüber hinaus sind auch zahlreiche andere Personen an der Entscheidungsfindung und damit auch an der Berufswahl beteiligt.
  • Und die letztendlich getroffene Entscheidung zeugt von hoher Beteiligung, denn der Ausgang betrifft die Entscheidenden in hohe Maße selbst.“ (Forßbohm 2010, 6f.)

Die Berufswahl ist aber immer auch durch zufällige Ereignisse, wie die Happenstance Learning Theory (Krumboltz 2009) aufzuzeigen vermag, beeinflusst.

Weiterhin gilt, dass von einer Orientierung der Wählenden an den Grundsätzen rationalen Handelns, vergleichbar dem homo oeconomicus, der unbeeinflusst von Emotionen und unbeschränkt in der Informationsaufnahme, -speicherung und hinsichtlich der Kapazitäten der Informationsverarbeitung ist, nicht auszugehen ist. Präskriptive Modelle der Berufswahl und die denen übergeordneten normativen Modelle (vgl. Schreiber 2005, 6) berücksichtigen also die realite Berufswahl nur unzureichend, denn Wählende sind „zum einen unvollkommen über die objektiv offen stehenden beruflichen Alternativen und ihrer Konsequenzen informiert, verfügen zum anderen nicht über eine klar strukturierte Rangfolge ihrer Ziele und auch nicht über ausgefeilte Entscheidungsregeln (vgl. Bußhoff 1992, 4), und sie sind nicht erhaben über die Verzerrung oder Ausblendung objektiver Gegebenheiten (vgl. Steffens 1975, 46ff.) in dieser Problemsituation“ (Forßbohm 2010, 8f.). Berufswahl ist immer auch ein Dilemma, denn der Abwägungsprozess und die Wahl einer Alternative bedeuteten gleichermaßen den Verzicht einer anderen Alternative. So wird die Entscheidungsfindung zu einem Entscheidungskonflikt, zu einer Belastungssituation. Janis/Mann (1977, zitiert in Brown 1994b, 433f.) formulieren folgende Grundthesen zum Zusammenhang von Entscheidungskonflikten und Stressgefühlen:

  • „Das Ausmaß an Streß, der aus einem Entscheidungskonflikt resultiert ist abhängig von den individuellen Zielen, den mit diesen Zielen assoziierten Bedürfnissen und der Erwartung, daß bestimmte Bedürfnisse infolge der Entscheidung nicht befriedigt werden. Je größer die Erwartung ist, daß Bedürfnisse nicht erfüllt werden, desto größer ist der Streß.
  • Bedrohungen und/oder Möglichkeiten beschleunigen die Entscheidung. Der Entscheidungsstreß hängt damit zusammen, wie stark die Person sich an ihre derzeitige Handlungsweise gebunden fühlt, wenn Bedrohungen oder Möglichkeiten auftauchen.
  • Wenn alle tragfähigen Lösungen des Problems und der Bedrohung als schwerwiegende Risiken empfunden werden, verliert die Person die Hoffnung auf eine akzeptable Lösung und geht zur defensiven Vermeidung über. Charakteristisch für die defensive Vermeidung ist, daß die Person Gewinne und Verluste, die mit einzelnen Alternativen verbunden sind, übertreibt bzw. untertreibt, daß sie zaudert, sich von anderen abhängig macht und Informationen selektiv verarbeitet.
  • Wenn ein Entscheidungskonflikt zu mäßigem Streß führt, unternimmt die Person eine wachsame Anstrengung, um eine verfügbare Lösung zu finden oder zu bewerten, solange die Hoffnung besteht, daß eine vernünftige Lösung möglich ist.“

Die Einschätzung des Entscheidungskonfliktes bestimmt maßgeblich die Anwendung von Strategien und Methoden, den Konflikt zu lösen, die Aufgabe Berufswahl zu bewältigen. Diese thematisieren deskriptive Modelle, indem sie psychologische Prozesse durch Entscheidungsstile (weiterführend zu Entscheidungsstilen allgemein Schreiber 2005, 14ff.) abbilden. Zu einer stabilen Entscheidung führt wachsames (vigilantes) Verhalten, der entscheidungsstrategische Prototyp, wobei die Stressgefühle mittelstark ausgeprägt sind, die Suche nach unterstützenden und diskrepanten Informationen mit großem Interesse erfolgt und relevante sowie irrelevante Informationen sorgfältig unterschieden werden (vgl. Bußhoff 1999, 13).

Und dennoch existiert im Umgang mit Entscheidungskonflikten kein generelles Lösungsmuster, denn Wählende können neben dem vigilanten Verhalten ebenso in anderen Problemlösemodi – wie etwa der konfliktfreien Fortführung des Verhaltens, der relativ konfliktfreien Verhaltensänderung, dem defensiven Ausweichverhalten oder dem hypervigilanten Verhalten – agieren, und das unter Umständen in einem Entscheidungsprozess (vgl. Bußhoff 1999, 13).

Hinzu kommt die Vielzahl an nicht zeit- und situationsüberdauernden Entscheidungsregeln, nach denen eine Festlegung, d. h. die konkrete (optimale bzw. befriedigende) Entscheidung für eine Alternative, erfolgt. Im Wesentlichen sind nach Schreiber (2005, 18ff.) die Erwartungsnutzen-Regel, die Eliminations-Regel und die Satisfacing-Regel.

  • Erwartungsnutzen-Regel
    Berufswahl ist ein Prozess, in dem eine Analyse jeder Möglichkeit anhand eines Kriterienkataloges erfolgt, die für jede Möglichkeit einen Nutzenwert ermittelt. Die Möglichkeit mit dem höchsten Nutzenwert und der höchsten Realisierungswahrscheinlichkeit wird letztlich gewählt und führt zu einer optimalen Entscheidung.
  • Eliminations-Regel
    Gleichzeitig werden alle Entscheidungsmöglichkeiten in Betracht gezogen und auf der Basis eines Kriteriums – geordnet nach Wichtigkeit – bewertet. Wird ein Kriterium vor dem Hintergrund einer bestimmten akzeptablen Toleranzbreite nicht erfüllt, führt dies direkt zum Ausschluss. Berufswahl wird zu einem Prozess zunehmender Eingrenzung mit dem Ziel, eine optimale Entscheidung zu treffen.
  • Satisficing-Regel
    Berufswahl ist eine befriedigende Entscheidung, bei der nach der Bewertung die Möglichkeit gewählt wird, die in Bezug auf alle wichtigen Kriterien zufriedenstellende Werte erreichen konnte.

Die dargestellten Entscheidungsregeln lassen sich, in Anlehnung an Brown (1994b, 449ff.), darüber hinaus über die Zuordnung zum kriterien- bzw. alternativenbezogenen Vorgehen charakterisieren. So wird bei der Eliminations-Regel beispielsweise kriterienbezogen vorgegangen, indem zunächst alle Möglichkeiten hinsichtlich eines Kriteriums analysiert werden, um dann eine Analyse eines nächsten Kriteriums vorzunehmen usw. Immer vor dem Hintergrund, sofort eine Entscheidung zu treffen, ob die Möglichkeit weiterhin in Betracht gezogen oder verworfen wird. Anders bei der Erwartungsnutzen- und Satisficing-Regel, bei denen alternativenbezogen vorgegangen wird und die Möglichkeiten umfassend (auf der Basis aller Kriterien) analysiert und verglichen werden. So können Nachteile einer Möglichkeit hinsichtlich eines Kriteriums beispielsweise durch eine positive Bewertung eines anderen Kriteriums „korrigiert“ werden, was einem alternativenbezogenen-kompensatorischen Vorgehen entspricht und in verschiedenen Konzepten zur Berufswahl Niederschlag findet. (vgl. Schreiber 2005, 21).

2 Konzepte zur Berufswahl – Der Versuch einer Systematisierung

In der Auseinandersetzung mit Berufswahl als Entscheidungsaufgabe (Entscheidungsproblem und -konflikt) bedient sich die Berufswahlforschung in ihrer Vermittlung der Hilfe von Modellen und Theorien.

Modelle repräsentieren „ihre Originale in der Regel immer nur für bestimmte (erkennbare oder/und handelnde) Subjekte (die Modellbenutzer), und zwar innerhalb bestimmter Zeitspannen (der Originalrepräsentation) sowie unter Einschränkung auf bestimmte (gedankliche oder tatsächliche) Operationen“ (Stachowiak 1992, 219) und sind abgeleitet aus umfassenderen Theorien: Theorie als „Lehrgebäude, ohne die Rücksicht auf die Methode(n), mit denen es gewonnen wurde, oder auf seinen Gegenstand“ (Seiffert 1992, 368). Dennoch ist eine Angrenzung der verschiedenen Konzepte, die sich mit der Berufswahl auseinandersetzen, schwierig. Stachowiak (1973, 1) begründet das u. a.. mit der Wandlung im wissenschaftlichen Denken und der zunehmenden Neigung Forschender, „sogar Erkenntnisgebilde von der Qualität hochkomplexer erfahrungswissenschaftlicher Theorien als ‚Modelle’ aufzufassen oder sie zumindest kurzweg so zu nennen“. Und so wird Konzept als Schnittstelle oder Vorstufe zu einer Theorie favorisiert, weil es in seiner Verwendung unverfänglicher erscheint.

Im Folgenden werden mit dem Ziel der Systematisierung alle Modelle, Konzepte und Theorien zur Berufswahl den Kategorien „Ökonomisch orientierte Konzepte zur Berufswahl“, „Psychologisch orientierte Konzepte zur Berufswahl“ und „Soziologisch orientierte Konzepte zur Berufswahl“ zugeordnet. Dabei werden Konzepte in den Blick genommen, die die Erkenntnisse in einen (Wirkungszusammenhänge erfassenden und theoretischen) Bezugsrahmen einbinden, die Strukturen bestimmter Mechanismen aufzeigen, die kausale Beziehungsnetze abbilden und die zudem einen gegenwärtigen Einfluss, sowohl auf die Forschung als auch auf die (Beratungs-)Praxis, haben. Gleichsam ist dem Anspruch gerecht zu werden, klassische Konzepte, moderne Konzepte und neuere Entwicklungstendenzen aufzugreifen.

Zunächst ist aber Berufswahl – wie bereits herausgestellt – immer als eine Entscheidung auszuweisen. Somit ist jedes Berufswahlkonzept in dem vorliegenden Beitrag als entscheidungstheoretisches Konzept anzuerkennen. Auch dann, wenn die Konzepte nicht explizit abbilden, wie Wählende zu einer Entscheidung gelangen, und z. T. auch im Gegensatz zur einschlägigen Literatur (exemplarisch Seifert 1977, Kahl 1981, Bußhoff 1989, Beyer 1992, Brown 1994b), in der explizit entscheidungstheoretisch orientierte Konzepte neben Konzepten mit anderen Betrachtungsperspektiven dargestellt werden.

2.1 Ökonomisch orientierte Konzepte zur Berufswahl

Basierend auf der ökonomischen Entscheidungstheorie legen ökonomisch orientierte Konzepte zur Berufswahl den Schwerpunkt auf die Analyse des ökonomisch ausgerichteten, rationalen Entscheidungsprozesses (vgl. Seifert 1977, 240). Demnach ist anzunehmen, dass Individuen vorteilhafte Beschäftigungen hinsichtlich des Nettovorteils im Sinne des besten Lohn- und Gehaltsniveaus suchen und folglich persönliche ökonomische Interessen verfolgen. Weiterhin bezieht sich die ökonomische Entscheidungstheorie auf wirtschaftliche Konsequenzen des Wahl- und Entscheidungsverhaltens: Individuen wählen Beschäftigungsverhältnisse in von Arbeitskräftemangel geprägten Berufen, weil in diesen das Lohn- und Gehaltsniveau hoch ist. Und hier wird deutlich, dass die Annahmen des abstrakten, idealtypischen Modells nicht dem realen Berufswahlverhalten gerecht wird, wenn etwa die Berufswahl zu wenigen, von Nachfrageüberhang gekennzeichneten Berufen tendiert. So wählten 2011 71 % der Berufswählerinnen einen der 20 Berufe, die von weiblichen Jugendlichen am häufigsten ergriffen werden und immerhin noch 55 % der Berufswähler einen der 20 Berufe, die männliche Jugendliche am häufigsten ergreifen (vgl. Statistisches Bundesamt 2013, 24). Hinzu kommt, dass etwa individuelle Mobilitätshemmnisse (beispielsweise im Kontext milieuangemessener Berufswahl) und der Versuch, zukünftige Entwicklungen zu antizipieren die vollkommene Berufswahlfreiheit beeinflussen (vgl. Seifert 1977, 240f.; Hotchkiss/Borow 1994, 291f.). Letzteres thematisiert die Humankapitaltheorie, die davon ausgeht, dass Individuen Entscheidungen treffen, um maximale diskontierte Langzeiteinnahmen bei verschiedenen Präferenzen und Eignungen zu erzielen. Wirtschaftlicher Erfolg ist abhängig von der Kontinuität und der Dauer einer Berufsausübung, von der Steigerung der Entgeltraten mit zunehmender Arbeitsmarkterfahrung, von der Annahme, dass Entgelt ein Indikator für Qualität ist und von der Entlohnung entsprechend des Beitrages zur Produktion (vgl. Hotchkiss/Borow 1994, 292). Da aber z. B. die Qualität der Arbeit von weiteren Faktoren (Grad der Autorität, geographische Lage eines Arbeitsplatzes und Organisationsgröße) beeinflusst wird und sich die (nicht produktivitätsrelevante) Kategorie Geschlecht auf die Lohnbildung auswirkt, erscheint die Theorie kompensierender Lohndifferentiale Berufswahl realistischer erklären zu können. Ihr folgend verzichten Individuen bewusst auf Entlohnung, um individuell spezifische Arbeitsbedingungen schaffen zu können. So ist beispielsweise Familie und Erwerbstätigkeit vereinbar, wenn Teilzeitarbeit möglich ist und zusätzliche Sozialleistungen angeboten werden. Berufswahl wird zu einer bewussten, die persönliche Entwicklung und Entwicklungsabsichten berücksichtigenden Entscheidung in der beruflichen Laufbahn.

Mit der individuellen Persönlichkeitsstruktur und dem Einfluss dieser auf die Berufswahl setzen sich psychologisch orientierte Konzepte zur Berufswahl auseinander.

2.2 Psychologisch orientierte Konzepte zur Berufswahl

In diesen Konzepten ist Berufswahl als individuelle Aufgabe ausgewiesen, weil die Persönlichkeit und weniger ökonomische Faktoren zentral sind. Vor diesem Hintergrund sind (1) psychodynamisch, (2) persönlichkeitspsychologisch und (3) entwicklungspsychologisch orientierte Konzepte zu unterscheiden, wobei eine klare Trennung problematisch ist.

Psychodynamische Konzepte gehen davon aus, „dass in der Kindheit ausgeprägte und lang wirksame Antriebe, Motive und Bedürfnisse menschliches Verhalten steuern“ (Forßbohm 2010, 21) und beschäftigen sich mit diesen Bedürfnisstrukturen und der Befriedigung von Bedürfnissen. Die psychische Ausstattung entwickelt sich dabei in einer relativ kurzen Zeit, in der Regel in den ersten Lebensjahren (vgl. Crites 1969, zitiert in Beck 1976, 87), und sie ist sehr konstant und durchschlagend wirksam im Verhalten, sie ist den Individuen nicht bewusst, und sie wird nicht reflektiert. Folgt man Beyer (1992, 15), dann begegnen den Individuen bei Befriedigungshandlungen verschiedenste Umwelten, die ihrerseits wiederum – indem sie gestatten, verzögern oder verwehren – die Ausbildung der Bedürfnisstruktur beeinflussen. Im Kontext der Befriedigung des Bedürfnisses Berufsarbeit wird die Berufswahl zur Befriedigungshandlung, die durch individuelle Motiv- und Antriebskonstellationen beeinflusst wird und im Zentrum psychoanalytischer und bedürfnispsychologischer Konzepte steht.

Psychoanalytische Konzepte (Freud 1930; Moser 1963; Bordin 1963) setzen sich mit der schwer zugänglichen inneren Realität der Individuen und der Umsetzung sozialer Normen in diese auseinander und ermöglichen somit, „Strukturen der Vergesellschaftung im Subjekt“ (Lorenzer 1972, 13) nachzuweisen. Bedeutsam im Zuge der Auseinandersetzung mit Berufswahl wurden nach Scheller (1976, 14) die Ausführungen von Bordin (weiterführend u. a.. Forßbohm 2010, 23ff.), im Wesentlichen aus der Zusammenarbeit mit Nachmann und Segal entstanden und sich als Ergänzung zu anderen Konzepten verstehend.

Bedürfnispsychologische Konzepte zur Berufswahl oder „Need-Drive-Ansätze“ (Vroom 1964; Roe 1956) gehen davon aus, dass Individuen Bedürfnisse (needs) eigen sind, die in Antriebsenergie (drive) transformiert werden, wobei eine Hinwendung zu Personen und/oder Aktivitäten erfolgt, von denen Bedürfnisbefriedigung zu erwarten ist (vgl. Forßbohm 2010, 25). Beruf wird zum Mittel der Bedürfnisbefriedigung und Berufswahl als Entscheidungsprozess basiert u. U. doch auf Motiven, die sich nicht dem Bewusstsein entziehen, wenn Berufe in Übereinstimmung von Motiven und Fähigkeitsanforderungen einzelner Berufe gewählt werden. Dies wiederum ist Gegenstand persönlichkeitspsychologisch orientierter Konzepte.

Berufswahl ist in persönlichkeitspsychologisch orientierten Konzepten zur Berufswahl die Zuordnung von Individuen zu einem Beruf. Dabei sind wahrgenommene Persönlichkeitsmerkmale Bewertungskriterien und Berufe Entscheidungsalternativen, was bei der Analyse des übergeordneten differentialspsychologischen Ansatzes („Trait-and-Factor“-Ansatz) und der an dessen Tradition anschließenden Kongruenztheorie von Holland (u. a.. 1973), eines der einflussreichsten Berufswahlkonzepte, deutlich wird.

Bedingungen für die Berufswahl sind nach Parsons (1909, 5) und Brown/Brooks (1994, 3)

  • „eine klare Vorstellung von sich selbst, seinen Eignungen, Fähigkeiten, Interessen, Ambitionen, Ressourcen, persönlichen Grenzen und deren Ursachen;
  • eine genaue Kenntnis der Voraussetzungen und Bedingungen für den beruflichen Erfolg, der Vor- und Nachteile, der Entlohnungen, Möglichkeiten und Aussichten in verschiedenen Berufsrichtungen;
  • gründliches Nachdenken über das Verhältnis dieser beiden Tatsachengruppen und wirklich vernünftige Überlegungen“.

Demnach sind für das „Matching-Modell“ bzw. das „matching of men to jobs“ (Bußhoff 1989, 33) in Anlehnung an Miller (1964), Klein/Wiener (1977) und Crites (1981) folgende Annahmen (Forßbohm 2010, 34) zu konstatieren:

  • „Jedes Individuum verfügt über ein spezifisches Muster hinsichtlich beruflich relevanter Fähigkeiten, Interessen und Wertvorstellungen, die valide und reliabel gemessen werden können und die optimale Eignung für einen Beruf gewährleisten.
  • Jeder Beruf kennzeichnet sich durch typische Anforderungsmuster, d. h. ein spezifisches pattern an Persönlichkeitsmerkmalen, und Befriedigungsmöglichkeiten aus.
  • Bei der Berufswahl handelt es sich um einen unkomplizierten, rationalen Prozess, da die Zuordnung von persönlichkeits- und berufsspezifischen Merkmalen grundsätzlich möglich ist. Lediglich Williamson (1939) räumt ein, dass emotionale Instabilität eine Ursache für Unsicherheiten bei der Berufswahl darstellt (vgl. Brown 1994a, 25).
  • Berufliche Anpassung, d. h. individueller Ausbildungs- und Berufserfolg und berufliche Zufriedenheit, werden wesentlich durch den Grad der Übereinstimmung zwischen individuellen Eignungsmerkmalen und beruflichen Eignungsanforderungen bestimmt.“

Werden nun entwicklungspsychologisch Vorstellungen und Konzepte über Sozialisation und Lernprozesse in die persönlichkeitspsychologisch orientierten Konzepte zur Berufswahl integriert, können Schwächen der Kongruenztheorie (weiterführend Forßbohm 2010, 44ff.) behoben werden.

In entwicklungspsychologisch orientierten Konzepten zur Berufswahl wird Berufswahl nicht als einmalig, punktuell und statisch betrachtet, die Berufswahl ist vielmehr als eine längerfristige Entwicklung – von Rollenspielen und träumerischen Berufsvorstellungen im Kindesalter über einen Reifungsprozess, der in das Berufsziel mündet – und als gestufte Folge von Entscheidungen anzuerkennen. „Die Berufswahl ist dabei eine Entscheidungsaufgabe des Jugendalters und eine Phase im lebenslangen Prozess der vorberuflichen, beruflichen und nachberuflichen Entwicklung“ (Forßbohm 2010, 46), mit der sich insbesondere Ginzberg et al. (1951) und Super (u. a.. 1957) auseinandersetzten. Diese Konzepte berücksichtigen – anders als soziologisch orientierte Konzepte zur Berufswahl – Umwelteinflüsse nur in geringem Umfang.

2.3 Soziologisch orientierte Konzepte zur Berufswahl

Scharmann (1965, 14) folgend sind Berufswahl und Berufsfindung in erster Linie Produkte der sozialen Umwelt, wenn sie auch als subjektive Entscheidung erlebt werden. In soziologisch orientierten Konzepten zur Berufswahl treten die Wählenden (und deren individuelle Entscheidungen) in den Hintergrund und Berufswahl hat den Charakter von Zuweisung. Nach Daheim (1970), der ebenso wie Beck/Brater/Wegener (1979) den allokationstheoretischen Ansatz vertritt, ist folgender Bezugsrahmen für die primäre Berufswahl auszuweisen:

  • Festgelegt wird der Zugang zu bestimmten Berufspositionen durch die stark familiär geprägte, quantitativ und qualitativ verengend wirkende Entscheidung für eine bestimmte Schulbildung.
  • Die Entscheidung für eine Berufsposition ist dann in der zweiten Stufe durch verschiedene Agenten (Lehrende, Beratende und Gleichaltrige) beeinflusst und wesentlich spezieller.

In der Weiterentwicklung des Modells heben Beck/Brater/Wegener (1979) hervor, dass dem Berufsfindungsprozess eine Tendenz zur Milieuanpassung obliegt und soziale Barrieren zwischen Berufen sehr präsent sind. „Die Wahrscheinlichkeit, einen Ausbildungsvertrag abzuschließen, steigt mit Zunahme der Übereinstimmung von milieutypischen Basisfähigkeiten mit berufstypischen Basisfähigkeiten“ (Forßbohm 2010, 71) und stellt keine Einschränkung der Wahlfreiheit dar. Vielmehr ist es ein „Schutzmechanismus vor Konflikten bei einer stärkeren Individualisierung der Berufsinteressen“ (ebd., 72) im Sinne einer Überbrückung der kürzesten Distanz zwischen Milieu und Beruf (vgl. Heinz et al. 1987, 250) und hat seine Ursachen in innerfamiliären Interaktionen.

Es handelt sich – Sozialisationstheorien (weiterführend Forßbohm 2010, 72ff.) folgend – bei der Berufswahl um einen Lernprozess, da er auf soziale Interaktionen, die für die Ausbildung bestimmter Handlungskompetenzen und bestimmter Verhaltensweisen verantwortlich sind, zurückzuführen ist. Wird im Wahlprozess eine Handlungsalternative umgesetzt, initiiert das den Erwerb neuer Lernerfahrungen, die dann wiederum das Verhalten in zukünftigen Entscheidungsprozessen beeinflussen. „Also setzt die Berufswahl als Entscheidungsaufgabe einerseits Lernprozesse voraus, mündet andererseits in Lernprozesse und ist darüber hinaus von diesen durchsetzt, wenn beispielsweise Informationsaktivitäten eingeschaltet werden“ (ebd., 72).

In der Theorie des sozialen Lernens von beruflichen Entscheidungsprozessen nach Krumboltz/Mitchell/Jones (1976) streben intelligente, problemlösende Individuen nach dem Verstehen der Verstärkungsbedingungen der individuellen Umwelt, um diese im Sinne einer Anpassung an individuelle Absichten und Bedürfnisse verändern zu können. Ausgangspunkt sind vier Faktorengruppen – Genetische Ausstattung und besondere Begabungen, Umweltbedingungen und -ereignisse, Lernerfahrungen (instrumentell, assoziativ und/oder vikariierend), Aufgaben- und Problemlösefähigkeiten – die im Zusammenspiel Realitäten ausdrückende Verallgemeinerungen ermöglichen. Dies sind zum einen generalisierte Weltanschauungen und generalisierte Selbstbeobachtungen, insgeheim oder offen geäußert, mehr oder weniger zutreffend, immer aber Ergebnisse früherer Lernerfahrungen und Ergebnisse neuer Lernerfahrungen beeinflussend (vgl. Forßbohm 2010, 101). Und werden die folgenden Problemlösefähigkeiten (Mitchell/Krumboltz 1994, 173f.) betont, die positiv verstärkt eher erlernt werden, und mit den eingangs formulierten Phasen vigilanter Entscheidungen übereinstimmen, wird Berufswahl als Identitätsbewährung möglich:

  1. „das Erkennen einer wichtigen Entscheidungssituation,
  2. die praktische und realistische Definition einer Entscheidung oder Aufgabe,
  3. die Untersuchung und präzise Einschätzung generalisierter Selbstbeobachtungen und Weltanschauungen,
  4. das in Betracht ziehen eines breiten Spektrums an Alternativen,
  5. die Sammlung notwendiger Informationen über die Alternativen,
  6. die Entscheidung, welche Informationsquellen am verlässlichsten, genauesten und wichtigsten sind und
  7. die Fähigkeit zur Planung und Durchführung der sechsstufigen Abfolge.“

3 Berufswahl als Identitätsbewährung

Ganzheitlich betrachtet zielt Berufswahl als Übergang nach Bußhoff auf die Erhaltung und Entfaltung (Bewährung) der Identität in beruflicher Dimension ab und bedeutet die Integration neuer Identitätsmerkmale oder Teilidentitäten und die wechselseitige Abstimmung dieser Teilidentitäten (vgl. Bußhoff 1992, 7). Identität entsteht „in einem dynamischen Prozess aus der Erfahrung des Individuums in einer bestimmten Umwelt und mit den verschiedenen Interaktionspartnern/-innen“ (Forßbohm 2010, 121) und kann – da aus verschiedenen Teilidentitäten bestehend – nur als Plural verstanden werden. So wird im Rahmenmodell der zur Erklärung der Berufswahl nach Bußhoff (1989, 57) deutlich, dass Berufswahl als Identitätsbewährung ein Entwicklungsprozess ist, dessen innere Dynamik sich im Zusammenspiel von Reifungsprozessen und Lernerfahrungen begründet. Grundlage war nach Seifert (1977, 226) die „informationstheoretisch-kybernetische Modellvorstellung der Berufswahl“ von Ries (1970), einem Konzept, das die Berufswahl als sozialen Integrationsprozess verstanden wissen will, in dem das Individuum (allerdings) als black box in Erscheinung tritt. Bußhoff vermag in seinen Ausführungen – für Beyer (1992, 83) bei der Betrachtung der Berufswahl unerlässlich – kognitive Prozesse, psychische Verarbeitungsmechanismen und interaktive Beziehungen der Umwelt mit dem individuell kognitiven Bezugsrahmen herzustellen und diese bei großer Komplexität des Beziehungsgefüges überschaubar abzubilden. Folglich eignet es sich ausgesprochen gut als Grundlage für die eigene Modellbildung, d. h. die Erzeugung geordneter Komplexität durch Verringerung von Komplexität, in dem Einflussfaktoren auf die Berufswahl nicht isoliert betrachtet werden.

Also gilt es zunächst, dem Reduktionismus zu folgen und mithilfe der Analyse den Berufswahlprozess – um ihn verstehen, klassifizieren und bewerten zu können – zu zerlegen. Wobei die einzelnen Einheiten als Teile eines nächsthöheren Ganzen nicht überbetont werden, sondern vielmehr der Kompensation und Neutralisation bedürfen. Dies führt, Patzak (1982, 6f.) folgend, zum Expansionismus: „Jede Einheit besitzt Eigenschaften, wodurch das Verhalten des Ganzen zwar beeinflußt wird, die Eigenschaften des Ganzen läßt sich jedoch nur aus der Wechselwirkung der in ihr enthaltenen Einheiten erklären. Darüber hinaus können manche Komponenteneigenschaften erst durch die Existenz der im System befindlichen weiteren Komponenten zur Wirkung kommen. Die Synthese als kreative Methode des funktionsorientierten Zusammensetzens ... von Betrachtungseinheiten gewinnt hierdurch an Bedeutung.“ Und so integriert das Modell der Berufswahl als Entscheidung (Abbildung 2), in dem die Stufen des entscheidungsbezogenen Berufswahlprozesse nach Beck (Abbildung 1) erkennbar sind, sowohl Erkenntnisse, die aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten zur Berufswahl resultieren (vgl. Forßbohm 2010), als auch das Modell von der Berufswahl als Identitätsbewährung nach Bußhoff (1989).

Abbildung 2: Berufswahl als Entscheidung (Forßbohm 2010, 124)Abbildung 2: Berufswahl als Entscheidung (Forßbohm 2010, 124)

Das Individuum mit seiner Persönlichkeitsstruktur – in Anlehnung an Bußhoff (1998, 63ff.) (a) selbstbezogene, (b) umweltbezogene und (c) methodische Dispositionen umfassend (Abbildung 3) – steht im Zentrum der Berufswahl.

Abbildung 3: Das Individuum mit seiner Persönlichkeitsstruktur (Forßbohm 2010, 125)Abbildung 3: Das Individuum mit seiner Persönlichkeitsstruktur (Forßbohm 2010, 125)

  1. Selbstbezogene Dispositionen sind das Selbstkonzept – sowohl real als auch ideal und normativ – als Summe der Vorstellungen der Individuen über sich, die Selbstwertorientierung, selbstbezogene Motive und Gefühlsdispositionen.
  2. Umweltbezogene Dispositionen umfassen Umweltkonzepte, d. h. „Vorstellungen, in denen sich dem einzelnen die bisher erfahrene Umwelt (realiter oder symbolisch vermittelt) darstellt“ (Bußhoff 1998, 66), umweltbezogene Einstellungen, Gefühlsdispositionen im Sinne der Bereitschaft zu bestimmten Emotionen und Motive.
  3. Methodische Dispositionen – sowohl die routinierte Anwendung einfacher Verhaltensschemata als auch komplexe Handlungsstrategien –sind erlernte Verhaltensbereitschaften, die die Bewältigung der Entscheidungsaufgabe maßgeblich beeinflussen. Insbesondere wenn vollständige Lösungsprogramme und methodische Problemlösungselemente (z. B. das Setzen von Zielen, das Entwickeln und das Auswählen von Alternativen usw.) anzupassen und ggf. weiterzuentwickeln sind.

Ausgangspunkt der Berufswahl ist ein ausbalanciertes Personen-Umwelt-Verhältnis, in dem das Individuum – sich in der Phase der Schulbildung befindend – in seinen Dispositionen nicht in Frage gestellt wird und die (erlebte) Umwelt keinen gravierenden Veränderungen unterliegt. Bußhoff (vgl. 1995, 4), und dem folgt die Autorin, geht von einem funktionierenden Prozess der Selbst- und Umwelterfahrung aus.

Rückt der Schulabschluss näher, fordert die Umwelt Individuen heraus, eine Berufsrolle zu übernehmen, stellt (z. T. verrechtlichte) Entwicklungserwartungen. Die Umwelt wirkt sich – indem sie gestaltet, verwehrt oder verzögert – auf die Ausbildung der individuellen Persönlichkeitsstruktur aus: der Selbsterfahrungskreis wird durch Veränderungen der Umwelt unterbrochen, Identität wird zur Aufgabe und verlangt ein hohes Maß an Flexibilität bei der Entscheidungsfindung in einer multiattributiven und von Unsicherheit gekennzeichneten Situation (vgl. Forßbohm 2010, 127f.).

Folglich ist die Umwelt, und insbesondere die soziale Umwelt, ein zentrales Element, betrachtet man Berufswahl als Identitätsbewährung. Die Lebenswelt wird bedeutsam, in der die Wählenden weniger nach weittragenden Zielstellungen und ohne sich an langfristigen Handlungsfolgen orientierend überwiegend pragmatisch denken: „Menschen finden sich in Verhältnissen, in Erfahrungen der räumlichen, zeitlichen und sozialen Strukturiertheit, sie müssen mit vielfältigen, komplexen Alltagsaufgaben zu Rande kommen; gesichert in oft nicht weiter hinterfragten Typisierungen und Routinen agieren sie pragmatisch, also nicht primär prinzipien- oder analyseorientiert, sondern in der Intention, die Situation zu bewältigen.“ (Thiersch 2007, 700). Dies auch, weil u. U. der weittragenden Zielstellung ein aus materiellen oder kulturellen Bedingungen resultierender Handlungsdruck gegenübersteht und darüber hinaus Alltagstheorien der Wählenden existent sind. „In unseren Alltagstheorien verbinden wir unsere Werte und Bedeutungszuschreibungen, eigene und von anderen übernommene Erfahrungen sowie unsystematisches Wissen zu bestimmten Vorstellungen darüber, wie die Welt ... zu erklären ist, nach welchen Regeln sie funktioniert ... und woran man das eigene Handeln am besten ausrichten sollte“ (Sickendiek 2007, 81). Im Sinne einer Neuabstimmung der verschiedenen Lebensbereiche ist die Grundlage für eine nachhaltige Lösung, dass die im Berufswahlprozess getroffene Entscheidung in die Lebenswelt integrierbar ist, sich als tauglich erweist.

Mit Bewusstwerden des Spielraumes alternativer Handlungszwänge wird eine biographische Aufgabe initiiert, die mit einer Entscheidung schließt, die in der Regel einmal getroffen wird und folgenreich ist. „In einer komplexen und pluralen Gesellschaft bedarf dies einiger Aufmerksamkeit und bestimmter Vorkehrungen, da dem Identitätsprozess die Grundlage entgleitet, eingeregelte Identitätsstandards untauglich werden und ein Anschlussstatus noch nicht gefunden ist“ (Forßbohm 2010, 129). Das ausbalancierte Personen-Umwelt-Verhältnis wird zu einer Personen-Umwelt-Diskrepanz. Dies verlangt es, den veränderten Umweltbedingungen das individuelle Dispositionsgefüge anzupassen und/oder die Umwelt – in Richtung selbstkonformer Rückmeldungen – zu beeinflussen und eröffnet (Phase I,1) den Zyklus vom Übergang als Identitätsbewährung (Abbildung 4).

Abbildung 4: Übergang als Identitätsbewährung (Bußhoff 1998, 24)Abbildung 4: Übergang als Identitätsbewährung (Bußhoff 1998, 24)

Die Aufgabe, den Identitätsprozess neu zu regeln, verläuft entweder undramatisch oder wird als Situation mit schmerzhaften Brüchen und/oder psychosozialen Spannungen wahrgenommen, insbesondere wenn von der Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft (vgl. Beck 1996, 42) auszugehen ist: gesellschaftliche Krisen, etwa ein deutlicher Überhang an Bewerbern/-innen, werden als individuelle Krisen in einer sich zeitdynamischen und sich entziehenden Zeit erlebt. Sich der Aufgabe entziehen zu wollen (Phase I,2) führt zu Umwegen und im ungünstigsten Fall in eine Sackgasse. Eine Befreiung aus dieser erfordert in der Regel hohe materielle und/oder psychische Aufwendungen. Unabhängig von der Erlebensebene gilt es, die Entscheidungsaufgabe – als Suche nach und Entscheidung für eine Zielidentität anzunehmen (Phase II,1). Dies bei einer nicht festgelegten Menge an Optionen, da u. U. Optionen zur Verfügung stehen, die (noch) nicht in Betracht gezogen wurden und wiederum jede Option konsequenzenreich in verschiedensten Dimensionen ist, die nicht (sicher) vorhersagbar sind (vgl. Forßbohm 2010, 130). Ausreichend Intensionsstärke und günstige Gelegenheiten vorausgesetzt, setzen zumeist übergangslos Realisierungshandlungen zum Erwerb von Identitätsmerkmalen (Phase III) ein. Grundsätzlich ist nach Beck (1996, 41) in der westlichen Welt davon auszugehen, dass Individuen das „eigene Leben“ in die eigene Hand nehmen wollen und nach Autonomie streben. Die Normalbiographie wird zur Wahlbiographie und das Leben – dazu gehört eben auch die Berufswahl – zu Aktivität verdammt, wird zum experimentellen Leben (vgl. ebd., 42). In diesem ist es grundsätzlich möglich (wenn auch zunächst vorerst), eine angestrebte berufliche Identität zu erlangen, den Identitätszyklus zu schließen und den Identitätsprozess in einen entproblematisierten Verlauf (Phase IV) zu überführen.

Plausibel im Kontext der Realisierungshandlungen – selbstgesteuert oder durch Inanspruchnahme von Berufswahlberatung – zur Lösung der Entscheidungsaufgabe Berufswahl erscheint es, dass das individuelle Dispositionsgefüge an bestehende Strukturen der Umwelt, einem von Diversität gekennzeichneten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, angepasst wird. Berufswahl wird zum persönlichkeitspsychologisch orientiertem „matching of men to jobs“. In diesem leiten sich aus selbstbezogenen Dispositionen der Individuen die Entscheidungskriterien, aus umweltbezogenen Dispositionen die beruflichen Entscheidungsalternativen und aus methodischen Dispositionen die Entscheidungsstrategie (Entscheidungsstile und Entscheidungsregeln), die idealerweise wachsam (vigilant) ist, ab (vgl. Forßbohm 2010, 135).

Die Entscheidungsaufgabe i. e. S. ist in ihrer Ausrichtung ökonomisch orientiert, psychologisch orientiert oder soziologisch orientiert und mündet in der aus Überlegungen und unbewussten Handlungstendenzen resultierenden Handlungsabsicht. Damit einhergehend sind die Handlungsbereitschaft und der Handlungsplan, die den Entscheidungsprozess (zunächst) beenden. Die biographische Entscheidung ist Ausdruck von Identitätsbewährung, indem sie Strukturierungsprobleme löst.

Beim Auftreten von Nachentscheidungsproblemen im Zuge der Realisierungshandlungen, wird eine Entscheidung hinterfragt und bereits eingeleitete Handlungsketten unterbrochen (Phase II,2 im Zyklus vom Übergang als Identitätsbewährung, Abbildung 3). Dies führt – ebenso wie teilweise bzw. vollständig erfolglose Realisierungsbemühungen – den Identitätskonflikt fort. Der Identitätsprozess ist zumindest zeitweise zirkulär verlaufend, birgt aber auch die Gefahr einer Bruch- oder Zusammenbruchsbiographie (vgl. Beck 1996, 42). Biographie kann zum Risiko werden und verdeutlicht erneut, dass die Entscheidungsaufgabe Berufswahl in Anlehnung an Orasanu/Connoly sachlich, zeitlich und sozial komplex ist und Unterstützung in Form der Berufswahlberatung bzw. der Berufsorientierung im allgemeinbildenden Schulwesen bedarf. Dies betrifft nach Schudy (2008, 103f.) sowohl die subjektive Berufsorientierung (Anerkennung des Berufes bzw. der Arbeit als wichtiges Element im Lebensentwurf) als auch die Berufsorientierung von Bildungsinhalten und Unterrichtsmethoden (Ausrichten der Dimensionen des Unterrichtes auf Anforderung im Kontext Beruflicher Handlungskompetenz), die Berufsorientierung im Sinne von Berufswahlvorbereitung (Ausbilden von Kompetenzen zur Bewältigung der primären Berufswahl) und die Berufsorientierung im Sinne arbeitsweltbezogener Allgemeinbildung (Auseinandersetzen mit den Grundlagen der Arbeitswelt). Dabei sollte eine befriedigende Lösung – die die Fähigkeit, einen Berufswunsch benennen zu können, bei weitem übersteigt – zentraler Gegenstand aller Bemühungen sein. Denn das o. g. experimentelle Leben erfordert es, Unsicherheiten als Chance anzuerkennen, offen für verschiedene Möglichkeiten zu sein und unerwartete Gelegenheiten aktiv herbeizuführen, diese zu erkennen und zu nutzen (vgl. Hirschi 2013, 33).

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