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Channel: Ausgabe 27 (Dez. 2014) - bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik - online
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Aus Erfahrungen von Lehrkräften im Umgang mit dem Berufswahlpass lernen – Ergebnisse einer qualitativen Studie

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1 Einleitung

Berufsorientierung wird in allgemeinbildenden Schulen mehr Bedeutung denn je beigemessen. Man hat vielerorts erkannt, dass Jugendliche bereits recht früh mit berufsorientierenden Maßnahmen unterstützt werden müssen, damit ein Übergang in den Beruf mit Hilfe von Erfahrungswerten erfolgreich verlaufen kann. In der Schule kommen im berufsorientierenden Unterricht dazu verschiedene Instrumente zum Einsatz. Eines ist der Berufswahlpass, welcher in zahlreichen Bundesländern eingesetzt wird.

Der Berufswahlpass ist ein Print-Ordner, welcher zahlreiche Arbeitsblätter und Materialien zur Berufsorientierung für Schüler-/innen bereithält. Im Vordergrund bei der Arbeit mit dem Berufswahlpass steht die individuelle Berufsorientierung der Jugendlichen. Ziel ist es, mit dem Berufswahlpass eine begründete Berufsentscheidung am Ende der Schullaufbahn nachhaltig zu unterstützen. Durch seinen Portfolio-Charakter fördert er selbstorganisiertes und eigenverantwortliches Lernen. Der Berufswahlpass ist grundlegend als Selbstlerninstrument konzipiert. Gleichwohl liegt es in der Verantwortung von Lehrkräften, den Berufswahlpass in der Schule einzuführen und ihn sowohl konsequent als auch kontinuierlich im Unterricht zu verwenden.

Seit dem Jahr 2000/2001 ist der Berufswahlpass in seiner Print-Variante verfügbar – digitale Medien spielen jedoch bei der Arbeit mit ihm bisher nahezu keine Rolle. Dabei besitzen digitale Medien in berufsorientierenden Lehr- und Lernprozessen zahlreiche Potenziale (vgl. Staden/Howe 2013), die erst mit einer multimedialen Weiterentwicklung des Berufswahlpasses für die individuelle Berufsorientierung eingelöst werden können. Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Berufswahlpass-Online“ versucht dieses Themenfeld zu erschließen indem das Print-Portfolio zu einem digitalen, webbasierten Portfolio weiterentwickelt wird. In Kooperation mit der Bundearbeitsgemeinschaft Berufswahlpass, die seit mehreren Jahren für die inhaltliche und strukturelle Weiterentwicklung des Print-Produktes zuständig ist, wird im Institut Technik und Bildung der Universität Bremen die technische (Weiter-)Entwicklung und eine entsprechende didaktische Anpassung fokussiert sowie wissenschaftlich begleitet.

In den nachfolgenden Darstellungen werden zunächst der Berufswahlpass-Ordner als Ausgangsmaterial sowie das ihm zugrundeliegende Konzept thematisiert, um darauf aufbauend zu veranschaulichen, wie die Weiterentwicklung empirisch gestützt durchgeführt wird. Der Methode der leitfadengestützten Experteninterviews kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Deren Konzipierung, Durchführung und Auswertung werden in diesem Beitrag fokussiert. Anhand der Interviewergebnisse kann hergeleitet werden, welche Funktionen sowohl in didaktischer als auch in technischer Hinsicht für die Entwicklung des webbasierten Berufswahlpass-Online relevant sind. Abschließend lassen sich darauf aufbauend weitere Evaluationsschritte benennen.

2 Der Berufswahlpass als Print-Produkt

Der Berufswahlpass wird Schüler/-innen in der Regel ab der siebten Klassenstufe ausgehändigt. In einigen Bundesländern ist der Berufswahlpass curricular verpflichtend, in anderen wiederum entscheiden die Schulen eigenverantwortlich, ob sie den Berufswahlpass anschaffen möchten. Er geht in den Besitz der Jugendlichen über und wird fortan von ihnen geführt, bearbeitet und gegebenenfalls ergänzt. Der Berufswahlpass ist mit einer jährlichen Auflage von über 130.000 Stück das meist eingesetzte Medium für die berufliche Orientierung in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Pressemitteilung Bildungsketten 2014).

Durch den Berufswahlpass sollen die Lernenden während ihres Berufswahlprozesses begleitet, selbstgesteuertes Lernen unterstützt und alle am Prozess beteiligten Kräfte gebündelt werden (vgl. Döring 2004, 316). Die Bedeutung der Berufsorientierung in der Wahrnehmung der Schüler-/innen sowie der Lehrkräfte wird mit dem Berufswahlpass gestärkt (vgl. Lumpe/Senkspiel 2001, 125). Da im Berufswahlprozess „Anpassungshilfen erforderlich (sind), die dem einzelnen die Angleichung seiner subjektiven Wünsche an die objektiven Erfordernisse der Berufswelt erleichtern“ (Gmelch 2003, 8), stellt der Berufswahlpass zahlreiche Materialien bereit und kann als Anpassungshilfe bezeichnet werden. Ein wichtiger Bestandteil ist, dass die Schüler/-innen darüber informiert sind, welche Anlaufstellen unterstützend zur Verfügung stehen und welche Prozesse initiiert werden müssen, um erfolgreich einen Übergang in den Beruf zu gestalten. Bei der Bearbeitung des Berufswahlpasses ist darüber hinaus entscheidend, dass die eigene Lerngeschichte transparent wird (vgl. Lumpe 2002, 61).

Der Berufswahlpass stellt sich in seiner äußeren Form als ein DIN-A4-Ordner (Ringbuch) dar, der diverse Einlegeblätter und Kopiervorlagen in einem Register beherbergt. Der in vier Hauptteile, exklusive eines Einführungsteils, gegliederte Ordner ist inhaltlich und farblich klar differenziert, um für Schüler/-innen die Übersicht zu erleichtern. Nach intensiver Arbeit mit dem Berufswahlpass ist es durchaus möglich, dass dieser wesentlich mehr als die ursprünglich bei der Aushändigung vorhandenen Arbeitsblätter umfasst, da mehrere zusätzliche Kopien von Selbst- bzw. Fremdeinschätzungsbögen und anderen Blättern mit eingeheftet werden können. Eine klare Struktur ist aus diesem Grund unabdingbar und eine wertvolle Stütze für die Arbeitsorganisation der Schüler/-innen.

In der Einführung wird ein allgemeiner Einblick in die Struktur des Berufswahlpasses gegeben. Anhand einiger Praxisbeispiele und Übersichten wird den Schüler/-innen erörtert, wobei ihnen der Berufswahlpass behilflich ist. Außerdem wird in diesem Teil damit begonnen, den Ordner zu personalisieren. Schüler-/innen werden dazu aufgefordert, den Berufswahlpass als ihr persönliches Eigentum zu begreifen und ihre Daten (Name, Adresse, etc.) einzutragen.

Der Teil „Angebote zur Berufsorientierung“ enthält Informationen über das Schulkonzept zur Berufsorientierung, zu Angeboten von Unternehmen als Kooperationspartner und auch zu Angeboten der Arbeitsagentur. Hier erhalten sowohl die Schule, als auch andere Institutionen die Möglichkeit, ihre Konzepte zur Berufsorientierung zu präsentieren. Den Schüler/-innen werden hier die wichtigsten Bildungsangebote zur Berufsorientierung präsentiert. Es wird auch Wert darauf gelegt, mögliche Eigenaktivitäten zur Vorbereitung auf den Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt aufzuzeigen (vgl. ebd.). Hierzu zählen diverse Internet-Links zu Webseiten und zahlreiche Verweise auf Zeitschriften, die für Schüler/-innen in diesem Kontext konzipiert sind.

Im zweiten Teil „Mein Weg zur Berufswahl“ haben die Schüler/-innen die Möglichkeit, ihr persönliches Profil zu erstellen. Dabei wird vor allem auf eine differenzierte Stärken- und Fähigkeitsanalyse abgezielt und gleichzeitig die persönlichen Interessen sowie Ziele behandelt. Durch diese Reflexion der eigenen Stärken und der Festlegung des Selbstbildes kann ein persönliches Kompetenzprofil erstellt werden. Weitergehend erhalten die Schüler/-innen Unterstützung bei ihrer Lernplanung. Mit Hilfe von Übersichten, Planungsrastern, Checklisten und Hinweisen zur Organisation des Orientierungsprozesses  werden die Lernenden zu selbstgesteuertem Lernen angeregt (vgl. ebd.).

Der dritte Teil „Dokumentation“ stellt einen Rahmen für Schüler/-innen dar, in dem sie Lernergebnisse, Selbstbewertungen und Bescheinigungen sowie Zertifikate Dritter dokumentieren und hinterlegen können. Hier werden Berichte über Unterrichtsarbeiten, schulische und außerschulische Projekte zur Berufsorientierung festgehalten und zur Klärung der beruflichen Zielsetzungen herangezogen. Schüler/-innen beschreiben hier unter anderem auch die Kompetenzen, die sie dabei erworben haben. Das soll dabei helfen, den verantwortlichen Umgang mit Bescheinigungen, Zertifikaten und Dokumenten zu stärken. Dadurch, dass an dieser Stelle der individuelle Bildungsgang dokumentiert wird, können einzelne Blätter durchaus einer Bewerbung beigelegt werden (vgl. Lumpe/Senkspiel 2001, 127).

Im Teil „Hilfen zur Lebensplanung“ werden die Schüler-/innen mit Musterschreiben, mit Tipps zur Wohnungssuche, zum Umgang mit Geld, zum Abschluss von Versicherungen und zum Umgang mit Ämtern unterstützt.

3 Berufswahlpass-Online

Das zugrundeliegende Konzept des Berufswahlpasses, welches vor allem die Förderung von Selbstverantwortung, Eigenständigkeit, Reflexionsvermögen und darüber hinaus auf die Herausbildung von Orientierungskompetenzen fokussiert, wird durch den Portfolio-Charakter des Instruments unterstützt. Dass neben den Lernprodukten vor allem der Lernprozess in den Blick genommen wird, unterstreicht, dass der Berufswahlpasses als ein Entwicklungsportfolio bezeichnet werden kann (vgl. Häcker 2007; Häcker 2008). Bei der Weiterentwicklung des Berufswahlpasses hin zum Berufswahlpass-Online werden diese oben genannten Charakteristika nach wie vor als Leitidee verstanden. Diese wird in aufgegriffen und webbasierter Form angepasst. So folgt das Berufswahlpass-Online-Projekt der Argumentation von Fink (vgl. Fink 2010, 49), der den Begriff des elektronischen Portfolios gegenüber dem des papiergebundenen Portfolios abgrenzt. Elektronische Portfolios sind demnach keine exakten Abbilder von papiergebundenen Fassungen, sondern sie sind vielmehr in digitaler Form weitergeführte Portfolio-Ideen (vgl. Fink 2010, 52). Diese Grundprinzipien des Portfolios werden in einer webbasierten Lernumgebung implementiert, sodass Benutzer/-innen durch die Einbindung von digitalen Medien und der Nutzung ihrer Potenziale für Lehr- und Lernprozesse die spezifischen Möglichkeiten der Speicherung bzw. Archivierung, Präsentation und Veröffentlichung in digitaler Form zur Verfügung stehen (vgl. Staden 2014, 28).

E-Portfolios sind Sammlungen digitalisierter Arbeiten, welche aus (multi-)medialen Produkten bestehen können (vgl. Häcker/Seemann 2013, 81). Das können beispielsweise Texte, Bilder, Animationen, Simulationen, Videos, Audio-Dokumente und weitere Medien sein. Ein webbasiertes E-Portfolio ist in den meisten Fällen in Form einer Online-Plattform aufgesetzt, somit ist eine ubiquitäre Verfügbarkeit – ein internetfähiges Endbenutzergerät vorausgesetzt – gewährleistet.

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass bereits in Grundzügen ein Bild darüber entstanden ist, was den Berufswahlpass-Online charakterisiert. Es steht fest: Berufswahlpass-Online umfasst zwei getrennt voneinander wahrnehmbare, aber dennoch integrativ verstandene Entwicklungen. Zum einen wird die Portfolio-Grundidee und das Konzept des Berufswahlpasses für die Verwendung in digitaler Form angepasst, zum anderen ist Berufswahlpass-Online auf einer anderen medialen Ebene – nämlich webbasiert und somit orts- und zeitunabhängig verfügbar – umgesetzt.

Um aus diesen konzeptionellen Grundzügen ein webbasiertes Portfolio-System zu entwickeln, bedarf es einer umfassenden Konkretisierung auf konzeptioneller, technischer und didaktischer Ebene. Hierzu durchläuft das Gesamtvorhaben mehrere Zyklen, in denen sich Phasen der Forschung und der (Weiter-)Entwicklung abwechseln. Die Forschungsstrategie des „Design-Based Research“ (kurz: DBR) liegt dem zugrunde. Sie unterbreitet den Vorschlag eines systematisch-kreislaufförmigen Einsatzes verschiedener Abschnitte: Design, Evaluation (Durchführung und Analyse) und Re-Design (vgl. Reinmann 2005, 61; vgl. hierzu auch Abbildung 1).

Abbildung 1: Zyklisch-entwicklungsbegleitende Forschungsstrategie auf der Grundlage des Design-Based Research-AnsatzesAbbildung 1: Zyklisch-entwicklungsbegleitende Forschungsstrategie auf der Grundlage des Design-Based Research-Ansatzes

Durch diverse Datenerhebungsmethoden operationalisiert, wird entwicklungsbegleitend nach den Grundsätzen einer formativen Evaluation sowohl die informationstechnische Konzeption und Realisierung der webbasierten E-Portfolio-Plattform als auch die Weiterentwicklung des zugrundeliegenden didaktischen Konzepts beabsichtigt (vgl. Glowalla et al. 2009, 311; Hense 2010, 49; Mayer 2010, 17). Die Evaluationsergebnisse fließen noch während der Laufzeit direkt in die Weiterentwicklung mit ein. Das bedeutet im Detail: In der Design-Phase generierte Entwicklungsideen und Prototypen des Berufswahlpass-Online können anschließend mit Experten evaluiert und schließlich anhand der Befunde angepasst („re-designed“) werden.

In einem ersten Forschungs- und Entwicklungszyklus konnte bisher durch eine Analyse der Materialien des Berufswahlpass-Ordners und anhand zahlreicher Publikationen zum Konzept des Berufswahlpasses aus den vergangenen Jahren ein webbasierter Prototyp des Berufswahlpass-Online (genannt: „Alpha-Version“) entwickelt werden. In technischer Hinsicht sind bei der Entwicklung von webbasierten Plattformen zwar durch neueste Internet-Technologien keinerlei Grenzen gesetzt, jedoch konnten andere E-Portfolio-Systeme (z. B. Mahara oder Moodle) als Musterbeispiele hinsichtlich des Funktionsumfangs dienen. Außerdem wird das Konzept des „Rapid E-Learning“ als weiterer Bezugsrahmen für die Entwicklung herangezogen (vgl. Howe/Knutzen 2009; Kopp/Mandl 2009). Infolgedessen weisen multimediale Lernumgebungen (in diesem Fall also ein webbasiertes Portfolio) folgende Merkmale auf: Für den Benutzer („User“) ist die Plattform einfach zu bedienen und sie verlangt keine besonderen medientechnischen bzw. -didaktischen Kenntnisse. Gleichzeitig werden geringe Hardwareanforderungen gestellt, sodass auch leistungsschwächere Anzeigegeräte eine performante Arbeit zulassen. Die Alpha-Version konnte auf Grundlage einiger in Gebrauch befindlicher Berufswahlpässe von Schüler/-innen aus Bremen in der Evaluationsphase überprüft und anschließend anhand der daraus hervorgehenden Befunde zur so genannten Beta-Version 0.1 weiterentwickelt werden. Das Ergebnis am Ende des ersten Design-Based Research-Zyklus stellt sich wie folgt dar:

Aus informationstechnischer Perspektive betrachtet kann der Berufswahlpass-Online grundsätzlich als Internet-Plattform verstanden werden, zu welcher der Zugang nur nach einer persönlichen Registrierung möglich ist. Benutzer können sich demnach online „einloggen“ und das webbasierte Portfolio unter ihrem eigenen Benutzerkonto („Account“) aufrufen sowie editieren. Das Portfolio-System ist über den Internet-Browser aufrufbar, dementsprechend kann sowohl vom Desktop-Computer als auch von Tablets und Smartphones darauf zugegriffen werden. Der im Berufswahlpass-Konzept verankerte Leitgedanke der strukturierten Unterstützung von Berufsorientierungsprozessen ist auch im Berufswahlpass-Online ein konsekutives Merkmal. Die Benutzer sollen hier einen grundlegenden Kategorisierungsvorschlag vorfinden, mit dem sie direkt in die Arbeit einsteigen können. Die bereits bekannten Kategorien (bzw. Registerblätter) des Berufswahlpass-Ordners (vgl. auch Kapitel 2), stehen zunächst grundsätzlich für charakteristische Gegenstandsbereiche individueller Berufsorientierung und bilden ein vordefiniertes, jedoch für die Nutzung von digitalen Medien noch nicht überprüftes Raster. Diese sind auf einer Art virtuellem Schreibtisch im Berufswahlpass-Online verfügbar. Während neuartige Reflexionswerkzeuge im Internet häufig eine chronologische Dokumentation von Erfahrungswerten in der Art eines Tagebuchs erwarten, wird im Berufswahlpass-Online ein thematischer Querschnitt von so genannten „Portfolio-Einträgen“ angestrebt. Schüler/-innen können in diesen Einträgen jene Erfahrungen niederschreiben, die sie an unterschiedlichen Lernorten gesammelt haben. Zur Präzisierung werden Einträge mit verschiedenartigen Medien (z.B. Bildern, Videos, Internet-Links und Audio-Dateien) angereichert und so die erweiterten Potenziale von digitalen Medien für Lernprozesse genutzt. Diese Einträge werden wiederum den zentralen Kategorien zugewiesen, sodass aufgrund dieser Zuordnung vormals getrennt voneinander wahrgenommene Erfahrungen als zusammengehörig verstanden werden können.

Am Ende des ersten Zyklus zeigte sich jedoch, dass die technische und didaktische Entwicklung anhand dieser Vorüberlegungen nur zu diffusen, recht unpräzisen Ergebnissen führt. Es fehlt an trennscharfem Detailwissen. Erfahrungen aus ähnlichen Zusammenhängen zeigen, dass die Konzeption und Realisierung eines webbasierten Portfolios und damit einhergehende didaktische Überlegungen ohne detailliertes Ausgangsmaterial teilweise eine technikinduzierte und antizipierende Entwicklungs- und Gestaltungslogik hervorruft (vgl. Häcker/Seemann 2013, 87). Im Sinne einer ganzheitlichen Herangehensweise sind Erfahrungswerte von Experten im Umgang mit dem Berufswahlpass als wertvoll anzusehen, sodass differenzierte Informationen zur didaktischen und technischen Weiterentwicklung erlangt werden können als es zuvor möglich war. Lehrkräfte, die bereits seit mehreren Jahren mit dem Berufswahlpass-Ordner arbeiten, sind dabei aus folgenden Gründen ideale Kandidaten für Experteninterviews zu dieser Thematik: Sie haben gewisse didaktische Erfahrungen mit dem Berufswahlpass und dessen Konzept und arbeiten mit ihren Schüler/-innen auf Grundlage der Portfolio-Idee im berufsorientierenden Unterricht. Darüber hinaus beschäftigen sich Lehrkräfte unter Umständen sowohl beruflich als auch in ihrer Freizeit mit digitalen Medien und dem Internet, d.h. sie können gegebenenfalls in didaktischer und/oder informationstechnischer Hinsicht extrapolieren, welche Elemente des Berufswahlpasses sich für eine webbasierte Weiterentwicklung eignen bzw. welche unter Umständen irrelevant sind.

Die Durchführung und Auswertung dieser Interviews ist abgeschlossen und die daraus hervorgehenden Befunde konnten bei der Weiterentwicklung des Prototypen berücksichtigt werden. Der aktuelle Entwicklungsstand (Beta-Version 0.2) soll in den nachfolgenden Ausführungen dargestellt werden. Zukünftig wird ein weiterer Design-Based Research-Zyklus folgen, in welchem Felderprobungen mit Schüler/-innen geplant sind. Durch die Konfrontation mit dem Prototypen partizipieren sie ebenfalls an dessen Weiterentwicklungsprozess. Schlussendlich kann so ein Produkt entstehen, welches gemeinsam mit, und nicht allein von außenstehenden Entwicklern und Forschern für künftige Anwender entwickelt wurde.

4 Experteninterviews zur Identifizierung der Erfahrungen von Lehrkräften

Für die Weiterentwicklung des E-Portfolios galt es bei Befragungen von Lehrkräften deren Erfahrungen im Umgang mit dem Berufswahlpass-Ordner und bei der Arbeit mit digitalen Medien zu identifizieren. Mit Hilfe von leitfadengestützten Experteninterviews wurden dazu an kooperierenden Schulen aus Bremen, Hamburg, Berlin, Thüringen und Niedersachsen Daten erhoben und ausgewertet. Insgesamt konnten in jedem Bundesland zwei Lehrkräfte befragt werden. So fließen auch länderspezifische Unterschiede in die Weiterentwicklung ein.

Da in diesem Bereich keine differenzierten Forschungsergebnisse bzw. Beispielprojekte vorliegen, hat die Durchführung dieser Interviews für das gesamte Forschungs- und Entwicklungsprojekt einen explorativen Charakter. Die Konzipierung der Interviews orientiert sich am Ansatz von Meuser und Nagel (vgl. Meuser/Nagel 2010), die ein qualitatives Interview für ein angemessenes Erhebungsinstrument bei der Identifizierung von Erfahrungswissen und Handlungsroutinen halten. Wie die Autoren betonen, ist eine thematische Vorstrukturierung in der Form eines Leitfadens unverzichtbar, um Expertenwissen umfassend erheben zu können (vgl. Meuser/Nagel 2010, 464). Eine flexible sowie unbürokratische Vorgehensweise ist bei der Durchführung der Interviews sinnvoll. Der Leitfaden sollte dabei nicht als standardisiertes Ablaufschema verstanden, sondern vielmehr als grobe Orientierungshilfe angesehen werden und „unerwartete Themen-dimensionierungen der Experten“ (Meuser/Nagel 2010, 465) zulassen. Diese situative Flexibilität beim Interviewen betont die interaktive Struktur dieser Befragungsform und wird als eine der wesentlichsten Stärken einer nicht-standardisierten gegenüber einer standardisierten Durchführung beschrieben (vgl. Honer 1994).

4.1 Struktur des Interviewleitfadens

Der Interviewleitfaden umfasst inhaltlich vier Themenbereiche die sich voneinander in ihrer grundlegenden Zielrichtung zweiteilig unterscheiden lassen. Während im ersten Teil die Arbeit mit dem Berufswahlpass im Vordergrund steht, fokussiert der zweite Teil eher auf den Einsatz von digitalen Medien im Unterricht. Zu Beginn des Leitfadens steht die pädagogische Praxis in der Berufsorientierung bei der Arbeit mit dem Berufswahlpass-Ordner im Vordergrund (Themenbereich 1: „Identifizierung von gängiger pädagogisch-didaktischer Praxis bei der Arbeit mit dem Berufswahlpass“). Im Speziellen wird darüber hinaus auf etwaige Erweiterungen und Anpassungen sowie die Konsolidierung des Berufswahlpasses an den einzelnen Interviewstandorten eingegangen (Themenbereich 2: „Erweiterung, Anpassung und Konsolidierung des Berufswahlpasses“). Im zweiten Teil des Leitfadens liegt das Hauptaugenmerk hingegen darauf, wie digitale Medien und das Internet in der pädagogischen Praxis verwendet werden (Themenbereich 3: „Der Einsatz von digitalen Medien und des Internets in der pädagogischen Praxis“). Außerdem wird die Erweiterung und Anpassung des Berufswahlpasses in Hinblick auf digitale Medien behandelt (Themenbereich 4: „Erweiterung und Anpassung des Berufswahlpasses in Hinblick auf die Verwendung von digitalen Medien und Internet“).

Um einen Einstieg in das Interview zu finden werden die Lehrkräfte zunächst dazu ermuntert etwas zu ihrer Person und ihrer Funktion an der Schule zu berichten. Da alle Lehrkräfte bereits im Vorlauf des Interviews (E-Mail-Kontakt und Vorgespräch) wissen, dass die Befragung zum Zwecke der Weiterentwicklung des Berufswahlpasses durchgeführt wird, kann das Gespräch nach dem anfänglichen Erzählimpuls recht schnell auf die eigentliche Thematik gelenkt werden.

Im ersten Themenbereich liegt der Fokus auf der Identifizierung von pädagogisch-didaktischer Praxis im Umgang mit dem Berufswahlpass im berufsorientierenden Unterricht der jeweilig interviewten Lehrkraft. Dabei bezieht sich der Leitfaden schwerpunktmäßig auf die Materialien, die der Berufswahlpass grundlegend bereitstellt. Es soll so in Erfahrung gebracht werden, welche Elemente des Berufswahlpasses für eine webbasierte Weiterentwicklung essentiell sind und worauf unter Umständen verzichtet werden kann. Insbesondere ist nachfolgend von Bedeutung, dass die Lehrkräfte darauf eingehen, wie sie den Berufswahlpass in ihrem Unterricht einsetzen. Durch offene Erzählimpulse und weiterführende immanente Nachfragen (vgl. hierzu auch Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008, 136) wird hier dazu ermuntert, diverse Einsatzszenarien des Berufswahlpasses in typischen Unterrichtssituationen beispielhaft zu beschreiben. Anhand dieser Darstellungen kann identifiziert werden, in welchen Situationen der Berufswahlpass-Ordner und die Portfolio-Idee didaktisch besonders gewinnbringend eingesetzt wird. Diese Einsatzszenarien muss der Berufswahlpass-Online ebenso ermöglichen. Darüber hinaus wird erfragt, wie sich der Einsatz des Berufswahlpasses an außerschulischen Lernorten darstellt und wie Schüler/-innen aus Sicht der Lehrkräfte grundsätzlich die Arbeit mit dem Instrument erleben. Insbesondere ist hier von Bedeutung, ob der Berufswahlpass im Unterricht der Lehrkraft als Selbstlerninstrument benutzt wird, oder ob die Schüler/-innen klare Anweisungen benötigen um arbeitsfähig zu sein. Das lässt Rückschlüsse auf die technische und didaktische Gestaltung von etwaigen Online-Hilfen zu, die direkt im Berufswahlpass-Online verankert werden können.

Darauf aufbauend geht es im zweiten Themenbereich um die Erweiterung, Anpassung und Konsolidierung des Berufswahlpasses. An dieser Stelle wird in Erfahrung gebracht, ob und inwiefern der Berufswahlpass gegebenenfalls durch eigene Materialien ergänzt bzw. didaktisch reduziert wird. So kann erhellt werden, welche dieser durch die Lehrkräfte hinzugefügten Materialien eine Relevanz für den Berufswahlpass-Online besitzen. Insbesondere stehen die Arbeitsblätter und die Einteilung derer in die fünf Kategorien des Berufswahlpasses im Fokus. Von spezieller Bedeutung ist die Beurteilung der Trennschärfe der Registerblätter aus Sicht der Lehrkräfte. Dabei wird durch immanente Nachfragen zu beispielhaften Erzählungen aus konkreten Unterrichtssituationen angeregt. So wird erhellt, ob Schüler/-innen unter Umständen berufsorientierende Erfahrungen an schulischen oder außerschulischen Lernorten sammeln, die sich nicht einwandfrei einer Kategorie im Berufswahlpass zuordnen lassen. Anhand dieser Einschätzungen kann gegebenenfalls ein überarbeitetes Kategorienraster im Berufswahlpass-Online implementiert werden.

Im darauffolgenden dritten Themenbereich liegt das Hauptaugenmerk auf den Erfahrungen der Lehrkräfte beim Einsatz von digitalen Medien und des Internets in der pädagogischen Praxis. Speziell der Einsatz von digitalen Materialien in speziellen Unterrichtsszenarien und das Verwenden von Internetplattformen ist von Bedeutung. Lehrkräfte werden dazu aufgefordert, deren Verwendung beispielhaft anhand von typischen Praxissituationen zu beschreiben und darüber hinaus darauf einzugehen, wie sie die Arbeit ihrer Schüler/-innen mit diesen Medien erleben. Es kann infolgedessen analysiert werden, welche digitalen Materialien im Berufswahlpass-Online grundsätzlich speicher- und wieder abrufbar gemacht und welche Internet-Plattformen eingebunden werden sollten.

Der vierte Themenbereich stellt eine Ergänzung des Vorangehenden dar. Hier werden die Lehrkräfte dazu befragt, welche Erweiterbarkeiten sie unter Verwendung von digitalen Medien und des Internets für den Berufswahlpass sehen. Aufgrund der thematischen Nähe zum vorangegangenen Themenbereich können unter Umständen redundante Nennungen auftreten.

4.2 Auswertung der Interviews

Alle Interviews werden mit einem Diktiergerät aufgezeichnet und anschließend im Wortlaut transkribiert. Das Interviewmaterial wird folglich anhand der Auswertungsstrategie nach Meuser und Nagel (vgl. Meuser/Nagel 2010) analysiert. Dabei werden die Äußerungen der Experten/-innen im Kontext ihrer institutionell-organisatorischen Handlungsbedingungen verortet. Ziel ist es dabei aus der Gesamtheit der Interviews thematische Einheiten herauszuarbeiten und anhand derer identifizieren zu können, was relevant für eine Entwicklung des Berufswahlpass-Online ist. Das Auswertungsverfahren durchläuft dabei nach Meuser und Nagel sechs Schritte (vgl. Meuser/Nagel 2010, 466): Transkription, Paraphrase, Kodieren, Thematischer Vergleich, Soziologische Konzeptualisierung, Theoretische Generalisierung.

Nach der Transkription wird der Text im zweiten Schritt nach thematischen Einheiten im Sinne einer Paraphrasierung sequenziert. Die für das Forschungsinteresse relevanten Passagen werden in eigenen Worten wiedergegeben. Weitergehend erfolgt im dritten Schritt das Kodieren. Einzelne Textelemente werden thematisch geordnet und anschließend mit Überschriften bzw. Codes, welche die Terminologie des/der Experten/-in aufgreifen, versehen. Im darauffolgenden thematischen Vergleich erfolgt eine Nebeneinanderstellung von Textpassagen verschiedener Interviews. Es werden vergleichbare Textstellen zusammengefasst und Überschriften bzw. Codes vereinheitlicht. Im fünften Schritt werden die bisher durch die Interviewpartner/-innen verwendeten Begriffe in eine soziologische Terminologie überführt. Die Ergebnisse weisen somit eine Anschlussfähigkeit an theoretische Diskussionen auf, auch wenn die Verallgemeinerung zunächst noch auf das vorliegende empirische Material begrenzt bleibt. Im abschließenden sechsten Schritt der theoretischen Generalisierung werden Sinnzusammenhänge zu Typologien und Theorien rekonstruktiv verzahnt. Dabei ist die Reihenfolge des Gesagten nicht mehr von Belangen. So können die implizierten Wissensbestände, die das Handeln der befragten Experten/-innen bestimmen, identifiziert werden.

5 Ergebnisdiskussion – Schlussfolgerungen für die Entwicklung des Berufswahlpass-Online

Im nachfolgenden Abschnitt werden die Ergebnisse der Experteninterviews dargestellt. Dabei würde eine detaillierte Diskussion der Auswertungsergebnisse in den differenzierten sechs Schritten anhand des Verfahrens nach Meuser und Nagel den Rahmen dieses Beitrags überschreiten. Folglich wird überblicksartig veranschaulicht, was für die Konzeption und Entwicklung des Berufswahlpass-Online relevant ist. Das Ziel dabei ist es, die Befragungsergebnisse anhand der Leitfadenstruktur aufzuschlüsseln und somit zu entfalten, wie diese im Sinne der formativen Evaluation zur entwicklungsbegleitenden Weiterentwicklung in der Re-Design-Phase verwendet wurden. Dabei werden absatzweise einzelne Befunde aus den Interviews thematisiert und einhergehend die Schlussfolgerungen für die Weiterentwicklung des Prototypen aufgezeigt. Die nachstehend dargestellte Abbildung 2 illustriert die folgenden Ausführungen in Grundzügen anhand von Screenshots.

Abbildung 2:Der aktuelle Prototyp des Berufswahlpass-Online – Dargestellt ist ein typischer Arbeitsablauf zur Erstellung eines Portfolio-EintragsAbbildung 2:Der aktuelle Prototyp des Berufswahlpass-Online – Dargestellt ist ein typischer Arbeitsablauf zur Erstellung eines Portfolio-Eintrags

5.1 Themenbereich 1: Identifizierung von gängiger pädagogisch-didaktischer Praxis bei der Arbeit mit dem Berufswahlpass

„Ach wissen Sie, der Berufswahlpass ist ja eigentlich vom Prinzip her eine tolle Sache. Man bekommt als Lehrer ein mehr oder weniger gutes Medium für die Berufsorientierung an die Hand. (...) Man muss an vielen Stellen doch noch eine Menge vor- bzw. nachbereiten und Unterstützungsarbeit leisten, sonst bringt auch das beste Medium im Unterricht nichts. Sehr viele Schüler sind eben nicht so eigenständig, wie man vielleicht denkt.“ (Äußerung einer Lehrkraft im Interview)

Anhand der Experteninterviews kann generell festgestellt werden, dass Lehrkräfte den Berufswahlpass als Begleitmedium ihres berufsorientierenden Unterrichts verstehen und auch dementsprechend verwenden. Seine Einsatzhäufigkeit ist von den Stundentafeln der Bundesländer und vom Berufsorientierungskonzept der jeweiligen Schule abhängig. Es wird betont, dass eine Stärke des Berufswahlpasses darin liegt, dass er eine gewisse Organisationsstruktur schafft. Durch seine durchgängige Gliederung und seine Transparenz ist er in den Augen der Lehrkräfte grundsätzlich dazu geeignet, die Arbeit in der Berufsorientierung sowohl mit dem Schulkollegium als auch außerschulischen Partnern zu organisieren. Für die Konzeption und Entwicklung des Berufswahlpass-Online wird ersichtlich, dass die Strukturiertheit und Transparenz des zugrundeliegenden Konzepts auch für die Arbeit mit einem E-Portfolio in besonderem Maße wichtig ist. Der webbasierte Berufswahlpass-Online ist aus diesem Grund nicht mit Funktionalitäten überladen, sondern auf das Wesentliche beschränkt. So wird auch eine Konformität mit dem Rapid E-Learning-Ansatz (siehe auch Kapitel 3) erreicht.

Die Verwendung der bereits im Berufswahlpass vorhandenen Arbeitsmaterialien ist in der pädagogischen Praxis von Lehrkraft zu Lehrkraft unterschiedlich. Zusammenfassend zeigt sich, dass die vorhandenen Informationsmaterialien im Teil „Angebote zur Berufsorientierung“ durchaus genutzt werden. Speziell nennen Lehrkräfte hier die Ausführungen zum Berufsinformationszentrum und die Angebote der Agentur für Arbeit. Diese gilt es im Berufswahlpass-Online gesondert zu berücksichtigen. Hierzu werden zahlreiche Informationen aus dem Berufswahlpass-Ordner übernommen, sodass Schüler/-innen auf zahlreichen Informations- und Hilfe-Seiten ähnliche Ausführungen finden und Lehrkräfte auch zukünftig in der webbasierten Variante darauf verweisen können (vgl. auch Abbildung 2: Im Menü links finden Benutzer den Punkt „Hilfe & FAQ“). Darüber hinaus verwenden einige Lehrkräfte die Selbst- und Fremdbewertungsbögen des Berufswahlpasses im Teil „Mein Weg zur Berufswahl“. So wird Schüler/-innen die Einschätzung ihrer Stärken und Ausbaupotenzialen zur Herausbildung eines persönlichen Profils ermöglicht. Es lässt sich ableiten, dass Möglichkeiten der Selbst- und Fremdeinschätzung an unterschiedlichen Punkten des Berufsorientierungsprozesses auch im Berufswahlpass-Online implementiert sein müssen (vgl. auch Abbildung 2: Im Menü links finden Benutzer den Punkt „Selbst- / Fremdeinschätzung“). Das geschieht bei der Arbeit mit dem E-Portfolio mit interaktiven PDF-Dateien. Diese können sowohl als Selbst- als auch als Fremdeinschätzung am Computer ausgefüllt und anschließend im E-Portfolio gespeichert werden.

Weiterhin beschreiben Lehrkräfte, dass Bescheinigungen von erbrachten Leistungen und durchgeführten Aktivitäten (z. B. Betriebserkundungen oder Girls-/Boys-Day) im Teil „Dokumentation“ hinterlegt werden. Es wird darüber hinaus betont, dass eine anschließende Reflexion in Bezug auf diese Aktivitäten von großem Wert ist. Aus diesem Grund ist es im Berufswahlpass-Online möglich, Bescheinigungen in digitalisierter Form direkt in Portfolio-Einträgen zu speichern und über berufsorientierende Erfahrungen in Erlebnisberichten zu reflektieren (vgl. Abbildung 2: Portfolio-Eintrag erstellen). Gleiches gilt nach Aussage von Lehrkräften für Bewerbungsunterlagen, die dem Bereich „Hilfen zur Lebensplanung“ zugeordnet werden.

Auffällig in diesem Zusammenhang ist auch, dass ein Großteil der interviewten Lehrkräfte eine gewisse die Arbeit ihrer Schüler/-innen mit dem Berufswahlpass kontrollieren möchte. Wichtig ist, dass die Qualität der Arbeiten, welche die Schüler/-innen im Unterricht oder auch darüber hinaus tätigen, überprüft und Feedback gegeben wird. Das wird insbesondere bei der Begleitung von Praktika und bei Selbsteinschätzungen an unterschiedlichen Punkten des Berufsorientierungsprozesses notwendig. Um auch weiterhin die Print-Variante nutzen zu können, besteht die Möglichkeit Portfolio-Einträge aus dem Berufswahlpass-Online jederzeit auszudrucken. Lehrkräfte können im Unterricht darauf zurückgreifen und gegebenenfalls Rückmeldungen geben. Dieses Feedback kann dann wiederum in das E-Portfolio zurückfließen, da sich alle Informationen, die im Berufswahlpass-Online gespeichert sind, bearbeiten lassen.

Ein Großteil der befragten Lehrkräfte beschreibt, dass Schüler/-innen in den meisten Fällen dedizierte Arbeitsanweisungen für die Arbeit mit dem Berufswahlpass benötigen. Sein Einsatz als reines Selbstlerninstrument wird von den Lehrkräften als nicht realisierbar eingestuft, da er nicht selbsterklärend ist. Gerade bei Schüler/-innen in den siebten und achten Klassenstufen bedarf es nach Aussagen der Lehrkräfte didaktischer Reduktionen. Darüber hinaus beschreiben mehrere Lehrkräfte den Berufswahlpass als optisch wenig ansprechend und stellenweise als strukturell zu fragmentiert. Damit Schüler/-innen den Berufswahlpass-Online auch ohne direkte Arbeitsanweisungen von Lehrkräften bedienen und didaktisch wertvoll einsetzen können, wird die Implementierung von Online-Hilfen angestrebt. Diese können bei Bedarf, z. B. wenn ein/eine Schüler/-in zu bestimmten Funktionen eine Hilfestellung benötigt, aufgerufen werden. In Text-, Bild- und Videoform werden hier sowohl der technische Umgang mit dem E-Portfolio erläutert als auch didaktische Hinweise gegeben (vgl. Abbildung 2: Ein Klick auf das hellblaue Fragezeichen am rechten oberen Bildschirmrand der Start- bzw. Überblicksseite würde die Online-Hilfe öffnen).

5.2 Themenbereich 2: Erweiterung, Anpassung und Konsolidierung des Berufswahlpasses

„Wir haben ja bei uns in der Schule den Berufswahlpass angepasst, weil wir unabhängig von einander festgestellt haben, dass viele Arbeitsblätter im Berufswahlpass einfach für uns nicht so gut passen. (...) Im Unterricht muss man ziemlich viel Zeit darauf verwenden, um den Schülern zu erklären, was sie auf vielen Arbeitsblättern eintragen sollen.“ (Äußerung einer Lehrkraft im Interview)

Aufgrund der Tatsache, dass es sowohl landes- als auch schulspezifische Unterschiede in den Berufsorientierungskonzepten gibt, wird erwartet, dass es von Schule zu Schule zu unterschiedlichen Weiterentwicklungen des Berufswahlpasses kommt. Die Auswertung der Interviews bestätigt diese Annahme. Es sind große Unterschiede in der (Um-)Gestaltung des Instruments von Bundesland zu Bundesland und auch von Schule zu Schule zu beobachten. Das generelle Vorgehen an den Schulen zur Erweiterung des Berufswahlpasses ist dabei jedoch sehr ähnlich. In der Regel bilden sich Lehrerteams, die in ihrem Unterricht berufsorientierende Inhalte abdecken und die den Berufswahlpass mit diversen Schwerpunktsetzungen für ihre Bedarfe anpassen.

Für die Konzeption des webbasierten Portfolios ist insbesondere von Bedeutung, ob die Kategorien (bzw. Registerblätter) des Berufswahlpass-Ordners von den Lehrkräften als tragfähige Struktur für das gesamte Instrument erachtet werden. Die Auswertung der Interviews zeigt hierbei, dass die besagten fünf Bereiche grundsätzlich als trennscharf beschrieben werden. Es wird angeführt, dass diese recht grobe und einfache Gliederung die Möglichkeit bietet, auch zusätzliche Unterrichtsmaterialien einzusortieren. Darüber hinaus gelingt es Schüler/-innen nach Aussagen der Lehrkräfte schnell, sich zurechtzufinden. Dementsprechend kann die Grundstruktur aus dem Berufswahlpass-Ordner zunächst auch für das webbasierte Portfolio übernommen werden (vgl. Abbildung 2: Start- bzw. Übersichtsseite).

Gleichwohl zeigt die Auswertung der Interviews, dass Lehrerteams das Kategorienraster des Berufswahlpasses zum Teil schulintern erweitern. Beispielsweise gibt es an einer Schule in Niedersachsen eine enge Kooperation mit einer berufsbildenden Schule und mit lokalen Unternehmen, sodass die Schüler/-innen dort im Berufswahlpass sogenannte Berufspraxistage dokumentieren. An anderen Schulen wird stattdessen in etwa die Gründung einer Schülerfirma fokussiert oder eine gesonderte Praktikumsmappe angelegt. Hierzu wird das Register erweitert, um eine differenzierte Einsortierung von schulspezifischen Materialien zu ermöglichen. Aus diesem Grund wird bei der webbasierten Weiterentwicklung die Möglichkeit vorgesehen, zusätzliche und individuell benennbare Bereiche hinzuzufügen (vgl. Abbildung 2: Start bzw. Übersichtsseite).

Als problematisch beschreiben einige Lehrkräfte die Tatsache, dass es im Berufswahlpass kein individuell anpassbares Inhaltsverzeichnis gibt. Wird der Ordner regelmäßig zur Dokumentation und Reflexion von Berufsorientierungsprozessen eingesetzt, besteht die Gefahr, dass seine Übersichtlichkeit verloren geht. Es ist dann anhand des Kategorien- bzw. Registersystems nicht mehr ersichtlich, welche zusätzlichen Materialien in der Vergangenheit an welche Stelle eingeheftet wurden. Um diesem Problem entgegenzuwirken, wird im Berufswahlpass-Online ein Schlagwort-System implementiert. Das enthält bereits vorgefertigte Schlagwörter und kann darüber hinaus individuell erweitert werden. Portfolio-Einträge, gespeicherte Dokumente (z. B. PDF-Dateien, Bilder etc.) und abgeschlossene Selbst- und Fremdeinschätzungen können folglich mit Schlagwörtern versehen und bei Bedarf sortiert wieder angezeigt werden (vgl. Abbildung 2).

Der Berufswahlpass wird zur Dokumentation von außerschulischen Aktivitäten eingesetzt. Dabei konnten die Lernorte „Schule“, „Exkursion“, „Praktikum“ und „Betrieb“ im thematischen Vergleich standortübergreifend als relevant identifiziert werden. Die Durchführung von Exkursionen und Praktika ist dabei laut Aussagen der Lehrkräfte obligatorisch. Der Lernort Betrieb bezieht sich auf diverse Ausführungen von Lehrkräften, dass viele der Schüler/-innen bei Nebenjobs gewisse berufsorientierende Erfahrungen machen. Darüber hinaus werden weitere beispielhafte Lernorte von unterschiedlichen Lehrkräften genannt, die sich jedoch nicht generalisieren lassen, sondern eher durch das Berufsorientierungskonzept der jeweiligen Schule bedingt sind. Daraus lässt sich für die Weiterentwicklung des Berufswahlpass-Online extrahieren, dass der Unterscheidung von Lernorten durchaus eine gewichtige Rolle zukommt. Bei der Erstellung von individuellen Portfolio-Einträgen im webbasierten E-Portfolio kann dieser generelle Kategorisierungsvorschlag für die Implementierung einer differenzierten Struktur genutzt werden (vgl. Abbildung 2). Das E-Portfolio wird dahingehend angepasst, sodass gespeicherte berufsorientierende Erfahrungen in Form von Einträgen nach Lernorten sortiert wieder ausgegeben werden können.

5.3 Themenbereich 3: Der Einsatz von digitalen Medien und des Internets in der pädagogischen Praxis

„Haben Sie das schon einmal gemacht? Wenn Sie jetzt zum Beispiel mit in meine neunte Klasse kommen würden und in die Runde fragen: ‚Wer von euch ist bei Facebook?’ oder ‚Wer von euch hat ein Smartphone?’ – Da garantiere ich, es gehen sofort alle Hände hoch.“ (Äußerung einer Lehrkraft im Interview)

Prinzipiell stellen sich die Erfahrungen der Lehrkräfte in diesem Themenbereich sehr heterogen dar. Im Vergleich zu analogen Medien, wie beispielsweise dem Berufswahlpass-Ordner, werden digitale Medien und das Internet in der pädagogischen Praxis von Standort zu Standort unterschiedlich eingesetzt. Dabei bedingt die technische Ausstattung der jeweiligen Schule die Einsatzszenarien maßgeblich. Allerdings sind es zum Teil auch die Lehrkräfte selbst, die sich (trotz adäquater Ausstattung) selbst als wenig medienkompetent einschätzen und deshalb eher zu altbewährten Methoden und Medien greifen. Diejenigen Lehrkräfte, die einer jüngeren Generation angehören und die darüber hinaus in ihrer Schule zumindest in Grundzügen eine gewisse technische Ausstattung zur Verfügung haben, beschreiben den Einsatz von digitalen Medien und des Internets als durchaus gewinnbringend für ihren berufsorientierenden Unterricht.

Ausdrücklich wird die Möglichkeit im Internet schnell an adäquate Informationen in Bezug auf bestimmte Berufsbilder zu gelangen als hilfreich geschildert. Beispielhaft werden hier das Berufe-Universum und die Homepage der Bundesagentur für Arbeit genannt. Diese Internet-Links können auch im Berufswahlpass-Online direkt in Portfolio-Einträgen abgelegt und somit gespeichert werden. Darüber hinaus wird der Stellenwert von Social Media für Schüler/-innen betont, sodass nach individuellem Ermessen auch Links zu Facebook und ähnlichen Portalen im Berufswahlpass-Online gespeichert werden können (vgl. Abbildung 2: Hier gibt es den Reiter „Links und Social Media“).

Weiterhin wird von Lehrkräften darauf eingegangen, dass es bei der Verwendung von digitalen Medien und im Internet jederzeit möglich ist nach bestimmten Begriffen automatisch suchen zu lassen und dadurch recht schnell an die gewünschte Information zu gelangen. Diese Option wird im Berufswahlpass-Online über das bereits zuvor beschriebene Schlagwort-System für den Benutzer verfügbar (vgl. Abbildung 2: Dem hier aktuell angezeigten Portfolio-Eintrag wurden beispielsweise die Schlagwörter „Vorstellungsgespräch“ und „Bewerbung“ zugewiesen). Werden Portfolio-Einträge, Bilder, Dokumente und Selbst- bzw. Fremdeinschätzungen konsequent mit Schlagwörtern versehen, werden Verbindungen zwischen thematisch ähnlichen Inhalten offenbar.

5.4 Themenbereich 4: Erweiterung und Anpassung des Berufswahlpasses in Hinblick auf die Verwendung von digitalen Medien und Internet

„Bei neuen Medien fällt mir ja immer sofort ein, wie Schüler darauf reagieren wenn man Filme zeigt. Das ist natürlich viel spannender als irgendwelche Arbeitsblätter auszufüllen. (...) Wir machen das zum Beispiel in der achten und neunten Klasse zum Vorstellungsgespräch. Es gibt da auch viele Videos und andere Informationen im Internet.“ (Äußerung einer Lehrkraft im Interview)

Bezug auf den vierten Themenbereich nehmend, beschreiben einige Lehrkräfte insbesondere den Einsatz von bestimmten Online-Videos als empfehlenswert. So äußert sich z. B. eine Lehrkraft positiv über die Fülle an Videos zur Berufsorientierung bei YouTube und ähnlichen Videoportalen (z. B. Berufe.tv), die im Unterricht eingesetzt werden können. Geeignetes Online-Videomaterial verwendet eine interviewte Lehrkraft in etwa dazu, um Schüler/-innen ein realitätsnahes Vorstellungsgespräch näherzubringen. Der Berufswahlpass-Online sieht vor, die Potenziale von online verfügbaren Videos für Berufsorientierungsprozesse direkt im E-Portfolio nutzbar zu machen. Dazu können Portfolio-Einträge mit Online-Videos (beispielsweise von YouTube) angereichert bzw. verknüpft werden (vgl. Abbildung 2: Bei der Erstellung und der Ansicht von Portfolio-Einträgen gibt es jeweils den Reiter „Videos“).

Darüber hinaus wird beispielsweise von einer Lehrkraft angemerkt, dass automatisierbare Operationen auf der webbasierten Oberfläche des Berufswahlpass-Online durchaus vorteilhaft sein können. Dazu kann in etwa das Generieren eines Inhaltsverzeichnisses zur Steigerung der Übersichtlichkeit gezählt werden. Im Berufswahlpass-Online wird dieses Grundprinzip aufgegriffen und an verschiedenen Stellen implementiert. So wird z. B. beim Anlegen eines neuen Portfolio-Eintrags das aktuelle Datum automatisch im entsprechenden Eingabefeld vermerkt (vgl. Abbildung 2: Erstellen eines Portfolio-Eintrags). Einträge können somit bei Bedarf chronologisch sortiert angezeigt werden. Darüber hinaus werden im Berufswahlpass-Online bei nicht validen Benutzereingaben differenzierte Fehlermeldungen mit zugehörigen grafischen Indikatoren angezeigt. Wird z. B. bei der Portfolio-Erstellung das Pflichtfeld des Eintragstitels nicht ausgefüllt, wird der Benutzer dementsprechend auf seinen Fehler hingewiesen und er erhält automatisch die Möglichkeit einer Nachbesserung.

Im Zusammenhang mit der Diskussion zur Verwendung von digitalen Medien und des Internets zur Weiterentwicklung des Berufswahlpasses berichten Lehrkräfte z. T. auch von gewissen Bedenken zum Thema Datenschutz und Privatsphäre. So ist einigen interviewten Lehrkräften insbesondere wichtig, dass der Berufswahlpass-Online ein Instrument bleibt, welches zur Reflexion über die eigenen Erfahrungen anregt und Lernprozesse unterstützt. Dabei sollten nicht alle erdenklichen Dinge über „Share-Buttons“ auf gängigen Social Media-Plattformen geteilt werden. Eine vollkommene Öffnung des individuellen Portfolios, sodass beispielsweise andere Benutzer darauf zugreifen können, entspricht nicht dem Grundgedanken des Berufswahlpasses. Wenn gewünscht, lassen sich Ausschnitte eines Berufswahlpass-Online jederzeit am Computer zu zweit oder mit mehreren Personen einsehen. Ein direkter Zugriff eines Benutzers auf die gespeicherten Inhalte eines anderen ist deshalb im Berufswahlpass-Online kategorisch nicht möglich.

Wie bereits im ersten Themenbereich genannt, wird hier von Lehrkräften wiederholt betont, dass eine Funktion zum Ausdrucken der Materialien im Berufswahlpass-Online erforderlich ist. Es ist trotz des Einsatzes digitaler Medien nach wie vor von besonderer Wichtigkeit, dem/der Schüler/-in Rückmeldungen auf analogem Wege – also nicht webbasiert, sondern von Person zu Person – zu geben. Da viele Lehrkräfte die Arbeiten ihrer Schüler/-innen am heimischen Schreibtisch kontrollieren, ist die Möglichkeit des Ausdruckens der Portfolio-Einträge unverzichtbar.

6 Zusammenfassung und Ausblick

Die Durchführung und Auswertung der Experteninterviews in den partizipierenden Bundesländern kann als sehr gewinnbringend für die Weiterentwicklung des Berufswahlpasses zum Berufswahlpass-Online bezeichnet werden. Durch den explorativen Charakter konnten zahlreiche Erfahrungen von Lehrkräften identifiziert und infolgedessen detaillierte Anpassungen am didaktischen Konzept und an der technischen Umsetzung vorgenommen werden. Grundlegend zeigte sich, dass unterschiedliche curriculare Anforderungen des Berufswahlpasses zu landes- und standortspezifischen Varianten des Instruments führten, die in der Praxis zum Einsatz kommen. Die originale Fassung des Berufswahlpasses lässt sich an keinem der beforschten Standorte in unveränderter Form wiederfinden. Durch die systematische Auswertung der Interviews konnten dabei zahlreiche standortübergreifende Parallelen identifiziert und für die Weiterentwicklung berücksichtigt werden. Es wird davon ausgegangen, dass die didaktische Qualität des Berufswahlpass-Online durch die Einbindung der Erfahrungen der befragten Lehrkräfte zur zukünftigen Akzeptanz des webbasierten E-Portfolios beiträgt.

Im Sinne einer ganzheitlichen Projektkonstruktion auf der Basis des Design-Based Research ist eine umfassende Weiterentwicklung anhand dieser hier dargestellten Befragungsergebnisse nicht abgeschlossen. Es stehen nach der Einbeziehung der Lehrkräfte noch zahlreiche Fragen im Raum: Werden die Schüler/-innen das E-Portfolio benutzen? Wie kommen sie damit zurecht? Gibt es unter Umständen Dinge, die bei der Konzeption und Weiterentwicklung bisher nicht berücksichtigt wurden?

Es ist ersichtlich, dass zukünftig ein weiterer Evaluationszyklus notwendig ist, bei dem die Bedarfe und Wünsche von Schüler/-innen ebenfalls berücksichtigt werden und in die Weiterentwicklung einfließen. Insofern stehen weitere qualitative Erhebungen in kooperierenden Bundesländern und Schulen an.

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Ethnographie einer Schülerfirma: Welches Verständnis von Berufsorientierung zeichnet sich bei den Lehrkräften und den SchülerInnen ab?

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Einleitung

Als Mitarbeiterin im Forschungsprojekt von Frau Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland zum Thema 'Geschlecht und Berufsorientierung' (Laufzeit: 2/2013-4/2016) hatte ich die Möglichkeit, ein halbes Jahr lang eine Schülerfirma an einer Stadtteilschule teilnehmend zu beobachten. Berufsorientierung gehört zu den Aufgaben vor allem an nicht-gymnasialen Schulen. Durch die Berufsorientierung sollen SchülerInnen befähigt werden, einen angemessenen Ausbildungsplatz für sich zu finden. Das Landesinstitut für Lehrerfortbildung und Schulentwicklung (LI) Hamburg hat im Jahr 2012 Schulen mit vorbildlicher Berufsorientierung untersucht. Danach zeichnen sich diese Schulen dadurch aus, dass sie den Jugendlichen ökonomische Aspekte der Arbeitswelt vermitteln. Durch „Lernsituationen mit Ernstcharakter“ würden die Jugendlichen zum einen „Einblick in die Berufs- und Arbeitswelt in Zusammenhang mit wirtschaftlichen Zusammenhängen und Strukturen“ erhalten, zum anderen bekämen durch diese Arbeitsweise die Jugendlichen „Gelegenheit, ihre Erfahrungen mit Blick auf den eigenen Berufs- und Studienweg auszuwerten“ (LI 2012, 7). Das LI sieht diesen Anspruch an Berufsorientierung unter anderem durch das Angebot von Schülerfirmen verwirklicht (ebd.).

Meine Studie beschreibt die Praxis in einer dieser Schülerfirmen. Zunächst lege ich die Aktualität des Lernarrangements Schülerfirma dar. Anschließend arbeite ich heraus, welches berufsorientierende Potential dem didaktischen Modell Schülerfirma in der Literatur zugeschrieben wird. Insbesondere die von Windels und Hübner (2008) benannten Anforderungen dienen als Orientierung, um die Beobachtungen in der Schülerfirma einzuordnen. Es folgen ein Überblick über den Forschungsstand zu Schülerfirmen sowie eine kurze Skizzierung der Forschungsmethode, um dann Ausschnitte aus dem empirischen Material zu präsentieren. Ziel ist es, das im praktischen Tun von Lehrkräften und SchülerInnen sichtbar werdende Verständnis von Berufsorientierung herauszuarbeiten. Dieses Vorgehen lohnt sich insofern, als bisher zu diesem Thema „wenig Literatur im Bereich der konkreten Empirie“ zu finden ist (de Haan et al. 2009, 6). Der letzte Abschnitt widmet sich möglichen Schlussfolgerungen.

1 Aktualität von Schülerfirmen

Schülerfirmen sind Unternehmen in der Schule, die unter der Regie von SchülerInnen geführt werden. In Schülerfirmen werden Dienstleistungen angeboten oder Produkte hergestellt. Aus der Explorationsstudie von Gerhard de Haan et al. aus dem Jahr 2009 zu nachhaltigen Schülerfirmen geht hervor, dass sich dieses Lehr- und Lernarrangement zunehmender Beliebtheit erfreut (de Haan et al. 2009, 14). Die Erwartungen, was Schülerfirmen bei den SchülerInnen bewirken sollen, sind hoch. So sollen durch den „Ernstcharakter“ des pädagogischen Arrangements, da unter „realen Marktbedingungen“ (vgl. Schelzke/Mette 2008) gewirtschaftet wird, Kompetenzen im sozialen, personalen und fachlich-methodischen Bereich erworben werden. De Haan et al. zählen einen ganzen Katalog an positiven Wirkungen auf, die Schülerfirmen haben sollen.

„Über den Kompetenzerwerb hinausgehend sollen sie eine höhere Lernmotivation, bessere Schulnoten, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, selbstorganisiertes Lernen, Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Unternehmergeist und ganz allgemein die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit fördern“ (de Haan et al. 2009,  6).

Im Rahmen von Schülerfirmen sollen Arbeitnehmer- wie auch Unternehmerqualitäten gleichermaßen entwickelt und ökonomische Bildung gefördert werden. Unter letzterem versteht das Institut für Ökonomische Bildung (IÖB) die „Gesamtheit aller erzieherischen Bemühungen in allgemeinbildenden Schulen, die zum Ziel haben, Schüler mit den Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen auszustatten, um wirtschaftliche Zusammenhänge ihrer Lebensumwelt zu verstehen“ (http://www.ioeb.de/leitidee).

Teita Bijedic fasst ökonomische Bildung, als auf die „individuelle Entwicklung einer (ökonomisch) gebildeten und mündigen Persönlichkeit“ zielend, auf (Bijedic 2013, 46). Sie konstatiert, dass „die ökonomische Bildung auch den Auftrag einer zeitgemäßen Berufsorientierung wahrnimmt, die neue Herausforderungen mit sich bringt, denn die Rolle des Erwerbstätigen inkludiert die Rolle des abhängig Beschäftigten ebenso wie die Rolle des unternehmerisch Selbstständigen“ (ebd.). Dies bedeutet, dass die traditionell dichotomen Rollen von abhängigen und selbstständigen Erwerbstätigen zunehmend verschwimmen (ebd.). Hingewiesen sei hier auf den Begriff des „Intrapreneurs“. Dieser zeichnet sich durch sein „überdurchschnittliches Maß an Eigenverantwortung“ (Aff  2008, 304) aus. Er oder sie stehen zwar in einem Arbeitnehmerverhältnis, aber durch sein oder ihr Engagement fungieren er/sie als MitunternehmerIn. Unter dem Einfluss von andauernden Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrisen ist die Förderung „unternehmerischen Denkens und Handelns“, die Ausbildung von „Unternehmergeist“ oder „Entrepreneurship" (Tramm/Gramlinger 2006, 1) zunehmend in den Fokus von Politik und Wirtschaft geraten.

Im Jahr 2000 ist der Europäische Rat in Lissabon zu einer Sondertagung  zusammengekommen. Ziel der Zusammenkunft war es, Strategien zu entwickeln, wie mit der Globalisierung und den Herausforderungen einer wissensbasierten Wirtschaft umgegangen werden kann. Die europäische Union wolle „einen Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“ (http://www.europarl.europa.eu/summits/lis1_de.htm). Durch die Förderung u.a. von Innovation sehen sie diese Ziele verwirklicht. Hahn schreibt, dass Innovation nicht nur als ein entscheidender Wettbewerbsfaktor für Unternehmen gälte, „sondern auch als treibende Kraft für Wachstum und Beschäftigung in Regionen und Staaten” (Hahn 2009, 302). So wird nachvollziehbar, warum der Europäische Rat unternehmerische Initiative als eine der „neuen Grundkompetenzen“ bestimmt hat, welche die gesamte Bevölkerung für das Leben und das Arbeiten in einer Wissensgesellschaft benötigt“ (Best-Project 2005, 8). Die Vermittlung von unternehmerischer Kultur sieht die Kommission als wichtigen Bestandteil der Bildung, um „Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum“ (ebd. 1) zu gewährleisten. Es ginge darum bei den SchülerInnen jenes Verhalten zu schulen, welches einen Unternehmer auszeichnet. „In Anlehnung an Schumpeter ordnet die EU den dynamischen Menschen, die Veränderung nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance sehen, die Innovationen gegenüber offen sind und diese initiieren, einen zentralen Stellenwert zu“ (Aff 2008, 298).

Gaus und Raith stellen die Bedeutung wachstumsstarker Unternehmen gerade für Deutschland heraus, indem sie aufzeigen, dass „in Deutschland die Gründungsneigung insgesamt im internationalen Vergleich sehr niedrig ist (5,4% der Gruppe der 18-64 Jahre) und tatsächlich nicht einmal halb so hoch wie in den USA“ (Gaus/Raith 2007, 19).

Schülerfirmen bieten aufgrund des hohen praktischen Gehalts, vielfältige Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten für die teilnehmenden SchülerInnen. Windels und Hübner betonen, dass die Schülerfirmenarbeit „eine  pädagogische Veranstaltung“ sei, die auf Basis von erworbenem ökonomischem Wissen dazu beiträgt, „ein besseres Verständnis der Abläufe innerhalb eines Betriebs zu erlangen“ (Windels/Hübner 2008, 247). Weiter schreiben sie, dass „Erkenntnisse über betriebswirtschaftliche und gesamtwirtschaftliche sowie ökologische und soziale Zusammenhänge erworben werden, um gegebene Rahmenbedingungen für die unternehmerische Tätigkeit erkennen zu können“ (ebd.). Ebenso können „Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensdispositionen, die auch für Arbeitnehmer eine hohe Bedeutung haben“ (ebd.) erworben werden, führen die beiden Autoren fort. Damit greifen sie genau den Punkt auf, den Bijedic anspricht, wenn sie sagt, dass moderne Berufsorientierung beide Seiten von Erwerbstätigkeit  ansprechen müsse.

1.1 Die vier Bedeutungsebenen des Schülerfirmenmodells

Ich habe mich für das Modell von Windels und Hübner entschieden, um die Bedeutungsebenen, die Schülerfirmen gemäß ihrem Bildungsanspruch haben, aufzuzeigen. Dieses Modell erscheint mir als geeignet, da es über die konkret berufsorientierende Funktion hinausgeht und dieses im Sinne von Kompetenzerwerb betrachtet wird und somit auch das erweiterte Verständnis von Berufsorientierung mit in den Blick nimmt.

1. Die Dimension der Persönlichkeitsentwicklung und die Förderung einer Lernkultur des selbstständigen Arbeitens und Lernens:

„Die Schülerfirma ist ein ganzheitlicher methodischer Ansatz, in dem inhaltliche, soziale und persönliche Aspekte systematisch verbunden sind“ (Windels/Hübner 2008, 250). So wird in Schülerfirmen fachliches Wissen vermittelt (beispielsweise in einer Fahrradwerkstatt die Funktionsweise von Rädern), persönlichkeitsbildende Kompetenzen (beispielsweise: Kommunikationsfähigkeit, Verantwortungsübernahme), soziale Kompetenzen (wie Teamarbeit, Kompromissfähigkeit) und Methodenkompetenzen (wie organisiere/plane ich notwendige Arbeitsschritte). Damit, so Windels und Hübner weiter, könne sich mit der Schülerfirmenarbeit „eine neue Lernkultur entwickeln“ (ebd.) Tramm und Gramlinger beschreiben diesen Aspekt als Lernen im Modell (Tramm/Gramlinger 2006, 7). „Die Lernenden „tauchen in das Modell ein“, sie treten als handelnde (und lernende) Subjekte im Modell auf“ (ebd.).

2. Förderung der erwerbstätigen Selbstständigkeit

Auf dieser Ebene geht es darum, die Jugendlichen über die Perspektive der selbstständigen Erwerbstätigkeit aufzuklären. „Die Schülerfirmenarbeit soll die Gründungsfähigkeiten der Jugendlichen und späteren Erwachsenen, und dabei insbesondere der Frauen, erhöhen“ (Windels/Hübner 2008, 250). Gaus und Raith schreiben, dass „die Förderung einer unternehmerischen und beruflichen Selbstständigkeit den Kern einer Entrepreneurship Erziehung“ bildet (Gaus/Raith 2007, 310). Dabei geht es in Schülerfirmen darum, unternehmerische Tugenden wie „Innovationsfreude, Risikobereitschaft, Selbstwertgefühl und Durchhaltevermögen“ (ebd. 307) zu fördern. Aff zeigt die weitreichenden Bedeutungen „unternehmerischer Tugenden“ auf, indem er sie als „eine wesentliche Voraussetzung für Mündigkeit“ (Aff 208, 312) bestimmt. Die oben genannten Eigenschaften seien unverzichtbar für eine dynamische Zivilgesellschaft und eine funktionierende Demokratie, da dadurch Verantwortung thematisiert würde. Eigenverantwortung auf der einen Seite, auf der anderen Seite eine gesellschaftliche Verantwortung, die gebraucht wird, um sich sozial, ökologisch, und politisch zu engagieren.

3. Die ökonomische Dimension

Durch den Ernstcharakter der Firma können betriebswirtschaftliche Erfahrungen gesammelt werden. Schülerfirmen orientieren sich an richtigen Unternehmen. Die Arbeitsprozesse sollen so real wie möglich die eines Unternehmens wiederspiegeln. So gibt es in einer Firma verschiedene Abteilungen bzw. Zuständigkeitsbereiche. Neben einer PR-Abteilung bestehen die Abteilungen der Buchhaltung, Geschäftsführung, Marketing, Produktion und Verkauf. Es werden reale Gewinne erwirtschaftet, die reinvestiert werden. Die Verantwortung liegt hierbei bei den SchülerInnen, die Entscheidungen treffen müssen. Die Lehrkraft fungiert eher als Berater oder Coach. Anders als in realen Unternehmen, werden Entscheidungen von allen SchülerInnen gemeinsam getroffen. Die Zuständigkeitsbereiche wechseln sich idealerweise ab (vgl. Liebel 1998, 215). Die Branchen, in denen Schülerfirmen existieren, sind breit gefächert. Holz- und Metallverarbeitung spiegeln den industriellen Sektor wieder. Auch Dienstleistungen übernehmen Schülerfirmen. So gibt es Fahrradwerkstätten und Bistros oder Reiseunternehmen. Es werden Nachhilfestunden angeboten und älteren Menschen PC-Kenntnisse vermittelt. Medienagenturen und Energieberatungsstellen für Schulen sind auch vertreten.

4. Die berufsorientierende Dimension

Die schulische Berufsorientierung hat zur Aufgabe, den ersten Übergang von Schule in das Arbeits- oder Beschäftigungssystem unterstützend zu begleiten. Windels und Hübner konstatieren, dass Schülerfirmen einen „erheblichen Beitrag leisten können“ (248), um jene Qualifikationen zu erwerben, die notwendig sind, um den Übergang zu meistern. Diese seien hier wiedergegeben:

„- übergangsrelevante Lern- und Arbeitsschritte planen, durchführen, reflektieren
- Informationen eigenständig beschaffen, auswerten
- vielfältige Beratungsangebote nutzen
- rationalere Entscheidungen treffen, realisieren
- Bereitschaft entwickeln, einen Wunschberuf anzustreben/Fehlannahmen zu korrigieren
- Arbeits- und Berufsfindungsprozesse als besondere Herausforderungen annehmen
- Fähigkeit entwickeln, realitätsbezogene Kompromisse zu schließen
- Bereitschaft entwickeln, geforderte Eingangsqualifikationen zu erbringen
- Ängste und Frustrationen bewältigen
- Selbstbewusstsein und Gelassenheit entwickeln
- die konkreten Bedingungen des Ausbildungs-und Beschäftigungssystems verstehen und  einordnen können, sowie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kennen
- sich der Einflussfaktoren der Berufswahl bewusst werden“ (ebd.).

1.2 Stand der Forschung

Ich möchte hier auf Studien eingehen, die Projekte beforscht haben, die auf eine Entrepreneurship Education abzielen. Die beschriebenen Studien werfen zentrale Aspekte des Lehr- und Lernarrangements auf. 

Im Abschlussbericht „Schülerfirmen im Sekundarbereich“ der Sachverständigengruppe der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2005 geht hervor, dass „in Europa bislang noch keine hinreichenden Untersuchungen hinsichtlich der Auswirkungen einer Beteiligung an den Schülerfirmenprogrammen auf die künftige Karriere der Schüler durchgeführt“ wurde (Best-Project 2005, 9). Dennoch kommen sie zu dem Ergebnis, dass der „Unternehmergeist bei Jugendlichen spürbar“ gefördert würde (ebd.). Zu einem anderen Ergebnis kommen Oosterbeek, Praag und Ijessenstein. Die Autoren haben 2008 eine Untersuchung in einer niederländischen Junior Achievement Company durchgeführt. Dieses Programm ist an eine Universität angegliedert und Studierende aus dem Wirtschaftsbereich können so praktische Erfahrungen sammeln. Sie haben untersucht, inwiefern die Teilnahme am Programm bei den  Studierenden unternehmerische Kompetenzen und die Neigung zur erwerbstätigen Selbstständigkeit fördert. Das Ergebnis war überraschend:

“The results show that the program does not have the intended effects: the effect on students’ self-assessed entrepreneurial skills is insignificant and the effect on the intention to become an entrepreneur is even significantly negative” (Oosterbeek/ Praag/ Ijessenstein 2008).

Des Weiteren möchte ich die Inmit-Studie zu Entrepreneurship Education-Projekten an deutschen Schulen aus dem Jahr 2010 nennen. Es handelt sich hierbei um eine Vergleichsstudie. Eine Gruppe hatte bei einem Entrepreneurship Education Projekt teilgenommen, eine Kontrollgruppe nicht. In der Befragung zum Thema Existenzgründung als erwerbstätige Perspektive kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass der Mädchenanteil in der Gruppe „Weiß noch nicht“ mit 46% deutlich stärker vertreten sei, als die der Jungen (32%). „Die Jungen geben häufiger Berufsplanungen mit Bestandteilen von unternehmerischer Selbstständigkeit an. Bei den Jungen beträgt dieser Anteil 55%, der vergleichbare Wert bei den Mitschülerinnen 39%“ (Inmit-Studie 2010, 18). Die Studie liefert auch Ergebnisse in Hinblick auf den Nutzen, den SchülerInnen durch die Teilnahme an einem Projekt für sich sehen: „Mit deutlichem Abstand sehen die Schülerinnen und Schüler in der Verbesserung der überfachlichen Kompetenzen sowie dem Erwerb und der Verbesserung des Wirtschafts- und unternehmensbezogenen Fachwissens ihren größten persönlichen Nutzen aus der Projektteilnahme“ (ebd. 42).

Die erwähnten Studien beziehen ihre Ergebnisse aus Befragungen und Interviews. Ethnographische Erfahrungsberichte aus Schülerfirmen sind mir nicht bekannt. Dieser Blick auf Schülerfirmen lohnt aber, denn nach de Haan zu urteilen findet sich bisher „wenig Literatur im Bereich der konkreten Empirie“ (de Haan 2009, 6).

Mit der teilnehmenden Beobachtung ergibt sich die Möglichkeit, den Bildungsinhalt auch auf der Ebene der Handlung zu befragen. Jener Inhalt, der nicht explizit, quasi im Konzept steht, sondern durch Handeln implizit vermittelt wird.

2 Empirie

Die von uns beforschte Schule ist eine Stadtteilschule in Hamburg. Sie realisiert mit der Umstellung auf den Ganztagsbetrieb wöchentlich einen jahrgangsübergreifenden Profiltag für die Klassen 9 und 10. Die SchülerInnen können während dieser Zeit in einer der Abteilungen der Schülerfirma arbeiten. Dafür müssen sie sich bewerben und dann beide Schuljahre in der Schülerfirma bleiben. Nach einem Jahr können sie die Abteilung wechseln. Die SchülerInnen, die sich nicht für eine Firma bewerben, bzw. keinen Platz dort erhalten, besuchen in der Zeit den berufsorientierenden Unterricht.

Die Arbeit dieser Schülerfirmen wurde von August 2013 bis Februar 2014 ethnografisch begleitet. Hier ist anzumerken, dass sich diese sieben Abteilungen nicht, wie in der Literatur beschrieben, nach Zuständigkeitsbereich (vgl. Liebel 1998, 215) aufteilen, eine Abteilung ist für die Buchhaltung, eine andere für die Produktion usw. zuständig und zusammen ergeben sie eine Firma, sondern jede der sieben Abteilungen wirtschaftet unabhängig mit eigenem Kapital. Somit ist in diesem Fall eher von sieben Firmen auszugehen. Vier Firmen sind dem Dienstleistungssektor zuzuordnen, eine dem Produktionssektor und zwei sind im Medienbereich tätig.

2.1 Methodisches Vorgehen und Darstellung des Datenmaterials

Die teilnehmende Beobachtung ist eine Methode der ethnographischen Forschung. Sie zielt auf die Beobachtung von Handlungen und Verhalten von Einzelpersonen oder Gruppen ab. Vor allem zu Beginn einer Forschung ist diese Methode sinnvoll, da sie aufgrund ihres explorativen Charakters erlaubt, wahrzunehmen was passiert, ohne gleich zu deuten.

In einer Firma sind 15-17 SchülerInnen.Zu Beginn haben meine Kollegin und ich alle sieben Abteilungen der Schülerfirma beobachtet, um herauszufinden, welche Abteilungen sich für die weitere Beobachtung besonders lohnen würden. Kriterium war dafür ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. Nach der Entscheidung für eine metallverarbeitende Werkstatt und einer Fahrradreparatur gingen aus der Metallwerkstatt 16 Protokolle und aus der Fahrradreparatur-Werkstatt 17 Protokolle hervor. Am Ende der ersten Feldphase wurden leitfadengestützte Interviews mit SchülerInnen geführt. Unser Fokus lag auf SchülerInnen, die a) einen konkreten Berufswunsch für sich artikulieren konnten, der in Bezug zu der Abteilung stand, b) auf SchülerInnen, die einen Berufswunsch für sich benennen konnten, der nichts mit der Abteilung zu tun hatte und c) SchülerInnen, die noch keine berufliche Perspektive hatten. Das Material beläuft sich auf 33 Interviews, die zwischen 6 und 15 Minuten lang sind. Den Fragebogen der Schule, der neben Fragen der Bewertung der Schülerfirma auch Veränderungsvorschläge und den beruflichen Nutzen befragt, haben wir sichten können. Der Fragebogen wurde mit SPSS quantitativ ausgewertet. Daneben hatten wir die Möglichkeit, an den Bewerbungsgesprächen der achten Klassen für eine Abteilung dabei zu sein.

Das Material gibt vielschichtige Einblicke in Handlungs- und Denkweisen wieder, die die Wahrnehmung und das zugrunde liegende Verständnis von Berufsorientierung in der Schülerfirma spiegelt. Es werden Einblicke in Fragen und Handlungsweisen von Lehrkräften und SchülerInnen ersichtlich und es kommen SchülerInnen als ExpertInnen in eigener Sache zum Thema Berufsorientierung zu Wort.

Die folgenden Protokollausschnitte beziehen sich hauptsächlich auf die metallverarbeitende Firma, da ich diese intensiv begleitet habe. Ich konnte die Herstellung eines Produktes mitverfolgen, sowie dessen Verkauf und die Findung einer neuen Produktidee. Die Interviews und der Fragebogen beziehen auch SchülerInnen anderer Firmen mit ein.

2.2 Beobachtungen in Hinblick auf die vier Bedeutungsebenen von Windels und Hübner

1. Die Dimension der Persönlichkeitsentwicklung und die Förderung einer Lernkultur des selbstständigen Arbeitens und Lernens:

Welche Kompetenzen durch die Teilnahme an der Schülerfirma erworben werden, kann durch die ethnographische Beobachtung nicht beantwortet werden. Handlungen und somit auch Sprechhandlungen können zwar analysiert werden, aber der dahinterstehende persönlich gesetzte Sinn kann den Handlungen nicht entnommen werden. Deswegen ziehe ich hier den Fragebogen der Schule heran, der den Zugewinn an Kompetenzen abgefragt hat. Die Frage:„Was glaubst Du, welche von den Dingen, die Du in der Firma gelernt hast, kannst du später im Berufsleben einsetzen?“ hat ergeben, dass sich die gewonnen Fähigkeiten und Kenntnisse von Abteilung zu Abteilung unterscheiden, je nach inhaltlicher Ausrichtung. Gemeinsam ist den sieben Abteilungen, dass die SchülerInnen den größten Nutzen in den erworbenen Fachkenntnissen sehen (Umgang mit der Kasse, Kochen, Grammatik, Rechtschreibung Umgang mit Geld, Verkaufsgespräche führen, Organisation, Kenntnisse über Werkzeuge und deren Anwendung). An zweiter Stelle stehen die sozialen Fähigkeiten wie Teamwork, Pünktlichkeit, Höflichkeit, Kundenkontakt, Verhandlungsfähigkeit, Kritikfähigkeit und auf Fremde zugehen. Dabei fällt auf, dass SchülerInnen der Firma, die für die MitschülerInnen kocht und diese Produkte dann in der Pause verkauft, öfter äußern, dass sie gelernt haben, mit Kunden umzugehen und auf Fremde zuzugehen, als das beispielsweise in der Firma der Schülerzeitung der Fall ist. Es wird deutlich, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen Tätigkeit und den geförderten Kompetenzen. Die Fähigkeiten, wie sie von Windels und Hübner angesprochen werden, beispielsweise „Informationen eigenständig beschaffen“ oder „Arbeitsschritte planen, die zu einem Ziel führen“, werden eher von Mitarbeitern in den beiden Medienabteilungen benannt.

Die Frage: „Nenne Dinge, die du in der Schülerfirma oder deiner Abteilung richtig gut findest?“ hat ergeben, dass die SchülerInnen das Arbeiten mit anderen überwiegend positiv einschätzen. Sie betonen die Teamarbeit und die dadurch entstehende gute Atmosphäre in der Abteilung. Man könne einander helfen und bei MitschülerInnen nachfragen. Hervorgehoben wird auch, dass man eigene Ideen einbringen könne und diese auch umgesetzt würden. Die SchülerInnen finden es gut, dass sich die Arbeitsweise vom normalen Unterricht abhebt und man sich ausprobieren kann. Auch äußern SchülerInnen, dass sie es gut finden, wie in einem Betrieb zu arbeiten. Einige Beispiele hierzu aus den Interviews:

I.: Also zunächst einmal würde ich gerne wissen, wie es dazu gekommen ist, dass Du Dich für die Schülerfirma statt für den Arbeit und Beruf- Unterricht entschieden hast.

B.: Weil ich lieber praktisch arbeite, als die ganze Zeit nur Theorie, und es mir auch (…) also ich habe von der Schülerfirma schon einiges gehört, und es wurde ja auch die Schülerfirma präsentiert einmal, die verschiedenen Bereiche, und ich fand das sehr interessant, deswegen wollte ich in der Schülerfirma arbeiten.

Die Entscheidung für eine Firma statt für den Arbeit und Beruf Unterricht wird motiviert durch die Möglichkeit, etwas Praktisches zu tun und etwas anderes zu erleben, als klassischen Unterricht, den die SchülerInnen kennen.

I.: Und warum für diese Firma? Was hat Dich daran angesprochen und was hat Dir gefallen?
B.: Also ich mag es im Handwerk zu arbeiten und da haben wir nur DIESE Firma halt.
I.: Sag mal, was hat Dich bewegt, in eine Schülerfirma zu gehen?
B.: Also …
I.: Und nicht in den Arbeit und Beruf Unterricht.
B.: Okay. Also wir hatten ja die Vorstellungen von Frau M. und Herrn C. und da wurden uns halt so verschiedene Bereiche vorgestellt und der Arbeit und Beruf Unterricht, und da ich ja SOWIESO  so viel Unterricht habe, Mathe, Englisch, Deutsch und sowas, habe ich mir überlegt, zur Schülerzeitung zu gehen, weil ich gerne Texte schreibe, also auch, wenn ich zum Beispiel meinen Freundinnen Geburtstagstexte schreibe oder so, da freuen die sich immer sehr rüber. Und ich wollte es mir halt, also ich wollte mir ein bisschen, also die deutsche Sprache näherbringen.

I.: Als Erstes würde ich ganz gerne wissen, wie ist es dazu gekommen, dass Du die Schülerfirma und nicht den Arbeit und Beruf Unterricht gewählt hast?
B.: Weil ich gerne in Firmen arbeite, also gerne mit anderen Leuten zusammen arbeite und bei Arbeit und Beruf (I.: Ja), da geht es mehr um Geld und ich bin zum Beispiel auch in die PR-Abteilung gegangen, weil ich für meinen Verein auch sehr viel Arbeiten mache, PR-technisch und ja.
I.: Ja, das wäre auch schon gleich meine nächste Frage, warum die PR-Abteilung, stand das von vornherein dann fest?
B.: Ich habe gesagt, wenn  Schülerfirma, dann PR-Abteilung, weil, ich arbeite selbst bei meinem Verein und so PR-technisch und deswegen.

Diese Aussagen zeigen deutlich, dass sich die SchülerInnen an ihren Interessen orientieren und gezielt jene Firmen wählen, die ihnen aufgrund des Inhalts am besten gefallen. Als Motivation zur Wahl einer bestimmten Firma wird auch genannt, dass sich die SchülerInnen in einem bestimmten Bereich verbessern bzw. dazulernen wollen. Nicht genannt wird, dass die Wahl einer Firma durch berufliche Interessen bestimmt wird, die SchülerInnen sehen den Wert der Firma aber als Zugewinn an Wissen, das sie Privat einsetzen können.

Nach Windels und Hübner können SchülerInnen durch die Teilnahme in einer Firma ihre Persönlichkeit entfalten. In einem Gespräch mit der Lehrkraft der metallverarbeitenden Werkstatt erfahre ich, dass sie nicht die Prognosen der SchülerInnen sehen wolle, dasie jedem unvoreingenommen eine neue Chance geben wolle.

Der Lehrer sucht immer wieder meine Nähe. Er erzählt mir, das Kathlen ein Teil nach dem anderen produziert und dass Hendrik gerne schnacken würde, aber wenn er arbeite, dann gut. Er erzählt mir über Paul, der kognitiv nicht so gut sei, aber einen guten Überblick über die Prozesse hätte und immer wisse, was dran sei. Dass Paul in diesem Bereich was machen müsse. Ich frage den Lehrer, ob er das den SchülerInnen rückmelde, wenn ihm so ein „Talent“ auffalle, oder ein Potential. Er verneint und meint, das sehe er nicht als seine Aufgabe. Aber wenn er direkt danach gefragt würde, dann schon. Eher Aufgabe der Klassenlehrer. Dann erzählt er mir die Schwierigkeit mit der Motivation der SchülerInnen im Stadtteil, die SchülerInnen seien oft die einzigen,  die morgens das Haus verließen. Er beklagt die Bildungsferne der Elternhäuser, dass da oft nicht geredet würde, man sich nur am Kühlschrank treffe. (20131107pal).

Aus dem Protokollausschnitt wird deutlich, dass die SchülerInnen außerhalb des regulären Unterrichts anders wahrgenommen werden. Er sieht das Potential in den SchülerInnen und denkt perspektivisch über Möglichkeiten nach, in welchem Bereich Paul berufliche Chancen hat. Doch sieht der Lehrer es nicht als seine Aufgabe, dieses Potential rückzumelden. Das heißt, dass es keine Absprachen zwischen FachlehreInnen, TutorInnen und FirmenleiterInnen gibt, die über gemeinsame SchülerInnen sprechen, um sie zu fördern oder anderweitig zu unterstützen.

2. Förderung der erwerbstätigen Selbstständigkeit

Diese Ebene, die Windels und Hübner anführen, ist die pädagogische Perspektive auf eine selbstständige Erwerbstätigkeit. Weber bemerkt, dass das pädagogische Arrangement der Schülerfirmenarbeit „im Gegensatz zur Entrepreneurship Education“ nicht darauf hinauslaufe, „den risikofreudigen und wagemutigen Unternehmer auszubilden, sondern Lernende in die Lage zu versetzen, an unternehmerischen Entscheidungen und Handlungen Chancen und Risiken des selbstständigen Unternehmertums zu erkennen“ (Weber 2002, 172). Dennoch gibt sie weiterhin an, dass „Schülerfirmen als Schulprojekte den großen Vorteil haben, dass der Ernst des realen Lebens zur Übernahme von Verantwortung nötigt und Selbstständigkeit nicht bloß im Spiel wahr leben lässt“ (ebd.).

Die SchülerInnen der metallverarbeitenden Firma haben Keksformen produziert, die sie auf der Weihnachtsfeier der LehrerInnen verkaufen sollten. Sie haben berechnet, dass sie zwei Euro pro Form nehmen müssen, um auf Plus-Minus-Null zu kommen.

Der Lehrer meint nun, dass die Bilanz schlecht sei, sie hätten rund ein Viertel der Formen verkauft. 40,- Euro hätten sie eingenommen, aber 200,- für Material ausgegeben. Dabei seien die fiktiven Kosten (Versicherungsbeiträge, Mietkosten) noch nicht mit berechnet. Die Einnahmen würden noch nicht einmal die Materialkosten decken. Er meint weiter, dass wenn es nun eine reale Firma sei, sie sich fragen müssten, ob sie das überleben können und wenn ja, wie? Beispielsweise durch einen Kredit, wenn glaubwürdig, gibt Lehrer an. Dann meint er, dass das neue Projekt ja wenig Kosten trage, da das Material in der Werkstatt vorhanden sei, dies wäre allerdings eine Milchmädchenrechnung, denn in einer echten Firma könnte man sich ja auch nicht so einfach Material von anderen Firmen leihen oder nehmen. Die SchülerInnen scheinen mir bei den Ausführungen des Lehrers ziemlich unbeteiligt (20140109pal).

Der Ausschnitt aus dem Protokoll zeigt auf, dass das Minus keine Konsequenzen für die SchülerInnen und die Firma hat. Sie fühlen sich durch die Ausführungen des Lehrers nicht wirklich angesprochen, denn es passiert nichts weiter. Der Lehrer bezieht die SchülerInnen nicht mit in seine Überlegungen ein, vielmehr räsoniert der Lehrer und geht dann über zum neuen Produkt, dass ja wenig Produktionskosten verursache. Damit fühlen sich die SchülerInnen nicht genötigt, über den Erhalt ihrer Firma nachzudenken. Was ist mit drohender Arbeitslosigkeit? Jegliche Lernerfahrung in Hinblick auf unternehmerische Selbstständigkeit bleibt aus. Auf  Seiten des Lehrers wird deutlich, dass dieser, obwohl er eine gute Idee benennt, unsicher des Handlungsspielraumes ist. Er spricht im Konjunktiv.

3. Die ökonomische Dimension

Wir hatten auch die Möglichkeit, bei den Bewerbungsgesprächen der achten Klassen für eine Firma dabei zu sein. Ein Ausschnitt:

Dann erkundigt sich die Lehrkraft nach den Mathematikkenntnissen, woraufhin V. sagt „Da bin ich schlecht“. Im Anschluss an dieses Gespräch bemerkt Frau H., welche Schwierigkeiten mit der Auswahl der Schüler verbunden sind. V. hat eigentlich weder Motivation gezeigt im Laden zu arbeiten, noch scheint sie sich dafür zu qualifizieren. Doch trotzdem zieht Frau H. in Betracht, sie in die Auswahl zu nehmen. Sie vermutet, dass die Schülerin durch die praktische Arbeitsweise im Laden positive Erfahrungen sammeln könnte, die sie aus pädagogischer Sicht brauchen würde. Die Frage bleibt offen, ob dies unfair den Schülern gegenüber wäre, die sich die Mitarbeit im Laden wünschen.

Die SchülerInnen müssen sich auf einen Platz in der Firma bewerben. Fähigkeiten in Mathematik scheinen ein Einstellungskriterium zu sein, sie werden abgefragt. Die Schülerin kann die Matheaufgabe nicht lösen und wirkt auch so unmotiviert, dennoch zieht die Lehrerin ihre Einstellung in Betracht. Es wird eine Bewerbungssituation, wie auf dem freien Arbeitsmarkt inszeniert, doch wird diese nicht durchgehalten, da sich Zweifel aus pädagogischer Sicht für die Lehrerin ergeben. Das Spannungsfeld zwischen Nachahmen eines realen Unternehmens und pädagogischem Setting wird deutlich.

Zwei Schüler haben ihre Schulden beglichen und werden darauf hingewiesen, dass sie sonst eine Abmahnung bekommen hätten. 2 Schüler seien aus einer anderen Firma herausgeflogen und müssten sich nun neu bewerben. In Arbeit und Beruf können sie nicht wechseln. Sie müssen sich nun bei einer anderen Firma bewerben, was nicht leicht sei. Das sei im Berufsleben ähnlich. Sie können niemanden mehr aufnehmen, die Firma sei voll (20131205pjr).

Schülerfirmen sollen möglichst viel Simulation durch Realität ersetzen, doch stellt sich hier die Frage, wie eine Kündigung real umzusetzen ist. Denn diese SchülerInnen können ja nicht arbeitslos bleiben, da sie schulpflichtig sind. Das bedeutet, dass sie sich für eine andere Firma bewerben müssen. Hier stellt sich die Schwierigkeit, dass diese keine freien Stellen zur Verfügung haben kann. An dieser Problematik zeigt sich, dass die Simulation der realen Arbeitswelt aufgrund des pädagogischen Settings an ihre Grenzen stößt.

Er sei insgesamt unzufrieden mit seiner Aufgabe und der Organisation. Eigentlich war die Idee, dass es eine möglichst reale Firma sei, aber so real wäre die Arbeit hier gar nicht. Er habe die Idee, mit den Schülern zu erarbeiten, was sie glauben, was sie bräuchten, damit die Firma auch unabhängig von der Schule funktioniere. Die Hauptabnehmer der Räder seien Lehrer. Es sei nicht so, dass sie die Räder nicht auch brauchen würden, aber die Firma sei sehr an die Schule gebunden. Ich frage, wie lange eine Firma pleite sein dürfe und ob sie von der Schule deswegen auch geschlossen werden könne. Das wusste der Lehrer. nicht (20140116pjr.)

Er sagt, dass für ihn viele Ungereimtheiten bestünden, die mit der Firma zu tun hätten. Er fragt sich, wie real denn diese Firma sei. Auch hätte er sich im Internet erkundigt, was andere Schülerfirmen denn so machen und er meint, dass kaum jemand Metall verarbeiten würde, wegen der eingeschränkten Mitwirkungsmöglichkeiten. Eigentlich dürften sie ja aus Schutzbestimmungen kaum was selber tun. (20140123pal).

An diesen beiden Protokollausschnitten wird deutlich, dass die Lehrkräfte selber in Unsicherheit darüber sind, wie real so eine Firma sein soll. Auch wird von dem Lehrer betont, dass die SchülerInnen wenig ausprobieren können, aufgrund der Sicherheitsbestimmungen.

Dann geht er über zum nächsten Thema, dem neuen Produkt. Er fragt, welche Kriterien angewendet werden müssen für das neue Produkt.
Er geht zu Tafel und fragt: „Worauf also achten?“
Steve: „Kosten“
Mesud: „Material“
Lehrer: „Was für Material?“
Mesud: „Max Bahr“
Der Lehrer meint zu Mesud, dass er seine Aussage präzisieren müsse, was er denn genau mit Material meine. Die SchülerInnen lachen. Der Lehrer ermahnt mit einem „ey“.
Paul: „Produktionszeit“.
Das notiert der Lehrer an der Tafel, ohne Kommentar.
Mesud: „Aber wir brauchen doch Material.“
Der Lehrer antwortet Mesud nicht, er fragt: „Was sind die Gesichtspunkte unter denen wir entscheiden, das geht, das geht nicht?“
Steve: „Werkzeuge.“
Schüler: „Rechtliche Überlegungen.“
Lehrer sagt etwas zu dem Beitrag, doch kann ich akustisch nicht folgen.
Mesud: „Arbeiter.“
Lehrer: „Die seid ja ihr.“
Es wird unruhig.
Der Lehrer erklärt die zu verwendenden Materialien, also einen Aspekt davon, nämlich dass die Verarbeitbarkeit gewährleistet sein muss.
Mesud: „Das meinte ich mit Material.“
Lehrer: „Wär dann auch schön, wenn du das sagen könntest.“
Ein wichtiger Aspekt fehlt wohl, so der Lehrer. Schüler: „Ob sich das Produkt verkaufen lässt.“ L: „Marktfähigkeit.“
Dann fordert er auf, sich Gedanken über Produkte zu machen und diese mit den Kriterien abzugleichen. Es klingelt zur Pause.
Nach der Pause meint der Lehrer zu den SchülerInnen, dass es eine ganze Reihe von Schülerfirmen in der Republik gäbe, aber Metall eher selten, da sich da nicht so viele ran trauen würden. Er fragt in die Runde, ob es Ideen gäbe. Erdem meint Schlüsselanhänger. Dann erzählt der Lehrer noch von einem Würfel, aber das sei schwierig, wenn dieser, da Metall, über Muttis Wohnzimmertisch rollen würde, wegen der Spuren. Figurenmobiles fände er ganz nett. Er bittet die SchülerInnen an den Tisch zu kommen, um sich die Ausdrucke anzuschauen. Die SchülerInnen scheinen etwas uninteressiert und nicht ganz überzeugt.

Der Lehrer fragt Kriterien ab, die das neue Produkt haben muss, um hergestellt werden zu können. Dann fordert er die SchülerInnen auf, sich Gedanken zu machen. Doch geht der Lehrer nicht mehr auf die Ideen der SchülerInnen ein. Es werden Mobiles gemacht. Der Lehrer fragt zwar nach Vorschlägen, aber nimmt diese nicht an. Die Frage die er stellt, bleibt rhetorisch. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass eine Diskrepanz besteht, zwischen dem Konzept, das vorsieht, dass es die SchülerInnen sind, die Ideen entwickeln und der tatsächlichen Handlungsweise. Ein grundsätzlicher Prozessschritt, nämlich der einer Produktfindung wird stark verkürzt. Ein Schüler sagt, dass es darauf ankäme, ob sich das Produkt verkaufen lässt. Hier würde beispielsweise eine Phase von Marktforschung beginnen können. Dass sie diesen Schritt aussparen, hat Auswirkungen auf den Nichtverkauf ihres letzten Produktes gehabt, die Keksformen. Einwände dazu kommen allerdings von den SchülerInnen:

Wenn SchülerInnen Hauptabnehmer sind, dann kann eine Keksform nicht zwei Euro kosten, so wie ein Schüler treffend anmerkt: „Da geh ich lieber zu Netto und kauf zehn dafür“. (20131109pal).

Die Kosten der Produktion stimmten also nicht mit dem, was die potentiellen Kunden – SchülerInnen – bereit sind zu zahlen, überein. Auch wenn Lehrkräfte bestärkend auf die SchülerInnen einredeten, dass Selbstgemachtes seinen Preis habe und sie diesen selbstbewusst vertreten sollen, so scheiterte dieser Gedanke doch am Inhalt des Geldbeutels der HauptabnehmerInnen.

Ein Schüler sagte, dass ihm langweilig sei. Die Lehrkraft gab zur Antwort, dass der Schüler so tun müsse, als ob er etwas zu tun habe. Im Betrieb sei es auch nicht anders, sonst würde er im kommenden Monat nicht wiederzukommen brauchen, er sei dann ja überflüssige Arbeitskraft (20131107pal).

Mit der Antwort der Lehrkraft wird deutlich, dass sich in diesem exemplarischen Fall das Verständnis der Lehrkraft  von dem unterscheidet, was Schülerfirmen wollen. Soll die Teilnahme an einer Schülerfirma gemäß ihrer Konzeption „unternehmerisches Denken und Handeln“ befördern, wird von der Lehrkraft hier eine Perspektive auf das Arbeitnehmerdasein betont, bzw. der Konsequenzen, die sich für den Schüler aufgrund solchen Verhaltens daraus ergeben. Es mag sein, dass als eine Art Soft-Skill die Fähigkeit so zu tun als ob manchmal nützlich ist, aber gemäß der Konzeption gibt es in der Schülerfirma kein so tun als ob, sondern die SchülerInnen sind UnternehmerInnen (vgl. Liebel, 1998, 214).

4. Die berufsorientierende Dimension:

„Was nehmt Ihr für euch mit aus der Firma?“
Jam: „Neues Wissen über Räder.“
Dominik: „Verkaufsgespräche führen, Kundenkontakt.“
Lehrer: „Lernt Ihr hier etwas über Berufsprozesse?“
Dominik erzählt, dass es keine Pause mit den anderen gebe und die Pause kürzer sei. Mo pflichtet ihm bei. Die Lehrkraft möchte wissen, ob es Ihnen etwas für ihre spätere Berufswahl bringe. Mo sagt, dass er ja schon wisse, was er machen will. Sabrina sagt, sie wisse es noch nicht und es interessiere sie jetzt auch noch nicht. Dominik erklärt, dass er auch vorher schon mal handwerklich gearbeitet habe (20131107pjr).

Die berufsorientierende Funktion, die Windels und Hübner ansprechen, ist m.E. die abstrakteste Dimension, das wird aus den aufgeführten Ausschnitten aus Protokoll und Interviews deutlich. Sie bedarf der Fähigkeit, das gelernte Handlungswissen in der Schülerfirma auf eine andere Situation, nämlich die des Berufsorientierungsprozesses, zu übertragen.

I.: Und weißt Du (…) Du weißt schon, was du werden möchtest?
A.: Ja.
I.: Und hat das einen Bezug zur Schülerfirma?
A.: Nein, gar nicht. Nein.
I.: Nee? Was möchtest Du denn werden?
A.: Zahnarzt.

I.: Warum hast Du dich für eine Firma statt für Arbeit und Beruf entschieden.
B.: Weil da eher meine Fähigkeiten liegen, also im Handwerklichen.
I.: Weißt Du schon, was Du werden möchtest?
B.: Ja, also IT-Systemkaufmann.

I.: Und hat Dein Berufswunsch konkret mit der Schülerfirma zu tun?
C.: Also eigentlich nicht. Also ich möchte Krankenschwester werden und da brauche ich es ja eigentlich nicht so direkt. Aber es ist halt auch wichtig als Krankenschwester, ordentlich zu reden, freundlich zu reden, und das ist also, irgendwie bringt es mir ja schon etwas.

In diesem Interviewausschnitt ist eine Transferleistung zu erkennen, die Interviewte sieht den Zugewinn an Fähigkeiten „gut zu sprechen“ als wertvoll für ihren Berufswunsch an.

Auffällig bei der Analyse der Fragebögen war auch, dass SchülerInnen mit einer ESA-Prognose (Erster Schulabschluss, vergleichbar mit dem Hauptschulabschluss) am wenigsten für ihre berufliche Zukunft aus der Arbeit in der Schülerfirma mitnehmen können. Verglichen mit SchülerInnen der anderen beiden Prognosen MSA (mittlerer Schulabschluss/ Realschulabschluss) und SEK.II (Abitur) geben sie öfter an, dass sie nichts für ihre berufliche Zukunft mitnehmen können und begründen dies damit, dass sie entweder noch nicht wissen, was sie werden wollen, oder einen anderen Berufswunsch haben. Hier muss man bei den Ergebnissen aber aufpassen, da sich die Auswertung mit SPSS auf eine kleine Gruppe bezog und die Aussage eines Schülers so bis zu  10% werten kann. Dennoch schließt sich hier die Überlegung an, ob das Lernarrangement jenen, die dem Übergang am nächsten stehen, am wenigsten bei dem Berufsorientierungsprozess unterstützt,  da der Transfer nicht geschafft wird und abstrakt bleibt.

3 Zusammenfassung/Fazit

Aus meiner Analyse ziehe ich folgende Schlussfolgerungen:

1. SchülerInnen ziehen vielfältige Erfahrungen und Kompetenzen für sich aus der Firmenarbeit. Die Soft-Skills werden gefördert und von den SchülerInnen als bedeutend für ihre berufliche Laufbahn erachtet, das zeigt sich in der Auswertung der Fragebögen. In Zeiten, in denen sich Arbeits- und Berufsforscher fragen, wie moderne Berufsorientierung aussehen kann, wenn man nicht mehr auf einen Beruf hin lenkt und Berufsbilder starken Veränderungen unterworfen sind, macht es durchaus Sinn, allgemeingültige Kompetenzen zu fördern.

2. Die SchülerInnen wählen eine Firma, weil sie „was anderes als Unterricht ist“. Die Frage, die sich hier stellt ist, inwiefern die SchülerInnen die Firmenarbeit als Berufsorientierung wahrnehmen. Vor allem jenen, die dem Ende ihrer Schulzeit am nächsten stehen, bringt die Teilnahme an der Firma wenig.  

3. Die Ebene der erwerbstätigen Selbstständigkeit als berufliche Perspektive wurde in den von uns beobachteten Firmen nicht angesprochen.

4. Schwierigkeiten werden hinsichtlich der „Realität und Simulation“ dieser Unterrichtserweiterung  ersichtlich. Somit belaufen sich reale Lernerfahrungen, die mit Erfahrungen des Arbeitsmarktes zu tun haben, meist auf dem Versuch, präventiv (im Konjunktiv) mögliche Konsequenzen aufzuzeigen.

5. Die berufsorientierende Funktion, die Windels und Hübner ansprechen, ist m.E. die abstrakteste und bedarf einer Reflexion auf Seiten der Lehrkräfte und auf Seiten der SchülerInnen.

6. Die Frage ist, ob sich durch die Teilnahme an einer Schülerfirma bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt auftun.

Abschließend möchte ich ein Zitat einbringen, da ich denke, dass wenn es ein Stück weit umgesetzt werden würde, beispielsweise, dass die SchülerInnen sich selber überlegen müssen, wie sie ihre Firma retten können oder Erfahrungen sammeln können, die im Sinne der berufsorientierenden Dimension von Windels und Hübner zu lesen sind, als es darum geht, „einen Raum offen zu halten – einen Raum für die Möglichkeit des Scheiterns, der Erfahrung und der Veränderung“ (Sternfeld 2012, 126). Dann würden sie sich selbst einbringen, als aktiv gestaltend erleben.

Literatur

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Textilberufe Hands-on: Lehramtsstudierende entwickeln einen Berufsorientierungspfad für textile Ausbildungsberufe

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1 Berufsorientierung in der Sekundarstufe I

1.1 Rahmenvorgaben für die Lehramtsausbildung

Die Kultusministerkonferenz der Länder der Bundesrepublik Deutschland (KMK) setzt den gesetzlichen Rahmen für die Inhalte der fachlichen Anforderungen im Lehramtsstudium. Das bereichsspezifische Kompetenzprofil für das Studienprofil Textil im Fächerkomplex Arbeit, Wirtschaft, Technik enthält neben gestalterischen Aspekten Anforderungen an berufsorientierende und naturwissenschaftlich-experimentelle Kompetenzen. Demnach sollen Studienabsolventinnen und -absolventen u.a. über grundlegende Kenntnisse der Berufe im Bereich Textil und Mode verfügen, elementare natur- und kulturwissenschaftliche Arbeitsmethoden beherrschen sowie kulturelle, ästhetische, ökonomische, ökologische und gesundheitliche Aspekte von Mode und Textil reflektieren können. Sie sollen Erfahrung im Entwerfen, Gestalten, Experimentieren und Bewerten im Bereich Mode und Textil haben. Außerdem sollen sie Modelle und Konzepte der Analyse, Planung, Organisation und Evaluation der Vermittlung von mode- und textilwissenschaftlichen Inhalten kennen und über erste reflektierte Erfahrungen im Planen und Gestalten von Textilunterricht verfügen. (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland (KMK) 2014, 16)

1.2 Berufsorientierung in der Sekundarstufe I in Baden-Württemberg

Die Berufsorientierung in der Sekundarstufe I in Baden-Württemberg umfasst Angebote zur Orientierung im Ausbildungs- und Wirtschaftssystem, wie beispielsweise Informationen über Bildungswege, betriebliche und schulische Ausbildungsgänge und Ausbildungsverhältnisse. Betriebs- und Arbeitsplatzerkundungen zielen darauf, sich über Berufe zu informieren und möglichst auch praktische Erfahrungen zu sammeln. Von Bedeutung sind gemäß dem vorliegenden Bildungsplan für die Realschule reale Begegnungen durch Praktika oder Begegnungen mit Menschen, die in den Berufen arbeiten oder in der Ausbildung sind. (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2004, 184ff.) In den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für eine Berufsorientierung in der Realschule verankert ist die Anforderung an die Fachlehrkräfte, praktische Bezüge zur Arbeitswelt herzustellen: „Als Thema der Schulgemeinschaft weist jedes Fach und jeder Fächerverbund an geeigneten Stellen auf berufsorientierende Aspekte hin und schafft praktische Bezüge zur Arbeitswelt“(Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2004, 184).

Neben einer schülerzentrierten projektorientierten Berufsorientierung in der Schule sollen Lehrpersonen auch typische Berufsbilder in Bezug zu ihren Unterrichtsfächern vermitteln. Doch die meisten Lehrkräfte verfügen kaum über berufsbezogene Erfahrungen außerhalb des Bildungsbereichs, wenn sie direkt nach ihrem Schulabschluss das Lehramtsstudium absolvieren. Wie sollten sie auch berufs- und berufsfeldbezogene Kenntnisse erlangen, wenn sie weitestgehend direkt von der Schule an die Hochschule gewechselt haben, um anschließend als Lehrkräfte wieder in der Schule zu wirken? Vor diesem Hintergrund sind Lehrkräfte an allgemein bildenden Schulen im Hinblick auf die geforderte Vermittlung von Berufsorientierung darauf angewiesen, möglichst authentische Materialien zur Verfügung zu haben, um Schülerinnen und Schülern (SuS) Einblicke in die Berufswelt und Anregungen zur Berufswahl geben zu können.

Im neuen Bildungsplan der Sekundarstufe für Baden-Württemberg soll die Berufs- und Studienorientierung gestärkt und ab dem Schuljahr 2015/16 als eines von sechs fächerübergreifenden Leitprinzipien in den neuen Bildungsplänen verankert werden (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2014c). Die derzeit noch projektartig angelegte Berufsorientierung Realschule (BORS) soll durch ein curriculares und fächerübergreifendes System abgelöst werden, das die Berufsorientierung stärker als querschnittsorientierte Zielsetzung sowohl fachlich als auch als Schwerpunkt in die Schule integriert. Damit soll die Berufswahlorientierung in das spiralförmige Schulcurriculum integriert werden. (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2014a)

1.3 Berufsorientierung im Berufsfeld Textil und Mode

Aktuell findet sich im Realschulcurriculum in Baden-Württemberg das Fach Mensch und Umwelt, welches neben der Ernährungsbildung textile Bildungsinhalte aufweist. Mit dem neuen Bildungsplan wird dieses Fach in den Fächerverbund Alltagskultur, Ernährung, Soziales überführt, in welchem weiterhin textile Bildungsinhalte von Bedeutung sein werden (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2014b). Eine berufsfeldbezogene Berufsorientierung vor allem zu den Berufsfeldern Ernährung, Gesundheit sowie Mode und Textil bietet sich aktuell im Fach Mensch und Umwelt und im zukünftigen Fächerverbund an.

Vor diesem Hintergrund setzt die Entwicklung des TEXperten®-Koffers an, um Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I eine handlungsorientierte Auseinandersetzung mit modernen Ausbildungsberufen im Berufsfeld Textil und Mode zu ermöglichen. Der Koffer enthält zwanzig Hands-on Experimente und zehn Schaustücke, die Eigenschaftsprofile moderner textiler Materialien erfahrbar machen. Kombiniert mit Informationsmaterial zu den textilen Ausbildungsberufen bietet er vielfältige Möglichkeiten für den Einsatz in Schulen, Unternehmen oder im Rahmen von Berufsorientierungsangeboten anderer Akteure (vgl. Gehlen/Grundmeier/Friedrich 2013; Gehlen/Grundmeier 2013b). Bei der Konzeption und Erprobung der Experimentiermaterialien haben Lehramtsstudierende des Studienfachs Haushalt/Textil sowie des mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächerverbunds als angehende Fachlehrkräfte mitgewirkt. Die Experimente können neben der Berufsorientierung sowohl im fachlichen Kontext der Verbraucherbildung angesiedelt oder im naturwissenschaftlichen Unterricht eingesetzt werden (vgl. Grundmeier/Gehlen 2012; Gehlen/Grundmeier 2013a). Lehrkräften können so leichter auch im textilen Fachunterricht Berufsbezüge herstellen, denn Jugendliche nehmen die modernen Unternehmen und Ausbildungsberufe im Textilsektor nur eingeschränkt als Option für sich wahr.

2 Die Textil- und Bekleidungsbranche als Ausbildungsanbieter

2.1 Textil- und Bekleidungsunternehmen in Deutschland

Die Textil- und Bekleidungsindustrie beschäftigt in Deutschland ca. 120.000 Personen in 1.200 überwiegend mittelständischen Unternehmen und ist nach der Lebensmittelindustrie die größte Konsumgüterbranche (Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie e.V. 2014b). Ihre Erzeugnisse werden den drei Hauptgruppen Bekleidungstextilien, Heim- und Haustextilien sowie den technischen Textilien zugeordnet. Zu den Haus- und Heimtextilien zählen beispielsweise Bett- und Tischwäsche, Hand- und Geschirrtücher, Vorhänge, Teppiche oder Möbelbezugsstoffe. Technische Textilien werden in der Medizin, im Transport- und Verkehrswesen oder im Bereich der Sicherheit und im (Umwelt-)Schutz verwendet (Gesamtverband der deutschen Textil und Modeindustrie e.V. (Gesamtverband textil+mode), Fachverband der Österreichischen Textil-, Bekleidungs-, Schuh- und Lederindustrie (WKO), Textilverband Schweiz (TVS) 2012, 5). Zu den technischen Textilien zählen beispielsweise Wundversorgungstextilien oder chirurgische Fäden, Sicherheitsgurte, LKW-Planen, Warnwesten und Arbeitsschutzbekleidungen oder auch Industriefilter und Faserverbundstoffe, die in Windkraftanlagen oder im Flugzeugbau eingesetzt werden. Der Marktanteil der Bekleidungstextilien beträgt heute rund 30% und 20% bei Haus- und Heimtextilien, auf technische Textilien entfallen inzwischen über 50% mit steigender Tendenz (vgl. Verband der Nordwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie e.V. 2014, 15).

Diese Marktsegmentierung ist ein Zeichen dafür, dass die Textil- und Bekleidungsindustrie in Deutschland sich im letzten Jahrzehnt zum Hightech-Industriezweig für innovative technische Textilien entwickelt hat, indem faserbasierte Werkstoffe in immer mehr Einsatzbereiche und neue Anwendungsgebiete vorstoßen. Zunehmend fungiert die Textilindustrie als Zulieferer für industrielle Branchen wie den Fahrzeugbau, die Luftfahrtindustrie und die Medizintechnik. Entgegen dieser Entwicklung ist das Image der Textil- und Bekleidungsindustrie jedoch nach wie vor durch die Modebranche geprägt. Die Begriffe Bekleidungs- bzw. Modeindustrie und Textilindustrie werden oft synonym verwendet, wodurch die textilerzeugende Branche, die nach wie vor in Deutschland ansässig ist, nicht von der Modeindustrie mit ihrer vorwiegend ausländischen Fertigung abgegrenzt wird. Da die Produktion in der Bekleidungsindustrie, die so genannte Konfektion, nur bedingt automatisierbar ist und daher arbeits- und lohnintensiv bleibt, erfolgt diese überwiegend im kostengünstigeren Ausland. Über 95 % der Bekleidungsproduktion wird als passive Lohnveredlung oder heute vorherrschend als so genanntes Vollgeschäft getätigt, womit eine komplette Beschaffung der Ware aus dem Ausland im Gegensatz zur (Teil-)Fertigung im Ausland gemeint ist (vgl. Mecheels 2010).

2.2 Ausbildungsberufe im Berufsfeld Textil und Mode

Insgesamt können Jugendliche und junge Erwachsenen aus einer Gesamtzahl von 328 anerkannten dualen Ausbildungsberufen auswählen (vgl. Bundesinstitut für berufliche Bildung 2014). Die aktuellen Ausbildungsberufe der Textil- und Modeindustrie umfassen eine kleine, übersichtliche und recht deutlich abgrenzbare Berufsgruppe mit derzeit 27 industriellen und handwerklichen sowie auch Splitterberufen, die in den vergangenen Jahren neu geordnet und aktualisiert worden sind (vgl. Grundmeier/Reuter 2013, 694ff.). Die umfassenden Neuordnungsverfahren dienen der Sicherung einer breiten, flexiblen und qualifizierten Ausbildung von Nachwuchskräften in der Textil- und Bekleidungswirtschaft, um Produkt- und Prozessinnovationen gewachsen zu sein und die Wettbewerbsfähigkeit der Textil- und Bekleidungsunternehmen auf dem globalen Weltmarkt zu erhalten und zu fördern. Die Textil- und Bekleidungsindustrie kann daher auf eine Reihe an Ausbildungsberufen verweisen, die Jugendlichen eine Perspektive bieten: Maschinen- und Anlageführer/in Textiltechnik oder Textilveredlung, Produktionsmechaniker/in, Textillaborant/in, Produktprüfer/in, Produktveredler/in, Produktgestalter/in, Technische/r Konfektionär/in, Textilreiniger/in Modenäher/in, Modeschneider/in (vgl. Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie 2014b). Die textiltechnischen Ausbildungsberufe sind bezüglich der geforderten Kompetenzen im naturwissenschaftlich-technischen Bereich einzuordnen und könnten daher zu den sog. MINT-Berufen gezählt werden (MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik), werden jedoch häufig außerhalb der Branche nicht als solche wahrgenommen.

Insgesamt konnte die Textil- und Bekleidungsindustrie im Jahr 2013 mehr als 1800 Ausbildungsverträge verzeichnen. Die Verteilung der Ausbildungsverträge (s. Abbildung 1) zeigt, dass über ein Viertel den bekleidungstechnischen Ausbildungsberufen Modenäher/in und Modeschneider/in zuzuordnen sind. Jedoch sind auch die technisch-orientierten Berufe stark vertreten, insbesondere der Ausbildungsberuf zum/zur Produktionsmechaniker/in und zum/zur Maschinen- und Anlageführer/in. Angesichts des hohen Marktanteils an technischen Textilien, die in Deutschland produziert werden, bieten vor allem die textiltechnischen Ausbildungsberufe den Jugendlichen Chancen auf dem inländischen Arbeitsmarkt.

Abbildung 1: Ausbildungsverträge in der Textil- und Bekleidungsindustrie im Jahr 2013 (Gesamt N=1838). (Nicht enthalten sind die Ausbildungsberufe des Handwerks, z. B. im Bereich der Lederherstellung) (Gesamtverband der deutschen Textil und Modeindustrie e.V. 2014a)Abbildung 1: Ausbildungsverträge in der Textil- und Bekleidungsindustrie im Jahr 2013 (Gesamt N=1838). (Nicht enthalten sind die Ausbildungsberufe des Handwerks, z. B. im Bereich der Lederherstellung) (Gesamtverband der deutschen Textil und Modeindustrie e.V. 2014a)

2.3 Die Textil- und Bekleidungsindustrie im Wettbewerb um Auszubildende

Die Unternehmen der Textil- und Bekleidungsindustrie stehen heute aufgrund des Fachkräftemangels mehr denn je mit anderen Branchen im Wettbewerb um qualifizierte Auszubildende und Fachkräfte. Zudem sind Berufe in der Textil- und Modeindustrie in ihrer Vielfalt Lehrpersonen und Schülern der allgemein bildenden Schulen selten bekannt. Es ist davon auszugehen, dass die meisten Lehrkräfte zahlreiche der über 300 Ausbildungsberufe in Deutschland nicht kennen, weshalb sie in der Phase der Berufsorientierung ihrer Schülerklientel nur ein eingeschränktes Spektrum vermitteln können. So kommt es, dass bestimmte Ausbildungsberufe insbesondere im gewerblichen Bereich in weniger populären Branchen von den Jugendlichen nicht in ihre Berufswahl einbezogen werden. Hinzu kommt, dass Jugendliche zunehmend den Weg einer weiterführenden schulischen Laufbahn und Studienorientierung wählen (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2014, 47ff.). So treten Passungsprobleme zutage, bei denen eine hohe Zahl suchender Jugendlicher einer hohen Zahl an offenen Ausbildungsstellen gegenübersteht (vgl. Matthes/Ulrich 2014; Matthes et al. 2014).

Eine kürzlich von der Universität Münster durchgeführte Befragung von 700 Bewohnerinnen und Bewohnern von Nordrhein-Westfalen im Alter von 14 bis 40 Jahren zum Image der Textilbranche hat zum Ziel herauszufinden, mit welchen Maßnahmen die Textilbranche ihr Image verbessern kann, um junge Fachkräfte und Auszubildende zu rekrutieren. „Hier lässt sich feststellen, dass der Bereich der Bekleidung eher ein negatives Image aufweist. Für den Bereich der Heim- und Haustextilien ist es durchwachsen. Das Image der Technischen Textilien ist in Relation zu anderen Branchen eigentlich gut. Das Problem liegt eher darin, dass die Befragten zwar ein grundsätzlich positives Bild vom Bereich der Technischen Textilien haben. Bei den Probanden überwiegt insgesamt allerdings auch das Gefühl, kaum etwas über die Branche zu wissen. Umgekehrt verhält es sich im Bereich der Bekleidung.“ Die Forschungsstelle für allgemeine und textile Marktwirtschaft empfiehlt deshalb eine verstärkte Aufklärung und Information der Zielgruppe (vgl. Verband der Nordwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie e.V. 2014, 56f.).

In der Imagebefragung sind drei Merkmale identifiziert worden, die das Image der Textilbranche ausmachen: Neben der Entwicklungsperspektive (Karrieremöglichkeiten, Arbeitsplatzsicherheit, Gehalt) und der Tätigkeit, wurde die Öffentlichkeitswirkung, die von der Branche ausgeht, als Faktor, der sich auf das Image auswirkt, identifiziert (vgl. Marwick-Ebner 2014). Die Branche dient als Kriterium der Vorselektion für eine Bewerbung (vgl. Verband der Nordwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie e.V. 2014, 56f.). Da bei der Berufswahl neben Interesse unbewusst Prestige und Geschlechtszuschreibungen die Auswahl akzeptabler Berufe einschränken (vgl. Gottfredson 1981, zit. in Steinritz/Kayser/Ziegler 2014), dürfte das Image einer Branche ein nicht unerheblicher Faktor bei der Entscheidung Jugendlicher für einen Ausbildungsberuf in der Branche sein.

Die Textilindustrie hat es vor diesem Hintergrund nicht leicht, ihre Ausbildungsstellen mit qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern zu besetzen. Die Branche hat einen starken Strukturwandel in den letzten Jahren durchlaufen und das Image hinkt der Entwicklung hin zu einer innovativen Branche im Bereich der technischen Textilien hinterher. Da sich Jugendliche bei ihrer Berufswahl an den ihnen bekannten Berufen orientieren, ist es für eine Berufswahlentscheidung wichtig, ihnen einen Überblick über die Struktur der Ausbildungswege zu geben und Branchen, Berufe und Fächer aufzuzeigen. Die Online-Imagekampagne Go Textile! (Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie 2014c) ist als Informationsquelle für Ausbildungsberufe in der Bekleidungs- und Textilindustrie entwickelt worden, um interessierten Jugendlichen eine berufsfeldbezogene Orientierung mit Unternehmensinformationen und Ansprechpartnern in den Ausbildungsbetrieben zu bieten. Lehrkräfte können daran mitwirken, dass Jugendliche die beruflichen Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten in der Textil- und Modeindustrie in ihrem Berufswahlprozess berücksichtigen. Hierzu ist es notwendig, die Fachlehrkräfte zu sensibilisieren und ihnen entsprechende Materialien zur Verfügung zu stellen.

3 Berufsorientierungspfad für textile Ausbildungsberufe

3.1 Forschend-entdeckendes, experimentelles Lernen mit Textilien

An der PH Freiburg werden derzeit verschiedene Materialien entwickelt, um es Akteuren der Berufsorientierung zu erleichtern, Schülerinnen und Schülern moderne Ausbildungsberufe in der Bekleidungs- und Textilbranche nahe zu bringen. Um Jugendliche der Sekundarstufe I für das Berufsfeld Textil und Mode zu interessieren, wird im Rahmen eines Promotionsvorhabens ein mobiler TEXperten®-Koffer entwickelt. Die 20 Experimente des TEXperten®-Koffers bieten Fachlehrkräften die Möglichkeit, handlungsorientiert mit modernen Textilien im textilbezogenen oder naturwissenschaftlichen Unterricht zu agieren und auf berufliche Ausbildungsmöglichkeiten hinzuweisen. Weiterhin ist unter dem Titel Let’s Go Textile! (Grundmeier 2014) eine Broschüre für Jugendliche entstanden, die über Ausbildungs- und Weiterbindungschancen im Berufsfeld Textil und Mode informiert. Derzeit wird ein Berufsorientierungstest entwickelt, mit dem Schülerinnen und Schüler kompetenzorientiert ihre Eignung für einen Ausbildungsberuf testen können. Der Test wurde an acht Sekundarschulen im Freiburger Raum erprobt und soll als Online-Test über den Gesamtverband textil+mode öffentlich zugänglich gemacht werden.

Im Zeitraum von vier Semestern (Wintersemester (WS) 2011/12 bis Sommersemester (SS) 2013) bot der Fachbereich Textil und Mode der PH Freiburg die Seminarreihe „Aktuelle Aspekte der textilen Wertschöpfungskette: Forschend-entdeckendes, experimentelles Lernen mit Textilien im Fächerverbund“ für Lehramtsstudierende an, die zum Ziel hatte, im Sinne des forschend-entdeckenden Lernens insbesondere die Kompetenzen der Studierenden im Planen und Durchführen von Experimenten mit funktionellen Textilien zu fördern. Ausgehend von (selbst) gestellten naturwissenschaftlichen Fragen oder Problemen entwickeln und planen die Studierenden beim forschend-entdeckenden Lernen eigene Untersuchungen. Forschend-entdeckendes Lernen fördert daher insbesondere prozessbezogene Kompetenzen, die beim naturwissenschaftlichen Experimentieren eine große Rolle spielen: Beobachten, Erkunden, Explorieren, Vermuten, Messen, Vergleichen, Ordnen, Experimentieren, Prüfen, Diskutieren, Interpretieren, Modellieren, Recherchieren und Kommunizieren (vgl. Höttecke 2010). Über diese didaktisch-methodische Vorgehensweise wurde die Entwicklung von Materialien angestrebt, um Jugendlichen der Sekundarstufe I eine handlungsorientierte Auseinandersetzung mit modernen textilen Materialien zu ermöglichen und sie für Ausbildungsberufe im Berufsfeld Textil und Mode zu interessieren.

In den ersten beiden Veranstaltungen im WS 2011/12 und SS 2012 entwickelten die Lehramtsstudierenden zunächst für eine ursprünglich geplante TEXperten®-Box ein Set halbstündiger naturwissenschaftlich orientierter Experimente, die funktionelle Eigenschaften textiler Materialien erfahrbar machen sollen (vgl. Grundmeier/Gehlen 2012; Gehlen/Grundmeier/Friedrich 2013). Die Experimente wurden im WS 2012/13 in Verbindung mit den modernen Ausbildungsberufen gebracht und zu einem Berufsorientierungspfad weiter entwickelt. Ziel eines Berufsorientierungspfades ist es, Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, selbstständig typische Tätigkeiten unterschiedlicher Ausbildungsberufe an Stationen durchzuführen, um Neigungen und Fähigkeiten zu erkennen und zu erweitern (vgl. Startpunkt Schule 2008, 21). Die engen Berufsbezüge des Berufsorientierungspfads wurden für die Entwicklung eines mobilen TEXperten®-Koffers zugunsten eines flexibleren branchenbezogenen Modells wieder gelöst (siehe Abbildung 2). Für einen flexibleren Einsatz der Experimente in der Schule wurde das fachbezogene, arbeitsblattbasierte Format dabei im SS 2013 in ein kürzeres Hands-on Format transformiert. Dieses Format kennen Schülerinnen und Schüler aus dem Bereich der sogenannten Freihandversuche im Physikunterricht. Im Unterschied zu klassischen Laborversuchen können Jugendliche die Versuche leicht selbst durchführen, sie also handhaben. Mit spielerischen und überraschenden Elementen dienen Freihandversuche dazu, einen neuen Blick auf Alltägliches zu generieren und dabei fachliches Interesse zu wecken (vgl. Schlichting 2000).

 Abbildung 2: Seminar zur Entwicklung eines Berufsorientierungspfads im Rahmen der Entwicklung des TEXperten®-KoffersAbbildung 2: Seminar zur Entwicklung eines Berufsorientierungspfads im Rahmen der Entwicklung des TEXperten®-Koffers

3.2 Entwicklung eines Berufsorientierungspfads

Auch wenn die Entwicklung des Berufsorientierungspfads nur als ein Zwischenschritt der iterativen Entwicklung des TEXperten®-Koffers angesehen werden kann, so ist dieser Entwicklungsschritt doch vor dem Hintergrund interessant, als dass der Lernprozess der Studierenden vertiefend ausgewertet und verfolgt werden konnte, da die Veranstaltungsteilnehmenden anhand von Lerntagebüchern ihre Erfahrungen schriftlich reflektierten. Diese Aufzeichnungen wurden im Hinblick auf die Fragestellung ausgewertet, welche Präkonzepte im Bereich Textil und der textilen Ausbildungsberufe vorhanden sind und welche Lernprozesse durch die Materialien zutage treten.

Das zweistündige Seminar im WS 2012/13 gliederte sich in zwei Blöcke: Im ersten Block setzten sich die Studierenden zunächst mit der theoretischen Fundierung für die Konzeption von Experimenten auseinander. So erhielten sie eine Orientierung, welche experimentellen Kompetenzen für naturwissenschaftliches Experimentieren wichtig sind. Dazu gehören die Entwicklung von Fragestellungen, das Aufstellen von Vermutungen, die Hypothesenbildung, die Planung des Experiments und ein funktionsfähiger Versuchsaufbau, das Messen, Dokumentieren und Aufbereiten von Daten sowie das Schlüsse Ziehen und Diskutieren (vgl. Nawrath/Maiseyenka/Schecker 2011). Indem sie die bereits in den beiden vorherigen Semestern entwickelten textilen Experimente ausprobierten und optimierten, erhielten sie eine Vorstellung davon, wie solche Experimente konzipiert, durchgeführt und im Rahmen des Stationenlernens eingesetzt werden können (vgl. Poppe 1991; Graf 2011). Zum Abschluss des ersten Seminarblocks, der sieben von vierzehn Doppelstunden umfasste, leiteten die Studierenden Schülerinnen und Schüler einer achten Realschulklasse beim Experimentieren an und beobachteten einzelne in ihrer Vorgehensweise. Die Schülerinnen und Schüler bewerteten die Experimente mit der Notenskala von 1 bis 6 und begründeten ihre Benotung. Anschließend erstellten die Studierenden auf ihrer Beobachtungsbasis individuelle Lerngeschichten, die den Schülerinnen und Schülern zugesendet wurden (siehe Abbildung 3). Lerngeschichten beschreiben narrativ das beobachtete Vorgehen beim Lernen. Sie bewegen sich auf der persönlichen Ebene und beschreiben daher auch Fragen, Vermutungen und Gefühle der beobachtenden Person (vgl. Haas 2012, 58f.). Diese Methode, die aus der frühpädagogischen Praxis stammt, schulte die Studierenden darin, die Ebene der Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit den Experimentiermaterialien genau zu beobachten und ihre Wahrnehmungen zu artikulieren (vgl. Schäfer 2004).

Abbildung 3: Konzept Block I Seminar zur Entwicklung eines Berufsorientierungspfads für textile Ausbildungsberufe – Vorbereitung der EntwicklungAbbildung 3: Konzept Block I Seminar zur Entwicklung eines Berufsorientierungspfads für textile Ausbildungsberufe – Vorbereitung der Entwicklung

Im zweiten Block erhielten die Studierenden die Aufgabe, sich im Team mit einem textilen Ausbildungsberuf auseinanderzusetzen und ein Experiment zu entwickeln, das einen Bezug zu diesem Ausbildungsberuf herstellt. Wie in Abbildung 4 veranschaulicht, entwickelten sie innerhalb von weiteren sieben Doppelstunden in einer Kleingruppe ein Experiment, das sich auf einen Ausbildungsberuf der Textil- und Bekleidungsindustrie bezog. Als Basis wurden die Berufe herangezogen, die in der Webseite der Kampagne Go Textile! des Gesamtverbandes textil+mode dargestellt sind.

Die Studierenden setzten sich zunächst mit dem Beruf ausführlich auseinander. Dann konzipierten sie im Zweierteam ein Experiment, das Schülerinnen und Schülern einen praktischen Bezug zum Beruf ermöglicht. Die Grobplanung wurde mit der Seminarleitung abgestimmt. Anschließend erfolgten die Feinplanung (Materialien, Ablauf, Arbeitsblattentwurf) und eine erste Erprobung. Wenn die Gruppe mit ihrem Experiment zufrieden war und die Durchführung aus ihrer Sicht in der Wiederholung funktionierte, erprobte sie es mit einem anderen studentischen Team als sogenanntes Peer Review und erhielt dabei wertvolle Anregungen zum Ablauf und ggf. Verbesserungsvorschläge nicht nur hinsichtlich der Verständlichkeit, Vorgehensweise und Konzeption, sondern auch bezogen auf die Anleitung und Dokumentation im Arbeitsblatt. Durch die gegenseitigen Beobachtungen beim Experimentieren mit der Gruppe und das Fremdfeedback durch eine andere Studierendengruppe konnten die Experimente im Verlauf des Seminars immer weiter verbessert werden. Zum Abschluss des Seminars erprobten die Studierenden ihre Experimente im Berufsorientierungspfad mit Schülerinnen und Schülern einer 9. Realschulklasse und konnten auf diese Weise durch eigene Beobachtungen Erfahrungen sammeln, wie ihre Experimente und Arbeitsblätter von der potenziellen Zielgruppe aufgenommen werden.

Abbildung 4: Konzept Block II Seminar: Entwicklung des Berufsorientierungspfads für textile AusbildungsberufeAbbildung 4: Konzept Block II Seminar: Entwicklung des Berufsorientierungspfads für textile Ausbildungsberufe

Die Studierenden entwickelten im Laufe von sechs Wochen zu den gewählten Ausbildungsberufen die folgenden neun Experimentierstationen (siehe Tabelle 1):

Tabelle 1 Übersicht der Berufe und Experimente des textilen Berufsorientierungspfads:

Ausbildungsberuf Experiment Kurzbeschreibung
Modenäher/in, Modeschneider/in Explore
Textiles
Haptische und optische Textileigenschaften erfassen und benennen
Produktgestalter/in Muster und
Rapport
Mustergestaltung mit Einzelformen
  Hochdruck Hochdruck am Prinzip der verlorenen Form
Technische/r Konfektionär/in Imprägnieren Imprägnierung mit Silikonen
Produktprüfer/in Fehlerprüfung Fehleridentifikation
und deren Behebung
Produktveredler/in Herstellung eines Kräuselkrepps Laugieren mit Natronlauge
Textillaborant/in Faserprüfung Identifikation tierischer und pflanzlicher Fasern
Textilreiniger/in Fleck-weg
Experiment
Entfernung typischer Flecken auf Bekleidung
Seiler/in Seilprüfung Bestandteile und Produktion eines Seils

Die Gruppeneinteilung erfolgte nach einer freiwilligen Meldung. So kam es, dass der Beruf des Produktgestalters/der Produktgestalterin mit zwei Gruppen besetzt wurde und sich für den Beruf des Produktionsmechanikers/der Produktionsmechanikerin Textil kein Team entscheiden konnte. Dadurch ergab sich die Situation, dass dieser textile Ausbildungsberuf, der gemäß der Ausbildungsverträge 2013 am bedeutendsten ist (vgl. Abbildung 1), nicht gewählt wurde. Hintergrund könnte sein, dass die Studierenden hierzu keinen Bezug haben und sich nichts unter diesem Beruf vorstellen können. Außerdem könnte ihnen die Herausforderung, hierzu ohne entsprechende technische Ausstattung ein Experiment zu entwickeln, als zu groß erschienen sein.

Die geforderten Bezüge zu den Berufen in den Arbeitsblättern bzw. Experimenten lösten die Teams unterschiedlich: Zum Beispiel enthielt das Experiment Textilien experimentell bestimmen (Faserprüfung) eine Aufgabenstellung, die Schülerinnen und Schüler in die Rolle des/der Textillaboranten/in schlüpfen ließen (siehe Abbildung 5).

Abbildung 5: Beispiel für den Berufsbezug im Arbeitsblatt des/der Textillaborant/inAbbildung 5: Beispiel für den Berufsbezug im Arbeitsblatt des/der Textillaborant/in

Andere Gruppen skizzierten im Arbeitsblatt kurz das Kompetenzprofil des Berufes, auf den sie sich bezogen,. beispielsweise auf den des Produktprüfers/der Produktprüferin oder des Modenähers/der Modenäherin bzw. des Modeschneiders/der Modeschneider/in.

Das Konzept der Experimente als Berufsorientierungspfad wurde beim Girls´ Day 2013 der Pädagogischen Hochschule Freiburg eingesetzt und die teilnehmenden Sekundarstufenschülerinnen wurden anschließend zu ihren Berufsvorstellungen befragt (vgl. Gehlen/Baum 2013). Obwohl das Konzept erfolgversprechend insbesondere für den Fachunterricht oder fächerübergreifenden Unterricht war, wurde von einer Weiterentwicklung des naturwissenschaftlich orientierten und materialaufwändigen anspruchsvollen Box-Formats zugunsten eines flexibler einsetzbaren mobilen Experimentierkoffers abgesehen.

Im Folgenden soll insbesondere über die Erfahrungen der Lehramtsstudierenden im Seminar vom WS 2012/13 im Rahmen der Entwicklung eines Berufsorientierungspfads für textile Ausbildungsberufe (gelb markierter Zwischenschritt in Abbildung 2) und SS 2013 anhand von Äußerungen der Studierenden in ihren Lerntagebüchern berichtet werden. Für diese Aufgabe erhielten sie zu Anfang des Seminars Leitfragen für ihren Reflexionsprozess und Hintergrundinformationen zur Orientierung darüber, in welchem Rahmen die Lerntagebücher ausgewertet und verwendet werden (vgl. Rambow/Nückles 2009; o. V. 2009). Den Studierenden war bewusst, dass die Lerntagebücher der Seminarleitung zur Einsicht in persönliche Lernprozesse dienen und anonymisiert ausgewertet werden sollten. Insofern unterlagen die Reflexionen einer persönlichen Entscheidung darüber, wieviel und was persönlich preisgegeben werden sollte.

Die begleitende Reflexion des Auseinandersetzungsprozesses mit den Experimenten und Berufen wurde von den Studierenden im Lerntagebuch dokumentiert und konnte im Hinblick auf die Lernprozesse in der Auseinandersetzung mit der Fachtheorie, im Umgang mit den Experimenten und bei der Entwicklung der Schülerarbeitsmaterialien ausgewertet werden. Die Lerntagebuchmethode unterstützte die prozessorientierte Methodik des Seminars, indem neben die Ergebnisorientierung auch konzeptuelle Überlegungen und Rahmenbedingungen der Entwicklung zu Tage traten. Im Folgenden werden die ausgewählten Ergebnisse der Erfahrungen in den Seminaren im WS 2012/13 und SS 2013 dargestellt, die Aufschluss über die Lehr- und Lernprozesse der teilnehmenden Lehramtsstudierenden, ihr Interesse an dem Seminar und ihre Motivation geben.

4 Ausgewählte Kommentare zum Experimentieren und zu den textilen Ausbildungsberufen

4.1 Faszination durch experimentelle Fachpraxis

Die Seminare wurden im mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächerverbund sowohl für Lehramtsstudierende des Studienfachs Haushalt und Textil als auch Studierende anderer Studienfächer dieses Fächerverbunds (Mathematik, Chemie, Physik, Technik usw.) als fächerübergreifende Veranstaltungen angeboten. Die angebotenen 20 Plätze pro Veranstaltung waren in allen vier Semestern schnell belegt und mussten wegen der starken Nachfrage zum Teil noch erhöht werden. Insgesamt nahmen in den vier Semestern 107 Studierende das Seminarangebot wahr. Die Studierenden des Realschul-, Grund- und Hauptschullehramtes hatten großes Interesse, sich mit der praxisbezogenen Thematik auseinanderzusetzen und waren durchgehend sehr motiviert. Ihr Interesse und ihre Motivation sind durch entsprechende Kommentare in den Lerntagebüchern belegt, die im Folgenden auszugsweise zitiert werden. Es wurden als Leistungsnachweis in zwei Seminaren Lerntagebücher verfasst, in deren fachlichem Fokus nicht so sehr die Entwicklung der textilen Experimente, sondern die Durchführung und Evaluierung derselben stand. Aus den insgesamt 49 vorliegenden Lerntagebüchern werden einzelne Aussagen zitiert, die die Einstellungen der Studierenden dokumentieren.

Zu Beginn des Seminars interviewten sich die Studierenden gegenseitig zu ihren Vorerfahrungen und Zielen. Sie formulierten ihr wichtigstes Lernziel für das Seminar und visualisierten es auf einer Moderationskarte. Die Kartenabfrage zeigte, dass eine der Hauptmotivationen der Studierenden war, praktisch zu arbeiten und sich ein Repertoire an Experimenten anzueignen, die sie im späteren Berufsleben als Lehrkräfte durchführen könnten (siehe Abbildung 6).

Abbildung 6: Beispiele der Visualisierungen von Lernzielen von Lehramtsstudierenden (Kartenabfrage)Abbildung 6: Beispiele der Visualisierungen von Lernzielen von Lehramtsstudierenden (Kartenabfrage)

„In der ersten Sitzung, fand ich total klasse, dass wir uns über die Lernziele Gedanken machen mussten. Meist kommt man in ein Seminar und weiß nicht einmal genau den ausgeschriebenen Seminartitel. (…) Ich möchte bei Experimenten zu der Motivation gelangen zum genaueren Hinsehen. Auf meiner Karteikarte hab ich dies bildlich mit einer Lupe dargestellt. Vor allem möchte ich so viele wie mögliche schultaugliche Experimente mit in meinen Erfahrungskoffer nehmen, welche leicht in der Schule umsetzbar sind. (…) Ich hoffe natürlich ein kleines Repertoire für den Schulalltag mit Textilien und Chemikalien zu bekommen.“ (Lehramtsstudierende V. S., 7. Semester Grundschullehramt (Sport, Haushalt und Textil, Mathematik), Lerntagebucheintrag vom 10.4.2013, S. 3)

In den Lerntagebüchern wird ersichtlich, dass aus Sicht der Lehramtsstudierenden im Studium überwiegend theoriegeleitet gelernt wird, um sich eine breite theoretische Fundierung für die spätere pädagogische Arbeit anzueignen. Dennoch wünschen sie sich bereits im Lehramtsstudium eine hohe Praxisorientierung. Dieser Wunsch nach mehr Praxis im Studium wird in den folgenden Zitaten deutlich:

„Als ich herausfand, dass es ein stark praxisorientiertes Seminar ist, habe ich mich sehr gefreut, da man im Studium nur selten spezifische Anleitungen für handlungsorientierten Unterricht bekommt. Zwar erhält man theoretische Informationen, was darunter zu verstehen ist, aber selten kommt es zur Erarbeitung und Durchführung solcher Methoden. Gerade auch im Fach „Haushalts- und Textilwissenschaften“ habe ich bisher nur wenige Methoden ausprobieren können.“ (Lehramtsstudierende D. F., 8. Semester, Grundschullehramt (Biologie, Deutsch, Englisch, Haushalt und Textil), Lerntagebucheintrag vom 17.4.2013, S. 2)

„Auch wenn man einen Blick in den Bildungsplan wirft ist ersichtlich, dass Lehrer im Bereich Textil, Erfahrungen im Experimentieren erlangen müssen. Das war mir bisher noch nicht bekannt. Daher fühl ich mich als eine der glücklichen Seminarteilnehmerinnen, die noch nachträglich einen Platz ergattert haben.“ (Lehramtsstudierende V. S., 7. Semester Grundschullehramt (Sport, Haushalt und Textil, Mathematik), Lerntagebucheintrag vom 10.4.2013, S. 3)

Die anonyme Abschlussbefragung der Seminarteilnehmenden mit einem Online-Fragebogen im SS 2013 zeigte auf, dass die Studierenden insbesondere den Praxisbezug gut fanden. Auf die Frage: Was fanden Sie gut? antworteten acht Studierende mit praxisbezogenen Aspekten: „Praxisorientiert“ (2 Nennungen), „Praxisbezug“, „viele praktische Aspekte“, „Das Seminar hatte viel Praxis, - auch umsetzbar in der Schule (habe Ideen bekommen, wie man es in der Schule durchführen kann)“, „Umsetzung an Science Night, praxisorientiert!“, „Praxisorientiert: anschauliche Experimente, Ziel: Durchführung mit Kindern.

4.2 Vom Präkonzept zum modernen Textilbegriff

Da es sich um eine fächerübergreifende Veranstaltung handelte und nicht von dem gleichen textilbezogenen Wissensstand ausgegangen werden konnte, war es zunächst wichtig, ein Grundverständnis für den Begriff Textil herzustellen. Das Antwortspektrum der Frage, was sie unter dem Begriff „Textil“ verstehen, beschränkt sich bei den Studierenden zu Anfang des Seminars vielfach auf den Sektor Bekleidung und Heimtextilien. Dass technische Textilien, die in Deutschland ein wichtiger Sektor sind, auch zur Textilbranche gehören, ist ihnen zunächst weitgehend nicht bewusst.

„Bereits der Einstieg ‚Was ist Textil‘ warf bei mir und meinen Kommilitonen einige Fragen auf. So kamen wir bei der ersten Ideensammlung auch nicht über Begriffe wie ‚Stoff, Bekleidung, Heimtextilien‘ und einige Methoden der Handarbeit nicht hinaus. Der anschließende Kurzfilm [auf der Webseite von go-texile] machte jedoch schnell klar, dass Textilien viel mehr sind als das. Viele der angeführten Verwendungsfelder überraschten mich, waren nach einigem Nachdenken aber nachvollziehbar und offensichtlich. Jedoch müssen Erwachsene und vor allem auch Kinder und Jugendliche zu diesem Nachdenken angeregt werden. Es muss vermittelt werden, dass Textilien in sehr vielen technischen und chemischen Bereichen ihre Verwendung finden und weitaus mehr Funktionen haben, als zu wärmen und zu dekorieren.“ (Lehramtsstudentin K. L., 8. Semester, Schwerpunkt Grundschule (Haushalt und Textil, Englisch, Deutsch, Soz./Pol.) Lerntagebucheintrag vom 17.04.2013, 1)

Wenn Fachlehrkräfte Schülerinnen und Schüler über textile Ausbildungsberufe informieren sollen, ist zunächst wichtig, die Präkonzepte aufzugreifen und zu erweitern. Wie in der Imagestudie aufgezeigt, verbinden auch Lehramtsstudierende mit dem Begriff „Textil“ weitgehend das Segment der Bekleidung, was vermutlich auf die überwiegende Erfahrung mit Textilien in Form von Bekleidung zurückzuführen ist. Im Seminar war es deshalb auch ein Ziel, die modernen Eigenschaftsprofile und Anforderungen an Textilien erfahrbar zu machen und die beiden Segmente der Haus- und Heimtextilien und v.a. der technischen Textilien in den Blick zu rücken.

In der abschließenden Befragung der Seminarreihe wurde den Studierenden die Frage gestellt: Was ist Textil? Die Antworten zeigten, daß sich die Präkonzepte erweitert hatten: „mehr als man denkt!“, „vielfältig einsetzbar“, „Vielfalt“ „vielseitiger als gedacht“, „viel mehr als ich dachte“, „sehr umfassender Begriff, welcher in vielen Bereichen eine Rolle spielt und somit unterschiedliche Bedeutungen annimmt. Bereiche: Mode (Kleidung, Accessoires, Schuhe, Taschen), Wohnen (Möbel, Teppiche), PKW, Flugzeuge, Textiltechnik, Berufe (Kleidung usw.), Industrie; …in Form von: Garne, Zwirne, flächenförmige Gebilde (Geflechte, Nähwirke), textile Fasern -- mehr als man denkt!!! Funktion: Schmuck, Kommunikation, Textilkennzeichnungsgesetz“.

4.3 Erweiterung des Berufswahlspektrums

Aus den Lerntagebüchern wird auch ersichtlich, dass sich die Kenntnisse über Berufe im Berufsfeld Textil und Mode im Wesentlichen auf die gestalterischen Berufe der Modeindustrie beschränken. Am präsentesten sind gemäß den Selbstbeobachtungen der Studierenden die Berufe der Modenäher/in und Modeschneider/in sowie der Modedesigner/in:

„In einem 2. Teil des Seminars widmeten wir uns der Frage, was für textile Berufe wir, außer dem herkömmlich, weit verbreiteten Beruf der Schneider/-in oder Designer/-in, überhaupt kennen. Schnell wurde bewusst, dass auch wir nur einen kleinen Einblick in diese Berufswelt erfahren haben. Auch die Fülle der verschiedenen Berufe im textilen Bereich wurde mir durch die Sitzung erst richtig bewusst. Leider hat man dies in der Schule nie richtig erfahren und ich hoffe wir können durch unser Seminar einen Beitrag dazu leisten, die sehr attraktive Textilindustrie den Schülern näher zu bringen.“ (Lehramtsstudierende J. D., 7. Semester, Lehramt Realschule (Biologie, Mathematik, Haushalt und Textil), Lerntagebucheintrag vom 3.12.2012, 1f.)

Ein ähnliches Bild ergab die Auswertung der Befragung von 19 Schülerinnen und Schülern einer 8. Realschulklasse, die im November 2012 zum Experimentieren an die PH Freiburg kam. Eine schriftliche Fragebogenbefragung nach dem Experimentieren enthielt u.a. die Frage: Welchen Beruf im Textilbereich kennst du? Das Spektrum der Antworten umfasste im Wesentlichen die Bekleidungsberufe: Schneider/in (3), Näher/in (5), Designer/in (2), MUM-Lehrerin (Anm.: Lehrkraft für Mensch und Umwelt) (2), Hauswirtschafterin (1), Färber/in (1) und Wäscherei (1).

Zu Anfang der Seminare war es den Lehramtsstudierenden oftmals nicht bewusst, dass es später zu ihren Aufgaben als Lehrkraft gehören wird, eine sinnvolle Berufsorientierung in Zusammenhang mit den von ihnen erteilten Schulfächern zu vermitteln. Sie zeigten sich daher über diese berufliche Anforderung überrascht und nahmen das Angebot positiv an, sich in dem Seminar mit dieser Anforderung vertraut machen zu können. Aus den Reflexionen in den Lerntagebüchern wird deutlich, dass die Motivation der Studierenden groß war, sich mit den Ausbildungsberufen auseinanderzusetzen und die Berufsinformationen im Rahmen einer Experimentiereinheit umzusetzen. Die Beschäftigung mit den berufsorientierenden Inhalten des Seminars führte bei einzelnen Studierenden zu einem biographischen Rückblick ihrer eigenen Berufswahl:

„Ich persönlich kann mir gut vorstellen, meine Schüler bei der Suche nach ihrem Wunschberuf mit solchen Tests zu unterstützen, um ihnen die Berufswahl zu erleichtern. Die große Vielfalt an verschiedenen Berufen, kombiniert mit den wenigen Praktika während der Schulzeit machen es nötig, dass die Schüler auf verschiedene Art und Weisen auf mögliche Berufe aufmerksam gemacht werden, z.B. eben durch solche Berufsorientierungstests. Auch ich wusste lange nicht, welchen Berufszweig ich nach meinem Abitur anstreben möchte und wäre für eine entsprechende Unterstützung von Seiten der Lehrkräfte sehr dankbar gewesen. Außer einer einmaligen "Berufsberatung" und einem dreitägigen(!) Praktikum war es jedoch uns Schülern überlassen, uns selbstständig um eine passende Berufswahl zu kümmern, was so natürlich nur sehr schwer möglich war. Die meisten meiner Mitschüler fingen erst nach dem Abitur an, sich über entsprechende Möglichkeiten zu informieren und Praktika in diversen Bereichen zu machen, da dies, wie erwähnt, während der Schulzeit kaum geleistet werden konnte. Ich hoffe, meine eigenen Schüler bei dieser schwierigen und komplexen Suche nach dem passenden Beruf besser und effektiver zu unterstützen zu können. (Lehramtsstudierende K. L., 8. Semester, Schwerpunkt Grundschule (Haushalt und Textil, Englisch, Deutsch, Soz./Pol.) Lerntagebucheintrag vom 24.04.2013, 4f.)

5 Fazit

Die Praxiserfahrungen, die wir im Rahmen der Entwicklung von textilen Experimenten im Zusammenhang mit der Berufsorientierung mit Lehramtsstudierenden gemacht haben, zeigen, dass das Thema Berufsorientierung im Lehramtsstudium für das allgemein bildende Lehramt eine stärkere Verankerung erfahren sollte gerade im Hinblick darauf, dass in Bundesländen wie Baden-Württemberg die Berufsorientierung eine der Leitperspektiven der zukünftigen Bildungspläne wird. Die Studierenden haben sich in den Lerntagebüchern vorsichtig darüber geäußert, im Rahmen ihres Studiums wenig über nahe stehende Berufe zu ihren Studienfächern erfahren zu haben und sich auch über die Anforderung der Vermittlung von Berufsorientierung in ihren Unterrichtsfächern nicht bewusst zu sein. Hier liegt ein großes Potential in der Verknüpfung von fachlichen und berufsorientierenden Inhalten für die Lehramtsausbildung der ersten und zweiten Phase, aber auch die Lehrerfortbildung.

Die Fachtheorie auch im Hinblick auf die Vermittlung von Berufsorientierung mit einer experimentellen Fachpraxis zu verbinden, stellt einen neuen didaktisch-methodischen Weg für das Berufsfeld Textil und Mode dar. Für die Lehramtsstudierenden hat dieses didaktisch-methodische Konzept des berufsbezogenen experimentellen Lernens mit Textilien die Möglichkeit geboten, neue fachtheoretische und fachpraktische Erfahrungen zu sammeln und mit neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten ihr Selbstkonzept zu erweitern. Der Einsatz des TEXperten®-Koffers kann Lehrkräften eine wertvolle Unterstützung im Textil-Unterricht oder im naturwissenschaftlichen oder berufsorientierenden Unterricht bieten, um Schülerinnen und Schülern textile Eigenschaftsprofile handlungsorientiert zu vermitteln. Textillehrkräfte können ihrer Verantwortung zur Information der Schülerinnen und Schüler über Berufe in ihrem Fach damit leichter nachzukommen.

Die Entwicklung des TEXperten®-Koffers wird unterstützt durch den Gesamtverband textil+mode sowie die Stiftung der Deutschen Wirtschaft, denen wir an dieser Stelle herzlich danken möchten.

Literatur

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„My Way! Finde deinen Weg“ – ein didaktisches Konzept der schulischen Berufsorientierung als Beitrag zur Förderung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz

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1 Aktuelle Probleme beim Übergang Schule – Beruf

Die Berufseinmündung von jungen Menschen ist in Deutschland in vielerlei Hinsicht in die Diskussion geraten. Trotz einer verbesserten Lage auf dem Lehrstellenmarkt befinden sich immer noch viele junge Menschen im sogenannten Übergangssystem, d. h. in berufsvorbereitenden Maßnahmen, in denen in der Regel kein formaler Berufsbildungsabschluss vermittelt wird. Im Jahr 2013 mündeten mehr als eine Viertelmillion Jugendlicher nach dem Schulabschluss in eine Maßnahme des Übergangssystems ein – und damit mehr als jede/jeder vierte Jugendliche, die/der nach Schulabschluss in einen Sektor der beruflichen Bildung überging (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 98). Die Teilnahme an berufsvorbereitenden Maßnahmen ist jedoch noch lange kein Garant für einen erfolgreichen Übergang an der ersten Schwelle: Von allen Maßnahmenteilnehmenden eines Jahrgangs gelingt – je nach Maßnahme – nur zwischen 50 und 63 % innerhalb des ersten Jahres nach deren Beendigung der Übergang in eine vollqualifizierende Ausbildungsform, d. h. in eine betriebliche, außerbetriebliche oder schulische Ausbildung (Beicht 2011, 79).

Die Probleme der Berufseinmündung sind mit dem Überwinden der ersten Schwelle allerdings noch nicht beendet. Circa ein Viertel aller Auszubildenden bricht die Berufsausbildung ab (BMBF 2014, 52; vgl. Beinke 2011), in einigen Berufen beträgt die Vertragslösungsquote sogar über 50 % (BMBF 2014, 52). Auch im Anschluss an eine erfolgreich absolvierte Ausbildung sind die Ausgebildeten in relevantem Maß von Umbrüchen im Erwerbsleben betroffen. Wolfgang Wittwer (2003, 64–65) geht davon aus, dass die Hälfte aller Dreißigjährigen nicht mehr im erlernten Beruf arbeitet. Friedel Schier (2011, 9) berichtet, dass im Anschluss an die Ausbildung über alle Berufe hinweg nur 55 % der Ausgebildeten im erlernten Beruf verbleiben. Auch aktuell wird prognostiziert, dass viele der Erwerbstätigen nicht im gelernten Beruf bleiben, sondern in ein anderes Berufshauptfeld wechseln (BIBB 2014, 5). Als Faktoren für einen Berufswechsel werden Nicht-Übernahme durch den Ausbildungsbetrieb, Arbeitslosigkeit und der gewählte Ausbildungsberuf selber genannt (IAB 2007, 5). Das klassische dreistufige Modell der Erwerbsbiografie – Schule/Ausbildung, Erwerbsarbeit im erlernten Beruf, Ruhestand – ist somit weitgehend obsolet; stattdessen nehmen sogenannte „atypische“ Erwerbsbiografien zu (Frosch 2010, 2). Diese sind geprägt von unterschiedlichen Übergangsphasen wie befristeten Arbeitsverträgen, Teilarbeitstätigkeiten, Zusatzausbildungen, (zeitlich befristetem) Ausstieg aus dem Beruf oder Wechsel der beruflichen Tätigkeitsfelder und Fachrichtungen.

Der Prozess der Berufseinmündung ist in Deutschland somit ein besonders kritischer Problembereich. Daher werden im Berufsbildungsbericht 2014 der deutschen Bundesregierung die Themen „Duale Ausbildung stärken“, „Berufsorientierung ausbauen“ und „Übergänge in Ausbildung erleichtern“ als zentrale berufsbildungspolitische Maßnahmen genannt (BMBF 2014, 67 ff.).

Die schulische Berufsorientierung nimmt in diesem Zusammenhang einen aktuell wachsenden Stellenwert ein. So sieht der Bildungsplan für Realschulen in Baden-Württemberg vor, dass in den Klassen 5 bis 10 der fächerübergreifende Themenkomplex „Berufsorientierung in der Realschule“ in einem Umfang von mindestens je zwei Jahreswochenstunden, die aus dem Stundenvolumen der beteiligten Fächer entnommen werden, durchgeführt wird (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg[1]). Allerdings wird in der schulischen Berufsorientierung in erster Linie ein „Matching-Ansatz“ („Welcher Beruf passt am besten zu mir?“) verfolgt. Die Schülerinnen und Schüler sollen durch die schulische Berufsorientierung herausfinden, in welchen Berufsfeldern ihre Fähigkeiten und Interessen liegen und sich für entsprechende Ausbildungsberufe bewerben (ebd.). Die Passung zum Wunschberuf ist das ausschlaggebende Kriterium schulischer Berufsorientierung, für die – zugespitzt ausgedrückt – auch eine gewisse „Schubladisierung“ der Schülerinnen und Schüler vorgenommen wird („Du bist der handwerklich-technische Typ!“). Zur Ermittlung der Passung zwischen Person und Beruf wurde ein Verfahren der Potenzialanalyse unter der Bezeichnung „Kompetenzanalyse Profil AC“ (MTO Psychologische Forschung und Beratung (o. J.)) in Zusammenarbeit mit dem Christlichen Jugenddorf Offenburg entwickelt, es wird seit dem Schuljahr 2013/2014 in allen Realschulen in Baden-Württemberg durchgeführt. Ergebnis des Verfahrens ist ein individuelles Kompetenzprofil, das zur weiteren Berufsorientierung dient.

Hier soll nicht dagegen argumentiert werden, dass die Schülerinnen und Schüler sich über ihre Fähigkeiten und Interessen klar werden – ganz im Gegenteil. Nur als alleiniger Bezugspunkt ist die „Orientierung“ an der Passung zum Wunschberuf aus unserer Sicht nicht ausreichend. Explizit oder implizit wird so suggeriert, dass jede ausbildungswillige Person ihren Wunschberuf ergreifen und diesen ihr Leben lang behalten könnte. Eine derartige Geradlinigkeit im Lebenslauf entspricht jedoch (längst) nicht (mehr) der Realität (Eckelt/Schmidt 2014, 6 f.). Die (Konkurrenz-)Situation auf dem Arbeitsmarkt und die Möglichkeit, dass der Ausbildungswunsch nicht erfüllt werden kann und stattdessen eine Notlösung herhalten muss – oder gar die Möglichkeit des generellen Scheiterns auf dem Ausbildungsmarkt –, bleiben in der schulischen Berufsorientierung oft unberücksichtigt. So werden die Jugendlichen bei der Ausbildungsstellensuche unerwartet mit der harten Realität konfrontiert; dies betrifft vor allem Schülerinnen und Schüler mit als geringwertig angesehenen Bildungsabschlüssen, denen als zusätzliche Konkurrenz Schulabgänger/-innen mit höheren Bildungsabschlüssen den Zugang zum erwünschten Ausbildungsplatz verwehren können (ebd., 7).

Wie junge Menschen mit diesen objektiven Herausforderungen umgehen und wie sie in diesem Zusammenhang die aktuelle schulische Berufsorientierung beurteilen, haben wir auf Basis zweier Untersuchungen zu ermitteln versucht. Dies war zum einen die Durchführung einer quantitativen, schriftlichen Befragung von Realschülerinnen und -schülern in Baden-Württemberg und zum anderen die Sekundäranalyse der Längsschnittstudie „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“ der Universität Bremen (Universität Bremen 2000). Die Ergebnisse dieser beiden Untersuchungen sowie die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen zur Entwicklung einer erweiterten  – über Matching-Ansätze hinausreichenden – Berufsorientierung für die Realschule werden im Folgenden dargestellt.

2 Schriftliche Befragung von Realschülerinnen und -schülern der neunten Klasse in Baden-Württemberg

Im Rahmen des Projekts BerufReal wurde von Mai bis Juni 2013 eine Online-Fragebogenerhebung in 24 neunten Klassen aus zwölf Realschulen Baden-Württembergs durchgeführt. Insgesamt nahmen 540 von 650 Schülerinnen und Schüler mit einem durchschnittlichen Alter von 15,3 Jahren an der Erhebung teil. Es konnten 527 Datensätze ausgewertet werden – dies entspricht einer Rücklaufquote von mehr als 80 %.

Die Befragung sollte Aufschluss darüber geben, wo die Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf ihre Berufswahl gerade stehen, welche Hilfen sie sich von der Schule erwarten und wie sie die bisherige Begleitung der Berufsorientierung durch die Schule einschätzen. Ziel der Fragebogenerhebung war also eine Bestandsaufnahme, die als Grundlage für eine mögliche Erweiterung der aktuellen Berufsorientierung dienen sollte. Der dabei eingesetzte Fragebogen enthielt ganz überwiegend Ankreuzmöglichkeiten, jedoch auch einige freie Antwortmöglichkeiten, und umfasste insgesamt 37 Fragen in fünf Abschnitten: 1) Fragen zum Übergang von der Schule in den Beruf; 2) Fragen zu Einflüssen bei der Entscheidung zum Berufsweg; 3) Fragen zum Betriebspraktikum; 4) Einschätzungen zur erlebten Berufsorientierung; 5) Allgemeine Fragen/Angaben zur Person. Wenn die Schülerinnen und Schüler gebeten wurden, zu Aussagen Stellung zu nehmen (z. B.: „Meine Eltern kennen sich gut mit den heutigen beruflichen Möglichkeiten aus“), dann konnten sie dies auf einer vierstufigen Skala (von „trifft völlig zu“ bis „trifft gar nicht zu“) tun.

Die Ergebnisse der Befragung können als aktuelles Blitzlicht auf die Situation von Realschülerinnen und -schülern in Baden-Württemberg angesehen werden, die sich in der Berufseinmündungsphase befinden. Die Befragung ergänzt die Analyse von Sekundärquellen und die Einbeziehung von schulischen Expertinnen und Experten und gibt Hinweise auf Anknüpfungspunkte an das bisher praktizierte Berufsorientierungskonzept BORS – „Berufsorientierung in der Realschule“ in Baden-Württemberg.

Die ausführlichen Befragungsergebnisse sind dargestellt in Petersen et al. (im Erscheinen). Folgende Befragungsergebnisse waren für ein zu entwickelndes didaktisches Konzept der erweiterten Berufsorientierung besonders relevant:

2.1 Wunsch der Schülerinnen und Schüler nach (mehr) Klärungshilfe bzw. personenbezogener Unterstützung durch die schulische Berufsorientierung

Als ein wichtiges Ergebnis der Erhebung wurde festgestellt, dass die befragten Realschülerinnen und -schüler sich bei der Berufsorientierung (mehr) Unterstützung dabei wünschen, für sich selbst die besten beruflichen Möglichkeiten zu finden.

Hierbei erwarten die Schülerinnen und Schüler von der Berufsorientierung, dass diese ihnen in erster Linie als Klärungshilfe für die aktive und selbstständige Suche nach dem „richtigen“ beruflichen Weg dient und ihnen mögliche berufliche Wege aufzeigt.

Dies zeigen die Ergebnisse bei einem der höchstbewerteten Item der gesamten Befragung „Ich möchte, dass ich mit den Angeboten meine Wünsche und Ziele selbst klären und dann berufliche Wege finden kann“ (X=3,15, SD=0,70)[2] sowie dem Item „Ich möchte, dass man/frau meine Wünsche und Fähigkeiten erkennt und mir berufliche Wege aufzeigt“ (X=3,02; SD=0,76).

Ein didaktisches Konzept zur Erweiterung der Berufsorientierung könnte auf den Wunsch der Schülerinnen und Schüler stärker eingehen, Wege und Ziele selbst zu klären, und Unterstützung dabei bieten, ihnen sowohl berufliche Wege aufzuzeigen als auch dabei helfen, die eigenen Fähigkeiten und Stärken kennenzulernen.

2.2 Geringe zugemessene Bedeutung der Peergroup bei der Berufsorientierung

Als weiteres Ergebnis zeichnete sich ab, dass der Peergroup sowie den Mitschülerinnen und Mitschülern bei der Berufsfindung ein relativ geringer Stellenwert beigemessen wird. So sind die befragten Schülerinnen und Schüler der Ansicht, dass ihre Freundinnen und Freunde bei den Entscheidungen für den weiteren Berufsweg eine geringe Bedeutung hatten. Mitschülerinnen und Mitschüler sind dabei sogar noch weniger hilfreich.

Dies belegen die Items zum (relativ geringen) Stellenwert der Peergroup (=2,12; SD=0,867) und der Mitschülerinnen und Mitschüler (=1,84; SD=0,787) bezüglich der Berufsfindung.

Demgegenüber steht die Ansicht, dass insbesondere bei den Freundinnen und Freunden hohe Potenziale in Bezug auf die Einschätzung von Stärken und Schwächen gesehen werden. Das bedeutet, dass der Peergroup durchaus eine stärkere Rolle bei der Berufsorientierung zugeschrieben werden könnte. Dies belegt das Item zur Stärken-Schwächen-Einschätzung: „Freundinnen und Freunde können Stärken und Schwächen gut einschätzen“ (x=3,08; SD=0,729).

Im Rahmen eines didaktischen Konzepts zur Berufsorientierung sollte daher versucht werden, die Peergroup aktiv in den Prozess der Berufsfindung mit einzubeziehen. Durch den Austausch über berufliche Situationen im Klassenverband können Anregungen dazu gegeben werden, diesen Austausch auch außerhalb der Schule umzusetzen.

2.3 Geringe zugemessene Bedeutung der Lehrkräfte bei der Berufsorientierung

Auch den Lehrkräften wird bei der Berufsorientierung und -findung ein geringer Unterstützungsgrad zugemessen.Auf die Frage „Wer hat dir bei deinen Entscheidungen für deinen weiteren Berufsweg geholfen oder hilft dir dabei?“ geben die Schülerinnen und Schüler im Mittel an, dass die Lehrkräfte ihnen bei diesen Entscheidungen „wenig Hilfe“ bieten können (=2,00; SD=0,87).

Dies fällt gerade hinsichtlich der bereits im Schuljahr 2011/12 erfolgten Einführung der „Kompetenzanalyse Profil AC“ [3] in Baden-Württemberg ins Auge, da hier unter anderem auch ein Beratungsgespräch mit der Lehrkraft vorgesehen ist. Hierdurch, und auch durch die explizite Verortung der Berufsorientierung in den Lehrplänen über mehrere Schuljahre hinweg, wäre eine größere Bedeutung der Lehrkräfte bei der Berufsorientierung nahe liegend und wünschenswert.Bei der Entwicklung eines didaktischen Konzepts ist darum zu berücksichtigen, dass hierdurch die Rolle der Lehrkraft im Prozess der Berufsorientierung gestärkt wird.

2.4 Bei den Schülerinnen und Schülern herrscht Informationsbedarf über Chancen und Risiken, Anforderungen und Erträge bei der Ausbildung und Arbeit in Erwerbsberufen

In den empirischen Ergebnissen zeigte sich ein allgemeiner Informationsbedarf bei den Schülerinnen und Schülern in Bezug auf Themen, die über die unmittelbare Berufswahl hinausgehen und die Bestandteil der schulischen Berufsorientierung in Realschulen sein könnten. Vor allem zu folgenden Themen gibt ein beachtlicher Anteil der befragten Schülerinnen und Schüler an, durch die schulische Berufsorientierung keine Informationen erhalten zu haben:

  • demografische Entwicklungen und deren Auswirkungen auf Erwerbstätige (29,2 % der befragten Schülerinnen und Schüler geben an, keine Informationen hierzu erhalten zu haben)
  • unterschiedliche Risiken für Arbeitslosigkeit in Berufen/Branchen (26,9 %)
  • Verhalten im Kündigungsfall (23,9 %)

Teilweise räumen die Schülerinnen und Schüler ein, durch die schulische Berufsorientierung zwar über bestimmte berufs(wahl)spezifische Themen informiert worden zu sein, sehen dies aber als erweiterungsbedürftig an. Dies betrifft insbesondere Themen, die nicht nur mit der unmittelbaren Berufswahl, sondern auch mit dem weiteren Arbeitsleben im Zusammenhang stehen:

  • Verdienstmöglichkeiten während und nach der Ausbildung (33,3 %)
  • Übersicht über Berufe und berufliche Wege sowie Informationen darüber (31,7 %)
  • was in schulischen oder betrieblichen Auswahlverfahren (Eignungstest, Einstellungstest, Assessment-Center …) zu erwarten ist (29,8 %)
  • welche körperlichen und geistigen Fähigkeiten bei verschiedenen Berufswegen mitzubringen sind (29,2 %)
  • wie gut Ausbildungsplatzchancen in verschiedenen Berufen/Branchen sind (28,3 %)
  • welche Schulabschlüsse für welche beruflichen Richtungen notwendig sind (27,7 %)
  • wo zusätzliche Informationen über Berufe/berufliche Möglichkeiten zu finden sind (26,6 %)
  • worauf bei Bewerbungsgesprächen zu achten ist (22,4 %).

Es bietet sich an, diese Punkte in einem didaktischen Konzept zu berücksichtigen, sodass dem Informationsbedarf der Schülerinnen und Schüler ebenso nachgekommen werden kann wie den Erfordernissen „lebenslangen Lernens“ im Kontext späterer Weiterentwicklungen und Umorientierungen.

2.5 Ein Viertel der befragten Realschülerinnen und Realschüler hat einen Migrationshintergrund

Rund 25 % der befragten Schülerinnen und Schüler geben an, einen Migrationshintergrund zu haben. Bei 17 % der Befragten wird zu Hause eine andere Sprache als Deutsch gesprochen und weitere 8 % der Schülerinnen und Schüler geben an, dass zu Hause noch eine weitere Sprache gesprochen wird, allerdings weniger häufig als Deutsch.

Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund war von den befragten Lehrkräften bei weitem nicht so hoch eingeschätzt worden, und es fragt sich, wie dieser Sachverhalt im Unterricht aufgegriffen werden kann. Hierzu empfiehlt es sich, den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sowohl in der Gestaltung als auch im Inhalt zu berücksichtigen. Beispielsweise neigen Jungen (wie nach Angaben der Lehrkräfte die Ergbnisse der Potenzialanalyse Profil AC zeigen (vgl. Kap. 2.7 und Petersen et al. (im Erscheinen)) zu einer eher überschätzenden Selbstbewertung, während Mädchen eher eine realistischere und zurückhaltende Selbsteinschätzung vornehmen – und ein Migrationshintergrund verschärft diese Tendenz noch einmal. Dieser Sachverhalt kann im Unterricht berücksichtigt werden, indem darauf geachtet wird, Personen aus unterschiedlichen Kulturbereichen anzusprechen und keine benachteiligenden Zuordnungen von Personen mit Migrationshintergrund zu einschlägigen Berufen oder Lebenswegen zu treffen.

2.6 Die Genderthematik spielt bei den Schülerinnen und Schülern in verschiedenen Bereichen eine Rolle

Die Ergebnisse aus der Befragung von Schülerinnen und Schülern zeigen, dass Jungen tendenziell schon konkretere Vorstellungen haben, was sie nach der Realschule machen wollen: Während nur 12,5 % der Jungen zum Befragungszeitpunkt noch nicht wissen, welchen Weg sie nach der Realschule einschlagen wollen, trifft dies auf 21,9 % Prozent der Mädchen zu. Ähnliche Ergebnisse ergeben sich beim Anteil derjenigen, die zwar mehrere Ideen und Wünsche für ihre berufliche Laufbahn haben, sich aber (noch) nicht entscheiden können: Bei den Jungen ist dies etwas mehr als ein Viertel (26,9 %) und bei den Mädchen beinahe ein Drittel (32,2 %).

Des Weiteren spiegeln sich bei der Benennung von möglichen fachlichen Richtungen, in welche die Schülerinnen und Schüler gehen wollen, Berufswünsche wider, die genderspezifisch herkömmlichen Erwartungen entsprechen: Bei Jungen ist der Anteil von „Ich will eine gewerblich-technische Berufsfachschule (BFS) besuchen“ mit 37,1 % deutlich größer als bei Mädchen mit 7,5 %. Demgegenüber ist bei Jungen der Anteil von „Ich will eine kaufmännische Berufsfachschule (BFS) besuchen“ mit 19,7 % kleiner als bei den Mädchen mit 28,2 %. Deutlich geringer ist bei Jungen der Anteil (4,9 %) von „Ich will eine Berufsfachschule (BFS) Fachrichtung Ernährung und Gesundheit besuchen“ als bei Mädchen (18 %). Schließlich fällt bei den Mädchen der Anteil von „Ich will ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) oder etwas Ähnliches machen“ mit 19,2 % deutlich höher aus als bei Jungen (3,8 %). Auffällig ist auch, dass Mädchen viel häufiger den Besuch eines allgemeinbildenden Gymnasiums anstreben als Jungen (26,7 % vs. 13,3 %). Dementsprechend betrachten sie das, was sie nach dem Abschluss der 10. Klasse tun werden, auch eher als einen Weg, um sich schulisch zu verbessern und ihre Ausbildungschancen zu erhöhen (29,0 %) oder als „Überbrückungszeit“, um sich darüber klar zu werden, was sie beruflich machen wollen (26,3 %). Bei Jungen sind dies nur 21,1 % bzw. 9,1 %.

Um der Genderthematik gerecht zu werden, sollte in einem didaktischen Konzept versucht werden, Impulse zum Überdenken dieser klassischen Rollenverteilungen zu geben. Die Schülerinnen und Schüler können etwa anhand von Beispielen dafür sensibilisiert werden, dass sowohl Jungen auch „Frauenberufe“ annehmen können als auch Mädchen „Männerberufe“. Zusätzlich sollte die Genderthematik auch ganz explizit aufgegriffen werden.

2.7 Ergänzende Befragung von Lehrkräften

In Ergänzung zu der quantitativen Befragung von Schülerinnen und Schülern fand zu Beginn der Projektlaufzeit von „BerufReal“ im März 2013 eine schriftliche, qualitative Expertenbefragung von 16 sogenannten Multiplikatorinnen und Multiplikatoren statt – dies sind Lehrkräfte, die im Auftrag des baden-württembergischen Kultusministeriums an der Koordinierung der schulischen Berufsorientierung mitwirken. In dieser Befragung wurden die Wahrnehmung und Umsetzung der gegenwärtigen Berufsorientierung in der Realschule (BORS) aus Sicht der Lehrkräfte ermittelt. Ergebnisse hierbei waren unter anderem, dass nach Erfahrung der Lehrkräfte weniger als die Hälfte der Realschülerinnen und -schüler nach der Realschule eine berufliche Ausbildung beginnt, und zwar tendenziell eher die leistungsschwächeren bzw. schulmüden Schülerinnen und Schüler. Der weitaus größere Teil hingegen besucht anschließend weiterhin die Schule, sei es eine Berufsfachschule, ein Berufskolleg oder ein Gymnasium (beruflich oder allgemeinbildend). Darüber hinaus scheint die familiäre Unterstützung bei der Berufsorientierung im Migrantenelternhaus geringer zu sein als bei Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund, insbesondere wenn dort Sprach-/Verständnisprobleme vorliegen. Leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler sind aus der Sicht der befragten Lehrkräfte bei der Berufsplanung besonders zu fördern, und auch die Eltern sollten in dem Prozess mit berücksichtigt werden. Eine entscheidende Bedeutung bei der Berufswahl werden Personal- und Sozialkompetenzen zugemessen, im Speziellen den Merkmalen Selbstständigkeit und Durchhaltevermögen sowie auch Teamfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit.

3 Sekundäranalyse: Längsschnittstudie „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“ der Universität Bremen

Als weitere Quelle bei der Entwicklung eines erweiterten didaktischen Konzepts zur Berufsorientierung wurden Daten aus dem Archiv für Lebenslaufforschung (ALLF), heute „Qualiservice“[4] der Universität Bremen ausgewertet. Hier stehen vor allem Daten aus dem Sonderforschungsbereich 186 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ (Universität Bremen 2000) für Sekundäranalysen zur Verfügung. Wir haben vor allem die archivierte Längsschnittuntersuchung „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“ (ein Teilprojekt des gesamten DFG-Sonderforschungsbereichs) ausgewertet. Der Datensatz enthält u. A. mehr als 300 transkribierte qualitative Interviews mit jungen Menschen aus den Regionen Bremen und München zur gesamten Statuspassage von der Berufsfindung über die Berufsausbildung bis in die ersten Jahre im Beschäftigungssystem und lässt Schlussfolgerungen hinsichtlich der Orientierungs- und Handlungsmuster bei Berufswahlentscheidungen zu (vgl. Witzel/Kühn 1999). In der Längsschnittstudie wurden die Versuchspersonen in drei Erhebungswellen zwischen 1989 und 1995 mithilfe von Leitfadeninterviews zu ihrem beruflichen und persönlichen Status quo sowie zu ihren Zukunftsplänen befragt. Für den Zweck einer erweiterten – über die unmittelbare Berufswahl hinausreichenden – Berufsorientierung ist diese Längsschnittstudie deshalb besonders relevant, weil hier Informationen über die gesamte Berufseinmündungsphase zur Verfügung stehen.

Bei unserer Sekundäranalyse dieser qualitativen Daten wurden Lebensläufe von ehemaligen Realschülerinnen und -schülern ausgewertet, in der chronischen Reihenfolge der drei Erhebungswellen zusammengefasst und in Aufgabenstellungen für die Berufsorientierung bzw. berufliche und lebensweltliche Umorientierung transformiert („Welche Aufgaben stellen sich jungen Menschen in der Berufseinmündungsphase?“). Die in der Längsschnittstudie gefundenen Umbrüche und berufsbiografischen Besonderheiten wurden dabei berücksichtigt. Bemerkenswert ist die in vielen Interviews zum Ausdruck kommende enge Verbindung von beruflichen Entscheidungen und Problemen mit Kontexten der Partnerschaft, der Familie, des Freundeskreises und des eigenen Wohlergehens wie z. B. Krankheiten. Die inhaltliche Auswertung dieser Interviewstudien floss direkt in die Formulierung von Lernaufgaben mit ein, sodass diese wiederum ein (didaktisch transformiertes) Abbild der (damaligen) Realität darstellen. Exemplarisch ist im Folgenden ein biografisches Kurzprotokoll wiedergegeben, aus dem dann anschließend Lernaufgaben (wie z. B. der Umgang mit der Scheidungsproblematik der Eltern während der Schulzeit und Ausbildung, der Umgang mit der Ausbildung in einem anderen als dem Wunschberuf) abgeleitet wurden.

 Tabelle

Neben den in den Interviews beschriebenen beruflich relevanten Lebenssituationen in der Berufseinmündungsphase wurde ein weiteres Ergebnis aus dem damaligen DFG-Sonderforschungsbereich für unser didaktisches Konzept einer erweiterten Berufsorientierung genutzt und weiterentwickelt: Im Rahmen der Datenauswertung der Längsschnittstudie „Statuspassagen in die Erwerbsarbeit“ war seinerzeit das BARB-Modell (siehe unten) der Selbstsozialisation entwickelt und erprobt worden. Ausgehend von der Frage, wie die Handlungsakteure mit den (äußeren und inneren) Begrenzungen und Möglichkeiten innerhalb ihrer Berufsbiografie umgehen, wird die Nutzung des Deutungs- und Handlungsspielraums in vier Schritte gegliedert (Witzel/Kühn 1999, 16; Fischer/Witzel 2008):

Bilanzierung eines berufsbiografischen Abschnitts, d. h. individuelle Bewertung von Entscheidungs- und Handlungsfolgen, Kontexterfahrungen (Sinnzuschreibungen);

Aspirationen (aus Handlungsbegründungen): Ansprüche, Interessen, Motivation, Handlungsentwürfe, Planungen;

Realisationen: Aussagen über und Umsetzung von konkreten Handlungsschritten gemäß Aspirationen, Augenmerk auf Chancen und Restriktionen;

Bilanzierung (erneute Sinnzuschreibungen der bereits erfolgten Handlungen).

Seinerzeit spiegelte das BARB-Modell vor allem die Logik der Selbstsozialisation wider, die sich hinter den Interviewaussagen erkennen ließ. Diese Logik lässt sich auch didaktisch nutzen: Mit der von uns entwickelten aufgabenorientierten Fassung des BARB-Modells kann die Interaktion von Individuum und Umwelt im Kontext beruflicher Sozialisation erfasst und didaktisch transformiert werden. Zu bilanzieren (wo stehe ich?), Aspirationen zu entwickeln (wo will ich hin?), diese zu realisieren (wie kann ich das umsetzen?) und das Ergebnis erneut zu bilanzieren (was hat das für mich gebracht?) kann als Aufgabenzyklus der vorberuflichen und beruflichen Sozialisation betrachtet werden, dem sich Schülerinnen und Schüler nicht nur in der Schule, sondern auch im späteren Leben häufiger stellen werden.

Auf Basis der skizzierten Forschungsergebnisse,

  • der quantitativen Erhebung in Realschulen sowie der ergänzenden Befragung von Lehrkräften, die über Informations- und Klärungsbedarfe der Schülerinnen und Schüler und die dafür relevanten Anknüpfungspunkte Auskunft gab,
  • der qualitativen Sekundäranalyse der Bremer Längsschnittstudie, die Entscheidungen und Problemsituationen in der Berufseinmündungsphase ehemaliger Realschülerinnen und -schüler deutlich machte,
  • der entwickelten aufgabenorientierten Fassung des BARB-Modells, mit dessen Hilfe die Logik beruflicher Selbstsozialisation in Lernaufgaben des Bilanzierens, Aspirierens, Realisierens und erneuten Bilanzierens transformiert werden können,

stellte sich nun die Frage, wie daraus ein didaktisches Konzept für eine erweiterte Berufsorientierung entwickelt werden könnte.

4 Entwicklung eines didaktischen Konzepts zur Förderung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz

Neben den eingangs erwähnten statistischen Angaben (etwa zu Ausbildungsabbrüchen oder Berufswechseln) zeigt auch unsere Sekundäranalyse der Längsschnittstudie „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“: Nicht nur die erstmalige Berufswahl ist wichtig in der Berufseinmündungsphase, sondern auch der möglichst kompetente Umgang mit Umbrüchen im weiteren Berufs- und Privatleben. In dieser Hinsicht ist von Wolfgang Hendrich (2003) das Konstrukt der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz ins Spiel gebracht worden. Laut Hendrich (2003, 14) ist mit Gestaltungskompetenz „ausdrücklich die Fähigkeit, Alternativen identifizieren und wahrnehmen sowie die eigenen Interessen vertreten zu können“ gemeint. Sich mit diesem Konstrukt näher zu befassen, war Ergebnis unserer Untersuchungen und ist nicht schon von vornherein in die Konzipierung der Erhebungsinstrumente eingeflossen.

Ein weiteres wichtiges Erkennungsmerkmal des Konstrukts der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz ist die Tatsache, dass das Subjekt nicht nur in seinem beruflichen, sondern auch in seinem außerberuflichen (privaten) Kontext betrachtet und dadurch anerkannt wird, dass diese beiden Bereiche eng miteinander verbunden sind und einander bedingen.

Während im Rahmen der schulischen Berufsorientierung das Augenmerk oft nur auf der Berufswahl als solcher liegt und eine erstmalige Entscheidung für eine Ausbildung oder ein Studium als Ziel angesteuert wird, rückt nun mit dem Konzept der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz darüber hinaus die umfassende Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Handelns sowie der eigenen Standortbestimmung (Kaufhold 2009, 226) ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

„Die Gestaltung der eigenen (Berufs-)Biographie erfordert neben fachlichen auch überfachliche Qualifikationen, die eine Person erst in die Lage versetzen, an ihre bisherige berufliche Qualifikation und Erfahrung anzuknüpfen, sie zu verwerten und sich auf neue Erfordernisse einzulassen“ (Kaufhold 2009, 221). Das Subjekt ist in der Lage, sich an den wandelnden Arbeitsmarkt anzupassen und kennt und berücksichtigt dabei seine subjektiven Interessenlagen (Kaufhold 2004, 57).

In diesem Sinn hat Claudia Munz (2005) in zwei Modellversuchen in Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) Maßnahmen der Berufsvorbereitung entwickelt und erprobt, die auf eigenständige Lernkompetenz und biografische Orientierung im Rahmen einer umfassenden Kompetenzorientierung zielen und Fähigkeiten der Selbstpräsentation und des Selbstmarketing bei jungen Menschen fördern.

Ein Missverständnis, das bisweilen mit dem Begriff der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz evoziert wird, sollte jedoch aus unserer Sicht vermieden werden: Es geht nicht darum, die Illusion zu verbreiten, dass „jeder seines Glückes Schmied“ und dies ausschließlich eine Frage individueller Kompetenz sei. Die oben angeführten Gründe für Umbrüche im Berufsleben wie Arbeitslosigkeit oder Nicht-Übernahme durch den Ausbildungsbetrieb zeigen ja gerade, dass derartige Phänomene außerhalb des Einflussbereichs eines einzelnen Individuums liegen können. Es geht daher darum, den Umgang der Individuen mit Problemsituationen im Erwerbsleben zu stärken, und nicht darum, manchen Individuen neben den objektiv vorhandenen Problemen auch noch berufsbiografische Inkompetenz zu attestieren. Ganz ähnlich hat Wolfgang Wittwer (2011, 114) den von ihm geprägten Begriff der „Veränderungskompetenz“ beschrieben: [Berufliche Bildung] „muss vielmehr auch die Jugendlichen wie die Erwachsenen auf Wechsel und Veränderungen vorbereiten und sie bei der Entwicklung von beruflicher Orientierung unterstützen. Das heißt, alle möglichen Bruchstellen in einem Erwerbsleben müssen auch schon in der Ausbildung bedacht und Übergangsmöglichkeiten entwickelt werden. Die entsprechenden Angebote sind an den individuellen Stärken und Schwächen auszurichten.“ Auch in diesem Sinn soll der Begriff der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz im Folgenden verstanden werden.

Folglich erscheint eine schulische Berufsorientierung sinnvoll, durch welche die Schülerinnen und Schüler auf diese mögliche Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen an die Zeit nach der Schule und der Realität des Arbeitsmarktes vorbereitet werden. Gleichzeitig sollte durch diese Art der Berufsorientierung ihre Selbststeuerung aktiviert werden.

Aus den vorhergegangenen Darstellungen leitet sich die Frage ab, ob durch entsprechende Maßnahmen der Berufsorientierung in der Sekundarstufe I des allgemeinbildenden Schulwesens die Entwicklung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz von vornherein – gewissermaßen „proaktiv“ – gefördert werden kann. Aus dieser Fragestellung wurde ein didaktisches Konzept mit der Grundidee generiert, Schülerinnen und Schüler mit Aufgaben/Situationen zu befassen, die sich ihnen in der Berufseinmündungsphase im Alter von 15 bis ca. 28 Jahren tatsächlich oder möglicherweise stellen. Es geht also darum, Schülerinnen und Schüler dazu anzuregen, sich ihre Zukunft vorzustellen und diese Zukunft in Angriff zu nehmen.

4.1 Entwicklungsaufgaben nach Havighurst

Neben dem BARB-Modell kann als weitere Grundlage für ein didaktisches Konzept zur Berufsorientierung und für die Aneignung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz die Bewältigung von sogenannten Entwicklungsaufgaben (nach Havighurst 1948, siehe Oerter/Dreher 2008[5]) gesehen werden. Bei Entwicklungsaufgaben handelt es sich um Aufgaben, die im jeweiligen Lebensabschnitt (z. B. Kindheit, Jugend) bearbeitet werden müssen, um das Leben in der jeweiligen Phase in einer guten Weise zu bewältigen. Solche Entwicklungsaufgaben sind beispielsweise im Jugendalter der Aufbau eines Freundeskreises, die Ablösung von den Eltern, das Finden eines Berufszieles etc.

Als Element eines didaktischen Konzepts zur Berufsorientierung sind Entwicklungsaufgaben (wie sie Vertreter der Entwicklungspsychologie sehen) vor allem aus folgendem Grund relevant: Entwicklungsaufgaben erklären „Entwicklung nicht nur als Resultat vergangener Ereignisse, sondern aus vorweggenommenen, zukünftigen Geschehnissen. Die Vorwegnahme zukünftiger Ereignisse, auch solcher in ferner Zukunft, ist ein entscheidender Motor menschlicher Entwicklung“ (Oerter 1998, 121).

Entwicklungsaufgaben ergeben sich einerseits aus biologischen Reifungs- und Abbauprozessen, wie zum Beispiel dem Umgang mit der Altersperiode der Pubertät, die eine Folge der biologischen Reifung ist, oder der Akzeptanz des Abbaus der geistigen und physischen Fähigkeiten mit steigendem Alter. Gleichzeitig sind sie aber kulturspezifisch und leiten sich aus gesellschaftlichen Anforderungen ab, wenngleich der Grad der normativen Verpflichtung bei verschiedenen Entwicklungsaufgaben variieren kann. Streng normativ reglementiert sind – in unserem Kulturkreis – beispielsweise der Beginn und das Ende der Schulpflicht. Die Entwicklungsaufgabe des Berufseintritts ist dagegen weit weniger normativ festgelegt, und die Art ihrer Bewältigung wird aus diesem Grund viel stärker durch individuelle Faktoren bestimmt. Dazu gehören die persönlichen und sozialen Ressourcen des betroffenen Menschen und seiner Bezugspersonen, seine Selbstkonzepte und Lebensprojekte sowie seine Werteorientierungen. Da diese Faktoren von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind, treten die einzelnen Entwicklungsaufgaben und ihre Teilaufgaben – trotz ihrer allgemeinen Formulierung – nicht automatisch bei allen Mitgliedern eines kulturellen Systems in derselben Form auf, sondern beziehen sich immer auf die individuellen Lebensläufe (Oerter/Dreher 2008).

In der Bildungsgangforschung, z. B. im Hamburger Graduiertenkolleg für Bildungsgangforschung (vgl. Trautmann 2004a), ist das Konzept der Entwicklungsaufgaben adaptiert worden. Dabei wurde bisweilen an Havighurst kritisiert (z. B. Trautmann 2004b, 26 ff.; Hahn 2004, 172 ff.), dass sein Konzept der Entwicklungsaufgaben strukturfunktional sei, also bestehende Normen und Werte als Maßstäbe für die Anpassung der Individuen verabsolutiere. Stattdessen wurde darauf insistiert, „allein die Heranwachsenden als diejenigen anzusehen, die sich ihre Entwicklungsaufgaben selbst setzen“ (ebd., 175). Dieser Kritik ist insofern zuzustimmen, als jeder Mensch eine Entwicklungsaufgabe erst einmal selbst erkennen und zu seiner Sache machen muss. Jedoch setzen sich die Heranwachsenden ihre Entwicklungsaufgaben auch nicht im luftleeren Raum („allein“ im Sinn von völlig autonom), sondern sie sind mit gesellschaftlichen Notwendigkeiten (wie der Schulpflicht oder später des Broterwerbs) und z. T. unterschiedlichen/widersprüchlichen Erwartungen an ihre Person durch Familie, Schule und Peergroup konfrontiert, zu denen sie sich verhalten müssen.

Lehnt man sich an das Konzept der Entwicklungsaufgaben im Sinn eines solchen Spannungsfeldes von Selbst- und Fremdbestimmung an, ist es eine Aufgabe der schulischen Berufsorientierung, die bereits vorhandenen individuellen Voraussetzungen bei den Schülerinnen und Schülern als Ausgangspunkt der Berufswegeplanung zu nehmen und dadurch die Chancen auf eine optimale Bewältigung der umfassenden Entwicklungsaufgabe des Berufseintritts – und den Umgang mit weiteren Umbrüchen in der (Berufs-)Biografie – zu erhöhen. Gleichzeitig sollten die Schülerinnen und Schüler dafür sensibilisiert werden, welche Entwicklungsaufgaben in Form von konkreten Problem- und Fragestellungen sich im Laufe ihrer (Berufs-)Biografie ergeben könnten und wie sie angemessen darauf reagieren können.

4.2 Entwicklung des Brettspiels „My Way! Finde deinen Weg“

Am besten geeignet zur Zielerreichung der Förderung der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz wäre aus Sicht des Projektteams ein Planspiel als methodisch-didaktisches Instrument. In einem Planspiel könnten künftige Lebens-/Berufssituationen vorweggenommen werden, wodurch die Schülerinnen und Schüler besser auf diese vorbereitet würden. Für ein Planspiel werden jedoch umfangreiche Zeit- und Personalressourcen benötigt, was die geforderte Umsetzung in allen Realschulen Baden-Württembergs erschwert. Angesichts begrenzter zeitlicher und finanzieller Ressourcen wurde daher von uns das Brettspiel „My Way! Finde Deinen Weg“ entwickelt, welches ohne große Vorbereitung in zwei Schulstunden gespielt und beliebig oft eingesetzt werden kann und ebenfalls der Zielsetzung einer Förderung der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz gerecht werden soll.

Dabei handelt es sich um ein interaktives Brettspiel, durch das die Schülerinnen und Schüler bei der Vorbereitung auf ihr künftiges (Berufs-)Leben unterstützt werden sollen, indem sie sich mit am Konzept der Entwicklungsaufgaben orientierten Lernaufgaben auseinandersetzen. Für das Jugendalter sind folgende Entwicklungsaufgaben bedeutsam (Oerter/Dreher 2008):

  • Beruf: Gedanken und Entscheidungen zur eigenen beruflichen Entwicklung;
  • Peer: Freundeskreis aufbauen;
  • Rolle: gesellschaftlich erwartetes Rollenverhalten annehmen (Erwachsenenrolle, Geschlechtsrolle);
  • Beziehung: eine Beziehung aufbauen;
  • Ablösung/Autonomie: von Eltern / emotionale Unabhängigkeit;
  • Partnerschaft/Familie/Kinder: Vorstellungen entwickeln, wie man Familie/Partnerschaft gestalten möchte;
  • Selbst: Klarheit über sich selbst gewinnen (wie sehen mich andere, und wer bin ich?);
  • Werte: eigene Wertanschauung entwickeln;
  • Zukunft: Zukunftsperspektive entwickeln, Leben planen, (realistische) Ziele ansteuern;
  • Schule: Erwerb schulischer Leistungen;
  • Politik: Ausbildung einer politischen Orientierung;
  • Körper: Veränderungen an Körper/Aussehen akzeptieren.

Diese Entwicklungsaufgaben sind im Brettspiel „My Way!“ zu Spielaufgaben in sechs verschiedenen Spielbereichen, nämlich „Beruf“, „Schule“, „Familie“, „Freundschaft“, „Partnerschaft“ und „Mein Wohlergehen“ transformiert. In diesen Bereichen werden in Gruppen von jeweils fünf bis sechs Schülerinnen und Schülern gemeinsam Aufgaben bearbeitet, die für die berufliche Orientierung oder Umorientierung wichtig sind, und dabei Erfahrungspunkte gesammelt. Durch das beidseitig verwendbare Spielbrett ergeben sich zwei Spielvarianten: In der ersten Variante bearbeiten die Schülerinnen und Schüler beruflich relevante Lebenssituationen, die für die Altersgruppe von 15–21 Jahren bedeutsam sind. In der zweiten Variante können die Schülerinnen und Schüler sich jeweils in mögliche Lebenssituationen der Altersgruppe von 22–28 Jahren hineinversetzen und diese durchspielen. Für das Spiel sollte idealerweise mindestens eine Schuldoppelstunde zur Verfügung stehen, sodass die Schülerinnen und Schüler im Anschluss an den Spieldurchlauf noch genügend Zeit für eine Reflexion haben. Die Reflexion wird durch den sogenannten „Nachdenkbogen“ angeregt, welcher von den Schülerinnen und Schülern ausgefüllt und anschließend gemeinsam mit der Lehrkraft besprochen wird.

Das BARB-Modell findet sich im Brettspiel „My Way!“ doppelt wieder: Die Schülerinnen und Schüler sollen durch das Lösen der einzelnen Aufgabenkarten dazu angeregt werden, ihren eigenen (Wissens-)Stand zu ermitteln, Ideen und Optionen für ihren weiteren (beruflichen) Lebensweg zu entwickeln, sich Ideen zur Umsetzung dieser Ambitionen zu erarbeiten und ihre im Spiel gemachten Erfahrungen mithilfe des sogenannten „Nachdenkbogens“ (siehe Kapitel 4.4) zu reflektieren. Gleichzeitig wurde der Nachdenkbogen selbst entlang des BARB-Modells entwickelt.

Die Entwicklung des Spiels begann im Anschluss an die Auswertung der Schülerinnen- und Schüler-Befragungen an zwölf Realschulen in Baden-Württemberg. Während der Entwicklung des Spiels fand eine kontinuierliche Abstimmung mit dem Kultusministerium Baden-Württemberg sowie mit sogenannten Multiplikatoren statt, die neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit als Realschullehrkräfte dem Kultusministerium im Rahmen eines Expertenteams angegliedert sind. Es wurden mit Prototypen des Spiels „My Way!“ drei Pretests über zwei Schulstunden an verschiedenen Schulen in Baden-Württemberg durchgeführt, davon zwei Pretests in neunten Klassen und einer in einer achten Klasse. Schülergruppen in diesen Klassen erprobten während dieser Zeit das Spiel. Der Ablauf wurde von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Beobachtungsprotokollen festgehalten. Die Pretests dienten dazu, Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge zu den Aufgaben und Aufgabenstellungen vonseiten der Lehrkräfte sowie der Schülerinnen und Schüler selbst zu erhalten. Diese Vorschläge wurden zwischen den Tests überprüft und umgesetzt, sodass eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Pretest zu Pretest stattfand. Bei der weiteren Spielentwicklung wurden der Spielaufbau sowie die Aufgabenkarten fortwährend im Austausch mit den Multiplikatoren und den an den Pretests beteiligten Lehrkräften im Hinblick auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler angepasst. Die Schülerinnen und Schüler aus einer Pretest-Schule sowie eine Lehrerin aus dem Expertenteam überprüften zusätzlich sprachlich und/oder inhaltlich komplexe Karten und brachten Verbesserungsvorschläge ein. Auch diese Vorschläge wurden jeweils geprüft und größtenteils umgesetzt.

4.3 Aufbau und Ziel des Brettspiels „My Way!“

Das aus den Vorarbeiten entstandene Brettspiel zur Förderung der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz ist für den schulischen Unterricht ab Klasse 8[6] der Realschule im Rahmen der Berufsorientierung vorgesehen und wird in Gruppen von fünf bis sechs Schülerinnen und Schülern gespielt. Jede dieser Kleingruppen spielt ein eigenes Spiel. Durch das Spiel werden die Schülerinnen und Schüler dazu angeregt, sich selbsttätig mit verschiedenen Entwicklungsaufgaben der beiden Altersgruppen 15–21 Jahre sowie 22–28 Jahre auseinanderzusetzen.

Die sechs Bereiche „Beruf“, „Schule“, „Freundschaft“, „Partnerschaft“ „Familie“ und „Mein Wohlergehen“ sind als farbige Felder mit jeweils passenden Icons auf dem Spielbrett angeordnet. Zur Abgrenzung der beiden Altersgruppen (15-21 Jahre bzw. 22-28 Jahre) unterscheiden sich die Grafiken auf der Vorder- und Rückseite des Spielbretts voneinander, indem die Charaktere des Spiels entsprechend altern.

Die farbigen Felder auf dem Brett entsprechen den Farbflächen eines achtseitigen Würfels, mit dem gespielt wird. Aufgrund der inhaltlichen Relevanz sind die Bereiche „Beruf“ und „Schule“ doppelt gewichtet, ihnen kommen also jeweils zwei farbige Würfelseiten zu. Es wird reihum gewürfelt, die oder der Älteste fängt an. Die würfelnde Person zieht eine Karte des gewürfelten Aufgabenbereichs. Auf diese Weise gelangen die Spieler/-innen zu den oben genannten Bereichen mit verschiedenen Aufgaben, die sie dann in Gruppen lösen müssen. Für die Bewältigung der Aufgaben werden sogenannte „Erfahrungspunkte“ vergeben, deren Bedeutung dann später im „Nachdenkbogen“, der als Reflexionsinstrument dient, wieder thematisiert werden kann.

Vorrangiges Ziel des Brettspiels ist es, die Schülerinnen und Schüler zu einer Reflexion derzeitiger und künftiger Lebensbedingungen anzuregen. Sie sollen sich selbst besser kennenlernen und lernen, eigene Stärken, Schwächen, Interessen, vorhandenes Wissen und Fähigkeiten sowie Wissenslücken zu identifizieren. Darüber hinaus lernen sie spielerisch mögliche Stationen und Ereignisse im Laufe eines Lebens kennen und können Handlungsmöglichkeiten hierzu erarbeiten. Um dies zu erreichen, wurden auf Basis der beschriebenen Vorarbeiten Aufgabenstellungen zu verschiedenen Spielformen entwickelt. Es gibt acht verschiedene Spielformen, die jeweils unterschiedliche Aktivitäten beinhalten (vgl. Abbildung 1).

Spielform Kurzbeschreibung
Rollenspiel

Bei den Rollenspielen geht es darum, in eine bestimmte Rolle hineinzuschlüpfen und diese schauspielerisch darzustellen. In der Regel bekommen zwei Spieler/-innen eine Rolle zugeteilt und stellen gemeinsam eine Situation dar, zum Beispiel ein Telefongespräch. Die Spielkarte enthält Informationen über die Situation, die dargestellt werden soll. Auf der Aufgabenübersicht sind „Impulse zur Vorbereitung“ angegeben, welche die Spielerinnen und Spieler verwenden können. Impulsfragen sind beispielsweise:

  • Was erwarte ich von meinem Gegenüber?
  • Wie will ich mich im Gespräch verhalten?
  • Möchte ich eine Frage stellen? Welche?
  • Habe ich ein Anliegen? Wie formuliere ich es?

Nach dem Spiel erfolgt eine Auswertung; hierfür sind auf der Aufgabenübersicht folgende „Impulse zur Auswertung“ gesetzt:

  • Was lief ganz gut?
  • Wie wirkten die Rollenspieler/-innen auf die Beobachtenden?
  • Wie hat sich der jeweilige Spieler/die jeweilige Spielerin gefühlt?
  • Welche Schwierigkeiten/Stolpersteine tauchten auf?
  • Was könnt ihr für Euch mitnehmen?

Im Anschluss an das Rollenspiel werden jeweils drei Erfahrungspunkte an die Schauspieler/-innen vergeben. Der Spieleiter oder die Spielleiterin erhält einen Erfahrungspunkt.

Assoziationskette

Ziel des Spieles ist es, möglichst viele Begriffe oder Aussagen zu dem Thema zu finden, das auf der Spielkarte steht.

Es wird reihum gespielt, und jede/jeder muss so schnell wie möglich einen passenden Begriff oder Ausdruck sagen. Wer länger als drei Sekunden braucht oder einen Begriff doppelt aufzählt, scheidet aus. Wer ausscheidet, rutscht mit seinem Stuhl ein deutliches Stück zurück. Gewinner ist, wer übrig bleibt. Dieser erhält einen Erfahrungspunkt.

Brainstorming

Ziel des Spieles ist es, möglichst viele Begriffe zu einem Thema zu erraten. Auf der Spielkarte ist eine Liste mit Begriffen, die von der Gruppe gemeinsam erraten werden müssen. Diese Liste sehen nur der/die Spielleiter/-in und sein/seine Assistent/-in.

Werden genügend Begriffe von der Liste erraten, erhalten die Mitspieler/-innen jeweils einen Erfahrungspunkt. Werden nicht genügend Begriffe erraten, erhalten nur der Spielleiter oder die Spielleiterin und der/die Assistent/-in jeweils einen Erfahrungspunkt.

Speed Ziel des Spieles ist es, möglichst schnell die richtige Antwort auf die Fragen auf der Spielkarte zu finden. Wer die Antwort weiß, legt sofort die Hand auf den Tisch und nennt die Antwort. Ist die Antwort richtig, bekommt er/sie einen Erfahrungspunkt. Ist die Antwort falsch, muss er/sie bei der nächsten Runde aussetzen.
Pantomime Der Spielleiter/die Spielleiterin stellt einen bestimmten Begriff pantomimisch dar. Der Rest der Gruppe versucht, den Begriff zu erraten. Errät jemand den Begriff, bekommt er/sie einen Erfahrungspunkt und ebenso der Spielleiter/die Spielleiterin.
Ratefrage Die Spielkarte enthält verschiedene Fragen. Die Spieler/-innen müssen diese beantworten und die Antwort aufschreiben. Dabei spielt jeder für sich. Wenn die Zeit abgelaufen ist, wird geschaut, wer die richtige Antwort gewusst hat. Bei Schätzfragen gewinnt die Person, die am nächsten an der richtigen Antwort ist. Für jede richtig beantwortete Frage gibt es einen Erfahrungspunkt. Wenn mehrere Spieler/-innen die richtige Antwort wissen, bekommen sie jeweils einen Erfahrungspunkt.
Pro/Contra Ziel des Spieles ist es, dem/der Spielleiter/-in durch die Nennung von Pro- und Contra-Argumenten bei seiner/ihrer Entscheidung zu einem bestimmten Thema zu helfen. Das Thema steht auf der Spielkarte.   
Es werden zwei Gruppen gebildet. Die eine Gruppe sammelt in der Regel Argumente FÜR die Entscheidung, die andere sammelt Argumente GEGEN die Entscheidung. Jeder/jede Mitspieler/-in (inkl. Spielleiter/-in) erhält einen Punkt. Diejenige Gruppe, die den Spielleiter/die Spielleiterin mehr überzeugt, gewinnt. Die Mitglieder dieser Gruppe erhalten jeweils einen zusätzlichen Erfahrungspunkt.
Aufgaben/
Denk mal …
Hier geht es um Reflexionen, allgemeine Denkaufgaben und das Sammeln von Erfahrungen und Wissen. Die ‚Denk mal’-Aufgaben sehen nicht immer gleich aus, auf der Spielkarte steht aber immer eine genaue Anleitung.

Abbildung 1: Kurzbeschreibung der Spielformen im Brettspiel „My Way!“

Es wurden vorrangig Spielformen gewählt, die vielen Schülerinnen und Schülern bereits bekannt sind bzw. die sie sich andernfalls leicht aneignen lassen, denn im Zentrum des Spiels sollen der Umgang mit der Thematik der Berufsbiografie sowie die Reflexion stehen. Trotzdem wird empfohlen, dass die Lehrkraft vor dem ersten Spieldurchlauf alle Spielformen anhand einer Beispielaufgabe gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern durchgeht. Dies reduziert Nachfragen während des Spieldurchgangs.

Diese Aktivitäten setzen sich aus einer Mischung aus Wissensaufgaben (z. B. „Speed“, „Ratefrage“), Aufgaben zur Förderung von Vorstellungskraft und Aspirationen (z. B. „Assoziationskette“, Brainstorming“) handlungsorientierten Aufgaben (z. B. „Rollenspiel“, „Pantomime“) und Reflexionsaufgaben (z. B. „Pro/Contra“, „Denk mal ...“) zusammen, bei welchen die Schülerinnen und Schüler sich intensiv mit beruflich relevanten Themen auseinandersetzen müssen. Jede Aufgabenkarte enthält einheitlich in Form eines „Spickzettels“ eine Kurzbeschreibung der jeweiligen Spielform (vgl. „Kurzanleitung“ in Abbildung 2). Außerdem erhält jede Gruppe ein Übersichtsblatt, auf welchem die Spielformen erklärt sind. Auf diesem Übersichtsblatt kann jede Spielgruppe während des Spiels nochmals nachlesen, wie die jeweilige Aufgabe zu bewältigen ist.

Eine besondere Stellung nimmt die Spielform „Rollenspiel“ ein, bei der sich die Schülerinnen und Schüler in eine Situation hineinversetzen müssen, die sie gemeinsam vorbereiten, durchspielen sowie auswerten. Für die Vor- und Nachbereitung der Rollenspielsequenz werden auf der Rückseite des Spielformen-Übersichtsblatts grafisch aufbereitete, allgemeine Impulse zur Verfügung gestellt, an denen die Spieler/-innen sich orientieren können (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Beispiel für eine Aufgabenkarte im Brettspiel „My Way!“Abbildung 2: Beispiel für eine Aufgabenkarte im Brettspiel „My Way!“

4.4 Nachdenkbogen als Reflexionsinstrument

Im Anschluss an das Spiel findet eine Reflexionsphase statt, in der die Schülerinnen und Schüler einen „Nachdenkbogen“ ausfüllen, der anschließend von der Lehrkraft bewertet werden kann. Anhand dieses Bogens erfolgt – zunächst allein und anschließend im Klassenverband – eine Reflexion, was jede/jeder aus dem Spiel für sich persönlich und insbesondere für die Berufsfindung mitnehmen konnte. Außerdem notieren die Schülerinnen und Schüler hier auch die Erfahrungspunkte der jeweiligen Bereiche. Dadurch ergibt sich die Gelegenheit, die Anzahl und Verteilung der erreichten Erfahrungspunkte der einzelnen Schülerinnen und Schüler zu analysieren und kritisch zu hinterfragen. Der Reflexionsbogen orientiert sich am BARB-Modell (Bilanzierungen – Aspirationen – Realisationen – Bilanzierungen) nach Witzel/Kühn (1999).

Neben der Diskussion des Nachdenkbogens hat die Lehrkraft auch die Möglichkeit, sogenannte „Nachdenkpunkte“ für das Ausfüllen des Bogens zu vergeben. Dadurch wird bewertet, wie vollständig und umfangreich die Schülerinnen und Schüler die Fragen beantwortet haben. Es können null bis zwei Nachdenkpunkte pro beantwortete Frage vergeben werden. Dies kann ein Anreiz für das sorgfältige Ausfüllen des Bogens durch die Schülerinnen und Schüler sein.

Die Gesamtzahl der Erfahrungs- und Nachdenkpunkte sowie deren Verteilung auf die verschiedenen Entwicklungsaufgaben-Bereiche können als Aufhänger für eine Evaluation und Diskussion im Klassenverband genutzt werden: Die Lehrkraft kann beim Zurückgeben der bewerteten Nachdenkbogen auf die Reflexionsfragen eingehen, exemplarische Fragen herausgreifen, im Spielverlauf gemachte Beobachtungen thematisieren oder aber auch darüber sprechen, was die nächsten berufsbiografischen Schritte im Leben der Schülerinnen und Schüler sind, und nachfragen, was noch geübt werden muss und wo es offene Fragen gibt. Zusätzlich ergibt sich die Möglichkeit, das Spiel und seine Ergebnisse/Erfahrungen in der nächsten Schulstunde nochmals aufzugreifen.

Falls der Spielcharakter als Motivationsanreiz genutzt werden soll, kann über die Summe der Erfahrungs- und Nachdenkpunkte eine Siegerin oder ein Sieger ermittelt werden.

5 Fazit und Ausblick

Die in der schulischen Berufsorientierung oftmals angenommene Geradlinigkeit bei der Bildungs- und Berufswegeplanung entspricht längst nicht mehr der Realität. Zwar kann schulische Berufsorientierung nicht antizipieren, wie der weitere (berufliche) Lebenslauf der Schülerinnen und Schüler aussehen wird und ihren Schützlingen Handlungsvorgaben an die Hand geben; aber sie kann durchaus für den Umgang mit möglichen Umbrüchen im (Berufs-) Leben sensibilisieren, dabei helfen, wie man eigene Interessen identifiziert sowie vertritt und somit die Selbststeuerung der Schülerinnen und Schüler aktivieren und fördern. Kurzum: Schulische Berufsorientierung kann und sollte die Schülerinnen und Schüler, über reine Matchingprozesse hinweg, in der Entwicklung ihrer berufsbiografischen Gestaltungskompetenz unterstützen. Mit dem Begriff der berufsbiografischen Gestaltungskompetenz wird nicht unterstellt, dass jeder Mensch Problemsituationen in der Berufseinmündung und auf dem weiteren Berufsweg umstandslos zu meistern in der Lage ist. Die Bewältigung von Problemsituationen liegt nicht nur in der Hand des Individuums. Im Ansatz von BerufReal wird jedoch versucht, Schülerinnen und Schüler überhaupt einmal für diese Herausforderung zu sensibilisieren, und zwar so, dass die Berufsorientierung vom übrigen Leben nicht künstlich getrennt wird. Die von uns ausgewerteten Interviews der Längsschnittstudie „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“ (Witzel/Kühn 1999) zeigen, wie häufig berufliche Entscheidungen und Umorientierungen mit Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, gesundheitlichen Veränderungen etc. zusammenhängen.

Das entwickelte Brettspiel „My Way! Finde Deinen Weg“ setzt bei diesem Punkt an und stellt einen Baustein bei der Erweiterung einer frühzeitigen und intensiven Berufsorientierung an Realschulen in Baden-Württemberg dar, bei dem sich die Jugendlichen spielerisch mit verschiedenen Themen rund um die Berufsfindung und den Beruf auseinandersetzen. Außerdem wird ihnen deutlich, was sie im Bereich Berufsorientierung und Lebensplanung schon wissen und können, aber auch, wo es noch Lücken und offene Fragen gibt. Dabei ist das Spiel schüler- und handlungsorientiert gestaltet, es soll die Interaktions- und Sozialkompetenz fördern und Denkanstöße für die weitere Zukunft geben. Darüber hinaus ist der Einsatz des Spiels in höchstem Maße niedrigschwellig gestaltet: Für den Einsatz werden lediglich ein Klassenzimmer sowie ein Zeitrahmen von mindestens einer Schuldoppelstunde (90 Minuten) inklusive Vor- und Nachbereitung benötigt. Außerdem sind die acht verschiedenen Spielformen bei den Schülerinnen und Schülern zum Teil bereits bekannt bzw. lassen sich andernfalls leicht einüben. Da das Spiel insgesamt 260 Spielkarten beinhaltet, eignet es sich für den mehrfachen Einsatz in der Klasse, und auch das eigenständige Spielen durch die Schülerinnen und Schüler ist möglich.

Nicht zuletzt zeigen die Erfahrungen und Rückmeldungen aus den Pretests während der Spielentwicklungsphase, dass die Schülerinnen und Schüler das Spiel positiv aufnehmen und Spaß daran haben. Eine flächendeckende Evaluation im Hinblick auf die Effekte für eine erweiterte Berufsorientierung und die tatsächliche Förderung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz steht jedoch noch aus. Hierzu ist eine repräsentative Untersuchung beantragt worden, in der untersucht werden soll, ob und inwieweit die Entwicklung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz durch „My Way!“ gefördert wird und welche Einflussfaktoren auch außerhalb des Lehr-/Lernarrangements auf die berufsbiografische Gestaltungskompetenz der Schülerinnen und Schüler festgestellt werden können. Zu diesem Zweck wird auf Basis des bereits vorhandenen (aus der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur extrahierten) vorläufigen Modells berufsbiografischer Gestaltungskompetenz ein Fragebogen entwickelt und getestet.

Als weitere Perspektive bietet es sich an, das Spiel für andere Schularten und andere Bundesländer zu adaptieren. Dies geschieht momentan. Mittlerweise ist der Einsatz von „My Way!“ in verschiedenen Schultypen Baden-Württembergs mit ca. 100 Schülerinnen und Schülern erprobt und evaluiert worden. Bei der Evaluation wurden die Schülergruppen mithilfe eines Beobachtungsbogens beobachtet, anschließend wurden Interviews mit den Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrkräften geführt. Die Auswertung ergab, dass bislang in allen neunten Klassen der Realschule ein engagiertes und differenziertes Nachdenken über Berufsfindung und Berufswege ausgelöst wurde. Generell zeigte die Evaluation ein Interesse aller Zielgruppen an dieser Art der Berufsorientierung, was angesichts teilweise großer Verständnisschwierigkeiten bei einzelnen Zielgruppen als bemerkenswert empfunden wurde (in berufsvorbereitenden Maßnahmen wurden z. T. Begriffe wie „Gewerkschaft“ oder „mein Wohlergehen“ nicht verstanden). Bei der Adaption für andere Schularten sollte daher eine sprachliche und inhaltliche Anpassung auf die unterschiedlichen Niveaus im Bereich Vorwissen vorgenommen werden. Auch das unterschiedliche Alter der Schülerinnen und Schüler ist zu berücksichtigen, da die Berufsorientierung je nach Schulart in unterschiedlichen Klassenstufen angesiedelt ist.

Darüber hinaus wäre eine Weiterentwicklung des Brettspiels zur Vorbereitung auf das (Berufs-)Leben in Form eines interaktiven Planspiels wünschenswert. Zu diesem Zweck können die Bereiche „Beruf”, „Schule”, „Freundschaft”, „Familie”, „Partnerschaft” und „Mein Wohlergehen” in einzelne Stationen abgewandelt werden. Diese Stationen würden, wie in einem Planspiel üblich, mit verschiedenen Akteurinnen und Akteuren aus den Bereichen Berufsorientierung, Schul- und Berufsausbildung besetzt werden und würden dann möglichst ganzheitliche Arbeitsaufgaben beinhalten. Hier müssen die Schülerinnen und Schüler verschiedene Aufgaben nicht nur in der Vorstellung, sondern realitätsnah bewältigen, weshalb sie sich mit den verschiedenen Entwicklungsaufgaben noch intensiver und aktiver auseinandersetzen.

Eine Erweiterung des Brettspiels zu einem Planspiel bringt zahlreiche Vorteile mit sich: Durch Simulation und das tatsächliche Erleben/Erproben von realen Situationen (z. B. die Arbeitsagentur aufsuchen) im Rahmen des Planspiels können die Schülerinnen und Schüler einen realitätsnahen und praxisbezogenen Einblick in konkrete Herausforderungen und Zusammenhänge gewinnen. Dabei werden sie durch das Treffen eigener Entscheidungen mit den Folgen ihres Handelns konfrontiert (Reich 2007), d. h., die Realisierungskompetenz zur Umsetzung beruflicher Aspirationen könnte gestärkt werden. Ein Planspiel bringt außerdem die Möglichkeit mit sich, eine Vernetzung der verschiedenen Bausteine sowie der (potenziell) an der Berufsorientierung beteiligten Akteure vorzunehmen. Durch die Erweiterung des Brettspiels auf ein Planspiel würde auch dem Wunsch vonseiten der Lehrkräfte gerecht, bei der Berufsorientierung noch stärkere Bezüge zur Arbeitsrealwelt herzustellen und in diesem Rahmen die Lerninhalte künftig intensiver mit arbeitsweltlichen Realsituationen zu verknüpfen.

Literatur

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[1]http://www.kultusportal-bw.de/,Lde/Startseite/schulebw/Kontingentstundentafel  (15.09.2014).

[2]     X steht für das arithmetische Mittel der jeweiligen Frage auf einer Skala von 1=geringe Ausprägung bis 4=sehr hohe Ausprägung. SD meint die Standardabweichung, also die Streuung der Werte um diesen Erwartungswert. Beide Werte ergeben sich aus den Angaben der befragten Schülerinnen und Schüler.

[3]     Für nähere Informationen siehe:  http://www.kultusportal-bw.de/,Lde/Startseite/schulebw/Kompetenzanalyse+Profil+AC+an+Realschulen (15.09.2014).

[4]http://www.qualiservice.org/index.php?id=40  (15.09.2014).

[5]     Das Konzept der Entwicklungsaufgaben von Havighurst wurde von Oerter/Dreher (2008) grundlegend überarbeitet und an die veränderten beruflichen und lebenslaufbezogenen Bedingungen der heutigen Zeit angepasst.

[6]     Nach den  Erfahrungen der Pretests ist das möglich. Empfohlen wird von uns jedoch eher ein Einsatz des Spiels in Klassenstufe 9.

Betriebsbegegnungen in der Berufsorientierung. Das Beispiel "Berlin braucht dich!"

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Einleitung

Berlin braucht dich! geht zurück auf eine Initiative der Beauftragten des Berliner Senats für Integration und Migration aus dem Jahr 2006, ungeförderte betriebliche Berufsausbildung für Jugendliche aus Einwandererfamilien zu öffnen. Seit 2009 arbeiten Schulen und Betriebe, zunächst  aus dem öffentlichen Sektor, seit 2013 auch aus der Metall- und Elektroindustrie, eng in diesem Vorhaben zusammen. Das Berufliche Qualifizierungsnetzwerk für Migrantinnen und Migranten (BQN Berlin) unterstützt und moderiert diesen Entwicklungsprozess der fortlaufenden Vernetzung zwischen Schulen und Betrieben. Im Zentrum steht dabei das Bestreben, den Lernort Betrieb im Rahmen einer systematischen Berufsorientierung aufzuwerten und dafür Sorge zu tragen, dass die Betriebsbegegnungen interkulturell und diskriminierungsfrei gestaltet sind.

Der folgende Beitrag gibt einen Einblick in die “Werkstatt” von Berlin braucht dich!. Zunächst werden die Anlage des Vorhabens, seine Begründung und sein heutiger Entwicklungsstand skizziert (Punkt 1). In seiner integrationspolitischen Dimension nimmt das Vorhaben Bezug auf die Teilhabe von Jugendlichen mit Migrationshintergrund an Berufsausbildung, so wie sie sich in Berlin darstellt (Punkt 2).

Danach geht es um Kernelemente von Berlin braucht dich!: die Abfolge von Betriebsbegegnungen ab Klassenstufe 7 und die Kooperation von Betrieben und Schulen in Form eines Konsortiums (Punkt 3). Schließlich wird gezeigt, wie sich im Zuge der Auseinandersetzung mit den gegebenen betrieblichen und schulischen Realitäten ein Modellansatz für die Berliner Berufsorientierung herausentwickelt hat (Punkt 4 und 5). In dieser Hinsicht ist in Berlin am Übergang Schule-Arbeitswelt einiges in Bewegung (Punkt 6).

1 Das Vorhaben: Berlin braucht dich!

Berlin braucht dich! hatte von Anfang an die Perspektive, ungeförderte duale Ausbildung für Jugendliche aus Einwandererfamilien zu öffnen, und dies vor allem auch in beruflichen Feldern mit qualitativ hochwertigen Anforderungsprofilen.  Angesprochen wurden durch Berlin braucht dich! zunächst die Jugendlichen selbst, um sie über ihre Möglichkeiten einer Ausbildung beim Land Berlin zu informieren und diese Option bekannt zu machen. Mit der Verwendung des Begriffs „Öffnung“ sind mehrere Voraussetzungen verbunden: a) dass eine solche bisher nicht oder nicht in der wünschenswerten Weise erfolgt ist,  b) dass Gründe hierfür nicht nur bei den Jugendlichen selbst, sondern zugleich auch im Ausbildungssystem, insbesondere bei den Betrieben, zu suchen sind, und c) dass es kein a priori gibt, sondern dass es sich bei Öffnung um einen Prozess der Erprobung handelt.

Als erfolgversprechender „Hebel“, um diesen integrationspolitisch gewollten Prozess in Gang zu bringen, wurde Berlin braucht dich! für den Öffentlichen Dienst und die Betriebe mit Landesbeteiligung entwickelt. Zunächst in Form einer Kampagne wurde mit der Annahme gearbeitet, dass es eine größere Gruppe von schulisch gut qualifizierten und motivierten Jugendlichen mit Migrationshintergrund gibt, die aus einer Kombination von Fremd- und Selbstzuschreibung heraus bisher nicht in qualifizierter ungeförderter Ausbildung angekommen sind. Die Erwartungen fokussierten sich dabei auf die Jugendlichen und ihre Bereitschaft, sich zu bewerben sowie auf die beteiligten Betriebe und ihre Öffnung für Berliner Jugendliche aus Einwandererfamilien.

Es zeigte sich aber rasch, dass eine Kampagne nicht ausreichen würde, um den Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in erheblichem Umfang, wirksam und dauerhaft in der Berufsausbildung zu erhöhen. Als Konsequenz hieraus wurde die Kampagne durch den Unterbau eines gestuften Systems von Betriebsbegegnungen ergänzt. Verbunden ist damit die Annahme, dass früh einsetzende und sich erweiternde anregende Begegnungen mit der Welt der Betriebe geeignet sei, die Distanz zur Arbeitswelt zu verringern und Berufsausbildung als eine reale Option, die einer ernsthaften Prüfung unterzogen wird, bei den Jugendlichen zu etablieren.

Erst mit dieser Erweiterung im Jahr 2009 kommen Betriebe und Schulen als Konsortialpartner ins Spiel. Ihre Zusammenarbeit für die Entwicklung des gestuften Systems von Betriebsbegegnungen ist zunächst explizit integrationspolitisch motiviert. Erst allmählich schieben sich bei den beteiligten Betrieben auch reale personalpolitische Motive der Nachwuchsgewinnung mit in den Vordergrund.

Der integrationspolitische Ansatz wird dadurch abgesichert, dass nur solche Schulen partizipieren, die einen hohen bis sehr hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund aufweisen. Es geht jedoch nicht generell um Sekundarschulen mit hohem Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, sondern um jene Sekundarschulen, deren Anteil an Schulabgängern/innen, die in eine ungeförderte Berufsausbildung münden, erheblich unterdurchschnittlich ist.

An diesen Schulen ist der Anteil der Jugendlichen, die arbeitsweltfern aufwachsen, besonders hoch: „Den Schülerinnen und Schülern ist die Arbeitswelt oder das Spektrum der verschiedenen Berufe größtenteils nicht bekannt, weil viele Eltern überhaupt nicht arbeiten. Ihnen Mut zu machen, die Schwelle zu übertreten und sie an die Arbeitswelt heranzuführen – das ist besonders wichtig. Für diese Jugendlichen ist es nicht leicht, die Hürde zu nehmen und ein Praktikum in einem Betrieb zu machen. Wir versuchen, unseren Schülerinnen und Schülern die Ängste zu nehmen, denn die meisten haben den Wunsch, einen Beruf zu erlernen. (…) Dieses Zusammenführen der Jugendlichen aus den jeweiligen Berlin braucht dich! Schulen mit den Betrieben macht Berlin braucht dich! besonders.“ (Ausschnitt aus transkribiertem Interview mit Lehrerin S.F., geführt am 28.04.2014, veröffentlicht auf: http://www.berlin-braucht-dich.de/erfolgsgeschichten/lehrer-innen/sabine-funk/ ).

Was als Kampagne im Öffentlichen Dienst begann, weitete sich bald auf die Betriebe mit Landesbeteiligung und seit 2013 auch auf die Berliner Metall- und Elektroindustrie aus. Heute besteht ein Netzwerk aus über 30 Schulen und mehr als 60 Unternehmen, das  Berlin braucht dich! Konsortium. Es bietet einen Rahmen, um Strukturen, Verfahren und Einstellungen der Akteure aus Schule und Berufsausbildung nachhaltig und zukunftsweisend öffnen zu können. Denn: gemeinsames Ziel der Akteure von Berlin braucht dich! ist es, Jugendlichen, die sich in Bezug auf Erfahrungen und Orientierungen fern von der Arbeitswelt bewegen, betriebliche Ausbildung und anschließende Facharbeitertätigkeit als eine realistische Perspektive überhaupt verfügbar zu machen.

2 Hintergrund: Barrieren zu Dualer Ausbildung

Laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg haben rund 27 % der Einwohnerinnen und Einwohner der bundesdeutschen Hauptstadt einen sogenannten Migrationshintergrund (zur Definition des Migrationshintergrund vgl. Statistisches Bundesamt 2007). Bei den unter 15-Jährigen liegt der Anteil bei etwa 43 % (Amt für Statistik Berlin Brandenburg 2012) – eine Entwicklung, die sich in Berlin auch deutlich im Schulsystem ausdrückt und durch eine starke Konzentrationen auf Schulen im Innenstadtbereich geprägt ist. Im Jahr 2012 hatte bereits jede dritte der rund 800 Schulen in Berlin einen über 40 %igen Anteil von Schülerinnen und Schülern „nichtdeutscher Herkunftssprache (ndH)“ – das Erfassungsmerkmal der Berliner Schulverwaltung. 139 Schulen weisen einen Anteil von mehr als 60 % auf, und an 68 Schulen, vorwiegend in den Bezirken Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln, liegt der Anteil bei über 80 % (vgl. Köhler/Anders: „Immer mehr Schüler mit Migrationshintergrund“, Berliner Morgenpost vom 19.01.2012 http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article1884994/Immer-mehr-Schueler-mit-Migrationshintergrund.html - aufgerufen am 15.04.2014).

Schüler/innen mit Migrationshintergrund haben in den letzten Jahren bezogen auf die erreichten Schulabschlüsse bessere Ergebnisse erreicht, dennoch zeigen sich merkliche Unterschiede. Immer noch verlassen Schülerinnen und Schüler die Schule häufiger ohne einen Abschluss (11,5 % der Schüler/innen ndH im Vergleich zu 7,6 % aller Schüler/innen und Schülern). Ein gutes Drittel aller Schulabgänger/innen mit und ohne ndH verlässt in Berlin die Schule mit einem mittleren Schulabschluss. Beim Erreichen der allgemeinen Hochschulreife zeigen sich dann wiederum sehr deutliche Unterschiede: diesen Abschluss erreichen Schüler/innen ndH zu knapp 29 %, insg. liegt der Anteil allerdings bei 43 % (Senatsverwaltung für Bildung 2014).

Auch wenn inzwischen knapp 60 % der Schüler/innen ndH den Mittleren Abschluss oder das Abitur erreichen, drückt sich diese Entwicklung nicht im Übergang von der Schule in eine qualifizierte Ausbildung aus: Im Bericht zur Umsetzung des Integrationskonzepts 2007 für den Zeitraum 2009 bis September 2011 wird festgehalten: „Der Anteil der ausländischen Jugendlichen an allen Ausbildungsverhältnissen ist seit Verabschiedung des Integrationskonzeptes leicht angestiegen auf 5,5 % (2007: 4,2 % – nach Migrationshintergrund aufgeschlüsselte Zahlen liegen leider nicht vor, was besonders in dieser Altersgruppe bedeutsam wäre).“

Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil ist die Ausbildungsquote dieser Jugendlichen nach wie vor sehr gering. Und auch die Ergebnisse des Mikrozensus 2011 zeigen für Berlin, dass der Zugang zu qualifizierter Berufsausbildung in Berlin ungleich verteilt ist. So verfügten am Stichtag 39,5 % der Berliner/innen ohne Migrationshintergrund über eine duale Ausbildung oder einen vergleichbaren beruflichen Abschluss, aber nur 16,1 % der Berliner/innen mit Migrationshintergrund (vgl. Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2012).

Die oben aufgeführten Zahlen zur Übergangssituation Schule-Beruf beleuchten schlaglichtartig, dass sowohl das Bildungs- als auch das Ausbildungssystem vor großen Herausforderungen stehen (Arbeitsgemeinschaft Weinheimer Initiative 2013). Zukünftig wird es noch bedeutsamer werden, dass die Leistungsfähigkeit der Systeme zur Entwicklung von Potenzialen und zur Nachwuchssicherung von Fachkräften gesteigert wird. Reformansätze im Übergang Schule-Beruf haben dabei der unterschiedlichen Situation von Schulen in Bezug auf die erreichten Übergänge in qualifizierte Berufsausbildung Rechnung zu tragen.

Bei Berlin braucht dich! entwickeln Schulen und Betriebe im Konsortium gemeinsam Ansätze einer im Betrieb stattfindenden Berufsorientierung, die bereits ab Jahrgangstufe 7 beginnt; in regelmäßigen Partnertreffen erarbeiten Schulen und Betriebe­ gemeinsam, wie das betriebliche Lernen im Betrieb systematisch und strukturiert aufgebaut und in die schulische Berufsorientierung integriert werden kann.  Die zentrale Bedeutung des Lernorts Betrieb steht im Zentrum des systematischen Aufbaus der Übergänge von der Klasse 7 bis 10: Das Angebot der schulischen Berufsorientierung wird mit dem Angebot der Berlin braucht dich! Betriebe methodisch-inhaltlich und zeitlich abgestimmt, so dass ein systematischer Aufbau der Berufswahlkompetenz der Schüler/innen von Klasse 7 möglich ist.

3 Im Zentrum: Betriebsbegegnungen

Um ein vielseitiges Angebot an Betriebsbegegnungen von Klasse 7 bis Klasse 10 zu gewährleisten wurde  der Aufbau des Berlin braucht dich! Konsortiums aus Schulen und Betrieben als notwendige Erfolgsbedingung erachtet. Eine betriebsnahe Berufsorientierung in Form eines Systems von Betriebsbegegnungen könne sich nur entwickeln, so die Annahme, wenn eine enge und verbindliche Zusammenarbeit und Annäherung der Arbeits- an die Schulwelt und umgekehrt gewährleistet ist. Dahinter stand die Einschätzung einer bestehenden wechselseitigen Fremdheit zwischen beiden Teilsystemen Schule und Betrieb (Hurrelmann 2014).

Eine weitere wichtige Annahme war, dass nur eine enge und respektvolle fachliche Zusammenarbeit und das damit entstehende wechselseitige Vertrauen die Basis dafür bildet, diffizile Fragen von Interkulturalität und Diskriminierung anzugehen, aber auch zu einer Öffnung der Betriebe gegenüber Jugendlichen „aus der zweiten Reihe“ zu gelangen, d.h. Jugendlichen, die sich von alleine noch nicht auf den Weg in Richtung Berufsausbildung gemacht haben.

Mit dem Aufbau eines vierstufigen Systems von Betriebsbegegnungen einher ging die gemeinsame Arbeit von Schulen und Betrieben an der Dokumentation ihrer Erfahrungen in einem Handbuch für Betriebsbegegnungen (BQN Berlin 2011). Das zentrale Anliegen dieses Handbuchs ist es, Qualitätsstandards zu formulieren und in praktischen Schritten für die Durchführung von Praktika festzuhalten und zu beschreiben. Eine aktualisierte Fassung dieses Handbuches mit einer zusätzlich erstellten Praxishandreichung für Betriebe der Metall- und Elektroindustrie liegt seit Januar 2015 vor (BQN Berlin 2015 a und b). Schulen und Betriebe haben auf Grundlage ihrer Expertise aus dem jeweiligen Bereich formuliert, was die Qualität von Praktika ausmacht, die Jugendliche dabei unterstützen, sich Wege in die Arbeitswelt zu erschließen. Die Qualitätsstandards gelten dabei nicht allein für Jugendliche aus Einwandererfamilien, aber sie berücksichtigen durchgehend eine interkulturelle Perspektive im betrieblichen und schulischen Handeln.

Eine Grundlage für die Erstellung dieser Handbücher war eine explorative qualitative Studie, die seitens BQN durchgeführt wurde. Mittels leitfadengestützter qualitativer Interviews wurden Jugendliche, Lehrkräfte und Betriebsvertreter/innen im Zeitraum Januar bis Juni 2014 befragt. Zentraler Fokus aller Interviews war die Frage nach den Gelingensbedingungen für einen erfolgreichen Übergang in Ausbildung aus der Perspektive der unterschiedlichen im Rahmen von Berlin braucht dich! einbezogenen Akteure/innen. Die Interviews wurden transkribiert; zentrale Ergebnisse wurden in den Handbüchern aufgenommen. Auswählte Interviewpassagen wurden darüber hinaus auf der Seite www.berlin-braucht-dich.de veröffentlicht.

Der Ansatz von Berlin braucht dich! konzentrierte sich von Beginn an auf eine spezifische Konzeption, die von Schulen und Betrieben gemeinsam erarbeitet wurde. Dabei wurden Betriebsbegegnungen ins Zentrum des Konzeptes gerückt. Es wurde ein über die Klassen 7 bis 10 aufeinander aufbauendes System von Betriebsbegegnungen entwickelt und erprobt. Das beim Öffentlichen Dienst, den Betrieben mit Landesbeteiligung und seit 2013 bei Betrieben der Metall- und Elektrobranche breit gefächerte Angebot an qualitativ hochwertigen Betriebsbegegnungen hat für die Berlin braucht dich! Schulen (Integrierte Sekundarschulen bzw. Gemeinschaftsschulen mit einem über 50 %igen Anteil von Schülern/innen ndH) eine hohe Attraktivität, trotz der mit diesem Angebot verbundenen erhöhten Anforderungen an Vorbereitung, Nachbereitung und Koordinierung.

Die Qualität dieser Betriebsbegegnungen ergibt sich für die einzelnen Schülerinnen und Schüler aus einem interessenbasierten Matchingverfahren und der Durchführungsqualität der betrieblichen Kontakte. Bei dem Matching geht es nicht darum, dass Schüler/innen „irgendeinen“ Platz in einem Praktikum erhalten, sondern betriebliche und arbeitsbezogene Erfahrungen dort sammeln können, wo sie ihre eigenen Interessen formulieren oder zumindest vermuten. Ansatzpunkte des Matching sind also die Interessen und die Motivation der Jugendlichen selbst. Die unterschiedlichen Betriebsbegegnungen unterstützen demnach die Jugendlichen dabei, eigene Vorstellungen mit der Realität von Arbeitswelt und konkreten Berufen abzugleichen.

3.1 Interkulturelle Öffnung und der Fokus Migration bei Berlin braucht dich!

Der Fokus Migration wird bei Berlin braucht dich! nicht als ein Handlungsfeld im Übergang Schule-Beruf neben anderen verstanden, sondern als Querschnittsaufgabe, die aber einer besonderen Aufmerksamkeit und einer eigenen professionellen Bearbeitung bedarf. Dabei drückt Interkulturelle Öffnung grundsätzliche Wertehaltungen aus, und setzt sich als ein Paradigma durch, „das für praktisches Handeln und politische Orientierung tragfähig scheint“ (Schröer 2007, 12). Für die kommunale Ebene hält Filsinger (2009) fest, dass sich in den letzten Jahren eine große Bandbreite interkulturell ausgerichteter Integrationspolitiken herausgebildet haben: „Herauszustellen ist besonders die zumindest programmatische Abkehr von einer Defizitperspektive, die es erlaubt, die Ressourcen und Potenziale der (jungen) Menschen mit Migrationshintergrund zu erkennen. Eine solche Perspektive lässt sich freilich nicht verordnen; sie verlangt vielmehr einen Bildungsprozess, im Rahmen dessen etwa (kulturalistische) Deutungsmuster eine Modifikation  erfahren können.“ (ebd., 86)

Was hier mit Blick auf die kommunale Ebene formuliert ist, gilt entsprechend für Betriebe und ihr betriebliches Handeln in Rekrutierungs- und Ausbildungsprozessen und bezogen auf die Personalentwicklung der Unternehmen insgesamt.  Die interkulturelle Öffnung als Ansatz auf betrieblicher Ebene umfasst dabei ganz wesentlich die Fähigkeit, Angebote zu erarbeiten, die Chancengleichheit zum Ausgangspunkt nehmen und die „barrierefrei“ (Terkessidis 2010) sind.

Insofern gehören auch Qualifizierungsangebote für Beschäftigte von Berlin braucht dich! Betrieben fest ins Konzept: Mit Trainings zur interkulturellen Sensibilisierung eröffnet sich ihnen die Möglichkeit, eigene Haltungen im persönlichen und beruflichen Handeln kritisch zu reflektieren und sich mit eigenen Vorurteilsstrukturen auseinander zu setzen. Diese Möglichkeit ist fester Bestandteil der Angebote von Berlin braucht dich!, die sich an das betriebliche und schulische Personal richten. In einem nächsten Schritt ist hier verstärkt die strukturelle Ebene betrieblicher und schulischer Organisation zu addressieren, um Strukturen dauerhafter aufzubrechen und zu verändern.

3.2 Positive Erfahrungen in der Arbeitswelt

„Berufswahlkompetenz“ entsteht durch Informationen über Betriebe, über Berufe, aber eben ganz wesentlich auch über eigenes Kennenlernen der Arbeitswelt im Betrieb und eine bewusste und motivierte Auseinandersetzung mit ihr, so die Grundannahme des Berlin braucht dich! Konsortium.

Auf die Frage, welche Erfahrungen im Praktikum wichtig waren, sagt eine ehemalige Berlin braucht dich! Schülerin: „Ich habe … erfahren, was man für Kompetenzen braucht, um diesen Beruf ausüben zu können. Man hat uns zwar in der Schule den beruflichen Alltag vorgestellt … , doch praktisch war es dann doch ganz anders. In meinem ersten Praktikum habe ich festgestellt, dass eine Ausbildung im medizinischen Bereich für mich nicht in Frage kommt. Danach habe ich mich umorientiert und dann in der 10. Klasse durch das dreiwöchige Praktikum […] gemerkt, dass ich später gerne im kaufmännischen Bereich arbeiten möchte.“ (Ausschnitt aus transkribiertem Interview mit Auszubildender A.O., geführt am 12.02.2014)

Die Kontrastierung von schulisch erworbenem Wissen, das letztlich zunächst theoretisch bleibt, und der Wirklichkeit der Arbeitswelt in einem Betrieb hat für die oben zitierte Schülerin den Unterschied ausgemacht: erst durch das tatsächliche Praxiserleben in Betrieben war für sie eine orientierte Entscheidung möglich.  Wichtig war hierbei, dass es nicht nur einen Kontakt mit der Arbeitswelt gab, sondern dass mehrere Optionen des Ausprobierens zur Verfügung standen: So konnte die Erfahrung gemacht werden, dass die eigene ursprüngliche Annahme, was man gerne machen würde, nicht deckungsgleich mit der beruflich-betrieblichen Realität war. In einem nächsten Schritt konnte dann ein anderes Berufsfeld erprobt werden.

Ein Auszubildender bei den Berliner Bäderbetrieben beschreibt seine Erfahrungen folgendermaßen: „In der 9. Klasse hat meine Lehrerin uns Praktika von Berlin braucht dich! vorgestellt. Da waren mehrere Angebote, einmal von der BSR und auch von der BVG und noch andere. Ich habe mich für die Berliner Bäderbetriebe entschieden. Die Ausbildung Fachangestellter für Bäderbetriebe kannte ich vorher überhaupt nicht. Erst durch Berlin braucht dich! habe ich davon erfahren. Im Praktikum ist mir klar geworden: Das gefällt mir, das will ich mal machen! […] Ich habe zwei Praktika gemacht. Das erste über Berlin braucht dich! und das zweite habe ich mir selbst besorgt. Wieder bei den Bäderbetrieben, weil es mir dort gefallen hat. Und dann habe ich noch den Bewerbertag von Berlin braucht dich! bei den Bäderbetrieben mitgemacht. […] Zwei Azubis haben uns vor Ort alles erklärt: Wie es bei der Ausbildung abläuft, wie lange sie dauert und was man verdient. Wir haben einen kleinen Einstellungstest geübt, der lief eigentlich ganz gut. Und dann haben die richtig Werbung gemacht: „Bewirb dich, bewirb dich, es ist richtig gut hier!“ Denn die suchen ja auch Leute mit Migrationshintergrund.“ (Ausschnitt aus transkribiertem Interview mit Auszubildendem M.H., geführt am 19.2.2014, veröffentlicht auf: http://www.berlin-braucht-dich.de/erfolgsgeschichten/auszubildende/mahmoud/)

Der Lernort Betrieb war auch für diesen Jugendlichen zentral, um mehr über einen Beruf zu erfahren, ja diesen überhaupt erst kennen zu lernen. Deutlich zeigt sich hier auch, wie die aufeinander aufbauenden Formate in den Betrieben wirken.

Für eine positive betriebliche Erfahrung seitens der Jugendlichen ist es nicht hinreichend, dass sie einen „Betrieb von innen“ sehen können, sondern die Qualität der betrieblichen Angebote. Aus Sicht eines Lehrers stellt sich dies so dar: „Das Besondere an Berlin braucht dich! ist, dass die Personalverantwortlichen der Betriebe dahinter stehen. Die Betriebsbegegnungen zeichnen sich deshalb durch überdurchschnittlich gute Konzepte aus - im Vergleich zu den Angeboten an Praktika, die die Schüler sonst so erleben.“ (Ausschnitt aus transkribiertem Interview mit M. M., geführt am 17.2.2014, veröffentlicht auf: http://www.berlin-braucht-dich.de/erfolgsgeschichten/lehrer-innen/michael-morsbach/)

Auch die Betriebe schätzen die neue Qualität von Berlin braucht dich! – für ihre Unternehmen und für die Jugendlichen. Ein Ausbildungsleiter formuliert dies so: „Das Besondere an Berlin braucht dich! ist für mich, die Vielfalt der unterschiedlichen Kulturen von Berliner Jugendlichen auch in die Unternehmen zu bringen. Berlin braucht dich! hilft Schülerinnen und Schülern, ihre Kompetenzen zu erkennen und diese für die Betriebe nutzbar zu machen.“ (Ausschnitt aus transkribiertem Interview mit C.K., geführt am 18.2.2014, veröffentlicht auf: http://www.berlin-braucht-dich.de/erfolgsgeschichten/ausbilder-innen/berliner-wasserbetriebe/)

Der Lernort Betrieb entfaltet besonders dann motivierende Impulse, wenn in Betrieben Vorbilder sichtbar werden können. So resümiert eine Fachbereichsleiterin des Öffentlichen Dienstes in Berlin: „Der Vorsitzende unserer Jugend- und Auszubildendenvertretung ist ein ehemaliger Azubi mit türkischem Migrationshintergrund. Trotz einer wenig motivierten Schulendphase kam er zu der Erkenntnis: Ich muss mich auf eigene Beine stellen. Er hat die Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten mit gutem Ergebnis absolviert, wurde übernommen, ist super engagiert - auch politisch. In unserer Öffentlichkeitsarbeit arbeiten wir eng mit ihm zusammen, weil er ein tolles Vorbild für alle Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist.“(Ausschnitt aus transkribiertem Interview mit A.O., geführt am 17.2.2014, veröffentlicht auf: http://www.berlin-braucht-dich.de/erfolgsgeschichten/ausbilder-innen/senatsverwaltung-fuer-inneres-und-sport/)

4 Systematisierung: Auf dem Weg zu einer “Qualifizierten Vierstufigkeit”

Berufsorientierung ist im schulischen Kontext ein verbindlicher Baustein, der für die unterschiedlichen Jahrgangsstufen ausdifferenzierte Angebote vorsieht; arbeitsweltbezogene Unterrichtsinhalte im Fach Wirtschaft-Arbeit-Technik werden beispielsweise ergänzt durch Potenzialanalysen und anschließende Werkstatttage, Beratungsangebote der Bundesagentur für Arbeit und die unterstützte Erstellung von Bewerbungsunterlagen und vieles mehr. Doch nicht nur in den Schulen, sondern auch in den öffentlichen wie privaten Betrieben Berlins gewinnt das Thema Berufsorientierung als ein Ansatz der vorausschauenden Fachkräftesicherung zunehmend an Bedeutung. Angesichts der immer schwächer ausgeprägten Orientierung der Jugendlichen in Richtung auf eine qualifizierte Ausbildung - bei gleichzeitigem Trend zum Abitur - hat im Betrieb stattfindende Berufsorientierung und das Lernen im Betrieb eine zunehmende und eigenständige Bedeutung für Betriebe.

Dies führte im Kontext von Berlin braucht dich! dazu, dass der praktizierte Ansatz einer Aufeinanderfolge verschiedener Formate von Betriebsbegegnungen ab Klasse 7 weiter systematisiert wurde. Es entstanden Anfänge eines übergreifenden Konzepts von durchgehender Berufsorientierung am Lernort Betrieb als wiederkehrendes Kernfeld. Die Konkretisierung dieses Ansatzes und seine konzeptionelle und praktische Ausgestaltung wurden und werden in Rahmen des konsortialen Zusammenwirkens von Schulen und Betrieben vorgenommen.  Dieses von Betrieben und Schulen gemeinsam getragene Konzept kann als „Qualifizierte Vierstufigkeit“ bezeichnet werden.

Die wichtigsten Elemente einer solchen „Qualifizierten Vierstufigkeit“ können wie folgt skizziert werden:

Betriebsbegegnungen, die aufeinander aufbauen

In der 7. Klasse: Der betrieblicher Erstkontakt, der in Form einer ersten Erkundungstour von drei bis vier Stunden einer Gruppe von maximal 12 Schüler/innen die Gelegenheit gibt einen Betrieb von innen kennenzulernen.

In der 8. Klasse: Das einwöchiges Schnupperpraktikum in einem Betrieb ermöglicht den Jugendlichen eine erste längere und systematische Erkundung eines Betriebes. Dieser berufliche Einblick dient als Beispiel für den Facettenreichtum der qualifizierten Facharbeit und für das erste Erkunden und Herausfinden von möglichen Zukunftsoptionen in der Arbeitswelt.

In der 9. Klasse: Das dreiwöchige Betriebspraktikum hat die entscheidende Funktion, im Hinblick auf die anstehende Berufswahl konkrete Berufsprofile zu vermitteln und gibt den Jugendlichen die Gelegenheit, sich bei beruflichen Tätigkeiten unter „Ernstbedingungen“ zu erproben.

In der 10. Klasse: Der Bewerbertag zielt auf eine konkrete Unterstützung im Bewerbungsprozess der Jugendlichen. Die Betriebe führen simulierte Bewerbungsverfahren durch mit dem Ziel für eine konkrete Bewerbung zu motivieren und Hemmungen und Ängste abzubauen (siehe dazu ausführlich das Handbuch für Betriebsbegegnungen, hrsg. BQN Berlin, 2015 a).

Mindeststandards

Die Betriebsbegegnungen müssen qualitativen Mindeststandards genügen, denn es geht um positive, motivierende und aufbauende Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler im betrieblichen Alltag und nicht um „irgendwelche“ Arbeitswelterfahrungen. Für jede Jahrgangsstufe gibt es ein altersgerechtes Konzept, das Standards der Vor- und Nachbereitung enthält sowie die Qualität und Ziele der Betriebskontakte und Praktika beschreibt. (siehe dazu ausführlich: Handbuch für Betriebsbegegnungen, 2015 a).

Einbettung in die Schulische Berufsorientierung

Das Lernen im Betrieb in Form der vierstufigen Betriebsbegegnungen sollte in die Berufsorientierung der Schule eingebettet sein. Eine Vernetzung zwischen externen und internen BO-Trägern sowie mit Fachlehrern/innen der vier Jahrgänge ermöglicht ein Zusammenführen von schulischen Berufsorientierungsaktivitäten mit den unterschiedlichen praktischen Erfahrungen im Betrieb und  macht aus einzelnen Betriebskontakten eine persönliche Entwicklungsgeschichte. Der mehrjährige Prozess schafft Orientierung und gibt größere Sicherheit, wenn die Entscheidung ansteht: Welche Ausbildung ist die Richtige für mich?

Berufliche Erfahrungsbreite sichern

Hinter der qualifizierten Vierstufigkeit steht das Ziel, den Jugendlichen vielfältige Arbeitswelteinblicke zu gewähren, um das Berufswahlspektrum der Jugendlichen wirkungsvoll zu erweitern. Dafür wurden die Berufe der Betriebspartner in vier Berufsfeldgruppen gegliedert: Gewerblich-technische Berufe, Büro- und Verwaltungsberufe, Gesundheitsberufe und Berufe für Schutz- und Sicherheitsberufe. Im Schuljahr 2014/15 wird mindestens eine fünfte Gruppe hinzukommen, die die sozialen und kreativ-kulturellen Berufsfelder abdeckt.

Interkulturalität

Ein differenzsensibler, interkulturell orientierter Umgang mit den Jugendlichen im Betrieb bildet eine weitere Säule der qualifizierten Vierstufigkeit. Dieser zielt auf die Stärkung der Handlungsfähigkeit und Kompetenzentwicklung der Jugendlichen. Sie ist vor allem eine Haltung, „die Jugendlichen dort abzuholen, wo sie stehen.“ Das bedeutet, der Betrieb muss sich auf junge Menschen einstellen.“ (Ausschnitt aus transkribiertem Interview C.K., geführt am 18.2.2014, veröffentlicht auf: http://www.berlin-braucht-dich.de/erfolgsgeschichten/ausbilder-innen/berliner-wasserbetriebe/)

“Peers”

Der kontinuierliche Einsatz von Auszubildenden als Paten/innen bzw. Begleiter/innen während der Betriebsbegegnung ermöglicht einen Kontakt auf gleicher Augenhöhe. Aus den Auswertungen der Betriebsbegegnungen im Rahmen von Berlin braucht dich! geht hervor, dass Bedenken, Bedürfnisse, Schwächen und Ängste gegenüber Auszubildenden offener und häufiger kommuniziert werden, wobei diese – ob mit oder ohne Migrationshintergrund –eine Vorbildrolle übernehmen, die von Lehrern/innen und berufsorientierenden Experten/innen wie Berufsberater/innen, nicht in gleicher Weise wirkungsvoll erfüllt werden kann.

5 Bessere Einbettung in die Schulische Berufsorientierung

Der Lern – und Begegnungsort Betrieb muss in die Schulische Berufsorientierung ab der 7. Klasse gut eingebettet sein: diese Überzeugung stand von Anfang an bei Berlin braucht dich! Pate. In den beteiligten Schulen erbrachten die angebotenen Berlin braucht dich! Betriebsbegegnungen allerdings nur einen – sehr begehrten – kleinen Teil dessen, was an Betriebskontakten für alle Schülerinnen und Schüler gebraucht wird. Somit wurde das, was von Berlin braucht dich! kam, oftmals in den Schulen als anspruchsvolles und z. T. für die Lehrkräfte aufwendiges Zusatzangebot erlebt.

Über diesen Stand  – so die gemeinsame Erkenntnis im Konsortium – könnte man nur hinaus gelangen, wenn man die Grundsätze, wie sie sich im Konzept der “Qualifizierten Vierstufigkeit” finden, in den beteiligten Schulen auf die gesamte dortige Berufsorientierung anwenden würde. Dies wird nun seit einem Jahr an mehreren Schulen erprobt.  

Hierfür wurden folgende Schritte und Maßnahmen von den Konsortialpartnern entwickelt und ihre Umsetzung begonnen:

Aufnahme der Vierstufigkeit im Schulcurriculum

Auf diesem Weg werden die Aufgaben der Schule und die entsprechenden Zeiten  für die Umsetzung der Betriebsbegegnungen von den Schulen für die Jahrgänge von 7 bis 10 festgeschrieben. Bereits für 7. Klässler/innen bekommt damit ein erster Kontakt mit der Arbeitswelt und das Reinschnuppern in Arbeitsprozesse eines Betriebes einen festen Bestandteil im Schulalltag.

Betriebe in die Schule: Berufsorientierende Workshops der Betriebe

Das Betriebsangebot in den Schulen wird zu bestimmten Zeitpunkten im Schuljahr angeboten, um die Übergänge ins Schnupperpraktikum, Betriebspraktikum oder Bewerbertag vorzubereiten. Vor den praktischen Erfahrungen in den Betrieben decken die Auszubildenden und weitere Betriebsvertreter  in den Schulen eine bestimmte Vorbereitung ab und klären Vorbehalte und  Fragen der Schüler/innen sowie Lehrer/innen. Die Entwicklung eines berufsorientierenden Angebots der Betriebe in den Schulen verfolgt folgende zentrale Ziele:
Es geht einmal darum, alle Schüler/innen der vier Jahrgänge zu erreichen und nicht nur ausgewählte, die Interesse für bestimmte Betriebserfahrungen bei den Lehrer/innen angemeldet haben. Zum anderen sollen die Workshops einen Überblick über berufliche  Angebote von  mindestens 4 Berufsfeldgruppen abdecken und über die Erfahrungsberichte der Azubis weitere Zugänge zur Arbeitswelt schaffen.

Abstimmung und Dialog zwischen allen Beteiligten der Berufsorientierung und dem Fachkollegium

Zur erfolgreichen Umsetzung der Vierstufigkeit sowie der  geeigneten Vor- und Nachbereitung gehört die Vernetzung, der Austausch und die Abstimmung zwischen allen Beteiligten der Berufsorientierung (BO-Lehrer/innen, Berufsberatern/innen und externen Berufsorientierungs-Trägern sowie Jahrgangsleitern/innen).

Austausch mit Betrieben: Betriebe als Kompetenzermittler der Schüler/innen
Betriebsvertreter aus dem Konsortium vermitteln oft positive Erfahrungen mit den Jugendlichen aus den Betriebsbegegnungen an die Lehrer/innen. Dies bestätigt die Ergebnisse einer Studie, dass Lehrer/innen ein eher pessimistisches Bild haben und der Meinung sind, dass ihre Schüler/innen in nahezu allen Bereichen nicht die nötigen Kompetenzen mitbringen (Rebmann et.al. 2007).

Schüler/innen als Multiplikatoren/innen in der Schule

Einige Schulen erproben seit einiger Zeit die Rolle der Schüler/innen als Multiplikatoren/innen von Betriebserfahrungen gezielt einzusetzen: Die eigenen Eindrücke, Erlebnisse  und Überlegungen zu den gemachten Erfahrungen im Betrieb werden systematisch aufgenommen und anderen Schülern/innen berichtet - sei es in der eigenen Klasse, in Parallelklassen sowie in unteren Jahrgängen.

6 Entwicklungen im Land Berlin

Die Entwicklung der Dualen Berufsausbildung in Deutschland unterliegt seit Jahren einem komplizierten Spannungsverhältnis, das sich gegenwärtig weiter zuspitzt: nämlich zwischen einem erhöhten Bedarf an Ausgebildeten zur künftigen Fachkräftesicherung, einem stagnierenden, bzw. abnehmenden Interesse von Jugendlichen an einer Berufsausbildung und fortbestehenden Zugangsbarrieren zu  ihr. Berlin steht hier aufgrund seines strukturschwachen Ausbildungsmarktes vor besonderen Herausforderungen, was u.a. den Regierenden Bürgermeister veranlasste, eine Sonderkommission Ausbildungsplatzsituation und Fachkräftebedarf einzuberufen.

Seit einigen Jahren verstärken sich nun Bemühungen um eine Neugestaltung der Übergänge von der Schule in die Arbeitswelt. Erste wichtige Anregungen hierzu lieferten 2012 die Ergebnisse des Berliner Projekts aus der Bundesinitiative „Regionales Übergangsmanagement“. Parallel hierzu wurden die schulische Berufsorientierung curricular neu geordnet und „Duales Lernen“, also die Kombination des Lernorts Schule mit anderen außerschulischen Lernorten, eingeführt.

Gegenwärtig ist das unter breiter Beteiligung entstandene Berliner Landeskonzept zur Berufs- und Studienorientierung vor seinem Erlass. Dieses sieht eine deutliche Aufwertung des Lernorts Betrieb im Rahmen der schulischen Berufsorientierung und die – optimale – Etablierung einer „Qualifizierten Vierstufigkeit“ vor. Ergänzend wurde ein Vorschlag zu einem einfachen Berichtsformat für Betriebsbegegnungen/Praktika entwickelt und erprobt, das die Kompetenz der Schüler/innen zur Berufswahlentscheidung ins Zentrum rückt. Auch hiervon wird eine höhere Aufmerksamkeit und damit Aufwertung des Lern- und Erfahrungsortes Betrieb erwartet. Ein Senatsbeschluss zur Errichtung dezentraler Jugendberufsagenturen rundet das Bild ab: hierin ordnet sich Berlin braucht dich! auch im Sinne der Platzierung des Fokus Migration als wichtige Querschnittsaufgabe ein.

In dem Maße aber, in dem der als unverzichtbar angesehene Lern- und Erfahrungsort Betrieb im Rahmen einer wirkungsvollen Berufs– (und Studien-) Orientierung in die Aufmerksamkeit rückt, wird als Herausforderung immer sichtbarer werden, dass gute Praktikumsplätze – gemessen am Bedarf – ein knappes Gut sind. Dies gilt im Übrigen auch für das Vorhaben Berlin braucht dich! im engeren Sinne. Hier müssen – insbesondere zwischen Politik und Sozialpartnern – dringend Lösungen gefunden werden.

7 Resümee und Ausblick

Für die Etablierung eines Systems der Betriebsbegegnungen im Sinne der „Qualifizierten Vierstufigkeit“ ab Klasse 7 spricht die Erfahrung, dass früh einsetzende und sich erweiternde anregende Begegnungen mit der Welt der Betriebe und Berufe geeignet sind, die Distanz zur Arbeitswelt zu verringern und Berufsausbildung als eine reale Option bei den Jugendlichen zu etablieren. Vor dem Hintergrund, dass die Übergangsprozesse von Jugendlichen mit Migrationshintergrund langwieriger  und die Einmündungschancen von Ausbildungsstellenbewerberinnen geringer sind als bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund  (Ulrich, J.G./Enggruber, R. 2014 sowie Granato, M. 2014) wird die Bedeutung der qualifizierten Vierstufigkeit auch als ein integrationspolitischer Ansatz deutlich.

Für Berlin braucht dich! hat sich gezeigt, dass die enge Zusammenarbeit zwischen Betrieben und Schulen in Form eines Konsortiums die Chance bietet, den Schülerinnen und Schülern ein breites Spektrum von Berufstätigkeiten als Erfahrungsfeld zu eröffnen und zugleich gemeinsam und verbindlich an der Qualität der Berufsorientierung zu arbeiten. „Gute Betriebsbegegnungen“ in dem Sinne, wie es in diesem Beitrag skizziert wurde, sind aber nach wie vor ein knappes Gut, vor allem, wenn man bedenkt, dass alle Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen Jahrgangsstufen sie benötigen. Hierfür müssen dringend Lösungen gefunden werden.

Einmündung in Ausbildung und Sicherung von Ausbildungserfolg bleiben allerdings der „Prüfstein“. Insofern greift die “Vierstufigkeit” noch zu kurz; sie muss durch gemeinsame Anstrengungen der Partner, gelungene Orientierungen in Ausbildungseintritte und -erfolge umzusetzen, erweitert werden.

Literatur

Amt für Statistik Berlin Brandenburg (2012): Statistischer Bericht – Einwohnerinnen und Einwohner im Land Berlin am 30. Juni 2012. Online: https://www.statistik-berlin-brandenburg.de/publikationen/Stat_Berichte/2012/SB_A01-05-00_2012h01_BE.pdf (15.04.2014).

Arbeitsgemeinschaft Weinheimer Initiative (Hrsg.) (2013): Lokale Bildungsverantwortung. Kommunale Koordinierung beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt. Stuttgart.

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2014): Bildung in Deutschland 2014. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung von Menschen mit Behinderungen. Bielefeld.

BQN Berlin (Hrsg.) (2011): Handbuch für Betriebsbegegnungen in den Klassen 7-10 und in Oberstufenzentren für Schulen und Betriebe im Berlin braucht dich! Konsortium. Entwurfsfassung zur Abstimmung. Berlin. Online: http://www.bqn-berlin.de/pdf/handbuch.pdf (15.04.2014)

BQN Berlin (Hrsg.) (2015a): Handbuch für Betriebsbegegnungen für Betriebe und Schulen im Berlin braucht dich! Konsortium. Berlin.

BQN Berlin (Hrsg.) (2015b): Perspektiven für Jugendliche und Betriebe. Berlin braucht dich! in der Metall- und Elektroindustrie. Berlin.

Bundesinstitut für Berufsbildung (2009): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2009. Informationen und Analysen zur Entwicklung der beruflichen Bildung. Online: http://datenreport.bibb.de/media2009/datenreport_bbb_090525_screen.pdf. (15.04.2014)

Capelle, J. (2014): Zukunftschancen: Ausbildungsbeteiligung und -förderung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Wiesbaden.

Dobischat, R./Kühnlein, G./Schurgatz, R. (2012): Ausbildungsreife. Ein umstrittener Begriff beim Übergang Jugendlicher in eine Berufsausbildung, Arbeitspapier 189, Hans-Böckler-Stiftung. Düsseldorf.

Filsinger, D. (2009): Die Entwicklung kommunaler Integrationspolitiken. In: Mund, P./Theobald, B. (Hrsg.): Kommunale Integration von Menschen mit Migrationshintergrund  – ein Handbuch. Berlin, 74-92.

Granato, M. (2014): An der Bildungsmotivation liegt es nicht: Hohe Bildungsorientierung junger Frauen und Männern mit Migrationshintergrund auch am Übergang Schule  – Ausbildung. In: Capelle, J. (Hrsg.): Zukunftschancen: Ausbildungsbeteiligung und -förderung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Wiesbaden, 73-90.

Hoffschroer, M./Schaumann, U./Wenner, N. (2004): Berufsorientierungspraktika. Betriebliche Praktika in der beruflichen Förderung benachteiligter Jugendlicher. BIBB (Hrsg.). Bonn.

Hurrelmann, K. (2013): Thesen zur Entwicklung des Bildungssystems in den nächsten 20 Jahren. Die Deutsche Schule 105, 305-321.

Rebmann, K. et al. (2007): Empirische Studien zur Ausbildungsreife im Urteil von Lehrkräften und Unternehmensvertreter(inne)n aus der Weser-Ems-Region. Projektberichte und Materialien zur Berufs- und Wirtschaftspädagogik, H. 3.

Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2011): Migrationsland 2011. Jahresgutachten 2011 mit Migrationsbarometer. Berlin.

Schröer, H. (2007): Interkulturelle Orientierung und Öffnung: Paradigmenwechsel für die Soziale Arbeit. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit 3/2007, 80-91.

Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen/Die Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und Migration (2012) (Hrsg.): Vielfalt fördern - Zusammenhalt stärken. Bericht zur Umsetzung des Integrationskonzepts 2007 für den Zeitraum 2009 bis September 2011.Berlin. Online: http://www.berlin.de/imperia/md/content/lb-integration-migration/publikationen/berichte/zweiter_umsetzungsbericht_ik_2009_bis_2011_.pdf?start&ts=1347964362&file=zweiter_umsetzungsbericht_ik_2009_bis_2011_.pdf (05.09.2014).

Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (2014) (Hrsg.): Blickpunkt Schule 2013/14. Berlin.

Statistisches Bundesamt Deutschland (2007): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Wiesbaden.

Statistisches Bundesamt (2012): Mikrozensus 2012 (Land Berlin), Gliederung der Berliner Bevölkerung nach Bildungsstatus 2011. Wiesbaden.

Terkessidis, M. (2010): Interkultur. Berlin.

Ulrich, J.G./Enggruber, R. (2014): Einflussfaktoren auf die Übergangsprozesse von Hauptschulabsolventen/-absolventinnen mit Konsequenzen für deren weitere Bildungswege; BIBB, H. 154.

Praxisorientiertes Lernen – Berufsorientierung als didaktische Verknüpfung technischer und ökonomischer Bildungsinhalte

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1 Einleitung

Bildung steht heute vor einem soziodemografischen Hintergrund, der durch beschleunigte Veränderungen der Lebensbedingungen, der Arbeitsmarktsituation und den Entwicklungen in der Wissensgesellschaft geprägt ist. Folgewirkungen der demographischen Entwicklungen auf die Anzahl von Schülern/innen, Auszubildende, Studierende und Absolventen/innen machen sich zunehmend bemerkbar. In Verbindung mit der allgemeinen Dynamik, den technologischen Entwicklungen und den Globalisierungsprozessen resultieren hieraus u.a. die sinkenden Interessenten/innen- und Bewerber/innenzahlen für technische Berufsausbildungen und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge sowie der gegenwärtige, vor allem von Wirtschaft und Politik beklagte, Mangel an (vor allem weiblichen) Existenzgründern und Nachwuchskräften im technischen sowie natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereich (vgl. Grüneberg/Wenke 2011, 5f.).

Gerade die nötigen Orientierungsaktivitäten für technische Berufsausbildungen und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge haben im Schulalltag der allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt einen noch zu geringen Stellenwert. Einerseits sind technische und ökonomische Bildungsinhalte sowie die Berufsorientierung fest in den Rahmenrichtlinien verankert (vgl. KMLSA 2011, 2012a-d) und sollen eine individuelle Berufsorientierung ermöglichen, jedoch sind die vermittelten Inhalte oftmals nur auf traditionelle (nicht technische) Berufsbilder ausgerichtet. Die technischen Ausbildungsberufe werden von den Schülern/innen gar nicht erst wahrgenommen, obwohl hier ein erheblicher Bedarf bei den regionalen Unternehmen besteht.

Auf der anderen Seite, sind, neben dem dringend benötigten Interesse an technischen Berufen und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen, Handlungskompetenzen im Bereich des unternehmerischen Denkens und Handelns notwendig, um in der sich wandelnden Arbeitswelt bestehen zu können (vgl. Hedke/Möller 2011, 3). Aus der einst arbeitsteiligen, hierarchisch fest strukturierten und standardisierten Arbeitsorganisation, entstehen flexible und individualisierte Formen der Arbeit. Das bedeutet, dass sich die Beschäftigten direkt mit ihren Kompetenzen in die Arbeit einbringen müssen. Es wird nach einem „Unternehmerischen Selbst“ verlangt, welches möglichst kreativ, flexibel, selbstoptimierend und eigenverantwortlich handelt (vgl. Famulla 2011, 16). Dementsprechend wird der Wunsch und die Forderung der Unternehmen deutlich, dass die Schulabgänger/innen neben ökonomischen Grundkenntnissen auch berufsrelevante Kompetenzen besitzen sollen (vgl. Hedke/Möller 2011, 3). Weitere Schwerpunkte müssen auf die Sensibilisierung für Unternehmensgründungen sowie die positive Motivation zur Selbstständigkeit und die Förderung des Unternehmergeistes gelegt werden. Damit diese Forderungen erfolgreich umgesetzt werden können, müssen Elemente der Entrepreneurship Education, welche die „... ökonomische Bildung nicht nur in den Köpfen, sondern auch in der Haltung von Jugendlichen verankert ...“ (Wiepcke 2008, 270), mehr in den Schulalltag integriert werden. Die Entrepreneurship Education „... umfasst dabei alle Bildungsmaßnahmen zur Weckung unternehmerischer Einstellung und Fertigkeiten und setzt darauf, die Beschäftigungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern zu fördern.“ (ebd.)

Auf Grundlage der Ausgangsbedingungen ist es dementsprechend unabdingbar, ein Berufsorientierungskonzept zu entwerfen, welche sowohl die technische, als auch die ökonomische Bildung berücksichtigt, um eine umfassende Berufsorientierung zu gewährleisten, damit die Schüler/innen im Sinne der Handlungsfähigkeit ihren zukünftigen beruflichen Weg selbst gestalten können.

Im vorliegenden Beitrag werden zu Beginn der theoretische Betrachtungsrahmen mit den Begrifflichkeiten Berufsorientierung und handlungsorientierte Didaktik näher eingeführt (Kapitel 2). Anschließend erfolgt die detaillierte Vorstellung des konzipierten und in der Sekundarschule umgesetzten Lehr-Lern-Arrangements „Praxisorientiertes Lernen“ zur verknüpfenden Vermittlung von technischen und ökonomischen Inhalten im Sinne einer praxisnahen Berufsorientierung (Kapitel 3). Abschließend werden die ersten Ergebnisse der Evaluation des mit Schüler/innen der Sekundarschule umgesetzten Lehr-Lern-Arrangements (Kapitel 4) und weitere Einsatzmöglichkeiten diskutiert (Kapitel 5).

2 Theoretischer Betrachtungsrahmen

2.1 Berufsorientierung

Im Allgemeinen werden unter Berufsorientierung alle Maßnahmen verstanden, die den Jugendlichen bei der Bewältigung des Übergangs von der Schule in den Beruf unterstützen (vgl. Butz/Deeken 2010; Famulla/Butz 2005; Schudy 2002; , 2).

Die aktuelle Literatur zum Thema zeigt, dass der Begriff Berufsorientierung vielfältig benutzt wird. Es existiert weder eine einheitliche Definition, noch eine einheitliche Bedeutung. Zur Eingrenzung des Begriffs werden zwei Wortdeutungen unterschieden. Die erste Bedeutung bezieht sich auf den Vorgang des sich Orientierens, im Sinne von „Zurechtfinden“. Diese Bedeutung weist dem Begriff einen prozesshaften Charakter im Sinne der Berufsfindung zu. Die zweite Bedeutung kennzeichnet Berufsorientierung als Berufswahlvorbereitung. Darunter sind alle Maßnahmen durch Schule und Berufsberatung zu verstehen, welche auf eine Orientierungs- sowie Entscheidungshilfe für die persönliche Berufswahl abzielen. Diese zwei Wortdeutungen des Begriffs Berufsorientierung werden durch Schudy, um die vier Bedeutungsvarianten „Subjektive Berufsorientierung“, „Berufsorientierung im Sinne von Berufswahlvorbereitung“, „Berufsorientierung von Bildungsinhalten und Unterrichtsmethoden“ sowie „Berufsorientierung im Sinne von arbeitsweltbezogener Allgemeinbildung“ erweitert (vgl. Schudy 2002, 9f.).

In den Projekten am Fachgebiet Aufbau- und Verbindungstechnik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg werden drei Bedeutungsvarianten der Berufsorientierung aufgenommen und innerhalb der angebotenen Unterrichtsmodule (Tabelle 3) umgesetzt. Dabei stehen die ersten beiden Module (Berufsorientierung und Bewerbungstraining) für die Facette „Berufsorientierung im Sinne von Berufswahlvorbereitung“. Die Module zielen auf eine Aneignung von Kenntnissen, Erkenntnissen, Erfahrungen und Fähigkeiten ab, die es den Schülern/innen ermöglichen, eine Entscheidung unter Berücksichtigung individueller Neigungen und aktueller Arbeitsmarktlage in Hinblick auf ihre Erstausbildung zu treffen.

Die technischen und ökonomischen Bausteine decken die Facette „Berufsorientierung im Sinne von arbeitsweltbezogener Allgemeinbildung“ ab, indem den Schülern/innen Möglichkeiten geboten werden, sich mit ökonomischen und technischen Herausforderungen der Arbeitswelt auseinanderzusetzen, welches auf eine Stärkung ihrer Handlungskompetenzen abzielt. Dabei haben die vier Module das übergeordnete Ziel, die Facette der „Subjektiven Berufsorientierung“ positiv zu beeinflussen, indem die Jugendlichen, Arbeit und Beruf als maßgebliche und unverzichtbare Elemente für ihre Berufsbiographie erkennen.

Die theoretische Betrachtung des Begriffs lässt deutlich erkennen, dass Berufsorientierung ein andauernder Prozess ist, indem Jugendlichen mit Kompetenzen ausgestattet werden müssen, die sie auf ihre späteren Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen vorbereiten. Ziel der Berufsorientierung muss es dementsprechend sein, die Handlungsfähigkeit der Schüler/innen zu fordern und zu fördern, damit sie ihre individuellen Arbeits- und Berufsbiographien selbst gestalten können. Daher gilt für die weiteren Ausführungen folgende Definition, welche die genannten Punkte kompakt zusammenfasst: „Berufsorientierung ist ein lebenslanger Prozess der Annäherung und Abstimmung zwischen Interessen, Wünschen, Wissen und Können des Individuums auf der einen und Möglichkeiten, Bedarfe und Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt auf der anderen Seite. Beide Seiten, und damit auch der Prozess der Berufsorientierung, sind sowohl von gesellschaftlichen Werten, Normen und Ansprüchen, die wiederum einem ständigen Wandel unterliegen, als auch den technologischen und sozialen Entwicklungen im Wirtschafts- und Beschäftigungssystem geprägt.“ (Famulla/Butz 2005)

2.2 Handlungsorientierte Didaktik

Neben den fachlichen Inhalten der technischen und ökonomischen Bildung im Sinne einer umfassenden Berufsorientierung, bedarf es einer Unterrichtssequenz, welche die Kompetenzentwicklung fordert und fördert. Es reicht nicht mehr aus, auf bloße fachliche Qualifikationen zu setzen. Aus diesem Grund muss den Schülern/innen die Aufgabe gestellt werden, ihre individuellen Fähigkeiten weiterzuentwickeln und selbstverantwortlich zu handeln. Daher müssen Lernprozesse so gestaltet werden, dass die Lernenden befähigt werden, selbstständig zu arbeiten. Demzufolge rückt die methodisch-didaktische Gestaltung der Lernsituationen in den Vordergrund. Die Handlungsorientierung dient als theoretische Grundlage für die Gestaltung der Lernprozesse, in denen die Schüler/innen durch selbständiges Handeln lernen. Die ökonomischen und technischen Bildungsinhalte (Theorie) werden in die Praxis transferiert (praxisorientiertes Lernen), wodurch die Schüler/innen durch aktives Tun, der Durchführung einer Handlung, und nicht nur durch gedankliches Nachvollziehen, die Lerninhalte durchführen. Die Theorie wird in der Praxis, in realen Situationen, erlebt und gelernt. Durch diesen Theorie-Praxis-Transfer werden berufliche Handlungskompetenzen gefördert.

Handlungsorientierter Unterricht „... ist ein ganzheitlicher und schüleraktiver Unterricht, in dem die zwischen dem Lehrer und den Schülern/innen vereinbarten Handlungsprodukte die Gestaltung des Unterrichtsprozesses leiten, sodass Kopf- und Handarbeit der Schüler/innen in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden können.“ (Jank/Meyer 2011, 315) Somit stehen nicht die fachlichen Inhalte im Mittelpunkt, sondern diese mit allen Sinnen zu erlernen, wobei das Lernen mit Kopf, Hand, Fuß und Herz realisiert werden soll (vgl. ebd.). Handlungsorientierter Unterricht (Tabelle 1) zeichnet sich dadurch aus, dass das Handeln des Lernenden im Mittelpunkt des Lernprozesses steht.

Tabelle 1:     Ausgewählte Merkmale des handlungsorientierten Unterrichts (vgl. Jank/Meyer 2011, 316-319)

Merkmal Beschreibung
Ganzheitlichkeit

-      Vollständige Handlung

-      Enger Praxisbezug

-      Fächerübergreifend

Aktivität der Lernenden

-      Selbstständiges Lernen

-      Verknüpfung von Kopf- und Handarbeit

-      Problemlösung

-      Interaktionsbetonte Methoden

Zielgruppenorientierung

-      Berücksichtigung vorhandener Erfahrungen

-      Berücksichtigung von Interessen

Hierbei tritt die Lehrkraft in den Hintergrund und fungiert als Moderator/in der Lernsequenz. Sie greift auf inhaltlicher Ebene nicht in das Unterrichtsgeschehen ein, sondern organisiert die Lernsituation von außen. Diese Rollenverteilung unterstützt das selbstständige Arbeiten der Schüler/innen. Durch die praxisnahen, komplexen und problemlösungsorientierten Aufgaben, werden die Schüler/innen angeregt, aktiv, konstruktiv und zielorientiert die Lerninhalte zu bearbeiten. Das bereits erworbene Wissen wird mit den neuen Lerneinheiten verknüpft. Die Aufgabenstellungen sind dabei methodisch abwechslungsreich. Im Mittelpunkt der Beurteilung stehen nicht die Ergebnisse, sondern der Weg zum Ergebnis und der Lernprozess.

Das Unterrichtskonzept zum praxisorientierten Lernen, welches am Fachgebiet Aufbau- und Verbindungstechnik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg entstanden ist, wurde auf Grundlage des handlungsorientierten Unterrichts entworfen und in der Praxis realisiert.

3 Das Lehr-Lern-Arrangement „Praxisorientiertes Lernen“

3.1 Kurzvorstellung des „Praxisorientierten Lernens“

Das Konzept des praxisorientierten Lernens im Sinne einer praxisbezogenen Berufsorientierung vereint technische und ökonomische Bildung sowie die Umsetzung in der Praxis an einem außerschulischen Lernort. Durch das Zusammenspiel dieser Bereiche, erlangen die Schüler/innen Kenntnisse über verschiedene technische Berufsbilder, direkte Einblicke in ein Unternehmen bzw. den Organisationsablauf, ökonomisches und technisches Grundwissen sowie wirtschaftsbezogene Kompetenzen, um ihre persönliche und berufliche Zukunft bewusst und aktiv gestalten zu können.

Die ökonomischen Bildungsinhalte (Entrepreneurship Education) vermitteln Handlungskompetenzen des unternehmerischen Denkens und Handelns, welche immer wichtiger in der Berufsausbildung und im späteren Berufsleben werden. Die technischen Inhalte im Sinne einer Techniksensibilisierung tragen dem Fachkräftebedarf und dem Mangel an Ausbildungsplatzbewerbern für technische Berufe Rechnung und sollen den Schülern/innen die beruflichen Perspektiven in diesen Beschäftigungsfeldern aufzeigen. Die folgende Tabelle zeigt, inwieweit sich das Konzept exemplarisch direkt in ausgewählte Kompetenzbereiche und -schwerpunkte der gültigen Fachlehrpläne der Sekundarschule in Sachsen-Anhalt einordnen lassen können (Tabelle 2).

Tabelle 2:     Exemplarische Einordnung in die Fachlehrpläne (KMLSA 2012a-d)

Fachlehrplan Kompetenzbereich/-schwerpunkt
Wirtschaft

-      Entwicklungen im Handel vergleichen und bewerten

-      Unternehmerisches Handeln erkunden und erproben

-      Berufsperspektiven erkunden und planen

Technik

-      Den Computer als Werkzeug nutzen

-      Technische Systeme beschreiben und analysieren

Geographie

-      Strukturen und Prozesse in Wirtschaftsräumen analysieren und erläutern

-      Räume unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit analysieren

-      Raumausstattung, Raumnutzung und Raumgestaltung analysieren und erläutern

Deutsch

-      Sachbezogen, situationsangemessen und adressatengerecht sprechen und zuhören

-      Sachbezogen, situationsangemessen und adressatengerecht schreiben

-      Sachtexte verstehen, reflektieren und nutzen

-      Medien verstehen, reflektieren und nutzen

Konzipiert wurde das Lehr-Lernarrangement „Praxisorientierten Lernen“ am Fachgebiet Aufbau- und Verbindungstechnik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Das Fachgebiet engagiert sich in einer Vielzahl von Projekten, Initiativen und Netzwerken zur Berufs- und Studienorientierung sowie zur technischen und ökonomischen Bildung.

Gemeinsam haben alle diese Projekte, dass sie direkt in den allgemein- und berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt durchgeführt werden, aus verschiedenen handlungsorientierten Unterrichtseinheiten bestehen, zu unterschiedlichsten Themenbereichen und praxisorientierten Kooperation mit regionalen Unternehmen durchgeführt werden (Tabelle 3).

Die handlungsorientierten Unterrichtsmodule werden sowohl direkt in den Schulen (z.B. Blockveranstaltungen, Arbeitsgemeinschaften, Projektwochen, unterrichtsintegriert) angeboten, als auch in partizipierenden regionalen Unternehmen (z.B. Unternehmerwerkstatt, Praxistag, Praktika) und direkt vor Ort an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (z.B. Praktika, Herbst-Uni, CampusDays, individuelle Schnuppertage, Zukunftstag) umgesetzt. Zusätzlich werden Lehrerfortbildungen angeboten, damit die Lehrer/innen die entwickelten Unterrichtsmodule selbstständig z.B. im Technik- oder Wirtschaftsunterricht umsetzen können. Die benötigten Materialien werden den Lehrkräften zur Verfügung gestellt.

Tabelle 3:     Themenblöcke und Unterrichtsmodule (Auszug)

1. Berufs- und Studienorientierung

1.1 Bildungswege in Deutschland

1.2 Berufsausbildung in Deutschland

1.3 Studium in Deutschland

1.4 Beruflicher Neigungstest

1.5 ...

2. Bewerbungstraining

2.1 Vorbereitungsphase

2.2 Stellensuche

2.3 Schriftliche Bewerbung

2.4 Vorstellungsgespräch

2.5 ...

3. Ökonomische Bildung

3.1 Markt und Preisbildung

3.2 Standortanalyse

3.3 Werbung und Marketing

3.4 Einnahmen und Ausgaben

3.5 ...

4. Technische Bildung

4.1 Arbeit und Produktion

4.2 Fertigungsverfahren

4.3 Information und Kommunikation

4.4 Technische Systeme

4.5 ...

3.2 Umsetzung des „Praxisorientierten Lernens“

Das Konzept „Praxisorientiertes Lernen“ fordert und fördert das eigenverantwortliche und selbstgesteuerte Lernen im Unterricht und in außerschulischen Lernsituationen. Es werden dabei formelle, also das Lernen im Unterricht und informelle Lernkontexte, außerschulisches Lernen, durch Lernaufgaben, welche im Rahmen des Unterrichts erarbeitet werden, verbunden. Im Vorfeld des praxisorientierten Lernens strukturieren Lehrer/in (Schule), Trainer/in (Universität) und Ausbilder/in (Partnerunternehmen) die einzelnen Bausteine und legen den Ablaufplan sowie Termine fest. Weiterhin müssen im Vorfeld schul- und unternehmensspezifische Rahmenbedingungen abgestimmt werden.

In kleinen Projektgruppen von maximal zehn Schülern/innen werden innerhalb der Unterrichtseinheiten ökonomische und technische Aspekte einer Produktidee bearbeitet. Nachdem die Schüler/innen die wirtschaftlichen Grundbegriffe und Abteilungen in Unternehmen erarbeitet haben, durchlaufen sie den Weg von der Produktentwicklung über die Produktionsplanung bis zur Produktherstellung und Vermarktung (Tabelle 3). Dazu wird in der Projektgruppe eine Produktidee erarbeitet (Baustein 1), um im nächsten Schritt eine technische Zeichnung anzufertigen, welche die Grundlage für die Herstellung eines Prototyps (Baustein 2) beispielsweise aus Papier bildet. Anschließend folgt die Produktionsplanung, in dem der Arbeitsablauf und die Materialbestellung erstellt werden (Baustein 3). Diese Dokumente werden den Ausbildern/innen (Unternehmenspartner/innen) zur Vorbereitung des Praxistags übermittelt. Während dieser Bearbeitungsphase werden gleichzeitig passend zum jeweiligen Arbeitsschritt technische Berufsbilder erarbeitet, wie beispielsweise die dualen Berufsausbildungen Industriemechaniker/in, Verfahrensmechaniker/in für Kunststoff- und Kautschuktechnik, Technische/r Produktdesigner/in oder Mikrotechnologe/in (Tabelle 4).

Tabelle 4:     Bausteine im Projektorientierten Lernen, Partner und Berufe

Baustein Verantwortung Mögliche Berufe (Auswahl)
1. Ideengenerierung

-      Lehrer/in

-      (Trainer/in)

-      Mediengestalter/in

-      Technische/r Produktdesigner/in

2. Prototyp

-      Lehrer/in

-      (Trainer/in)

-      Konstruktionsmechaniker/in

-      Technische/r Modellbauer/in

3. Produktionsplanung

-      Ausbilder/in

-      (Trainer/in)

-      Industriemechaniker/in

-      Produktionstechnologe/in

4. Herstellung

-      Ausbilder/in

-      (Trainer/in)

-      Mikrotechnologe/in

-      Verfahrensmechaniker/in

5. Businessplan

-      Trainer/in

-      (Lehrer/in)

-      Informatikkaufmann/frau

-      IT-System-Kaufmann/frau

Der nächste Schritt des praxisorientierten Lernens fokussiert das Herstellen der Produktidee (Baustein 4 durch die Schüler/innen ) im Partnerunternehmen. Während des Praxistags am außerschulischen Lernort (Werkstatt des Partnerunternehmens) lernen die Schüler/innen das Unternehmen sowie die Organisationsabläufe kennen und erfahren direkt in der Praxis, wie ein Produkt hergestellt wird. Die Betreuung der Schüler/innen erfolgt u.a. durch die Auszubildenden des Partnerunternehmens. Dadurch wird gewährleistet, dass die vorgestellten Berufsbilder durch Gespräche mit den Auszubildenden vertieft werden.

Den abschließenden Teil (Baustein 5) bildet das Stationenlernen „Businessplan“. Anhand des entwickelten und hergestellten Produkts werden die Stationen Finanzierung, Marketing, SWOT-Analyse, Nachhaltigkeit und Standortfaktoren durchlaufen (Tabelle 3). Dabei wird die Gruppe in Zweier-Teams geteilt, so dass jede Station durch ein Team besetzt ist. Der Abschluss bildet eine Präsentation und Reflektion der Schüler/innen sowohl über die Arbeitsergebnisse, als auch über die eigenen gemachten Erfahrungen.

In den folgenden Abschnitten werden die einzelnen Bausteine des Lehr-Lern-Arrangements „Praxisorientiertes Lernen“ vorgestellt.

3.2.1 Baustein 1+2: Ideenfindung und Prototyp

Die beiden Bausteine sind insgesamt für drei Stunden je neunzig Minuten konzipiert. Während der Einführung werden die benötigten wirtschaftlichen Begriffe, die Abteilungen eines Unternehmens und die Kooperationspartner kennengelernt. Dazu dient u.a. ein für Schüler/innen geeignetes Brettplanspiel zur Berufsorientierung. Die dadurch kennengelernten Begriffe und Abteilungen werden in einem zweiten Schritt auf das Partnerunternehmen transferiert. Bereits an dieser Stelle bietet sich an, abteilungsspezifische Berufsbilder durch die Schüler/innen erarbeiten zu lassen.

Vor der Ideengenerierung wird die Kreativität durch spezifische Übungen und Techniken gefördert. Zur eigentlichen Ideengenerierung empfiehlt sich das „Beutelspiel“. Ein beliebiger Beutel beinhaltet eine kleine Auswahl von „Krimskrams“, wie Pappteller, Schwamm, Plastebesteck, Kugeln, Klammern und ähnliches. Wichtig ist, dass genügend Fixierungsmaterial, wie Klebestreifen, Bänder, Gummis vorhanden ist. Ziel ist es innerhalb von zwanzig Minuten eine Produkt- oder Geschäftsidee pro Schüler/innen-Gruppe zu generieren. Es empfiehlt sich weiterhin, bereits den Werkstoff (z.B. GFK) des Partnerunternehmens zu nutzen. Aus der Produktidee entsteht in einem zweiten Schritt ein Prototyp. An dieser Stelle müssen mit den Schülern/innen die Maß- und Vorgaben des Partnerunternehmens (Ausbilder/in) besprochen werden. Es wird der einzusetzende Werkstoff vorgestellt und mit Hilfe problemlösungsorientierter Aufgaben näher kennengelernt. Bevor der Prototyp des Objekts aus z.B. Papier gebaut wird, muss eine technische Skizze erstellt werden. Innerhalb dieser Sequenz werden weitere technische Berufsbilder vorgestellt.

3.2.2 Baustein 3+4: Produktionsplanung und -herstellung

Diese beiden Bausteine beinhalten eine neunzigminütige Vorbereitung auf den Praxistag sowie die Durchführung im Partnerunternehmen als Tagesexkursion. Während der Vorbereitung wird eine Materialbestellung durch die Schüler/innen angefertigt und dem Partnerunternehmen gesendet, ein Produktionsplan mit den jeweiligen Arbeitsschritten erstellt sowie sich mit dem Thema Sicherheit am Arbeitsplatz befasst. Ziel ist es durch problemlösungsorientierte Aufgabenstellungen den Produktionsablauf in einem Unternehmen im Vorfeld des Praxistages zu verstehen.

3.2.3 Baustein 5: Stationenlernen „Businessplan“

Der Baustein „Businessplan“ ermöglicht den Schüler/innen mit Hilfe der Methode des Stationenlernens (auch Lernzirkel genannt) eine erste Auseinandersetzung mit den Bestandteilen eines Geschäftsplans. Das Lernen an Stationen ist eine Form des offenen Unterrichts, welches selbstorganisiertes Lernen mit einer hohen Eigenständigkeit in den Mittelpunkt stellt. Der Businessplan wird in seine Bestandteile zerlegt und von den Schüler/innen an verschiedenen Stationen selbstständig bearbeitet.

Dafür werden in einem Raum verschiedene Stationen eingerichtet (Tabelle 5), an denen verschiedene Materialien und eindeutig formulierte Arbeitsaufträge bereitliegen. Die zu lösenden Aufgaben und Materialien sind dabei didaktisch so aufbereitet, dass die Schüler/innen sich individuell mit der jeweiligen Stationsthematik beschäftigen können. An den Stationen kommen unterschiedliche Medien und Materialien (z.B. Videos, Podcasts, Expertenvortrag) zum Einsatz, um unterschiedlichen Lerntypen (z.B. visuell, audiovisuell) gerecht werden zu können. Die zeitliche Vorgabe der Stationen ist gleich und wird durch ein Klingelzeichen signalisiert. Daraufhin verlassen die jeweiligen Schüler/innen die Station, um Platz für die nachfolgende Gruppe zu machen. Im Anschluss der Stationsarbeit stellen die Schüler/innen oder Gruppen mit Hilfe einer Präsentation ihre Ergebnisse vor.

Tabelle 5:     Baustein 5: Stationenlernen „Businessplan“

Station Grundidee Material
Finanzierung Die Schüler/innen lernen verschiedene Kostenarten kennen und erkennen welche Kosten zur Herstellung ihrer Produkte eine Rolle spielen.

-      Aufgabenblatt

-      Excelarbeitsblatt

Marketing Die Schüler/innen erarbeiten das Alleinstellungsmerkmal ihrer Produktidee, entwerfen einen Produktnamen und einen Slogan.

-      Aufgabenblatt

-      Best-Practice-Videos

Wettbewerbssituation
(SWOT-Analyse)
Die Schüler/innen beurteilen die eigene wirtschaftliche Lage sowie die Entwicklungen in der eigenen Branche und entwerfen mit Hilfe der SWOT-Analyse eine geeignete Unternehmensstrategie.

-      Aufgabenblatt

-      Vortrag

Nachhaltigkeit Die Schüler/innen ermitteln anhand des „Drei-Säulen-Modells“ die möglichen Nachhaltigkeitsaspekte ihres Produkts.

-      Aufgabenblatt

-      Podcast

Standortfaktoren Die Schüler/innen lernen verschiedene Standortfaktoren kennen und führen eine Standortanalyse durch. -      Arbeitsheft

4 Evaluation des Lehr-Lern-Arrangements

Die Evaluation des vorgestellten Lehr-Lern-Arrangements „Praxisorientiertes Lernen“ garantiert, dass die gesetzten Zielstellungen, wie die Berufsorientierung für technische Berufsausbildungen, die verknüpfende Vermittlung von ökonomischen und technischen Bildungsinhalten sowie Entwicklung von Handlungskompetenzen erreicht werden. Die dabei gesetzten Ziele der Evaluation unterteilen sich in die folgenden Bereiche:

  • Evaluation der Einflussfaktoren auf die Berufswahl
  • Evaluation des Vermittlungserfolgs
  • Evaluation des Unterrichtsprozesses

Die Evaluation der Einflussfaktoren auf die Berufswahl der Schüler/innen kennzeichnet die Eruierung möglicher Aspekte, welche im Berufswahlprozess und bei der Berufswahlentscheidung eine entscheidende Rolle spielen. Die Evaluation des Vermittlungserfolgs ist charakterisiert durch die Erhebung des Wissenstandes der Schüler/innen einmal vor und einmal nach der Teilnahme am praxisorientierten Lernens. Die zwei Messpunkte mit der gezielten Wissensabfrage vor und nach Durchführung des didaktischen Konzepts und der dazwischenliegenden Intervention sollen gewährleisten, dass konkrete Rückschlüsse auf den Wissensgewinn der Schüler/innen gezogen werden können. Die Evaluation des Unterrichtsprozesses innerhalb der praktischen Umsetzung des entwickelten POL-Konzepts soll didaktische und organisatorische Frage- und Problemstellungen bei der Durchführung erfassen, um Adaptions- und Optimierungspotentiale zu eruieren, welche der Verbesserung des POL-Ansatzes dienen.

Die Erhebung der benötigten Daten innerhalb der Durchführungen des didaktischen Konzepts erfolgte anhand einer standardisierten Schüler/innen-Befragung (Fragebogen). Entsprechend der Zielformulierungen des Evaluations- und Erhebungsansatzes wurden Einzelfragen zu den entsprechenden Punkten konzipiert. Der Schüler/innen-Fragebogen bestand aus folgenden Themenkomplexen:

  • Daten der Teilnehmer/innen
  • Fragen zu Einflussfaktoren auf die Berufswahl
  • Fragen zum technischen und ökonomischen Grundwissen (Vermittlungserfolg)
  • Fragen zum Unterrichtsprozess

Gleichzeitig wurde ein standardisierter Lehrer/innen- und Ausbilder/innen-Fragebogen eingesetzt, welcher die individuellen Einschätzungen der betreuenden Lehrer/innen und Ausbilder/innen zum didaktischen Konzept „Praxisorientiertes Lernen (POL)“ erheben sollte, um diese mit den Einschätzungen der Schüler/innen vergleichen zu können.

4.1 Soziodemografische Daten

Insgesamt wurde das hier vorgestellte Lehr-Lern-Arrangement „Praxisorientiertes Lernen (POL)“ an drei Sekundarschulen in Kooperation mit drei Unternehmen in Sachen-Anhalt mit 83 Schüler/innen der neunten Klasse durchgeführt (Stand Juni 2014). Für die Auswertung der vorliegenden Stichprobe konnten 78 Fragebögen (N=78) berücksichtigt werden. Die Stichprobe setzt sich aus 42 Schülern (53,8%) und 36 Schülerinnen (46,2%) zusammen. Alle befragten Schüler/innen besuchten die neunte Klasse der Sekundarschule. Insgesamt machten 24,4% der befragten Schüler/innen keine Angaben über einen möglichen Berufswunsch. Dabei ließ sich kein großer Unterschied zwischen den befragten Jungen (23,8%) und Mädchen (25,0%) feststellen. Von den Schüler/innen, die einen Berufswunsch angaben, wählten 23,7% einen Beruf aus dem technischen Bereich. Differenziert nach Geschlecht streben 37,5% der männlichen Schüler, aber nur 7,5% der weiblichen Schüler eine duale Ausbildung in einem technischen Beruf an.

4.2 Evaluation der Einflussfaktoren auf die Berufswahl

Die Auswertung der Fragebögen hinsichtlich möglicher Einflussfaktoren auf die Berufswahl der befragten Schüler/innen zeigt, dass vor allem das Praktikum, die Eltern und das Internet einen starken bzw. sehr starken Einfluss auf die Schüler/innen haben (Tabelle 6). Über ein Drittel (34,6%) der befragten Schüler/innen gab an, dass das Praktikum sie „sehr stark“ bezüglich ihrer Berufswahl beeinflusst hat (stark: 42,3%).

Tabelle 6:     Beeinflussungsfaktoren auf die Berufswahl

Faktor sehr stark stark schwach sehr schwach Mittelwert
Praktikum 34,6% 42,3% 14,1% 9,0% 1,97
Eltern 14,1% 39,7% 29,5% 16,7% 2,49
Internet 10,3% 29,5% 33,3% 26,9% 2,77
Agentur für Arbeit 6,4% 26,9% 35,9% 30,8% 2,91
Freunde 5,1% 19,2% 42,3% 33,3% 3,04
Lehrer/in 5,1% 17,9% 41,0% 35,9% 3,08
Bekannte 3,8% 17,9% 43,6% 34,6% 3,09
Geschwister 3,8% 15,4% 26,9% 53,8% 3,31
Bekannte 3,8% 17,9% 43,6% 34,6% 3,09
Fernsehen/Radio 1,3% 6,4% 39,7% 52,6% 3,44
Zeitung 2,6% 9,0% 29,5% 59,0% 3,45

Auf dem zweiten Platz folgen die Eltern (sehr stark: 14,1%, stark: 39,7%). Die schwächste Beeinflussung auf die Berufswahl üben die beiden Faktoren Fernsehen/Radio (schwach: 39,7%, sehr schwach 52,6%) und Zeitung (schwach: 29,5%, sehr schwach: 59,0%) aus.

Differenziert nach Schülern und Schülerinnen lassen sich keine signifikanten Unterschiede innerhalb der Beeinflussungsfaktoren erkennen. Sowohl bei den Schülern als auch bei den Schülerinnen üben die Faktoren Praktikum, Eltern und Internet die größte Beeinflussung auf die individuelle Berufswahl aus. Die Faktoren Fernsehen/Radio und Zeitung weisen auch hier den geringsten Beeinflussungsgrad auf. Diese Beobachtungen werden durch die Betrachtung der Mittelwerte bestätigt (Tabelle 4). Die Faktoren Praktikum (MW: 1,97), Eltern (MW: 2,49) und Internet (MW: 2,77) weisen die kleinsten und die Faktoren Fernsehen/Radio (MW: 3,44) und Zeitung (MW: 3,45) die größten Mittelwerte auf.

Gefragt nach bereits besuchten Veranstaltungen zur Berufsorientierung gaben 89,7% der Sekundarschüler/innen an, dass sie ein Praktikum absolviert haben. Damit liegt das Praktikum deutlich vor allen anderen Veranstaltungen zur Berufsorientierung. Hier spielt die Tatsache eine Rolle, dass das Praktikum in Sachsen-Anhalt verpflichtend im Fachlehrplan geregelt ist. Auf den nachfolgenden Plätzen ordnen sich der Besuch von Berufsorientierungsmessen (67,9%) und der Girl’s/Boy’s Day (56,4%) ein.

4.3 Evaluation des Vermittlungserfolgs

Die Bewertung des Vermittlungserfolgs des konzipierten Konzepts erfolgte anhand einer Erhebung des Fachwissens der Schüler/innen durch einen standardisierten Fragebogen, welcher vor und nach dem Unterrichtskonzept „Praxisorientiertes Lernen“ durch die teilnehmenden Schüler/innen ausgefüllt wurde. Der Fragebogen bestand zum einen aus Fragen zum ökonomischen und technischen Fachwissen und zum anderen aus Fragen zum individuellen Stand der Berufsorientierung der Schüler/innen. Dabei wurden zum einen der Wissenstand der Teilnehmer/innen zu den benannten Themenkomplexen vor und nach der Durchführung erhoben und, im Sinne einer Überprüfung des Fachwissens, mit einander verglichen. Die Intention dabei war es, mögliche Rückschlüsse auf notwendige inhaltliche und methodische Anpassungen für zukünftige Durchführungen zu erhalten. Zum anderen diente die Erhebung nach der Intervention zur Leistungsüberprüfung der Schüler/innen. Die Auswertung der Fragebögen ergab, dass die Schüler/innen vor der Teilnahme am „Praxisorientierten Lernen“ deutlich schlechter abschnitten als nach der Teilnahme. Hierfür wurden aus dem Schülerfragebogen die Anzahl der Antworten mit voller Punktzahl aus dem Eingangsfragebogen mit der Anzahl der Antworten mit voller Punktzahl aus dem Ausgangsfragebogen verglichen. Tabelle 7 zeigt auszugsweise die prozentuale Gegenüberstellung der Teilnehmer/innen, die im Eingangsfragebogen die maximale Punktzahl erzielt und der Teilnehmer/innen, die im Ausgangsfragebogen die maximale Punktanzahl erreicht haben. Gleichzeitig wird dargestellt, inwieweit sich die Anzahl der vollständig richtigen Antworten prozentual verändert hat, wobei deutlich wird, dass die Anzahl der vollständig richtig beantworteten Fragen nach der Teilnahme deutlich höher lagen als vor der Absolvierung des „Praxisorientierten Lernens“.

Beispielsweise wurde die Frage nach den Akteuren im einfachen Wirtschaftskreislauf von mehr als der Hälfte der Schüler/innen (52,6%) nach der Teilnahme richtig beantwortet. Vorher war nur etwa jede/r vierte Schüler/in (26,9%) dazu in der Lage, was einer Steigerung von 25,6% entspricht. Die Untersuchung hinsichtlich geschlechtsspezifischer Unterschiede innerhalb der Ergebnisse liefert keine signifikanten Differenzen bezüglich der befragten Schüler und Schülerinnen. Die Erhebung des Vorwissens der Schüler/innen und die Evaluation des Vermittlungserfolgs zeigen, dass bestimmte Themen stärker (z.B. Markt, Dauer Berufsausbildung) bzw. schwächer (z.B. Standortfaktoren, regionale Arbeitgeber) zum fachlichen Wissen der befragten Schüler/innen gehören.

Tabelle 7:     Antworten mit Maximalpunktzahl im Eingangs- (EF) und Ausgangsfragebogen (AF) (Auszug aus den Ergebnissen)

Fragestellung EF AF AF-EF
Was bedeutet die Abkürzung GmbH? 41,0% 57,7% + 16,7%
Wer sind die Akteure im einfachen Wirtschaftskreislauf? 26,9% 52,6% + 25,6%
Was ist ein Markt? Auf dem Markt treffen sich ... 78,2% 85,9% + 7,7%
Ein steigender Preis für ein Gut bedeutet, dass ... 16,7% 25,6% + 9,0%
Nennen Sie drei Standortfaktoren. 2,6% 34,6% + 32,1%
Erläutern Sie den Unterschied zwischen Brutto- und Nettogehalt. 6,4% 17,9% + 11,5%
Unter einer Dualen Berufsausbildung versteht man, ... 65,4% 87,2% + 21,8%
Nennen Sie drei Berufsausbildungen. 30,8% 55,1% + 24,4%
Nennen Sie drei regionale Arbeitgeber. 7,7% 26,9% + 19,2%
Wie lange dauert in der Regel eine Duale Berufsausbildung? 55,1% 74,4% + 19,2%

Befragt nach der individuellen Wahrnehmung des eigenen Kenntniszuwachses, gaben 74,4% der Schüler/innen nach der Teilnahme an, dass ihre theoretischen Kenntnisse über die behandelten Aspekte in den Bereichen Berufsorientierung, technische und ökonomische Bildung verbessert haben. Dass hierzu vor allem die didaktisch-methodische Ausgestaltung des Unterrichts und somit die eingesetzten Unterrichtsmethoden beigetragen haben, gaben 83,3% der Schüler/innen an. Dieser subjektive Eindruck wurde durch die befragten Ausbilder/innen und Lehrer/innen bekräftigt. Ihren wirtschaftlichen und technischen Kenntnisstand, ihr Wissens über spätere Ausbildungswege sowie die eigenen Kompetenzen (z.B. Kommunikations-, Kreativitäts- und Präsentationsfähigkeiten) schätzte die Mehrheit der Schüler/innen nach der Teilnahme deutlich besser als vor der Durchführung ein.

4.4 Evaluation des Unterrichtsprozesses

Die Zielstellung des Konzepts „Praxisorientiertes Lernen“ im Sinne einer Berufsorientierung ist die Verknüpfung von technischen und ökonomischen Bildungsinhalten sowie die praktische Umsetzung sowohl in der Schule als auch an einem außerschulischen Lernort. Gleichzeitig werden Kenntnisse über verschiedene technische Berufsbilder, direkte Einblicke in Unternehmen sowie entsprechende Fach-, Personal- und Sozialkompetenzen (u.a. Handlungskompetenzen des unternehmerischen Denkens und Handelns) an die Schüler/innen vermittelt. Hierfür wurde die theoretische Grundlage für die Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements „Praxisorientiertes Lernen“ auf das methodisch-didaktische Konzept des handlungsorientierten Unterrichts gelegt (vgl. Jank/Meyer 2011, 316-319).

Befragt nach der methodischen Ausgestaltung der Unterrichtssequenz (Tabelle 8) gaben 71,8% der teilnehmenden Schüler/innen an, dass es ihnen durch das „Stationenlernen“ leichter gefallen ist, den Themenkomplex „Businessplan“ zu verstehen. Besonders hervorgehoben und positiv beurteilt wurde der Einsatz der Best-Practice-Videos (sehr gut: 41,0%, gut: 44,9%, MW: 1,77) und des Podcast (sehr gut: 39,7%, gut: 48,7%, MW: 1,74). Zugleich beurteilten 85,9% der Teilnehmer/innen als gut bis sehr gut, dass verschiedene Themenkomplexe in Gruppenarbeit erarbeitet wurden. Ähnliche Ergebnisse erzielten das eingesetzte Brettplanspiel zur Berufsorientierung (sehr gut: 37,2%, gut: 39,7%, MW: 1,90) und das Beutelspiel zur Ideengenerierung (sehr gut: 42,3%, gut: 33,3%, MW: 1,85). Fast die Hälfte der Schüler/innen empfanden es als sehr gut, dass sie die theoretischen Inhalte direkt am Lernort Unternehmen anwenden konnten (sehr gut: 46,2%, gut: 42,3%, MW: 1,69).

Tabelle 8:     Bewertung der methodischen Ausgestaltung der Unterrichtssequenz

  sehr gut gut schlecht sehr schlecht MW
Best-Practice-Videos 41,0% 44,9% 10,3% 3,8% 1,77
Podcast 39,7% 48,7% 9,0% 2,6% 1,74
Gruppenarbeit 38,5% 47,4% 7,7% 6,4% 1,82
Brettplanspiel 37,2% 39,7% 19,2% 3,8% 1,90
Beutelspiel 42,3% 33,3% 21,8% 2,6% 1,85
Lernort Unternehmen 46,2% 42,3% 7,7% 3,8% 1,69

Das didaktische Konzept „Praxisorientiertes Lernen“ mit seinem lernortübergreifenden und praxisorientierten Ansatz wird von den Teilnehmern/innen als zielführendes Lehr-Lern-Arrangement wahrgenommen, welches das Verstehen von technischen und ökonomischen Zusammenhänge erleichtert und unterstützt. Unter anderem gaben die Schüler/innen an, dass sich nach ihren subjektiven Einschätzungen ihre Fähigkeit frei vor einer Gruppe zu sprechen, verbessert hat. Über 80,0% der Teilnehmer/innen sagten, dass sich ihre technischen (trifft voll zu: 37,2%, trifft zu: 46,2%) und ökonomischen (trifft voll zu: 33,3%, trifft zu: 48,7%) Kenntnisse durch die didaktisch-methodische Unterrichtsgestaltung verbessert haben. Diese Eindrücke werden von den befragten Ausbildern/innen und Lehrern/innen bestätigt.

Zusammenfassend zeigte die Evaluation, dass das konzipierte und umgesetzte Unterrichtskonzept „Praxisorientiertes Lernen“, die mit dem didaktischen Ansatz verfolgten Leitziele, der zielgruppenspezifischen und handlungsorientierten Begleitung von individuellen Berufswahlentscheidungsprozessen, erreicht. Damit kann das vorgestellte Lehr-Lern-Arrangement einen Anteil zur verknüpfenden Vermittlung von ökonomischen und technischen Bildungsinhalten im Sinne einer praxisnahen Berufsorientierung von Schülern/innen der Sekundarschule in Sachsen-Anhalt beitragen.

5 Fazit und Ausblick

Berufsorientierung und -vorbereitung zählen an vielen allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt zu den Bestandteilen des Schulprogramms und finden sich in speziellen Konzepten zur Berufswahlvorbereitung, aber nicht immer im täglichen Unterricht, wieder. Die allgemeine Zielstellung der Berufsorientierung in Sachsen-Anhalt lassen sich mit Persönlichkeitsentwicklung, Teilhabe an der Gesellschaft sowie Berufswahlkompetenz und Ausbildungsreife zusammenfassen (vgl. KMLSA 2011). Die Aufgaben eines berufsorientierenden Unterrichts umfassen u.a., die Schüler/innen in einem umfassenden Sinne zur Arbeits-, Berufs- und Studienwahl zu befähigen, ihnen Lebenschancen zu eröffnen und diese zu erweitern, ihnen Handlungspositionen zu verdeutlichen, ihre Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu steigern sowie ihre Eigenverantwortung und Selbstständigkeit zu stärken (vgl. KMLSA 2011).

Die entwickelte und vorgestellte Unterrichtssequenz steht exemplarisch für die Verknüpfung von technischer und ökonomischer Bildung im Sinner einer praxisnahen Berufsorientierung und zielt auf eine Integration von Elementen der Entrepreneurship Education an den Lernorten Schule und Unternehmen. Weiterhin wird durch diese Bemühungen eine Techniksensibilisierung angestrebt, um dem drohenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken, indem insbesondere für technische Berufe und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge begeistert wird. Andere Betrachtungen zur Berufs- und Studienorientierung im Spannungsfeld zwischen ökonomischen und technischen Anforderungen der Arbeitswelt in Sachsen-Anhalt zeigen, dass die technischen Berufsausbildungen und die ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge in den beruflichen Zukunftsplanungen der Schüler/innen eine eher untergeordnete Rollen spielen (vgl. Brämer/Vieback/Hirsch 2012, ebd. 2013). Dies gilt insbesondere für Schülerinnen, die noch viel stärker an diese Themenfelder herangeführt werden müssen. Möglich wären hier z.B. verstärkte Marketingmaßnahmen, um die Potentiale und Entwicklungsmöglichkeiten einer beruflichen Zukunft im technischen Bereich noch stärker hervorzuheben. Die Berufsorientierungsdefinition nach Schudy (vgl. Schudy 2002, 9f.) legitimiert explizit die sowohl ökonomische als auch die technische Bildung als Teile der schulischen Berufsorientierung. Auf der einen Seite existieren in Sachsen-Anhalt bereits eine Vielzahl von Projekten und Initiativen zur Berufs- und Studienorientierung sowie zu allen Facetten des Unternehmertums, auf der anderen Seite scheint es aber so, als wenn diese in den allgemeinbildenden Schulen noch nicht richtig angenommen werden. Hier fehlen weitere aussagekräftige Untersuchungen und Längsschnittstudien zu den Erfolgen und strukturellen Auswirkungen dieser vielfältigen Maßnahmen und Initiativen an allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt. Diese ersten Ergebnisse lassen erahnen, dass, trotz der Verankerung dieser Themen in den Rahmenrichtlinien und Lehrplänen sowie im Schulprogramm, der Berufs- und Studienorientierung sowie der ökonomischen und technischen Bildung an den allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt eine noch größere Beachtung geschenkt werden muss. Dies gilt insbesondere für die technischen Berufsausbildungen und die ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge, wo der Nachwuchsbedarf am größten ist.

Damit technikorientierte Entrepreneurship-Inhalte im Sinne einer praxisorientierten Berufsorientierung einen stärkeren Einzug in die allgemeinbildende Schule erhalten können, müssen die Lehrer/innen noch stärker mit einbezogen werden. Es gilt entsprechende Fortbildungsformate für Lehrer/innen zu entwickeln, die ihnen helfen, Themen, wie Entrepreneurship, Gründerkompetenz aber auch technische Bildung und Berufsorientierung für ihre Schüler/innen kompetent und zielorientiert im Unterricht umzusetzen, um diese auf ihre spätere in Ausbildungs- und Berufsentscheidungen vorzubereiten. Das bedeutet weiterhin, dass diese Zielstellungen, die schulische praxisorientierte Vermittlung von technischem und ökonomischem Wissen voraussetzen. Hierfür müssen technische und ökonomische Bildungsinhalte eine noch stärkere Verankerung in der Lehramtsausbildung und den Fachlehrplänen finden. Wenn technische Berufsausbildungen einen neuen Aufschwung erhalten sollen, muss die technische Bildung bereits im schulischen Kontext weiter ausgebaut werden, da eine frühzeitige Sensibilisierung für technische Berufe die Chancen für die potentielle Wahl für ein technisches Berufsfeld und ein späteres ingenieurwissenschaftliches Studienfach erhöhen kann. Für eine technik- und praxisnahe Berufsorientierung ist es von entscheidender Bedeutung, kombinierte Angebote aus dem Bereich der technischen und ökonomischen Bildung zu schaffen und den Jugendlichen flächendeckend in ganz Deutschland zur Verfügung zu stellen. Hier gilt es vor allem externe Partner und außerschulische Lernorte stärker in den schulischen Bildungsprozess zu implementieren.

Zusammenfassend bedeutet dies für die Verknüpfung von technischen und ökonomischen Inhalten, dass das Erkennen und Verstehen komplexer wirtschaftlicher und technischer Zusammenhänge und Problemstellungen im Berufswahlprozess, einen gezielten Einsatz von handlungsorientierten Lehr-Lern-Arrangements bedarf (vgl. Jank/Meyer 2011, 315ff.).

Literatur

Brämer, S./Vieback, L/Hirsch, S. (2012): Berufs- und Studienorientierung als Instrument der Fachkräftesicherung. In: Friedrich, K./Pasternack, P. (Hrsg.): Demographischer Wandel als Querschnittsaufgabe. Halle-Wittenberg. 253-270.

Brämer, S./Vieback, L/Hirsch, S. (2013): Ingenieurwissenschaftliche Sensibilisierung an allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt. In: Bünning, F. (Hrsg.): Initiativen und Effekte der Berufsorientierung an Gymnasien, Real- und Förderschulen Sachen-Anhalts. Magdeburg. 77-160.

Butz, B./Deeken, S. (2010): Berufsorientierung: Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung. Bonn.

Famulla,G.-E. (2011): Weil sich die Lebenswelt ökonomisiert. Ökonomische Bildung aus Sicht der Wirtschaftsverbände. Working Paper No. 2. Bielefeld. Online: http://www.iboeb.org/famulla_oekon-bildung_wp2.pdf (04.09.2014).

Famulla, G.-E./Butz, B. (2005): Berufsorientierung. Online: http://www.swa-programm.de/texte_material/glossar/index_html_stichwort=Berufsorientierung.html (03.09.2014).

Grüneberg, J./Wenke, I.-G. (2011): Arbeitsmarkt. Elektrotechnik, Informationstechnik. Offenbach.

Hedtke, R./Möller, L. (2011): Wem gehört die ökonomische Bildung? Notizen zur Verflechtung von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Working Paper No. 1. Bielefeld. Online: http://www.iboeb.org/moeller_hedtke_netzwerkstudie.pdf (04.09.2014).

Jank, W./Meyer, H. (2011): Didaktische Modelle. Berlin.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2011): Information zu Maßnahmen der Berufsorientierung an Schulen in Sachsen-Anhalt. Magdeburg.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2012a): Fachlehrplan Sekundarschule. Wirtschaft. Schuljahrgänge 7-10. Magdeburg.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2012b): Fachlehrplan Sekundarschule. Technik. Schuljahrgänge 5-10. Magdeburg.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2012c): Fachlehrplan Sekundarschule. Geographie. Schuljahrgänge 5-10. Magdeburg.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2012d): Fachlehrplan Sekundarschule. Deutsch. Schuljahrgänge 5-10. Magdeburg.

Schudy, J. (Hrsg.) (2002): Berufsorientierung in der Schule. Bad Heilbrunn.

Wiepcke, C. (2008): Entrepreneurship Education im Fokus von Employability und Nachhaltigkeit. In: Loerwald, D./Wiesweg, M./Zoerner, A. (Hrsg.): Ökonomik der Gesellschaft. Festschrift für Gerd-Jan Krol. Wiesbaden. 267-281.

Beförderung der Berufsorientierung von Jugendlichen im beruflichen Übergangssystem auf der Folie eines konstruktivistisch-kognitionstheoretischen Lernverständnisse

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1 Einleitung

Das Bildungssystem in Deutschland hat Jugendliche für den erfolgreichen Übergang von der Schule in das Beschäftigungssystem vorzubereiten und zur Arbeits- und Berufswelt hinzuführen (vgl. Dedering 2002, 27; KMK 1993, 1997). Die gegenwärtige Arbeits- und Berufswelt ist von Umbrüchen und Veränderungen wie dem Entstehen neuer Erwerbsformen, einem steigenden Innovationstempo, einer Flexibilisierung und Technisierung von Arbeitsprozessen sowie dem Paradigmenwechsel von einer Qualifikations- zu einer Kompetenzorientierung gekennzeichnet (vgl. Bellmann/Stegmaier 2007, 10). Hinzu kommt ein demographischer Wandel, der sich in einem prognostizierten Rückgang der leistungsaktiven Bevölkerung (vgl. Famulla et al. 2003, 2). Tatsächlich gelingt es jedoch vielen Jugendlichen nicht, den Übergang von der Schule in das Beschäftigungssystem problemlos zu meistern (vgl. BMBF 2011, 12).

Dies zeigt sich u. a. im Umfang des beruflichen Übergangssystems. Dieses sieht sich trotz der demographischen Veränderungen nach wie vor einer hohen Teilnehmer/-innen-Zahl gegenüber (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012a, 101ff.; BMBF 2011, 12). Insbesondere in die teilqualifizierenden Berufsfachschulen mündet ein Großteil dieser Jugendlichen ein (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012b, 103f.). Sie werden häufig von Seiten der Wirtschaft trotz erfolgreichem Abschluss der mittleren Reife als nicht-ausbildungsreif beurteilt (vgl. DIHK 2011, 3). Dennoch kann keineswegs von einem Scheitern der Berufsorientierung in den Bildungsgängen der Sekundarstufe I und II die Rede sein. Vielmehr kann beobachtet werden, dass ausbildende Unternehmen tendenziell höhere Anforderungen an zukünftige Auszubildende stellen und Schüler(inne)n mit Hochschulzugangsberechtigung den Vorrang geben, so dass die Jugendlichen höherwertige Schulabschlüsse anstreben, die vielfach nachträglich an berufsbildenden Schulen erreicht werden (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012a, 100f.). So bieten auch Berufsfachschulen für Jugendliche die Chance, innerhalb eines Schuljahres den Realschulabschluss zu verbessern (vgl. KMK 2007b, 3).

Da die Jugendlichen bereits in der Realschule arbeits- und berufsorientierende Maßnahmen durchlaufen haben, werden sie in der einjährigen Berufsfachschule keineswegs zum ersten Mal mit Fragen der Berufsorientierung und Berufswahl konfrontiert (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012a, S. 100; Kremer 2010, 1f.). Aus diesem Grund stellt sich dem beruflichen Übergangssystem zusätzlich eine qualitative Problematik, die es bedingt, den Jugendlichen in seiner verlängerten Phase der beruflichen Orientierung und Entwicklung als Individuum stärker zu fokussieren und passgenaue pädagogische Angebote zu unterbreiten (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012a, 100, 122; Bojanowski/Eckert 2012, 9). In diesen Angeboten gilt es, die berufliche Handlungskompetenz der Jugendlichen zu befördern, um in variierenden beruflichen wie privaten Situationen fachlich angemessen und individuell sowie sozial verantwortlich handeln zu können (vgl. KMK 2007a, 10).

Um diesen Kompetenzerwerb zu unterstützen, gilt es, die arbeits- und berufsorientierenden Maßnahmen hinsichtlich der ihnen zugrundeliegenden Theorie der beruflichen Entwicklung und Berufswahl sowie des zugrundeliegenden Verständnisses von individuellem Lernen und Kompetenzerwerb zu überprüfen und zu reflektieren (vgl. im Folgenden Porath 2013).

2 Lernen aus konstruktivistisch-kognitionstheoretischer Sicht

Während in einer instruktionsorientierten Sicht des Lernens davon ausgegangen wird, dass das Wissen über die Welt relativ stabil, beschreibbar und unabhängig von individuellen Erfahrungen ist und somit vom Lehrenden an den Lernenden vermittelt werden kann, wird in konstruktivistischen Ansätzen das Individuum fokussiert, welches sich auf Basis von Wahrnehmungen und Erfahrungen sein Wissen von der Welt selbst konstruiert (vgl. Rebmann/Schlömer 2010, 8; Rebmann/Tenfelde 2008, 35). Der Kern dieser Denkweise liegt erstens darin, dass Lernen als individueller, aktiver Konstruktionsprozess des Wahrnehmens, des Erfahrung-Machens, des Erwerbs und der Strukturierens von Wissen sowie des Handelns aufgefasst wird. Wissen wird nicht vom Individuum passiv aufgenommen, sondern selbst konstruiert (vgl. Rebmann 2001, 75).

Lernen ist darüber hinaus auch ein grundlegend interaktiver Prozess (vgl. Rebmann 2001, 75). Dem kommunikativen Austausch und dem sprachlichen Aushandeln von Handlungsstrategien und Problemlösungen kommt eine große Bedeutung im Lernprozess zu. Über Sprache und Kommunikation können Bedeutungen ausgehandelt und geteiltes Wissen erzeugt werden, welches das individuelle Wissen sozial orientiert (vgl. Rebmann 2004, 16). Dies impliziert Verantwortung und Bedeutungsoffenheit, da es mehr als einen gangbaren Weg gibt, das Wissen so zu gestalten, dass es in den eigenen Bezugsrahmen passt (vgl. Humbert 2005, 36; Siebert 2000, 9; von Foerster 2009, 44; von Glasersfeld 2009, 32).

Die Berufswahl und berufliche Entwicklung sowie deren Maßnahmen lassen sich unter Berücksichtigung verschiedener Theorien, Ansätze und Modelle erklären (vgl. z. B. Bußhoff 1984, 29, 2009, 27; Gmelch 2003, 8ff.; Hoppe 1980, 94, 156; Seifert 1977, 176ff.). Diese Ansätze fokussieren je nach Ausrichtung das Individuum, die Umwelt des Individuums oder die Interaktion zwischen Individuum und Umwelt und sind auch heute noch geeignet, „individuelle berufsorientierende Prozesse im gesellschaftlichen Kontext zu begleiten“ (Nickel 2010, S. 82). Mit dem dargestellten Lernverständnis lassen sich aus diesen Ansätzen besonders gut die Sichtweise auf berufliche Entwicklung als Interaktionsprozess, als Entscheidungsprozess, als Entwicklungsprozess und als Lernprozess vereinbaren, welche im Folgenden beschrieben werden (vgl. im Folgenden Porath 2013).

3 Individuelle Arbeits- und Berufsorientierung

3.1 Zum Begriff der Arbeits- und Berufsorientierung

Zeitlich umfasst die berufliche Orientierung die Spanne „von den ersten bewußten, aber noch unsicheren Fragen zur künftigen Berufstätigkeit bis zur planmäßigen Analyse beruflicher Alternativen“ (Dibbern 1993, 26). Die berufliche Orientierung zielt nach aktuellem Verständnis auf die Problematik der individuellen Berufswahlvorbereitung ab und verfolgt die Entwicklung von Berufswahlkompetenz (vgl. Ermert/Friedrich 1990, 2), die als die Fähigkeit und Bereitschaft zu verstehen ist, „die in bestimmten beruflichen Entwicklungsphasen gestellten Berufswahlaufgaben wahrzunehmen, ihren Problemgehalt zu analysieren, dabei die in ihnen liegenden Chancen zur Selbstbestimmung zu entdecken und zu Handlungsmöglichkeiten auszuarbeiten, diese zu entscheiden und mit persönlichen sowie sozialen Bindungsfolgen zu versehen, d. h. zu verantworten, und sie in ein situationsgerechtes Verwirklichungshandeln einzubringen“ (Bußhoff 1984, 67). Mit anderen Worten stellt Berufsorientierung einen Prozess dar, in dem die eigenen beruflichen Interessen und Fähigkeiten im Kontext der Anforderungen der Wirtschafts- und Arbeitswelt, des familiären Herkunftsmilieus und der verschiedenen gesellschaftlichen Sozialisationsinstanzen entwickelt und angemessene berufliche Präferenzen herausgebildet werden (vgl. Kaminski et al. 2010, 4; von Wensierski/Schützler/Schütt 2005, 14). Berufsorientierung dient folglich auch der Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen und stellt einen individuellen und mehrjährigen Prozess dar, in dessen Verlauf zunächst nur eine temporäre Wahl eines Tätigkeitsfeldes erfolgt (vgl. Kaminski et al. 2010, 5). Daher ist die berufliche Orientierung um eine Orientierung auf die Charakteristika der Arbeitswelt zu ergänzen. Arbeitsorientierung bezieht sich auf die komplexe Arbeitswelt mit ihren Teilbereichen Wirtschaft, Haushalt und Beruf und stellt somit eine weite Betrachtungsebene dar. Sie dient der Entwicklung allgemeiner Arbeitskompetenzen, die notwendig sind, um die Arbeitswelt verstehen und mitgestalten zu können (vgl. Dedering 2005, 217).

3.2 Theorien und Erklärungsansätze zur beruflichen Entwicklung und Berufswahl aus konstruktivistisch-kognitionstheoretischer Sicht

3.2.1 Berufliche Entwicklung als Interaktionsprozess

Werden berufliche Orientierung und Entwicklung als Interaktionsprozess verstanden, treten der Sich-beruflich-Orientierende und seine verschiedenen Interaktionspartner/-innen in Interaktion und Kommunikation. Im Rahmen dieser bringen beide Seiten ihre jeweils individuellen Vorstellungen und Ziele sowie die Handlungsprämissen beruflichen Verhaltens einander näher (vgl. Hoppe 1980, 102; Nickel 2010, 96). Ries (1970, 433) unterscheidet fünf auf Dauer angelegte soziale Gruppen der Interaktionspartner/-innen, die Orientierung bei der Berufswahl geben:

Die erste Gruppe der Berater/-innen erfüllt im Interaktionsprozess einen gesetzlichen Auftrag zur Berufsaufklärung, Einzelberatung und der Vermittlung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen (vgl. Hoppe 1980, 137f.). Je nach Schulform und Bildungsgang gestalten sich die Bedeutung und der Grad der Professionalität der zweiten Gruppe der Lehrer/-innen. Den Interaktionen zwischen Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n wird eine „spezifische Bedeutung für die Herausbildung der Entscheidungsprämissen der individuellen Entscheidungssituationen“ beigemessen (Hoppe 1980, 138). Die Lehrkräfte haben die Aufgabe, über die Vermittlung von Berufsinformationen hinaus, die Wünsche und individuellen Berufs- und Lebensziele der Jugendlichen herauszuarbeiten und in deren berufsbiographische Entwicklung einzubinden (vgl. Nissen, Keddi/Pfeil 2003, 138f.). Eher unbewusst in ihren Informationsangeboten agiert die dritte Gruppe der Eltern, Freunde und Freundinnen, Nachbar(inne)n, Verwandten und Kolleg(inn)en. Sie sind maßgeblich daran beteiligt, berufsbezogene Werthaltungen und Interessen sowie ein berufsbezogenes Anspruchsniveau aufzubauen (vgl. Gmelch 2003, 9; Nickel 2010, 96). Konkretes Wissen über berufsrelevante Alternativen, Einkommen, Zugangsvoraussetzungen oder benötigte Kompetenzen wird meist nur vereinzelt und nebensächlich eingebracht (vgl. Hoppe 1980, 138; Nickel 2010, 96). Unternehmen und Verbände als vierte Gruppe sind Nachfrager der Jugendlichen, die sich auf qualifizierte Fachkräftegewinnung ausrichten (vgl. Hoppe 1980, 138). Mit zunehmender Bedeutung der Massenmedien im Alltag der Jugendlichen steigt ebenso die Bedeutung dieser Medien als fünfte Interaktionsgruppe (vgl. Beinke 2006b, 24ff.; Hoppe 1980, 138f.). Das Internet stellt für die Jugendlichen ein immer wichtigeres Instrument dar, mit dem sie sich die individuell relevanten Informationen zeitlich, örtlich und personell unabhängig selbst beschaffen (vgl. Struwe 2010, 13).

Die Interaktionspartner/-innen setzen sich handelnd mit verschiedenen Wertorientierungen auseinander, finden so individuelle Möglichkeiten und Berufsalternativen für den Jugendlichen und grenzen deren Anzahl ein (vgl. Nickel 2010, 100). In dieser Auseinandersetzung bewertet der Jugendliche die Informationen der Interaktionspartner/-innen auf der Basis seiner bisherigen Erfahrungswelt, selektiert diese und integriert sie schließlich in seine alte Erfahrungsbasis. Dem Selbstkonzept des Individuums kommt hierbei eine entscheidende Rolle zu, da dieses die Strukturierung und Zuordnung der wahrgenommenen Informationen zu bereits vorhandenen kognitiven Konzepten beeinflusst (vgl. Lohmann/Prose 1975, 62f.). Es stellt die individuellen Erfahrungen einer Person mit sich selbst dar (vgl. Super 1957, 81). Zum beruflichen Selbstkonzept zählen die fachlichen und überfachlichen Fähigkeiten, die ein Jugendlicher als Stärke im Berufskontext ansieht, sowie die eigenen Schwächen. Das Selbstkonzept entwickelt und verändert sich in der Interaktion mit Anderen, z. B. durch Gespräche mit Lehrer(inne)n, in denen diese Feedback geben (vgl. Lohmann/Prose 1975, 63). Einfluss haben hierbei die individuellen Wertorientierungen. So kann z. B. ein Jugendlicher eine eher soziale Orientierung besitzen und möchte anderen Menschen helfen. Oder er ist aufgrund einer beruflichen Leistungsorientierung bereit, großen beruflichen Einsatz zu zeigen, dafür in privaten Bereichen Opfer zu bringen, ist aufstiegs- oder machtorientiert. Wird der Beruf zur Einkommenserzielung für die Befriedigung Konsum- und Freizeitwünsche gesehen, liegt eine Daseins- und Genussorientierung vor (vgl. Lange 1978, 11).Für die Berufswahl ist entscheidend, dass ein Jugendlicher eine größtmögliche Kongruenz zwischen beruflichem Selbstkonzept und den eigenen Vorstellungen über die Berufsstruktur, wie z. B. über notwendige Voraussetzungen zur Ausübung des Berufes, anfallende Tätigkeiten, vorfindliche Arbeits- und Rahmenbedingungen, an den Beruf geknüpfte Rollenerwartungen, erkennen kann (vgl. Seifert 1977, 205). Der Erfolg der beruflichen Entwicklung ist eng verbunden mit dem Grad der Übereinstimmung von beruflichen Interessen und dem Berufswunsch bzw. dem tatsächlich ausgebübten Beruf der Jugendlichen. Luttenberger et al. (2014, 9ff.) konnten jedoch aufzeigen, dass insbesondere Jugendliche mit geringem Übereinstimmungsgrad sich zugleich in Bezug auf berufliche Informationen und Orientierungshilfen von Eltern und Peer-Groups wenig unterstützt fühlen. Kompetenten Lehrkräften kommt aus diesem Grund eine bedeutsame Rolle zu, mögliche Defizite in der familiären und freundschaftlichen Unterstützung, trotz einer generell nach wie vor starken Einflussnahme dieser beiden Interaktionsgruppen, aufzufangen. So nehmen die Lehrkräfte zum einen eine Vorbildfunktion ein und schaffen zum anderen einen Erfahrungsraum, in dem die Jugendlichen die eigenen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen erkennen und erproben und Entscheidungskriterien zur Berufswahl herausbilden können. Wird nun diese Entscheidung des Individuums fokussiert, dann wird berufliche Entwicklung als Entscheidungsprozess konzipiert.

3.2.2 Berufliche Entwicklung als Entscheidungsprozess

Im Entscheidungsprozess der Berufswahl wählt das Individuum entsprechend seiner Interessen und Neigungen sowie Eignungen und Fähigkeiten einen Beruf aus einer Vielzahl von Berufsalternativen (vgl. Lange 1978, 4f.; Müller 1983, 158). Als besonders bedeutende Einflussfaktoren im Berufswahlprozess werden u. a. Interessen und Informiertheit der Jugendlichen sowie das mit dem Beruf verbundene Prestige angesehen (vgl. Jungo 2009, 79). Bei den offenen Entscheidungsmodellen, die von nicht vollkommen strukturierten Entscheidungssituationen und nicht-statischen Entscheidungsregeln ausgehen, wird das Entscheidungsverhalten der Individuen als Problemlösungsverhalten verstanden (vgl. Beinke 1999, 77; Bußhoff 1984, 40; Nickel 2010, 88). In diesem Problemlösungsprozess differenziert Lange (1978) in Handlungs- und Interaktionssituationen. Die Handlungssituation ist die subjektive Berufswahlsituation, in der das Individuum sich anhand spezifischer Entscheidungskriterien für einen bestimmten Beruf entscheiden muss (vgl. Lange 1978, 9). Die Interaktionssituation ist der Zeitraum, in dem mehrere Interaktionspartner/-innen miteinander interagieren, um das Problem der Berufswahl zu lösen (vgl. Lange 1978, 7).

In der Handlungssituation kommen evaluative, kognitive und modale Entscheidungskriterien zum Tragen. Zu den evaluativen Entscheidungsprämissen zählen neben den beruflichen Wertorientierungen die individuellen beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das Wissen bezüglich der eigenen Wertorientierungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die Einschätzung hinsichtlich der Passung des Bündels an Fähigkeiten und Orientierungen bestimmen dann die Wahl eines Berufsbereichs (vgl. Bußhoff 1984, 45; Lange 1978, 14). Als weiteres evaluatives Entscheidungskriterium wird das Anspruchsniveau zur Klärung der Berufswahl herangezogen. Operationalisiert wird das berufliche Anspruchsniveau durch die Kombination kurzfristiger und langfristiger sowie idealistischer und realistischer Prestigewünsche an den Beruf (vgl. Lange 1978, 15). Um nun die beruflichen Alternativen identifizieren zu können, die zu den eigenen evaluativen Entscheidungskriterien passen und somit eine mögliche Lösung des Berufswahlproblems herbeiführen, bedarf es kognitiver Entscheidungskriterien, die helfen, die beruflichen Alternativen wahrzunehmen und zu strukturieren (vgl. Bußhoff 1984, 45; Lange 1978, 17f.). Die subjektiv wahrgenommenen Berufswahlalternativen, die lediglich einen Ausschnitt aller existierender Berufe darstellen, werden nun mit den evaluativen Entscheidungskriterien verglichen und auf die ernsthaft zu berücksichtigenden Berufswahlalternativen reduziert. Für die Auswahl eines Berufes aus dem Spektrum der ernsthaft zu berücksichtigenden Berufswahlalternativen zieht das Individuum schließlich modale Entscheidungskriterien in Form von Entscheidungsregeln heran (vgl. Lange 1978, 17f.).

Je nach Ausprägungsgrad der Entscheidungsregeln treffen die Jugendlichen entweder eine rationale oder eine zufällige Entscheidung oder Wursteln sich auf Grundlage eher undifferenzierten Berufswissens durch die Berufswahlsituation (vgl. Bußhoff 1984, 46). Da in Anlehnung an Hirschi (2013, 35), die Berufswahl und berufliche Laufbahn immer stärker vom Individuum selbst bestimmt werden, haben insbesondere die Entscheidungsrichtlinien, nach denen jede Person ihre individuelle Laufbahngestaltung vornimmt, mehr Bedeutung denn je. Berufliche Orientierung hat die Jugendlichen also darin zu unterstützen, ihre eigenen Werte, Ziele und Entscheidungskriterien bewusst zu machen, damit sie diese für authentische laufbahnrelevante Handlungen heranziehen können und Vorgaben von Unternehmen und Arbeitsmarkt weniger Gewicht zu geben (vgl. Hirschi 2013, 35).

Wird Berufsorientierung nicht als einmaliger Entscheidungszeitpunkt, sondern als eine Reihe berufsbezogener Entscheidungen in den unterschiedlichen Lebensphasen des Individuums betrachtet, dann wird sie als Teil des gesamten Prozesses der Persönlichkeitsentwicklung verstanden (vgl. Hoppe 1980, 94).

3.2.3 Berufliche Entwicklung als Entwicklungsprozess

Die Entscheidungen des Individuums hängen deutlich von den subjektiven Interessen und Bedürfnissen ab, die sich zusammen mit den Fähigkeiten, Fertigkeiten und Präferenzen mit fortscheitendem Lebensalter des Individuums entwickeln, modifizieren und an Bedeutung gewinnen (vgl. Gmelch 2003, 8; Hoppe 1980, 102).

Im Laufe des individuellen Reifungsprozesses verändern sich das (berufliche) Selbstkonzept, die Fähigkeiten und Interessen sowie damit auch die Berufspräferenzen. Das berufliche Selbstkonzept, geprägt durch berufliche Erfahrungen und Berufspräferenzen versucht das Individuum mit den sich bietenden Berufsrollen in Einklang zu bringen. Je größer diese Übereinstimmung ist, desto höher ist die berufliche Zufriedenheit (vgl. Ries 1970, 35; Pollmann 1993, 51f.). Super et al. (1965) modellieren diesen Prozess in fünf Stadien.

Im Stadium des Wachstums (0-14 Jahre) entwickelt sich das Selbstkonzept des Individuums durch die Identifikation mit Bezugspersonen in der Familie und im schulischen Umfeld (vgl. Nickel 2010, 93; Super et al. 1965, 40). Individuelle Bedürfnisse und Phantasievorstellungen bestimmen die beruflichen Rollen, die das Individuum spielt und wählt. Im Verlauf der Phase gewinnen Interessen an Bedeutung, erst zum Ende der Phase werden erstmals die Fähigkeiten in die beruflichen Betrachtungen mit einbezogen (vgl. Super et al. 1965, 40).

Im Stadium der Exploration (15-24 Jahre) sammelt das Individuum weitere schulische und freizeitliche Erfahrungen und erprobt sich in verschiedenen beruflichen Rollen und vorübergehenden ersten Beschäftigungsverhältnissen (vgl. Super et al. 1965, 40). Diese Phase ist durch eine stetige Selbstüberprüfung gekennzeichnet (vgl. Bußhoff 1984, 18f.). Das Individuum tätigt erste Versuchswahlen und bezieht neben den eigenen Interessen und Fähigkeiten erstmals auch Realisierungsmöglichkeiten in berufliche Entscheidungen mit ein. Getroffene Entscheidungen für den Übergang von der Schule in eine Ausbildung oder das Beschäftigungssystem unterliegen in dieser Phase einer ständigen Überprüfung und Erprobung hinsichtlich der Tragfähigkeit einer gewählten beruflichen Position für das weitere Berufsleben (vgl. Bußhoff 1984, 19; Scheller 1976, 40; Super et al. 1965, 40).

Im Stadium der Konsolidierung (25-45 Jahre) versucht das Individuum eine Daueranstellung in dem als geeignet eingeschätzten Tätigkeitsfeld zu finden (vgl. Bußhoff 1984, 40; Super et al. 1965, 41). Das Stadium der Erhaltung und Festigung dauert bis zur Pensionierung an (vgl. Oram 2007, 46). Veränderungen finden in dieser Zeit kaum noch statt. Werden neue Aufgaben angenommen, dann stehen sie zumeist in Verbindung mit der bisherigen beruflichen Laufbahn (vgl. Bußhoff 1984, 19; Super et al. 1965, 41). Im Stadium des beruflichen Abbaus nehmen die beruflichen Aktivitäten ab, bis das Individuum in das Ruhestadium übergeht und seine beruflichen Aktivitäten ganz beendet (vgl. Oram 2007, 46; Scheller 1976, 40).

Zusammenfassend zeichnet sich dieses Berufslaufbahnmodell durch einen progressiven Anstieg der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten und einen zunehmenden Realitätsbezug im Verlauf der beruflichen Orientierung und der Entwicklung des Selbstkonzeptes aus (vgl. Nickel 2010, 94). Auch Hirschi (2013, 27) führt verschiedene eigene Studien auf, die belegen, dass „die Kongruenz zwischen Interessen und Berufswünschen im Jugendalter mit steigenden Jahrgang zunimmt, weil Jugendliche mit zunehmenden Alter besser in der Lage sind, ihre Berufswünsche den persönlichen Interessen anzupassen“. Allerdings konnte aufgezeigt werden, dass das starre Festhalten an einer Phaseneinteilung der beruflichen Entwicklung der dynamischen Interaktion zwischen der Person und seiner Umwelt nicht gerecht wird (vgl. Hirschi 2013, 28ff.). Wird nun die Entwicklung des (beruflichen) Selbstkonzeptes durch laufbahnrelevante Handlungen und berufliche Lernerfahrungen als Resultat der Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt in den Blick genommen, wird berufliche Entwicklung aus lerntheoretischer Perspektive erklärt.

3.2.4 Berufliche Entwicklung als Lernprozess

Nach dem lerntheoretischen Berufswahlmodell nach Krumboltz, Mitchell und Jones (1976) geschieht Lernen auf Basis von Erbfaktoren wie Geschlecht, ethnischer Herkunft, körperlicher und geistiger Behinderungen, Intelligenz sowie Begabungen und Umweltbedingungen, wie sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Gegebenheiten sowie durch das Zusammenwirken mit Anderen.

Dies führt zur Entwicklung des beruflichen Selbstkonzeptes und zur Ausbildung eines Umweltbildes und von Problemlösungsmethoden (vgl. Bußhoff 1984, 29). Ein solches Lernen ist maßgeblich durch die Bewertung der eigenen Fähigkeiten und Interessen bestimmt. Eine solche Bewertung beruht zum einen auf dem Feedback der Interaktionspartner/-innen und zum anderen auf dem Vergleich mit früheren Verhaltensweisen und Leistungen oder dem Vergleich mit anderen Personen (vgl. Krumboltz/Mitchell/Jones 1976). Wiederholt sich dieser Vorgang, so bildet das Individuum eine generalisierte Selbsteinschätzung und bildet auf dieser Grundlage Fähigkeiten, Interessen, Präferenzen und Werteinstellungen heraus (vgl. Bußhoff 1984, 31). Darüber hinaus verfestigen sich die Selbstwirksamkeitserwartungen, mit den eigenen Fähigkeiten die erforderlichen beruflichen Handlungen auszuführen (vgl. Bußhoff 2009, 30). Das Umweltbild stellt einen bestimmten Umfang an Erfahrungen dar, die sich auf Ereignisse und Abläufe beziehen, die in der Vergangenheit unter bestimmten Bedingungen eingetreten und mit der Erwartung versehen sind, dass sie bei Vorlage der entsprechenden Bedingungen erneut eintreffen (vgl. Bußhoff 2009, 31). Um diese Umweltsituationen zu bewältigen, am eigenen Selbstbild zu reflektieren und Vorhersagen für die eigene berufliche Zukunft zu treffen, bedarf es ausgeprägter Problemlösungsmethoden (vgl. Krumboltz/Mitchell/Jones 1976, 74). Der Zeitpunkt der Berufswahl stellt eine kritische Periode dar, in der das Selbstkonzept, das Umweltbild und die bisher erfolgreich erlebten Problemlösungsfähigkeiten nicht mehr passend bzw. ausreichend sind und Vergleiche und Bewertungen den Jugendlichen eher schwer fallen. Darüber hinaus fehlen häufig konkrete Vorstellungen über Berufe und Methoden zur Lösung des Berufswahlproblems (vgl. Bußhoff 2009, 31). Somit wird nach neuen Problemlösungsmethoden gesucht. Diese beeinflussen zusammen mit dem Selbstkonzept die Tendenz der Berufswahl und führen schließlich zu berufsrelevanten Handlungen.Je nach Erfolg bzw. Misserfolg der Handlungen werden die Problemlösungsmethoden für zukünftige Handlungen beibehalten bzw. verworfen (vgl. Bußhoff 2009). Deutlich wird, dass hier die subjektive Bedeutungszuschreibung der Jugendlichen, die ihre berufliche Entwicklung selbst gestalten, fokussiert wird (vgl. Hirschi 2013, 31). Aktuelle Trends und Modelle, wie die Chaos-Theorie der Laufbahnentwicklung oder die konstruktivistische Laufbahnberatung, berücksichtigen dies stärker als klassische Theorien der Berufswahl und erweitern diese, indem sie den Menschen als komplexes System sehen, das sich durch permanente Interaktion mit der Umwelt entwickelt. Allerdings sind diese Trends zum Teil noch nicht konkret überprüfbar, da sie zumeist noch großen Forschungsbedarf aufweisen (vgl. Hirschi 2013, 30ff.).

3.2.5 Zusammenführung der theoretischen Ansätze

Die hier dargestellten Ansätze richten ihren Blick zumeist lediglich auf einen ausgewählten Aspekt der Berufswahl. Diese Fokussierung wird der Komplexität dieses Prozesses jedoch nicht gerecht. Aus diesem Grund wird hier eine Art Metatheorie, die von einem zentralen Aspekt der beruflichen Entwicklung ausgeht und schrittweise die Aussagen der vier hier beschriebenen Erklärungsansätze, Theorien und Modelle zum Prozess der beruflichen Entwicklung und Berufswahl integriert, vorgestellt (vgl. Abbildung 1).

Zentraler Ausgangspunkt des Berufswahlprozesses ist ein Entscheidungsinitial, wodurch das Individuum vor dem Problem steht, seinen bisherigen Status als Schüler/-in aufzugeben und einen neuen Status, eine Berufsrolle, einzunehmen (vgl. Bußhoff 1984, 51). Die berufliche Entwicklung kann daher mit einem Problemlöseprozess verglichen werden, in dem das Individuum fortwährend Differenzierungen seines Selbstkonzeptes vornimmt, um letztlich eine Entscheidung zu treffen, die hilft, das Problem zu beheben. Dazu antizipiert das Individuum die in Betracht kommenden Berufsrollen. Auf der Basis von Informationen überprüft das Individuum die von ihm wahrgenommenen Berufsrollen und bringt sie in eine Rangreihe. Diese ist durch das Selbstkonzept bestimmt, das die angesammelten Werthaltungen und Einstellungen sowie persönliche Voraussetzungen darstellt, die sich aus den subjektiven Erfahrungen des Individuums ergeben. Wenn sich die Differenzierungen im Entscheidungsprozess bewähren, kann das Individuum seine Aktivität in zielgerichtete Verhaltenssequenzen überführen und wird Handlungen vornehmen, um einen Beruf – im rationalen Fall zuoberst der Rangreihe – zu ergreifen.

Abbildung 1: Metatheoretisches Modell zur Erklärung der beruflichen EntwicklungAbbildung 1: Metatheoretisches Modell zur Erklärung der beruflichen Entwicklung

Die Entscheidung des Individuums für einen Beruf stellt die Handlungssituation dar. In dieser kommt es zur Anwendung von evaluativen, kognitiven und modalen Entscheidungskriterien. Diese bilden sich in Interaktionssituationen heraus. Im Rahmen dieser interagieren in einem bestimmten Zeitraum mehrere Interaktionspartner/-innen miteinander, um das Problem der Berufswahl zu lösen. Aus entwicklungstheoretischer Sicht trifft das Individuum nicht nur eine, sondern eine Reihe von Entscheidungen. Diese sind abhängig vom Differenzierungsgrad des beruflichen Selbstkonzeptes. So tätigt das Individuum zunächst Phantasiewahlen, später Versuchswahlen und abschließend realistische Berufswahlen. Mit dem Ansteigen der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten und der Ausdifferenzierung der eigenen Wertorientierungen, steigt auch der Realitätsbezug der Berufswahlen.

Die Entwicklung des Selbstkonzeptes ist das Resultat sozialer Lernprozesse. Demnach sind das eigene Verhalten und die Persönlichkeitsstruktur durch Rückgriff auf vergangene Lernerfahrungen beschreibbar. Die Erbfaktoren sowie die externen Umweltbedingungen wirken sich auf die Entwicklung des Selbstkonzeptes aus und sind Grundlage zur Herausbildung von Problemlösestrategien, die das Individuum im Entscheidungsprozess benötigt. Diese setzt das Individuum in beruflichen und berufsrelevanten Handlungen und Verhaltensweisen ein, die wiederum Basis für neue Lernerfahrungen sind. Der Umfang der Erfahrungen, die das Individuum in der Vergangenheit in Form von bestimmten Ereignissen und Abläufen unter bestimmten Bedingungen gemacht hat, stellt das Umweltbild dar. Selbstbild und Umweltbild versucht das Individuum im Prozess der beruflichen Entwicklung in Einklang zu bringen. Verhaltensweisen und Einstellungen werden vom Individuum dauerhaft erworben, wenn diese zu einem befriedigenden Resultat führen. Reichen die bisher erlernten und erlebten Problemlösefähigkeiten hierfür nicht mehr aus, ist das Individuum gezwungen, bestehende Konzepte zu verändern oder neu zu lernen. Das Individuum nimmt also wie in der Betrachtung als Entwicklungsprozess ausgeführt Differenzierungen aufgrund neuer Lernerfahrungen vor.

Feedback und Interaktion kommen in diesem Prozess besondere Bedeutung zu. Fünf Gruppen der Interaktionspartner/-innen lassen sich als wichtig für den Prozess der beruflichen Entwicklung identifizieren: die Berater/-innen; die Lehrkräfte; die Unternehmen und Verbände; die Eltern, Freunde und Freundinnen, Nachbar(inne)n und Kolleg(inn)en sowie die Vertreter/-innen der Massenmedien. Sie beeinflussen die Wahrnehmung der unterschiedlichen Berufswahlalternativen, den Selektionsprozess zur Wahrnehmung und Bewertung der Informationen und die Entscheidungsprämissen.

3.3 Konstruktivistische arbeits- und berufsorientierende Lernaufgaben

Lehrkräfte, als zweite Gruppe der Interaktionspartner/-innen im Berufsorientierungsprozess, stehen bei der Konstruktion arbeits- und berufsorientierender Maßnahmen vor der Herausforderung, in ihren didaktisch-methodischen Planungen und Umsetzungen die Forderungen individuumsbezogener Arbeits- und Berufsorientierung und die Kernelemente einer konstruktivistischen Theorie des Wissenserwerbs zu berücksichtigen. Die Entwicklung konstruktivistischer Lernaufgaben wird als Möglichkeit erachtet, diesen Anforderungen zu begegnen. Lernaufgaben, als Kernstücke der didaktischen Planung eines Unterrichts, zielen verstärkt auf die Anregung des Lernprozesses ab, statt ein konkretes Ergebnis zu fokussieren (vgl. Fischer/Gerdsmeier 2007, 184; Kastrup/Tenfelde 2008, 7). Sie sind eine „Aufforderung an Lernende, eine bestimmte Handlung auszuführen, eine Frage zu beantworten, ein Problem zu lösen, eine Anweisung umzusetzen, einen Auftrag zu realisieren, aber auch, eine Entscheidung zu fällen und selbst Fragen zu stellen, die helfen, ein Problemfeld zu erhellen“ (Pahl 1998, 13). Lernaufgaben sollten sich direkt auf die Berufsarbeit beziehen, Relevanz für Bildungs- und Lernprozesse ebenso wie für die berufliche Praxis selbst besitzen und situationsgebunden, übertragbar sowie transferfähig sein (vgl. Pahl 1998, 16; Schemme 1998, 7; Schöpf 2005, 19).

Sie sollten also den Erwerb beruflicher Handlungskompetenz, als Leitziel der beruflichen Bildung, unterstützen (vgl. KMK 2007a, 10). Dazu zählen zum einen fachliche Kompetenzen in Form von Kenntnissen über die Wirtschafts- und Arbeitswelt, über Berufsbilder, die beruflichen regionalen Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsmarktchancen, die Strukturmerkmale einer industriellen Gesellschaft sowie die Funktionszusammenhänge in Unternehmen (vgl. Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände 2003, 15; Schlömer/Tenfelde 2008, 190). Zum anderen bedarf es ebenfalls ausgeprägter Methoden-, Gestaltungs-, Sozial- und Abstraktionskompetenzen sowie moralisch-ethischer Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und Kritikfähigkeit, Veränderungsbereitschaft, Problemlöse- und Entscheidungsfähigkeit, Selbsteinschätzungskompetenzen und Reflexionsfähigkeit, Kompetenzen des Arbeitsverhaltens wie Eigeninitiative und -verantwortung, Lernbereitschaft und Belastbarkeit, Transferfähigkeit, die Fähigkeit zum vernetzten Denken, Leistungsorientierung, Offenheit sowie selbstständiges und planvolles Arbeiten (vgl. von Berlepsch/Lexis/Wieland 2005, 47; Brandes 2005, 43; KMK 2003; Scheffler/Focke-Lehmann/Möhlmann 2003, 17).

Um diesen individuellen Kompetenzerwerb zu unterstützen, sollten Lernaufgaben folgenden didaktischen Merkmalen entsprechen (vgl. Dehnbostel 2007, 57ff.; Erdmann/Höpfner/Schedel 1998, 101; Frieling et al. 2006, 44ff.; Gerdsmeier/Köller 2008, 26):

Lernaufgaben sollten die Selbststeuerung und Selbstständigkeit unterstützen. Dies kann gelingen, indem Lernenden Möglichkeiten eingeräumt werden, Freiheitsgrade und Mitgestaltungsmöglichkeiten in Form von Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsspielräumen wahrzunehmen. Sie sollten außerdem Problem- und Komplexitätsorientierung sowie Variabilität und Anforderungsvielfalt aufweisen, um auf die vielschichtigen beruflichen Anforderungen vorzubereiten. Demnach sind problemhaltige Aufgaben zu favorisieren, die sich im Hinblick auf die zu erreichenden Ziele und Lösungswege als eher schlecht strukturiert charakterisieren lassen. Da Lernaufgaben das Ziel haben sollten, berufliche (Selbstkonzept)Entwicklung als Teil der Persönlichkeitsentwicklung zu befördern, gelten eine hohe Anforderungs- und Tätigkeitsvielfalt sowie häufiger Tätigkeits- und Methodenwechsel als wichtige Merkmale. Daraus ergibt sich, dass für den Lernprozess auch entscheidend ist, dass sowohl Inhalte als auch Methodik der Aufgaben durch den Arbeits- und Lebensweltbezug für die Lernenden eine authentische Situiertheit aufweisen. Auch sollten Lernaufgaben die Interaktion und Kommunikation befördern, da Lernen immer auch ein sozialer Prozess ist. Das Ausmaß der gewünschten Kommunikation zwischen den Lernenden und zu Lehrkräften sowie die daraus resultierenden Hilfestellungen und Anregungen werden so zu einem entscheidenden Kriterium. Darüber hinaus benötigen Lernende Möglichkeiten des Feedbacks und der Reflexion. So können sie ihre Handlungen reflektieren, für nachfolgende Handlungen gegebenenfalls verändern und schließlich kognitive Umstrukturierungen vornehmen.

In der Zusammenführung der Theorien zur Erklärung der Berufswahl, der Forderung zum Erwerb beruflicher Handlungskompetenzen, dem hier dargestellten Verständnis von Lernen und den sich daraus ergebenden didaktischen Anforderungen an Lernaufgaben, ergibt sich ein vierdimensionaler Entwicklungsraum für die Konstruktion von Lernaufgaben. Dieser umfasst:

  1. eine Inhaltsdimension, die sich aus den Inhalten arbeits- und berufsorientierender Lernaufgaben ergibt,
  2. eine Zieldimension, die sich aus den Teilkompetenzen der beruflichen Handlungskompetenz als Leitziel der beruflichen Bildung ergibt,
  3. eine Lernprozessdimension, die die Schlüsselstellen effektiven Lernens an den Übergängen der kognitiven Teilprozesse des Erfahrung-Machens, des Erwerbs und der Strukturierung von Wissen, des Handelns sowie der sprachlichen Auseinandersetzung fokussiert und
  4. eine didaktisch-methodische Dimension, die Hinweise gibt, wie Lernaufgaben kompetenzförderlich konstruiert werden können.

Aufgaben, die diese Dimensionen berücksichtigen, können Lehrkräfte unterstützen, effektive arbeits- und berufsorientierende Lernprozesse zu initiieren und anzuregen.

4 Entwicklung der Arbeits- und Berufsorientierung in Klassen der einjährigen Berufsfachschule Wirtschaft – eine Interventionsstudie

4.1 Untersuchungsdesign der einjährigen Interventionsstudie

Das hier vorgestellte metatheoretische Modell der beruflichen Orientierung und Entwicklung sowie der vierdimensionale Entwicklungsraum zur Konstruktion von arbeits- und berufsorientierenden Lernaufgaben bildeten die theoretische Grundlage für eine einjährige Interventionsstudie in sechs Klassen der einjährigen Berufsfachschule Wirtschaft mit der Eingangsvoraussetzung des Realschulabschlusses an einer Schule in der Weser-Ems-Region in Niedersachsen (vgl. im Folgenden Porath 2013). Im Rahmen dieser Interventionsstudie wird sollte erstens der Frage nachgegangen werden, wie sich die Arbeits- und Berufsorientierung bei Jugendlichen im Verlauf des Besuchs der einjährigen Berufsfachschule Wirtschaft entwickelt. Darüber hinaus sollte beantwortet werden, welchen Einfluss arbeits- und berufsorientierende Lernaufgaben auf die Beförderung der beruflichen Orientierung der Schüler/-innen haben (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: UntersuchungsdesginAbbildung 2: Untersuchungsdesgin

Die Beantwortung der Fragen erforderte eine Langzeitstudie mit Experimental- und Kontrollgruppendesign. So wurden zunächst drei exemplarische arbeits- und berufsorientierende Lernaufgaben konstruiert, die zu verschiedenen Zeitpunkten im Schuljahr bei den drei Klassen der Experimentalgruppe eingesetzt wurden (daher im Folgenden als Lernaufgabengruppe bezeichnet). Diese Lernaufgaben sind ein interaktives konsensorientiertes Spiel zur Förderung beruflicher Handlungskompetenz, in dem z. B. Rollenspiele und auf den Alltag der Jugendlichen abgewandelte Assessment-Center-Übungen in Teamarbeit durchgeführt werden, eine Dilemma-Diskussion zum Stellenbesetzungsprozess und der Entwurf von Szenarien zur Entwicklung der Arbeitswelt.

Die drei Klassen der Kontrollgruppe verblieben im herkömmlichen Unterricht ohne Einsatz der Aufgaben. Insgesamt nahmen an allen drei Zeitpunkten der Erhebung mittels Bilderzeichnen 96 Schüler/-innen teil. „Bildungs-, Lern- und Sozialisationsprozesse werden heute viel stärker als früher durch Bilder beeinflusst.“ (Marotzki/Niesyto 2006, 7). Das Zeichnen eines Bildes stellt einen Vorgang des Erinnerns dar (vgl. Griebel 2008, 108). Die Person gibt ihre eigene Wahrnehmung in Form eines Bildes wider. Das Bild ist somit zentraler Bestandteil der individuellen Wahrnehmung, der Wirklichkeitserfahrung, -repräsentation und -konstruktion (vgl. Marotzki/Niesyto 2006, 7). Die Bilderstellung ist nach Klippert (1991, 62) die wohl kreativste und gleichzeitig aber auch schwierigste Methode zur aspekthaften Skizzierung des Berufswahlprozesses. Sie verfolgt das Ziel, die Schüler/-innen zur aktiven Auseinandersetzung ihrer bisherigen Wahrnehmungen mit der Berufs- und Arbeitswelt zu motivieren und sie zur verstärkten Selbstwahrnehmung anzuregen (vgl. Klippert 1991, 99ff.). Zusätzlich ermöglicht sie den Einbezug der affektiven Ebene neben der kognitiven Ebene, sodass auch Probleme und Ängste Ausdruck finden können.

Um den Stand und die Entwicklung der Arbeits- und Berufsorientierung in den sechs Klassen der Studie zu erheben, wurde aus dem metatheoretischen Modell der beruflichen Orientierung und Entwicklung eine Bildvorlage erstellt, auf der die Schüler/-innen ihre Vorstellungen zu folgenden vier Aussagen/Fragen der beruflichen Orientierung zu Beginn, zur Mitte (nach Einsatz der ersten Lernaufgabe) und zum Ende des Schuljahres (nach Einsatz der zweiten und dritte Lernaufgabe) zeichnerisch darstellen:

  1. „Über berufliche Wege nach der Schule, über Ausbildungsmöglichkeiten und Jobchancen hier in der Umgebung weiß ich: …“ (Wissen um die aktuelle Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation),
  2. „Meine Interessen/Stärken, die ich für eine Arbeit im kaufmännischen Berufsfeld mitbringe, sind:
    Meine Schwächen sind generell: …“ (Selbstkonzept),
  3. „Die Anforderungen an Arbeitnehmer/-innen in kaufmännischen Berufen sind meiner Meinung nach folgende: …“ (Berufskonzept),
  4. „Folgende Personen und/oder Motive haben mich beeinflusst, mich für das kaufmännische Berufsfeld zu entscheiden: …“ (Berufswahl).

Die Bilder wurden zunächst inhaltsanalytisch ausgewertet. Der erste Schritt umfasste die Frage, was auf dem Bild zu sehen ist (vgl. Dann 1992, 3). In einem zweiten Schritt wurde gefragt, was die Motive des Bildes bedeuten (vgl. Kerner/Duroy 1977, 43). Im dritten Schritt wurden diese Interpretationen einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen, deren Ergebnis die Erstellung eines Kategorienschemas, als Deutung des Bildmaterials hinsichtlich der zugrundeliegenden Struktur, ist (vgl. Bortz/Döring 2006, 332).

Zur Überprüfung dieser inhaltsanalytischen Auswertung wurde eine kommunikative Validierung in zwölf Einzelinterviews, durch Konfrontation mit Störfragen und Alternativhypothesen zur expliziten und reflektierten Auseinandersetzung mit den eigenen Erklärungsversuchen, vorgenommen (vgl. Scheele/Groeben 1988, 35ff.). Ergebnis der Interviews waren Konzeptkarten zur Berufswahl, die als Grundlage für sechs separate Gruppendiskussionen mit jeder Klasse der Studie dienten, in denen die Schüler/-innen aus den Konzeptkarten der Bildinterpretationen eine Struktur mit Hilfe des Regelwerks der Heidelberger Struktur-Lege-Technik legten (vgl. Dann 1992, 13). Im Dialog-Konsens-Verfahren wurde abschließend aus der Struktur des Kategorienschemas und der Schüler/-innen-Struktur eine gemeinsame Konsensstruktur erarbeitet.

Die Ergebnisse der Studie werden im Folgenden beschrieben.

4.2 Entwicklung der Arbeits- und Berufsorientierung im Verlauf der einjährigen Berufsfachschule Wirtschaft

Im Rahmen der Untersuchung zeigt sich, dass die Schüler/-innen beider Untersuchungsgruppen bereits zu Beginn des Schuljahres eine eher differenzierte Arbeits- und Berufsorientierung haben, da sie sich bereits im beruflichen Orientierungsprozess befinden und schon in der Realschule mit arbeits- und berufsorientierenden Fragen konfrontiert wurden (vgl. im Folgenden Porath 2013, 199ff.). Auffällig ist, dass die Jugendlichen eine Vielzahl von Berufen aus unterschiedlichen Branchen und Berufsfeldern zeichnen. Sie kennen also mehr als nur die eigenen Wunschberufe. Im Verlaufe des Schuljahres sprechen die Jugendlichen dann weniger Berufe und Beschäftigungsbereiche an, sie scheinen sich stärker zu fokussieren und ihre Berufswahl zu verfestigen.

Hinsichtlich ihrer Stärken betonen die Jugendlichen das Vorhandensein von Arbeitstugenden und Einstellungen als berufsfeldübergreifende Voraussetzungen sowie von fachlichen und sozialen Kompetenzen. Auch in der Wahrnehmung der eigenen Schwächen stehen die Arbeitstugenden und Einstellungen sowie fachliche und soziale Kompetenzen im Vordergrund. Daneben werden aber Defizite in den Methoden-, Abstraktions- und moralisch-ethischen Kompetenzen erkannt. Insgesamt benennt ein Großteil der Schüler/-innen genau die Fähigkeiten als Stärken, die sie zugleich als Schwächen bei sich ausmachen. Dies ändert sich auch im Verlauf des Schuljahres kaum.

Befragt nach dem Berufskonzept identifizieren die Jugendlichen in erster Linie Arbeitstugenden und Einstellungen sowie fachliche und soziale Kompetenzen. Im Vergleich dazu setzen sie sich im Verlauf des Schuljahres etwas weniger mit Tätigkeiten auseinander, die in kaufmännischen Berufen ausgeführt werden. Diese Vorstellungen der Schüler/-innen zum Berufskonzept ändern sich ebenfalls wie die Aussagen zum Selbstkonzept nur geringfügig.

Die Bilder zu den Einflusspersonen auf die Berufswahl beziehen sich vorrangig auf informell-persönliche Einflussfaktoren des sozialen Umfeldes und formell-institutionelle Einflussfaktoren sowie auf die eigene unbeeinflusste Entscheidung. Eher selten werden die eigene Arbeits- und Berufserfahrung oder der Wunsch, Zeit zu überbrücken als ausschlaggebend für die Entscheidung dargestellt. Zu den Einflussmotiven werden Motivatoren, materielle und immaterielle Anreize, kaufmännisches Interesse und die eigene Arbeits- und Berufserfahrung gezeichnet. Besonders auffällig sind die Veränderungen der materiellen und immateriellen Anreize. Zu Beginn der Untersuchung nehmen immaterielle Anreize den größten bzw. zweitgrößten Stellenwert für die Jugendlichen im Entscheidungsprozess ein. Dies kehrt sich bis zum Ende des Schuljahres um, so dass wesentlich häufiger der Wunsch nach einem guten Verdienst und der Befriedigung von Konsumwünschen angegeben wird. Insgesamt lässt sich eine starke Dominanz des kaufmännischen Interesses als Entscheidungsgröße feststellen, die im Laufe des Schuljahres jedoch geringer wird.

4.3 Einfluss konstruktivistischer Lernaufgaben auf die Entwicklung der Arbeits- und Berufsorientierung

Die an die eingesetzten Lernaufgaben geknüpften Veränderungserwartungen im Antwortverhalten der Lernaufgabengruppe konnten nur zum Teil beobachtet werden bzw. trafen teilweise auch in der Kontrollgruppe ein. Somit kann keine eindeutige Aussage getroffen werden, ob die Schüler/-innen nach dem Einsatz der exemplarischen Lernaufgaben eine stärkere Arbeits- und Berufsorientierung haben als die Schüler/-innen der Kontrollgruppe (vgl. im Folgenden Porath 2013, 199ff.).

So gestaltet sich die Entwicklung des Selbstkonzeptes in der Lernaufgabengruppe eher besser. Die berufsfeldübergreifenden Stärken und die außerberuflichen Tätigkeitserfahrungen steigen in der Lernaufgabengruppe, während sie in der Kontrollgruppe sinken. Die Jugendlichen der Lernaufgabengruppe nehmen somit ein breiteres Spektrum an Fähigkeiten und Interessen als Bestandteil ihres Selbstkonzeptes wahr. Zugleich betrachten sie auch ihre Defizite in den Teilkompetenzen der beruflichen Handlungskompetenz differenzierter als die Jugendlichen der Kontrollgruppe und berücksichtigen ein insgesamt breiteres Spektrum an Schwächen. Hinsichtlich ihrer Berufswahlmotive erkennen die Jugendlichen der Lernaufgabengruppe im Verlauf der Untersuchung die gleichzeitige Bedeutsamkeit der materiellen und immateriellen Anreize, des kaufmännischen Interesses und der eigenen Arbeits- und Berufserfahrung. Insbesondere die Wichtigkeit der immateriellen Anreize steigt. Darüber hinaus betonen sie in stärkerem Ausmaß, dass sie trotz oder gerade wegen zahlreicher Motive und Kontakte zu den verschiedenen Interaktionsgruppen ihre Entscheidung selbst getroffen haben. Somit haben sie am Ende des Schuljahres einen differenzierteren Blick auf ihre berufliche Entscheidung als die Kontrollgruppenjugendlichen.

Eine schlechtere Arbeits- und Berufsorientierung als die Kontrollgruppe weisen die Schüler/-innen der Lernaufgabengruppe hinsichtlich der Informationsquellen auf, da sie insgesamt weniger Interaktionspartner/-innen zeichnen. Darüber hinaus sinkt auch die Wahrnehmung von Stärken in der beruflichen Handlungskompetenz in der Lernaufgabengruppe im Jahresverlauf. In der Bedeutung der Kontrollgruppe wachsen diese, dennoch bleibt der Umfang konsequent hinter dem der Lernaufgabengruppe zurück. Den Jugendlichen der Lernaufgabengruppe gelingt es insgesamt eher schlechter, sich ausschließlich auf beruflich relevante Stärken und Interessen im Antwortverhalten zu beschränken. Der aufgrund der Lernaufgaben zu erwartende Anstieg der informell-persönlichen Einflussfaktoren bis zum Ende der Untersuchung zeigt sich in der Lernaufgabengruppe nicht. Darüber hinaus scheint sich bei ihnen das Bewusstsein für die Bedeutung medialer Informationsquellen als fünfte Gruppe der Interaktionspartner/-innen nicht weiter zu entwickeln, so dass sie nur vier der fünf Interaktionspartner/-innen in ihrem Berufsorientierungsprozess kennen oder nutzen. Die Jugendlichen der Kontrollgruppe hingegen verweisen in ihren Bildern auf die Bedeutung aller fünf Interaktionsgruppen. Zusätzlich sind sie sich der Wichtigkeit eigener Arbeits- und Berufserfahrungen stärker bewusst.

Ohne Unterschied zwischen beiden Gruppen zeigen sich die Veränderungen der potentiellen Arbeitgeber. Sowohl in der Lernaufgabengruppe als auch in der Kontrollgruppe zeigt sich ein Anstieg der wahrgenommenen potentiellen Arbeitgeber. In beiden Gruppen werden jedoch weniger wahrgenommene Beschäftigungsbereiche gezeichnet. Im Bereich des Selbstkonzeptes sinkt das kaufmännische Interesse als Entscheidungsgröße für die Berufsfachschule Wirtschaft und spätere kaufmännische Ausbildungsberufe in beiden Untersuchungsgruppen. Mängel hinsichtlich des Interesses für das Berufsfeld und den Beruf benennen zum Ende des Schuljahres beide Gruppen jedoch auch nicht. Darüber hinaus legen die Jugendlichen der Lernaufgaben- und der Kontrollgruppe den Fokus auf ihre Stärken in den Arbeitstugenden und Einstellungen als Aspekt der berufsfeldübergreifenden Voraussetzungen sowie auf fachliche und soziale Kompetenzen als Teilkompetenzen der beruflichen Handlungskompetenz und vernachlässigen weitere Fähigkeiten größtenteils. Dies trifft für beide Gruppen auch in Bezug auf die wahrgenommenen Anforderungen an kaufmännische Arbeitnehmer/-innen zu. Daneben zeigt sich, dass beide Gruppen berufsfeldübergreifende Voraussetzungen, Aspekte des Arbeitsalltags und der beruflichen Handlungskompetenz auch zum Ende des Schuljahres nicht als gleichbedeutend im Berufskonzept wahrnehmen. Zusätzlich sehen sie sich in ihrem Urteil höheren Anforderungen im Bereich der Fremdsprachen und zu verrichtenden Arbeitstätigkeiten ausgesetzt, als dies von Unternehmensseite signalisiert wird. Die identifizierte Stärke des kaufmännischen Interesses nehmen sie auch zum Ende des Schuljahres immer noch nicht zugleich als Anforderung an sie wahr. Beide Gruppen weisen bis zum Ende des Schuljahres eine eher uneinheitliche Entwicklung der formell-institutionellen Einflussfaktoren auf, die zwar im Bereich der Einflussmotive steigen, aber im Bereich der Einflusspersonen sinken.

Von den fünf zu unterscheidenden Wertorientierungen haben sich drei bei den Jugendlichen herausgebildet: die Daseins- und Genussorientierung, die Freizeitorientierung und die berufliche Leistungsorientierung. Auch zum Ende des Schuljahres weisen die Schüler/-innen immer noch eine eher differenzierte berufliche Orientierung auf. Sie befinden sich zwischen dem Beginn der Phase der Verwirklichung und Anpassung und somit zugleich dem Beginn des Stadiums der Exploration bzw. der Versuchswahlen und dem Übergang von den Versuchswahlen zu den realistischen Berufswünschen innerhalb des Stadiums der Exploration. Dies ist möglicherweise eine Erklärung dafür, dass sowohl vom Selbstkonzept als auch vom Berufskonzept den Jugendlichen jeweils nur bestimmte Aspekte bewusst sind, während andere Aspekte, wie die eigenen Neigungen und Interessen, aber auch Verdienst-, Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten in den jeweiligen Berufen ihnen entweder noch unbewusst oder zum Zeitpunkt der Untersuchung zu gering ausgeprägt sind.

5 Fazit

Mit der Ausarbeitung des metatheoretischen Modells der beruflichen Orientierung und Entwicklung in der vorliegenden Arbeit wurde ein Versuch unternommen, die verschiedenen Theorien der Berufsorientierung integrativ zu einem Gesamterklärungsansatz zu vereinen. Das Antwortverhalten der Jugendlichen der durchgeführten Längsschnittstudie bestätigt die Berechtigung des metatheoretischen Modell dargestellten und vereinten Erklärungsansätze, wenn auch nicht gleichermaßen für Lernaufgaben- und Kontrollgruppe. Darauf aufbauend ist nun zu überlegen, wie dieses metatheoretische Modell operationalisiert werden kann, um es einerseits für die Konzeption arbeits- und berufsorientierender Maßnahmen zu nutzen und andererseits für die Messung arbeits- und berufsorientierenden Kompetenzerwerbs zu transferieren.

Der große Anteil der Entwicklungen, die sich sowohl in der Lernaufgabengruppe als auch in der Kontrollgruppe zeigen, ebenso wie die Veränderungen, in denen die Lernaufgabengruppe hinter der Kontrollgruppe zurückbleiben, können möglicherweise durch das verpflichtende Betriebspraktikum zur Mitte des Schuljahres der Berufsfachschule erklärt werden. Die Schüler/-innen sammeln hier betriebliche und berufliche Realerfahrungen, die ihr Antwortverhalten unabhängig vom Einsatz der Lernaufgaben beeinflussen können. Auch der Umfang der Antworten zur eigenen Arbeits- und Berufserfahrung als Einflussgröße der Berufswahl durch die Kontrollgruppenjugendlichen spricht hierfür. Die Bedeutung von eigenen Arbeits- und Berufserfahrungen zur Gewinnung von berufsrelevanten Informationen z. B. durch Praxistage, Betriebspraktika oder Auszubildenden-Patenschaften können z. B. auch Beinke (2005a, 2008b, 2013, 11ff.) und Ahrens (2007, 194) belegen.

Als Vergleich zur Beantwortung der Frage nach einer stärkeren Arbeits- und Berufsorientierung bei den Schüler(inne)n der Lernaufgabengruppe wurden die Jugendlichen der Kontrollgruppe und bestehende Studien zur Berufswahl und –orientierung von Jugendlichen herangezogen. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass es zwar eine Vielzahl an Befragungen von Jugendlichen, Eltern, Lehrkräften und Unternehmen zu den Einflusspersonen und Berufswahlmotiven der Jugendlichen sowie zu den betrieblichen Realerfahrungen in Form von z. B. Praxistagen und Betriebspraktika gibt. Konkrete Bestandteile des Selbstkonzepts und deren Ausprägungen, also die Fähigkeiten, Kenntnisse, Fertigkeiten und Arbeitstugenden der Jugendlichen, sowie die Anforderungen und Strukturen von verschiedenen Berufen und Berufsfeldern werden jedoch eher einseitig von Fachleuten der Wirtschaft, Bildung, Kammern und Verbände betrachtet (vgl. hierzu z. B. Beinke 2006a, 2008a, 2008b; DIHK 2011; Eberhard 2006; Ehrenthal/Eberhard/Ulrich 2005; Ernst 1997; Knauf/Oechsle/Rosowski 2009; Saterdag/Stegmann 1980; von Wensierski/Schützler/Schütt 2005). In einer Studie von Rebmann et al. (2007) wurden darüber hinaus explizit Lehrkräfte zu den Stärken und Schwächen der Jugendlichen und Anforderungen an zukünftige Auszubildende zusätzlich zu Unternehmensvertreter(inne)n befragt. Studien, die sich direkt mit den Stärken und Schwächen der Schüler/-innen im Urteil der Schüler/-innen und somit der Betroffenen der Übergangsproblematik befassen, scheint es nicht zu geben. Diese Forschungslücke greift die vorgestellte Untersuchung auf und befragt Jugendliche neben ihren Berufswünschen und Einflussfaktoren der Berufswahl nach ihren selbst wahrgenommen Stärken und Schwächen und den wahrgenommenen Anforderungen im gewählten Berufsfeld. In diesem Bereich gilt es weiter zu forschen, um Vergleichswerte zu schaffen. Darüber hinaus sind Studien zu Stärken-Schwächen-Profilen aus Sicht der Jugendlichen notwendig, um Differenzen zu den Unternehmenseinschätzungen, wie sie sich in den Ergebnissen dieser Studie abzeichnen, aufzudecken und konkrete Strategien zur Behebung der Differenzen und zur Förderung realistischerer Selbsteinschätzungen zu erarbeiten. So können möglicherweise einerseits Ausbildungsabbrüche aufgrund fehlender oder unzureichender Berufsinformationen und beruflicher Orientierung, die ca. 30 % aller Ausbildungsabbrüche begründen, verringert werden (vgl. BMB 2009, 13). Andererseits eröffnen sich so vielleicht erweiterte Berufswahlalternativen für die Jugendlichen, indem differenzierte Tätigkeiten in bisher unberücksichtigten Berufen wahrgenommen und mit den eigenen Interessen und Fähigkeiten in Einklang gebracht werden. Dies würde zugleich der Forderung nachkommen, angesichts eines aufgrund der demographischen Entwicklungen langfristig zu erwartenden Fachkräftemangels, zumindest in bestimmten, z. T. weniger attraktiven, Branchen und Berufsfeldern, ungenutzte Potenziale von Jugendlichen zu erschließen (vgl. BMBF 2009, 7).

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Berufsorientierung als integraler Bestandteil schulischer Bildung: ein Erfahrungsbericht

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1 Das Projekt MINTecHohenlohe

1.1 Wie es zu dem Projekt kam

Die Innovationsregion realisierte Anfang des neuen Jahrtausends gemeinsam mit der Gewerblichen Schule Künzelsau Umschulungsmaßnahmen für Ungelernte und Hilfsarbeiter, um sie für höhere Tätigkeiten weiter zu qualifizieren. Doch diese Maßnahmen reichten nicht aus, um den Fachkräftebedarf der Region zu decken. Der Fachkräftemangel ist in der ländlichen Region Hohenlohe, im Nordosten Baden-Württembergs, in der einige Weltmarktführer, sog. Hidden Champions, angesiedelt sind, schon länger präsent. Die ansässigen Industriebetriebe können z. T. ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen, qualifizierte Fachkräfte und Akademiker präferieren Industrieregionen wie Stuttgart, München oder Ulm, junge Menschen verlassen die Region, um zu studieren und kehren nicht wieder zurück. So entstand die Idee, den Nachwuchs aus der Region selbst zu rekrutieren und entsprechend auszubilden. Gemeinsam mit weiteren Akteuren aus dem Bildungsbereich einigte man sich darauf, eine Berufsorientierung im MINT-Bereich kontinuierlich über alle Bildungsstufen hinweg ermöglichen zu wollen, um jungen Menschen im Sinne einer umfassenden Berufsorientierung möglichst viele Anlässe zu bieten, Interesse, Kompetenzen und Fähigkeiten im Bereich Naturwissenschaft und Technik zu entwickeln. Selbst wenn ein junger Mensch dann feststellt, dass er keinen Spaß an MINT-Themen hat, so hat diese Form der Berufsorientierung ihr Ziel erreicht. Denn in diesem Fall kann der junge Mensch mit gutem Gewissen MINT-Berufe aus seinem Berufswahlspektrum streichen.

2.2 Die Ausgestaltung des Projekts

So wurde das Projekt MINTecHohenlohe 2007 von der Innovationsregion Kocher & Jagst e.V. initiiert, um Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, sich selbst im Bereich Naturwissenschaft und Technik auszuprobieren und gleichzeitig Einblicke in die Berufs- und Arbeitswelt der Region zu erhalten. Das von der Innovationsregion und ihren Mitgliedsbetrieben finanzierte und durchgeführte Projekt wurde durch die Baden-Württemberg Stiftung über eine Laufzeit von vier Jahren gefördert. Zu Beginn des Projekts wurde unter Federführung der Projektleitung und des Zentrums für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm (ZNL) in Zusammenarbeit mit einem Team von Lehrkräften aus verschiedenen allgemein bildenden Schularten (Grundschule, Haupt- und Realschule, Gymnasium) sowie der Fachschule für Sozialpädagogik ein pädagogischer Leitfaden erstellt. Demzufolge sollten kleine Projekteinheiten entwickelt werden, die Kindern und Jugendlichen einen forschenden und entdeckenden bzw. handlungsorientierten Zugang zu Naturwissenschaft und Technik ermöglichen. Diese Projekteinheiten wurden für alle Bildungsbereiche entwickelt, beginnend beim Kindergarten, über die Grundschule bis zur Sekundarstufe II. Die Akteure waren sich darin einig, dass eine nachhaltige Interessenentwicklung Zeit braucht und es für Kinder und Jugendliche immer wieder möglich sein muss, sich handelnd mit den unterschiedlichsten Themen auseinanderzusetzen, damit sich ein Interesse überhaupt entwickeln kann, das am Ende der Schulzeit in eine bewusste Berufswahlentscheidung mündet.

Nachfolgend werden die dem Projekt zugrunde liegenden bildungstheoretischen Hintergründe dargestellt sowie die konkrete Umsetzung des Projekts in die Praxis.

2 Maßnahmen gegen fehlende Berufsorientierung

Das Thema „Berufsorientierung“ gewinnt für Jugendliche und ihre Eltern allgemein erst dann an Bedeutung, wenn der Schulabschluss in greifbare Nähe gerückt und eine Entscheidung über den weiteren Lebensweg dringlich geworden ist. Wer die üblichen Bewerbungsfristen nicht einhält, kommt im laufenden Ausbildungsjahrgang nicht mehr zum Zuge, oft bleibt nur das Arbeiten in gering bezahlten Gelegenheitsjobs mit der Hoffnung auf eine Ausbildungsstelle im nächsten Jahr oder aber die Entscheidung für eine Ausbildung, die nicht wirklich den eigenen Fähigkeiten und Interessen entspricht. Gleiches gilt für Gymnasiasten, die die Entscheidung für ein Studienfach treffen müssen. Wenn sich angehende Abiturienten erst am Ende der Kursstufe mit ihrer beruflichen Zukunft auseinandersetzen, ist die Gefahr, ein Studienfach zu wählen, das nicht zum persönlichen Kompetenz- und Interessensprofil passt, relativ hoch. In den vergangenen Jahren wurde eine Vielzahl „neuer“ Studiengänge geschaffen, deren Bezeichnung nichts anderes darstellt als alter Wein in neuen Schläuchen. So handelt es sich beispielsweise beim Studiengang „Energieökologie und -management“ an der Reinhold-Würth-Hochschule in Künzelsau um ein Studium der Elektrotechnik, das um Aspekte der Energieeffizienz erweitert wurde. Wer sich als angehender Studierender nicht ausgiebig mit den Studieninhalten auseinandersetzt, sondern sich von der interessant klingenden Bezeichnung leiten lässt, muss die Gefahr des Scheiterns einplanen.

Wie die aktuelle DIHK-Ausbildungsumfrage ergab, ist die mangelnde Ausbildungsreife heutiger Schulabgänger der Grund dafür, dass viele freie Lehrstellen nicht besetzt werden können (Deutsche Industrie- und Handelskammer 2014). Hinzu kommt die fehlende Berufsorientierung vieler Schulabgänger – als Lösung bieten die befragten Unternehmen nun zunehmend Praktika an, um den Schülerinnen und Schülern eine frühzeitige Berufsorientierung zu ermöglichen. Die befragten Betriebe sind sich alle einig: unklare Berufsvorstellungen wirken sich inzwischen zunehmend als Ausbildungshemmnis aus (Deutsche Industrie- und Handelskammer 2014, 22). Deshalb wurde im Projekt MINTecHohenlohe der Fokus auf eine praxisbezogene Berufsorientierung in der Schule gelegt, wohl wissend, dass Schülerinnen und Schüler möglichst viele Primärerfahrungen benötigen, um ihre Neigungen, Interessen und Fähigkeiten ausloten zu können.

2.1 Berufsorientierung in der Schule

Es gibt Schulen, die das Thema Berufsorientierung wichtig nehmen und ihren Schülerinnen und Schülern vielfältigste Möglichkeiten bieten, sich selbst auszuprobieren und die eigenen Fähigkeiten zu entdecken. Doch wie die Erfahrung zeigt, sieht die Praxis in den Schulen vor Ort oft ganz anders aus, obwohl in den Bildungsplänen allgemein bildender Schulen die Berufsorientierung explizit erwähnt wird. Besonders in den Gymnasien besteht im Hinblick auf die Studien- und Berufsorientierung Nachholbedarf (Rademacker 2012; Lenz 2014). In Hessen wurde deshalb eine Strategie entwickelt, um die lokale Vermittlungsarbeit im Übergang Schule –Beruf zu optimieren (Lenz 2014). Im Rahmen dieser Strategie wurden zentrale Handlungsfelder identifiziert, mit deren Hilfe Jugendliche frühzeitig zur Auseinandersetzung mit der Berufs- und Studienorientierung angeregt, die Selbsterkundung der Jugendlichen gefördert, die Elternarbeit ausgebaut und die Berufs- und Studienorientierung stärker in den Unterricht integriert werden sollen. An Gymnasien der Region Hohenlohe gibt es bislang solche Ansätze nicht. Meist werden lediglich in der Kursstufe eintägige Exkursionen zu den Studieninformationstagen angeboten, an denen die Schülerinnen und Schüler zur nächstgelegenen Hochschule fahren und sich dort über das Studienangebot informieren. Andere, wenn auch nur vereinzelt, genutzte Möglichkeiten bestehen darin, dass Hochschulprofessoren an die Schule kommen und dort über den Studiengang berichten, in dem sie selbst tätig sind. Vor einigen Jahren wurde in der Region Hohenlohe zwar die jährlich durchgeführte eintägige Informationsveranstaltung „Berufe live4you“ etabliert, um Jugendlichen Informationen zu verschiedensten Berufen aus erster Hand zu liefern. Doch wie Helen Knauf in einer anderen Studie feststellte, betrachten nur Schülerinnen und Schüler, die bereits erste Pläne haben, informationsorientierte Angebote als eine echte Hilfe (Knauf 2005). Schülerinnen und Schüler, die jedoch noch orientierungslos sind, fühlen sich durch informationsorientierte Angebote nicht angesprochen. Für diese sind andere Angebote erforderlich.

An Gymnasien ist ein einwöchiges Betriebspraktikum (Bogy-Praktikum in Baden-Württemberg: Bogy = Berufsorientierung am Gymnasium) in Klassenstufe 9-11 obligatorisch, in dem die Schülerinnen und Schüler in einen Betrieb hineinschnuppern. Mehr Angebote zur Berufsorientierung gibt es meist nicht, und, wie Michael Schuhen in seiner Veröffentlichung schreibt, reicht die Berufswahlorientierung an Gymnasien nicht aus, um Schülerinnen und Schülern die Frage zu beantworten, welche Berufe und die damit verbundenen Anforderungen zu ihren Fähigkeiten und Interessen passen (Schuhen 2009). Die mit einem Betriebspraktikum verbundenen Chancen und Möglichkeiten bleiben häufig ungenutzt, weil eine didaktische Einbindung in ein umfassendes Berufsorientierungskonzept fehlt, bzw. bei den Lehrkräften kein Bewusstsein für die Bedeutsamkeit einer schulbegleitenden Berufsorientierung vorhanden ist (Butz 2006). Häufig fühlen sich nur einzelne Lehrkräfte einer Schule für die schulische Berufsorientierung verantwortlich, mit der Folge, „dass Schülerinnen und Schüler die angebotenen berufsorientierenden Maßnahmen als undifferenzierte „Einzelaktionen“ betrachten, dadurch keinen substanziellen Lebensweltbezug herstellen und schließlich einen Ertrag der schulischen Berufsorientierung für sich kaum feststellen können“ (Dreer 2013, 337).

Obwohl die Kultusministerkonferenz bereits 1993 die Hinführung zur Berufs- und Arbeitswelt für die Sekundarstufe I verbindlich festgelegt hat, fehlt die curriculare Einbindung in die einzelnen Unterrichtsfächer und insbesondere ein eigenständiges Fach „Berufsorientierung“ (Schuhen 2009, 5). Im Zusammenhang mit der in vielen Bundesländern üblichen früheren Einschulung und der Verkürzung der Schulzeit durch das 8-jährige Gymnasium fällt die Phase der Berufsorientierung außerdem in eine Zeit, in der die Gymnasiasten aus entwicklungspsychologischer Sicht stark mit sich selbst beschäftigt und Fragen der beruflichen und persönlichen Zukunftsgestaltung in weite Ferne gerückt sind. Somit wird dem Thema Berufsorientierung nicht die Bedeutung beigemessen, die es für eine erfolgreiche Zukunfts- und Lebensplanung eigentlich haben sollte.

Die Ergebnisse der von Knauf und Rosowski durchgeführten Längsschnittstudie zur Tragfähigkeit der Studien- und Berufswahl von Abiturienten weisen darauf hin, dass „die frühzeitige Herausbildung konkreter Pläne eine wichtige Voraussetzung für einen kontinuierlichen biografischen Verlauf nach dem Abitur bildet, während umgekehrt noch sehr vage Pläne kurz vor dem Abitur die Wahrscheinlichkeit eines diskontinuierlichen biografischen Verlaufs nach dem Abitur erhöhen“ (Knauf/Rosowski 2009, 298).

An der Gewerblichen Schule Künzelsau fiel in den Vollzeitschularten (Technisches Berufskolleg, Zweijährige Berufsfachschule…) auf, dass viele Schülerinnen und Schüler auch gegen Ende ihrer Schulzeit keine konkrete Vorstellung darüber haben, welchen Beruf sie ergreifen möchten. Daneben gibt es selbst in der Berufsschule Jugendliche, die sich nicht wirklich bewusst für ihren Ausbildungsberuf entschieden haben. Sie haben die Ausbildung gewählt, weil sie den Ausbildungsplatz über Beziehungen erhalten haben. Eine hausinterne Befragung der Schülerinnen und Schüler zeigte, dass nur wenige ihren Berufswahlprozess bewusst durchlaufen haben. Häufig treffen die jungen Menschen ihre Berufswahl auf Basis des einzigen Berufspraktikums, das in jeder Schulart obligatorisch zu absolvieren ist. Damit engen sie ihr Berufswahlspektrum jedoch von vorneherein ein. Nur wenige Schüler absolvieren zusätzlich freiwillige Praktika, um in andere Bereiche hinein zu schnuppern.

Unter Berücksichtigung dieser Erfahrungen und Erkenntnisse wurde deutlich, dass das Thema Berufsorientierung in den Schulen der Region nicht den Stellenwert hat, den es eigentlich haben sollte, um allen Jugendlichen eine umfassende Berufsorientierung zu ermöglichen. Hier bestand also ein großer Handlungsbedarf. Als logische Konsequenz entstand die Idee, durch konkrete handlungsorientierte, an den jeweiligen Bildungsplänen der MINT-Fächer orientierte Projekte, die im Rahmen des Unterrichts durchgeführt werden, die Vielfalt unterschiedlichster Berufsbereiche aufzuzeigen. Von ihrer Wirkung her sind diese Projekte entsprechenden Berufspraktika gleichzusetzen, denn bei der Planung und Konzeption der Projekte wurde durchgängig darauf geachtet, dass die Schülerinnen und Schüler erkennen, wofür sie das in der Schule erworbene Wissen brauchen, also wie es in der betrieblichen Praxis zur Anwendung kommt. Dies wurde dadurch ermöglicht, dass sowohl Ausbilder als auch Auszubildende bei der Planung und Konzeption der einzelnen Projekte beteiligt waren. Damit wurde indirekt das Lernfeldkonzept der Berufsausbildung curricular in die Sekundarstufe eingebunden. Die Aufgabenstellung eines Projektes erforderte seitens der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler, dass sie sich nicht nur mit den theoretischen Grundlagen des Projektthemas auseinandersetzen mussten, sondern auch mit der anwendungsbezogenen/technischen Nutzung physikalischer, chemischer oder biologischer Phänomene. Seitens der Lehrkräfte wurden dabei keine Vorgaben zur Vorgehensweise gemacht, die Schülerinnen und Schüler erarbeiteten sich das für die Realisierung des Projekts erforderliche Wissen selbständig auf forschend-entdeckende Weise.

2.2 Die Rolle der Lehrer im Prozess der Berufsorientierung

Im Bildungsplan für die Realschulen in Baden-Württemberg heißt es: „Als Thema der Schulgemeinschaft weist jedes Fach und jeder Fächerverbund an geeigneten Stellen auf berufsorientierende Aspekte hin und schafft praktische Bezüge zur Arbeitswelt….Die Lehrkräfte sind regelmäßig im Dialog mit außerschulischen Experten aus Betrieben, Behörden und den auf der Realschule aufbauenden Schulen“ (Ministerium für Kultus Jugend und Sport Baden-Württemberg Bildungsplan 2004 Realschule, 184). Die Vorgaben im Bildungsplan setzen allerdings voraus, dass Lehrer Kontakte zur Berufswelt aufbauen und pflegen können, um sie im Rahmen der Berufsorientierung für ihre Schülerinnen und Schüler zu nutzen. Wie es sich vor Ort in der konkreten Praxis des Projekts MINTecHohenlohe jedoch herausgestellt hat, ist dem häufig nicht so. Ein Mensch, der einst als Kind und Jugendlicher die Schule besucht, anschließend an einer Hochschule sein Lehramtsstudium absolviert hat und dann als Lehrkraft in die Schule zurückgekehrt ist, tut sich in der Regel mit dem Kontext „betriebliche Lebenswelt“ schwer. Aufgrund dessen bestand ein weiteres Ziel des Projekts MINTecHohenlohe darin, interessierte Lehrerinnen und Lehrer in die Projektarbeit aktiv einzubinden und sie beim Aufbau von Kontakten zu Betrieben der Region zu unterstützen. Dazu wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, in der sich die Lehrkräfte in regelmäßen Treffen untereinander austauschen konnten. Parallel dazu etablierte sich eine Arbeitsgruppe aus Ausbildern und Personalverantwortlichen, die ihrerseits im Rahmen ihrer Treffen Möglichkeiten erarbeiteten, um Lehrkräften entsprechende Kooperationsangebote unterbreiten zu können.

2.3 Berufsorientierung im Elternhaus

Allgemein könnte man denken, das Thema Berufsorientierung habe im Elternhaus einen höheren Stellenwert als in der Schule. Wie aktuelle Tendenzen zeigen, streben die meisten Eltern für ihre Kinder einen höheren Schulabschluss an. In Baden-Württemberg kommen deshalb an Hauptschulen keine Eingangsklassen mehr zustande, besonders im ländlichen Raum wurden bereits einige Hauptschulen geschlossen. Demnach haben Eltern wohl ein primäres Interesse daran, ihre Kinder in eine berufliche Zukunft zu entlassen, die ihnen ein erfolgreiches und zufriedenstellendes Berufs- und Arbeitsleben ermöglicht. Schließt man daraus, Eltern könnten die Fähigkeiten und Stärken ihrer Kinder gut einschätzen und diese mit den konkreten Anforderungen verschiedenster Ausbildungsberufe abgleichen, um eine möglichst große Passung herzustellen, so sieht die Realität leider anders aus. Ein an der Gewerblichen Schule Künzelsau regelmäßig zu Beginn eines Schuljahres durchgeführter Elternsprechtag für die Eltern neu beschulter Berufsfachschüler ermöglichte tiefergehende Einblicke in innerfamiliäre Denkstrukturen. Auf die Frage, welche Stärken und Schwächen ihr Sohn oder ihre Tochter habe, konnten alle Eltern sofort sämtliche Schwächen und Defizite ihres Kindes beschreiben. Die Stärken ihres Kindes jedoch waren ihnen nicht bewusst, eine mögliche berufliche Zukunft ihres Sohnes bzw. ihrer Tochter häufig noch gar nicht präsent. Das Wichtigste war jeweils, erst einmal einen höheren Schulabschluss zu schaffen, dann würde man weitersehen. Wie genau Eltern die Berufsorientierung ihrer Kinder beeinflussen, ist noch nicht ausreichend erforscht worden (Maschetzke 2009). Klar jedoch ist, dass die Komplexität des elterlichen Einflusses auf einem Doppelcharakter beruht, „zum einen nehmen sie durch ihre Erwartungshaltungen oder durch konkrete Ratschläge direkten Einfluss auf die Berufsfindung. Zum anderen wirken sie indirekt durch ihre eigene Berufstätigkeit als positives oder negatives Vorbild auf den Berufswahlprozess ein“ (Kleffner et al. 1996, 14; zit. n. Maschetzke 2009, 182). In der täglichen Berufsschulpraxis erlebt man häufig Jugendliche, die einen Ausbildungsberuf erlernen, weil die Eltern wollten, dass sie einmal den elterlichen Betrieb übernehmen oder Jugendliche, die ihren Ausbildungsplatz durch elterliche Kontakte erhalten haben, und deren Fähigkeiten in beiden Fällen keinerlei Passung zum Anforderungsprofil des Ausbildungsberufes aufwiesen. In diesen Fällen ist es in der Regel absehbar, dass die Jugendlichen sich während der Ausbildung äußerst schwer tun und die Ausbildung nur mit allergrößten Mühen und Anstrengungen abschließen, wenn sie nicht schon vorher scheitern. Dies deckt sich mit der „elterlichen Nötigung“, die Dimbath (Dimbath 2003, 245) im Rahmen der überarbeiteten Fassung seiner Dissertation beschreibt. Auf eine solche Weise kann der individuellen Persönlichkeit eines Jugendlichen keine Rechnung getragen werden. Damit Eltern in der Lage sind, ihre Kinder auf dem Wege der Berufsorientierung optimal zu begleiten und zu unterstützen, müssen auch sie sich mit den stetig wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Arbeit sowie aktuellen Trends in Wirtschaft, Industrie und Gesellschaft auseinandersetzen. Wichtig ist dabei der Blick über den Tellerrand, denn in Anbetracht der großen Zahl an möglichen Ausbildungsberufen und Studiengängen bietet sich für jeden Jugendlichen die Möglichkeit eines passgenauen Abgleichs zwischen seinen persönlichen Interessen bzw. Fähigkeiten und den Anforderungen des Ausbildungsberufes bzw. des Studiengangs. Die Jugendlichen bei diesem Abgleich objektiv und unvoreingenommen zu begleiten, ist die beste Unterstützung, die Eltern ihren Kindern angedeihen lassen können. Damit nehmen Eltern die Verantwortung wahr, „die sie als wichtigster Sozialisator im Prozess der beruflichen und vorberuflichen Sozialisation“ innehaben (Beinke o.J., 69). Denn „die Schule allein mit ihrem klassischen Unterricht kann die ihr angedachte Rolle als Hilfe zur Erfassung der Bedingungen in der Berufs- und Arbeitswelt nicht behaupten“ (Beinke o.J., 70). So wurden im Rahmen von MINTecHohenlohe in den beteiligten Industriebetrieben während der gesamten Projektlaufzeit immer wieder Informationsveranstaltungen durchgeführt, mit dem Ziel, Eltern ebenfalls Einblicke in verschiedenste Berufsfelder zu ermöglichen. Dadurch konnten sie im Zuge ihrer Beratungsfunktion weitere Berufe in Betracht ziehen, die bisher nicht in ihrem Fokus lagen. Des Weiteren wurden Elternabende in den teilnehmenden Schulen angeboten, um sie über die Hintergründe des Projekts zu informieren und den Berufsorientierungsprozess in den Vordergrund zu rücken.

2.4 Berufsorientierung innerhalb der Peergroup

Die Peergroup, der der einzelne Jugendliche angehört, hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Berufsorientierung des Einzelnen. So „sind Einschätzungen des Arbeitsmarktes und der Berufswelt der Gleichaltrigen von Modeströmungen und zeitgeistigen Rollenbildern geprägt“ (Meisel 2007, 4). Nicht selten treffen Jugendliche ihre Berufswahl aufgrund des intensiven Wunsches, mit der besten Freundin bzw. dem besten Freund gemeinsam eine Ausbildung zu absolvieren, unabhängig von den eigenen persönlichen Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Der dieser Entscheidung zugrunde liegende Gedanke, durch die starke soziale Bindung zum Freund/zur Freundin und den daraus resultierenden sozialen und emotionalen Halt die vermeintlich schwer zu bewältigende Ausbildung erfolgreich abschließen zu können, ist nachvollziehbar, besonders vor dem Hintergrund der häufig bei Jugendlichen anzutreffenden Unsicherheit beim Eintritt ins Berufs- und Erwerbsleben. Wie es sich in der Praxis dann zeigt, erweist sich eine solche Entscheidung als Fehlentscheidung, die nur unter großem Aufwand und durch persönliche innere Wachstums- und Reifungsprozesse zu korrigieren ist. Die einzelnen Individuen der Peergroup befinden sich in der Regel alle in derselben persönlichen Situation, die sich im Hinblick auf eine tiefergehende Berufsorientierung als unzureichend herausstellt. Die Entwicklung eigener Interessen und eines stabilen Bewusstseins für die eigenen Fähigkeiten und Stärken bilden die Grundlage für von der Peergroup unabhängige Entscheidungen, so dass der Interessen- und Persönlichkeitsentwicklung innerhalb der Schule mehr Bedeutung beigemessen werden muss. Das Angebot, am Projekt MINTecHohenlohe teilnehmen zu können, richtete sich jeweils an alle Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs. So war nicht nur die Möglichkeit gegeben, dass Jugendliche mit ihren Freunden daran teilnehmen können, sondern dass sie sich innerhalb ihrer Peergroup auch über ihre Erfahrungen austauschen.

2.5 Einflüsse der Medien

Medien sind durch ihre alltägliche Präsenz aus dem Alltag der heutigen Jugend nicht mehr wegzudenken. Im Fernsehen beispielsweise sind bestimmte Berufe häufig vertreten, wie Kinderärztin, Krankenschwester, Anwältin oder Richter, während andere Berufe, wie Elektroniker, Programmierer oder Werkzeugmechaniker, so gut wie gar nicht vorkommen. Der Einfluss der Medien auf die Berufsorientierung darf nicht unterschätzt werden, weil sie durch ihre einseitige Darstellung geschlechtsspezifische Vorstellungen manifestieren. Um diesem entgegenzusteuern, hat sich die MINTiFF-Initiative unter anderem das Ziel gesetzt, das Potenzial von Fernsehfilmen und -serien für die Popularisierung von MINT-Berufen zu erkunden. Die Untersuchung zur Sozialisations- und Bildungswirksamkeit von TV-Spielfilmen und -Serien ergab, dass nicht nur das traditionelle Bild von MINT-Berufen als Männerdomäne, sondern auch traditionelle Vorstellungen der Geschlechterrollen nach wie vor eine hohe Wirkung erzielen (Esch 2011). Im Gegensatz zum deutschen Fernsehen weisen viele US-Formate einen hohen MINT-Bildungsgehalt auf. So wurde in den USA durch die Serie CSI: Vegas ein Run auf die entsprechenden Studiengänge und Berufe ausgelöst (Esch 2014). In Deutschland wird das Potenzial der Medien für eine Berufsorientierung außerhalb des Mainstreams leider nicht genutzt, erste zaghafte Ansätze sind jedoch erkennbar. So wirbt beispielsweise ein Unternehmen der Region Hohenlohe in regionalen Kinos anhand eines Werbespots mit jugendlichen Hauptdarstellern um Auszubildende für technische Berufe. Inzwischen werden soziale Medien und Netzwerke wie Facebook zunehmend von Unternehmen für die Werbung um Auszubildende genutzt. Im Bewusstsein dessen wurde das Projekt MINTecHohenlohe medial begleitet. Es gab eine eigene Homepage, Radio- und Fernsehberichte sowie Reportagen in der regionalen Presse. Dadurch konnte der Bekanntheitsgrad des Projektes enorm gesteigert werden.

3 Ansätze zur Verbesserung der Berufsorientierung

3.1 Entwicklung von Interessen und eines Fähigkeitsselbstkonzeptes als Stabilisierungsfaktor bei der Berufsorientierung

Wie Mechthild Oechsle feststellt, erleichtern ausgeprägte Interessenprofile, besondere Fähigkeiten und Talente den Berufsorientierungsprozess offensichtlich und vermitteln Sicherheit über die einzuschlagende Richtung (Oechsle 2009, 127). Wie aber entwickeln sich Interessen?

Nach Krapp besteht das Konstrukt „Interesse“ aus zwei verschiedenen Komponenten. Das situationale Interesse ist ein einmaliger und situationsspezifischer Zustand, der durch besondere Anreize einer konkreten Situation hervorgerufen wird. Im Gegensatz dazu ist das individuelle Interesse ein dispositionales Merkmal eines Menschen, wobei davon ausgegangen wird, dass das individuelle Interesse langfristig Bestand hat und in unterschiedlichsten Situationen zum Ausdruck kommt (Krapp 1992, zitiert nach Daniels 2008, 17). „Ist das individuelle Interesse gering oder die Person gerade erst im Begriff, ein individuelles Interesse zu entwickeln, ist die Qualität der äußeren Anregung besonders wichtig. Sie kann die Person dazu veranlassen, ihre Aufmerksamkeit auf den Gegenstand zu richten und sich in der Folge über längere Zeit mit ihm zu beschäftigen“ (Hidi et al. 2004, zit. n. Daniels 2008, 18). Umgekehrt sind die situativen Rahmenbedingungen nicht mehr von so großer Bedeutung, wenn eine Person bereits ein starkes individuelles Interesse entwickelt hat. Für die Interessenentwicklung von Kindern und Jugendlichen bedeutet dies – wenn man davon ausgeht, dass für den Unterrichtsgegenstand bislang noch kein individuelles Interesse vorhanden ist – dass die Lehrkraft auf die situationalen Rahmenbedingungen ein besonderes Augenmerk haben muss. Die von Hidi und Renninger beschriebenen vier Phasen der Interessenentwicklung spiegeln demzufolge die Anforderungen an die Lehrkraft wider. In der ersten Phase der Interessenentwicklung wird das situationale Interesse hervorgerufen, in der zweiten Phase das situationale Interesse aufrecht erhalten, in der dritten beginnt das individuelle Interesse und in der vierten ist das individuelle Interesse gut entwickelt (Hidi/Renninger 2006, zit. n. Daniels 2008, 19).

Abbildung 1: Phasen der InteressenentwicklungAbbildung 1: Phasen der Interessenentwicklung

Dieses Phasenmodell stellt für die unterrichtende Lehrkraft eine besondere Herausforderung dar, denn nicht jeder Schüler bringt dasselbe Vorwissen und ein möglicherweise schon vorhandenes Interesse mit, außerdem befindet sich nicht jeder Schüler in derselben Phase der Interessenentwicklung.

Für eine fundierte Berufsorientierung und -wahlentscheidung, die auf personalen Interessen beruht, muss demzufolge allen Phasen der Interessenentwicklung eine höhere Bedeutung beigemessen werden. Damit die für eine nachhaltige Interessenentwicklung erforderliche Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler über längere Zeit aufrecht erhalten werden kann, sollte die Lehrkraft nicht nur Wert auf einen entsprechenden Unterrichtseinstieg legen (um das situationale Interesse zu wecken), sondern sich im Rahmen der didaktischen Analyse überlegen, welche Methoden, Unterrichtsformen und Medien dafür geeignet sind. Erfahrungsgemäß kann sich aus länger aufrecht erhaltenem situationalem Interesse mit der Zeit ein individuelles Interesse entwickeln. „Sind die Erfahrungen einer Person bei der Beschäftigung mit einem Gegenstandsbereich häufig positiv, ist sie eher bereit, sich auch in Zukunft mit diesem zu beschäftigen und entwickelt so mit der Zeit bestimmte Vorlieben für diesen Handlungs- und Wissensbereich“ (Daniels 2008, 21).

Die Entwicklung von Interessen ist für Jugendliche deshalb so wichtig, weil – wie bereits empirisch belegt – ein enger Zusammenhang zwischen den Interessen und dem Selbstkonzept eines Menschen besteht. Dieser Zusammenhang führt sogar so weit, dass „das Kurswahlverhalten der Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe entscheidend durch Selbstkonzepte und Interessen beeinflusst wird“ (Köller et al. 2006, 3). Die Kurswahl in der Oberstufe wirkt sich ihrerseits auf die Berufs- und Studienwahl aus, und damit ergibt sich eine Kausalkette zwischen Interesse, Selbstkonzept und Berufswahl. Eine Studie von CHE und EINSTIEG belegt den Zusammenhang zwischen der Wahl des Studienfaches und der Kurswahl von Abiturienten/innen (Hachmeister et al. 2007, 17).

3.2 Interessengeleitete Berufsorientierung

Hat ein Jugendlicher während seiner Schullaufbahn immer wieder die Möglichkeit gehabt, stabile Interessen zu entwickeln, so ist damit die beste Voraussetzung für eine optimale Berufswahl gegeben. Interesse und Motivation stehen in einem engen Zusammenhang, und wer mehr interessiert und deshalb entsprechend motiviert ist, leistet mehr und hat dadurch mehr Erfolg. Erfolg im Beruf ist seinerseits die Voraussetzung für beruflichen Aufstieg und persönliche Weiterentwicklung. Selbst wenn die personalen Fähigkeiten eines Menschen den an ihn gestellten Anforderungen (noch) nicht ganz entsprechen, so führt in der Regel eine motivational bedingte langfristige Ausdauer, gepaart mit einer gewissen Anstrengungsbereitschaft, zum Ansteigen der personalen Fähigkeiten – wenn die Anforderungen gerade so hoch sind, dass die Person diese mit einem zu bewältigendem Maß an Anstrengung auch erreichen kann.

Die Bedeutsamkeit der Interessen für eine erfolgreiche Berufsorientierung und Berufswahlentscheidung darf allerdings nicht dazu verführen, die für einen bestimmten Beruf erforderlichen Fähigkeiten außer Acht zu lassen. Werden allein die Interessen bei der Berufswahl berücksichtigt, so kann dies leicht in eine Fehlentscheidung münden. Wenn sich eine Abiturientin sehr für Medizin interessiert, andererseits aber kein Blut riechen kann, ist sie für den Beruf der Medizinerin ungeeignet. So muss neben der Berücksichtigung der Interessen eines Jugendlichen ein Abgleich der zukünftigen beruflichen Anforderungen mit seinen Fähigkeiten erfolgen.

3.3 Entwicklung eines Fähigkeitsselbstkonzepts durch Handlungsorientierung

Eine gute schulische Berufsorientierung erfolgt durch

  • eine fächerübergreifende Einbindung berufsorientierender Maßnahmen über die gesamte Schulzeit hinweg
  • die Schaffung von Möglichkeiten für die Schülerinnen und Schüler, eigene Stärken zu entdecken und ihr Entwicklungspotenzial auszuschöpfen
  • Vermittlung der Kompetenz, sich selbst und die eigenen Fähigkeiten objektiv einzuschätzen
  • Lernanlässe, die eigenständiges und zielgerichtetes Lernen ermöglichen, um damit die Grundlage für lebenslanges Lernen zu schaffen
  • Herstellung klarer Bezüge des Lernstoffs zu Inhalten und Aspekten der Arbeits- und Berufswelt
  • Interesse weckende und aufrechterhaltende Unterrichtsgestaltung mit dem Ziel der Entwicklung stabiler (Fähigkeits-) Selbstkonzepte

Um eigene Stärken und Schwächen kennenzulernen und Interessen zu entwickeln, braucht es dazu geeignete Lernanlässe.

In diesem Sinne wurde im Projekt MINTecHohenlohe der Schwerpunkt auf die Handlungsorientierung gelegt, und zwar über alle Bildungsbereiche hinweg, vom Kindergarten bis zum Ende der Sekundarstufe II. Dabei ging es unter anderem darum, konkretes berufliches Handeln kennenzulernen und praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, wie z. B. in der Blechbearbeitung. Die Projekte thematisierten in den jeweiligen Curricula vorhandene Bildungsinhalte mit dem Ziel, sie in Relation zur Berufswelt zu setzen. Besonders hilfreich war in diesem Zusammenhang die Kooperation mit Industriebetrieben, so dass die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen erste Einblicke in die Berufswelt gewinnen konnten. Je älter die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren, umso stärker wurde seitens der Projektverantwortlichen die Berufsorientierung in das Projekt integriert.

3.3.1 MINTecHohenlohe im vorschulischen Bereich

An der Fachschule für Sozialpädagogik in Öhringen wurde zunächst eine Fortbildung für Erzieherinnen im MINT-Bereich etabliert, um die Erzieherinnen zu eigenem Handeln im MINT-Bereich zu befähigen. Lehrkräfte der Fachschule für Sozialpädagogik realisierten – basierend auf den Inhalten der MINT-Fortbildung – mit Erzieherinnen der am Projekt MINTecHohenlohe beteiligten Kindergärten MINTecProjekte, in denen sich Kinder forschend und entdeckend mit den unterschiedlichsten, für sie interessanten naturwissenschaftlich-technischen Themen projekthaft auseinandersetzen können. Bezüge zur Arbeitswelt werden durch Besichtigungen von Betrieben und Institutionen hergestellt. Die Kinder besuchten beispielsweise den Bauhof, konnten im Räumfahrzeug mitfahren, halfen bei der Reparatur von defekten Möbeln. Bei der Feuerwehr erhielten sie Einblicke in die Tätigkeit der Feuerwehrleute, in Betrieben lernten sie die verschiedensten Tätigkeitsfelder (Produktion, Lager,…) auf kindgerechte Weise kennen.

Nun könnten Kritiker meinen, es sei völlig überzogen, bereits Kindergartenkinder mit Naturwissenschaften und Technik zu konfrontieren, nur damit die Betriebe irgendwann einmal genügend Fachkräfte haben. Diesem Argument lässt sich Folgendes entgegensetzen: Eine Gesellschaft ohne Wirtschaft ist nicht überlebensfähig, und anders herum ist eine Wirtschaft ohne Fachkräfte nicht überlebensfähig. Sowohl Wirtschaft als auch Gesellschaft sind Bestandteile des gesellschaftlichen Gesamtsystems und stehen in Wechselwirkung miteinander. Kinder und Jugendliche wachsen nicht in einem wirtschaftsfreien Raum auf, im Gegenteil, sie sollten durch eine umfassende Bildung auf eine entsprechende gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe vorbereitet werden. Es versteht sich von selbst, dass die am Projekt MINTecHohenlohe beteiligten Firmen keine unlauteren und vereinnahmenden Methoden anwenden, um Jugendliche für sich einzunehmen. Dies wird unter anderem durch eine enge Zusammenarbeit mit Bildungsträgern, Bildungseinrichtungen, Schulamt und Kultusministerium sichergestellt.

3.3.2 Einbindung von Auszubildenden als Lernpartner

An MINTecProjekten, die in Kooperation mit Industriebetrieben durchgeführt wurden, waren stets Auszubildende als Lernpartner beteiligt, die Lehrkräfte und Erzieherinnen bei der Umsetzung dieser Projekte unterstützten. Auf ihre Aufgabe als Lernpartner wurden die Auszubildenden umfassend vorbereitet. Dazu erhielten sie eine Schulung zu folgenden Themen:

  • Aufgaben als Lernpartner
  • Gruppenprozesse
  • Entwicklungspsychologie
  • Erste Hilfe bei Kindern und Jugendlichen

Daneben waren Auszubildende an der Entwicklung von MINTecProjekten beteiligt, deren Inhalte gemeinsam mit Lehrkräften und Erzieherinnen festgelegt wurden und sowohl dem Bildungsplan als auch der Lebenswelt der Kinder/Jugendlichen entlehnt sind. Der Vorteil daran ist, dass bei den jungen Auszubildenden die eigene Kindheit noch nicht zu lange zurück liegt, und sie daher viel eher nachvollziehen können, welche Themen für Kinder bzw. Jugendliche interessant sind. Aufgrund der Beteiligung von Auszubildenden lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer junge Menschen aus Betrieben kennen, die in diesem Zusammenhang automatisch eine Vorbildfunktion einnehmen. Durch die Besichtigung des Arbeitsplatzes der Auszubildenden und handlungsorientierte Projekte in der Lehrwerkstatt, in denen Kinder bzw. Jugendliche und Auszubildende zusammenarbeiten, entstehen Beziehungen zwischen Kindern/Jugendlichen und Auszubildenden, die einer ersten beruflichen Orientierung dienlich sind. Außerdem wird für die Jugendlichen deutlich, welche Anforderungen in einem bestimmten Beruf zu erfüllen sind. Der Abgleich zwischen personalen Voraussetzungen und beruflichen Anforderungen wird somit erleichtert.

3.3.3 MINTecHohenlohe im schulischen Bereich

Bedingt durch die Förderrichtlinien der Baden-Württemberg Stiftung musste das Projekt während der Förderdauer von vier Jahren (bis Sommer 2011) außerhalb des regulären Unterrichts umgesetzt werden, da die Sicherstellung von regulärem Unterricht Landesaufgabe ist und nicht von der Baden-Württemberg Stiftung finanziert werden darf. So wurden Projekte in den Schulen auf freiwilliger Basis am Nachmittag außerhalb des regulären Unterrichts angeboten. In der Regel interessierten sich mehr Kinder und Jugendliche für das Projekt, als Plätze vorhanden waren.

Basierend auf den Ergebnissen einer Befragung, dass sich insbesondere Grundschullehrerinnen mit naturwissenschaftlich-technischen Bildungsinhalten schwer tun, wurden in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg Lehrerfortbildungen für das forschend- entdeckende Lernen in Naturwissenschaft und Technik angeboten. Nicht selten wird in der Grundschule der elektrische Stromkreis nur mit Papier und Bleistift behandelt, obwohl gerade dieses Thema für eine praktische Auseinandersetzung optimal geeignet ist. Durch die Fortbildungen konnten Lehrkräfte darin motiviert werden, im Projektunterricht forschend-entdeckende, handlungsorientierte Lerngelegenheiten für die Kinder zu schaffen. Wie im Kindergarten wurden auch im schulischen Bereich Auszubildende als Lernpartner eingesetzt. Jeder Auszubildende betreute eine Gruppe von max. 3 bis 4 Schülern, die Federführung hatte jedoch immer die Lehrkraft. Auf diese Weise konnten Lehrkräfte bei der Durchführung der Projekte personell unterstützt werden, wodurch eine starke Entlastung der Lehrkräfte erreicht wurde. Natürlich mussten sich die Auszubildenden im Vorfeld eines Projektes mit den theoretischen Grundlagen und möglichen Problemstellungen auseinandersetzen. Dabei konnten sie ihr in der Berufsschule erworbenes Fachwissen anwenden. Es wurden nicht nur Auszubildende aus dem gewerblich-technischen Bereich eingesetzt, sondern zusätzlich aus dem kaufmännischen Bereich. Somit konnten alle Beteiligten voneinander lernen und fachübergreifende Aspekte in die einzelnen Projekte integriert werden.

Abbildung 2: Auszubildender als Lernpartner unterstützt einen SchülerAbbildung 2: Auszubildender als Lernpartner unterstützt einen Schüler

Um jungen Menschen während ihrer Schullaufbahn kontinuierlich vielfältigste Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Naturwissenschaft und Technik zu bieten sowie die in der Primarstufe begonnene Arbeit fortzuführen, wurden MINTecProjekte über alle Schulstufen hinweg durchgeführt – unter Einbindung von Fachlehrern, die an den jeweiligen Schulen unterrichten. Dem Aspekt der Berufsorientierung wurde im Laufe der Sekundarstufe eine stetig steigende Bedeutung beigemessen, indem die Schülerinnen und Schüler Informationen zu verschiedensten Berufsfeldern aus erster Hand erhalten. Die zum Lernpartner ausgebildeten Auszubildenden standen hierbei als Gesprächspartner und Mentoren zur Verfügung und übernahmen somit indirekt die Funktion von Ausbildungsbotschaftern.

3.4 Das Projekt MINTecHohenlohe nach Auslaufen der Förderung

Nach Auslaufen der Förderung des Projekts durch die Baden-Württemberg Stiftung entfiel die Rahmenbedingung, die MINTecProjekte außerhalb des regulären Unterrichts durchzuführen. Damit konnte das Projekt in den Regelunterricht der beteiligten Schulen integriert werden. Für die Lehrkräfte bedeutete dies eine Entlastung, da sie das Projekt nun im Rahmen ihres Deputats umsetzen konnten. Nach wie vor werden Auszubildende als Lernpartner ausgebildet und von den Mitgliedsbetrieben der Innovationsregion für die Mitarbeit in MINTecProjekten abgeordnet. Bei der Evaluation des Projekts, die regelmäßig mit Hilfe von Fragebogen und durch Interviews vom Projektträger durchgeführt wurde, ergaben sich folgende Vorteile:

  • Das Interesse der Schülerinnen und Schüler kann auf vielfältigste Weise geweckt und stabilisiert werden.
  • Entlastung der Lehrkraft durch Einbindung von als Lernpartner geschulten Auszubildenden bei der Durchführung von handlungsorientierten Unterrichtseinheiten.
  • Das Material für die MINTecProjekte wird von den Betrieben bezahlt.
  • Die Schülerinnen und Schüler erhalten „ganz nebenbei“ kontinuierliche Einblicke in die Berufs- und Arbeitswelt.
  • Die Schülerinnen und Schüler können Kontakte zu Betrieben knüpfen und sich im Rahmen der MINTecProjekte ausprobieren.
  • Durch die breite thematische Abdeckung des gesamten MINT-Bereichs und die zusätzliche Einbindung Auszubildender aus kaufmännischen Berufen ist eine umfassende Berufsorientierung möglich.
  • Lehrer/Lehrerinnen erhalten im Rahmen der Projektarbeit einen anderen Blick auf ihre Schüler, lernen sie besser kennen und können handlungsorientierte Lernformen ausprobieren, die ihren Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit bieten, entsprechende Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln.
  • Die Schule gewinnt durch ihre Teilnahme am Projekt ein zusätzliches Alleinstellungsmerkmal, kann so ihr Schulprofil stärken und hat damit bessere Chancen im Wettbewerb mit anderen Schulen.
  • Die Berufsorientierung ist in den Unterricht integriert und erfolgt kontinuierlich über die gesamte Schulzeit.
  • Die Auszubildenden erfahren durch ihre Mitarbeit in den Projekten einen „Perspektivwechsel“ und können dadurch ihre sozialen Fähigkeiten weiterentwickeln.
  • Die Betriebe haben die Gelegenheit, ihre Ausbildungsmöglichkeiten umfassend darzustellen.

Das Gesamtsystem kann dabei als „Lernende Organisation“ verortet werden, die sich stetig weiter entwickelt unter Berücksichtigung bisher gesammelter Erfahrungen, die evaluativ regelmäßig ausgewertet werden.

3.5 Das Projekt MINTecHohenlohe heute

Das Projekt wird immer noch fortgeführt, konnte also nachhaltig in der regionalen Bildungslandschaft verankert werden. Inzwischen ist die Organisation des Projekts an die Bildungsregion Hohenlohekreis übergegangen.

An der Gewerblichen Schule Künzelsau wurde 2011 ein MINT-Zentrum eingerichtet, das für Lehrkräfte Fortbildungen in den Bereichen Naturwissenschaft und Technik anbietet. Zusätzlich werden an der Gewerblichen Schule MINTecProjekte durchgeführt, deren Inhalte konkrete Bezüge zu Ausbildungsberufen aufweisen, wie zum Beispiel in der Kunststofftechnik (Ausbildung zum Verfahrensmechaniker für Kunststofftechnik). So lernen die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler frühzeitig das berufliche Umfeld bzw. die Berufsschule kennen und können für sich überprüfen, welcher der vorgestellten Berufe für sie von Interesse ist.

Ein besonderer Schwerpunkt liegt außerdem auf dem Zugang zu technischen Berufen für Mädchen. In monoedukativen Unterrichtseinheiten können sie sich in kreativer Weise mit den gestaltenden Aspekten von Technik auseinandersetzen – ein Zugang, der für Mädchen ideal geeignet ist, weil er kein technisches Wissen voraussetzt und das Gestaltungspotenzial, das Technik ebenfalls aufweist, in den Vordergrund rückt.

Weiterhin wurde an der Gewerblichen Schule Künzelsau ein Schüler-Forschungs- und Technikzentrum eingerichtet. Es wird im Rahmen des regulären Unterrichts genutzt, aber auch für weitere Projekte, die in Kooperation mit allgemein bildenden Schulen durchgeführt werden.

3.6 Fazit

Mit einer Anschubfinanzierung ist es relativ leicht, Bildungsprojekte zu realisieren. Problematisch wird es in der Regel, wenn die Förderung ausgelaufen ist und keine nachhaltigen Konzepte für eine langfristige Fortführung erarbeitet wurden. In der Region Hohenlohe ist es sehr gut gelungen, das Projekt MINTecHohenlohe zu verstetigen, da alle Akteure den Wert des Projekts erkannt haben und ihren Beitrag zum Fortbestehen leisten. Durch die Zusammenarbeit der Innovationsregion mit Landkreis, Schulamt, allgemein bildenden und beruflichen Schulen, Betrieben, Kultusministerium und weiteren Akteuren war es möglich, ein stringentes, handlungsorientiertes System zu etablieren, das Kindern und Jugendlichen eine optimale Vorbereitung ihrer Berufswahlentscheidung erlaubt und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit gibt, eigene Stärken zu entdecken.

Zug um Zug sollen weitere Bildungsinhalte integriert werden. Derzeit wird zunehmend die ökonomische Bildung berücksichtigt, sowie das Schüler-Forschungs- und Technikzentrum ausgebaut.

Wenn in einer Region sich alle Akteure zusammentun, lässt sich viel bewegen. Dazu muss jedoch zunächst ein tragfähiges Netzwerk geschaffen werden, und es muss allen klar sein, dass man einen langen Atem haben muss. Aber es lohnt sich.

Literatur

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Links

Informationen zum Projekt MINTecHohenlohe http://www.mintec-hohenlohe.de (05.09.2014)


Sprachsensibilität – Herausforderung bei der Kompetenzfeststellung im Rahmen der Berufsorientierung

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1 Berufsorientierung von Jugendlichen mit Sprachförderbedarf

Der Übergang von der allgemeinbildenden Schule in eine berufliche Ausbildung gestaltet sich in Deutschland für viele Jugendliche als problematisch. Belegt wird diese Aussage z. B. durch 21.034 unversorgte Bewerber und zusätzliche 62.530 Personen, die weiterhin nach einem Ausbildungsplatz suchen, obwohl sie in 2012/13 eine Alternative zur beruflichen Ausbildung begonnen haben (vgl. BMBF 2014, 33).

Auf der Suche nach den Ursachen, finden sich verschiedene Erklärungsansätze für die Diskrepanz zwischen Bewerberangebot und Stellen. Aus Sicht der Unternehmen treten dabei verstärkt Defizite in der Berufsorientierung sowie in den Sozial- und Selbstkompetenzen in den Vordergrund, die sich auf die falsche Wahl des Ausbildungsberufes und mangelnden Ausbildungserfolg auswirken können (vgl. DIHK 2013, 26ff.). Um diesen Problemen entgegenzuwirken, sollen neben Programmen zur Begleitung und Unterstützung von Jugendlichen während der Ausbildungszeit auch solche zur frühzeitigen Unterstützung der Berufsorientierung entwickelt und umgesetzt werden (vgl. BMBF 2014, 54).

Der Prozess der Berufsorientierung kann dabei in drei Handlungsfelder eingeteilt werden: das Handlungsfeld der Orientierung (hier gilt es, die eigenen Kompetenzen sowie berufliche Möglichkeiten besser kennenzulernen), das Handlungsfeld der Verzahnung (hier gilt es, das eigene Kompetenzprofil mit den Anforderungen konkreter Berufe abzugleichen) und das Handlungsfeld der Realisierung (hier gilt es, den Bewerbungsprozess erfolgreich zu gestalten) (vgl. Kremer/Wilde 2006, 9f.). In Anlehnung an diese Handlungsfelder lassen sich vier konkrete Situationen der Berufsorientierung identifizieren (siehe Abbildung 1):

Abbildung 1: Handlungsbereiche und Situationen der Berufsorientierung (Kremer 2010, 6)Abbildung 1: Handlungsbereiche und Situationen der Berufsorientierung (Kremer 2010, 6)

Im Folgenden fokussieren wir die erste Phase der Berufsorientierung. Dort gibt es inzwischen eine Vielzahl an Verfahren, deren erklärtes Ziel es ist, die eigenen Kompetenzen für die Jugendlichen transparent zu machen. Dabei reicht die Bandbreite von kurzen Online-Tests (vgl. z. B. IHK Nürnberg 2014) über professionell begleitete Selbsterkundungen, (vgl. z. B. DIE 2014) bis hin zu komplexen handlungsorientierten Verfahren (vgl. z. B. INBAS 2014). Als handlungsorientierte Verfahren gelten dabei Assessment Center und Varianten davon, wie bspw. entwicklungsorientierte Development Center (vgl. Druckrey 2007, 19). 

Gegenüber rein schriftlichen Feststellungsverfahren bieten handlungsorientierte Verfahren für Jugendliche mit sprachlichen Defiziten einen wesentlichen Vorteil: Es gibt keine Fixierung auf eine elaborierte Bildungssprache, die die Jugendlichen in Arbeitsanweisungen, Testaufgaben oder Fragebögen durch eine entsprechende Lesekompetenz erst einmal „knacken müssen“ (vgl. Ohm/Kuhn/Funk 2007).

Handlungsorientierte Verfahren bieten hier stattdessen die Möglichkeit einer Kombination aus Lese- und Hörverständnis sowie Sprech- und Schreibkompetenz und vereinen damit verschiedenste sprachliche Anforderungen, so dass die Teilnehmenden auch die Schriftsprache durchbrechen können. Jedoch führt dies zu sprachlich komplexen Arrangements, die andere Schwierigkeiten mit sich bringen. Die eher mündlich orientierten Aufgaben müssen oftmals gemeinsam mit anderen Teilnehmenden in Bewährungs- und Prüfsituationen gemeistert werden. Dabei kommt den Sprachkompetenzen als kommunikative Kompetenz eine große Bedeutung zu. Gemeint ist damit der soziale Akt des Sprechens, bei dem die Kommunikation nicht dem bloßen Übermitteln von Informationen, sondern der gegenseitigen Verständigung dient. Entscheidend ist dabei in der Beobachtung und Bewertung nicht nur der Sprachgebrauch an sich, sondern auch die Einhaltung von normativen Regeln, d.h. die Anpassung des Sprechens an die jeweilige Situation bzw. den Gesprächspartner in seiner Rolle. Dies erfordert soziolinguistische Kompetenz, die jenseits der reinen Rezeption oder Produktion von Sprache liegt (vgl. Nodari 2002).

Darüber hinaus ist Sprachkompetenz an die personale Identität geknüpft (vgl. Bialystok/Hakuta 1994, 134). Mit dem Sprechen zeige ich mich als Person. Besonders ausgeprägt ist das, wenn ich von mir selbst erzähle – wie in biographischen Übungen von handlungsorientierten Verfahren. Sofern Deutsch nicht die eigene Muttersprache ist, kann sich eine Grenze auftun: ich kann nicht sagen, was ich sagen will; ich muss mich mit der Wahl einfacherer Worte, unterhalb des Sprachniveaus meiner Muttersprache, begnügen. Diese Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung kann als Rückschritt erlebt werden und zu Frustrationserlebnissen führen, die dann auch andere Kompetenzbereiche beeinflussen.

2 Das Verfahren MISSION:possible

Das hier vorgestellte Kompetenzfeststellungsverfahren MISSION:possible versteht sich innerhalb des Berufsorientierungsprozesses als sprachsensibles Verfahren zur Unterstützung der Selbstentdeckung von Jugendlichen, indem es das Offenlegen der Selbst- und Sozialkompetenzen trotz sprachlicher Schwierigkeiten unterstützt. Das Verfahren kann außerdem als entwicklungsförderliches Verfahren zur Kompetenzfeststellung bezeichnet werden. Das Ziel ist also nicht nur die bloße Feststellung von Kompetenzen. Vielmehr soll auch eine individuelle Kompetenzentwicklung angeregt und unterstützt werden (vgl. Gillen, 2007, S. 149ff.). Wo möglich sollen dabei integriert auch sprachliche Kompetenzen mitgefördert werden.

Mit Blick auf Zielgruppe und Zielsetzung konzentriert sich MISSION:possible auf Handlungskompetenzen, die einen direkten Bezug zur Berufsorientierung haben, bzw. diese unterstützen:

Sozialkompetenz: Kommunikationsfähigkeit, Kritikfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Teamfähigkeit

Selbstkompetenz: Selbstkonzept (hier: eigene Interessen, Stärken und Ziele kennen/entwickeln), Selbstreflexion (hier: eigene Interessen, Stärken und Ziele reflektieren)

MISSION:possible ist ein Prozess, der aus mehreren Phasen besteht – von der Eingangsdiagnose über eine kontinuierliche Kompetenzentwicklung im Unterricht bis hin zur Ausgangsdiagnose mit abschließendem Feedback. Im Rahmen des Beitrages konzentrieren wir uns auf die Eingangsdiagnose. Diese ist als zweitägiges handlungsorientiertes Development Center gestaltet. Die Jugendlichen nehmen an 18 unterschiedlichen Übungen teil und werden dabei von geschultem Personal beobachtet. Folgende Methoden stehen hinter den Übungen: Selbstreflexion, biografische Interviews, Selbstpräsentation, Rollenspiele, kooperative Lernformen, Critical Incidents, erlebnispädagogische Übungen, Peer-Feedback, gemeinsame Reflexionsrunden.

Eine Besonderheit des Verfahrens ist, dass alle eingesetzten Übungen in eine Abenteuergeschichte (Bergtour mit der Klasse) eingebunden sind, die als Rahmenhandlung dient und sich bewusst von schulischen Themen absetzt. Dadurch sollen die einzelnen Übungen in einen nachvollziehbaren und motivierenden Zusammenhang gebracht werden.

Eine weitere Besonderheit bildet die besondere Rolle der Beobachtende. Diese übernehmen nicht nur die Aufgabe der Beobachtung, Beschreibung und Bewertung der Sozial- bzw. Selbstkompetenzen. Sie sind entsprechend des Kompetenzfördercharakters des Verfahrens darüber hinaus Partner für die Jugendlichen, die bei Problemen unterstützen und im Rahmen der Biografie-orientierten Übungen auch die Rolle des Interviewers und Impulsgebers übernehmen, der zur Selbstreflexion anregt und – falls notwendig – dabei unterstützt.

3 Theoretische Grundlagen einer sprachsensiblen Kompetenzfeststellung

Wenn hier eine sprachsensible Kompetenzfeststellung angesprochen ist, bezieht sich dies nach unserem Verständnis auf verschiedene Ansatzpunkte und Strategien, wie sie auch im Sinne einer sprachsensiblen Didaktik (vgl. Kimmelmann 2013 sowie Kimmelmann 2010, 437ff.) kombiniert werden, um sprachliche Schwierigkeiten in Lernkontexten zu minimieren. Im Rahmen von Mission:possible wurden diese erstmals und erprobungsweise auf den Kontext einer Kompetenzfeststellung im Rahmen der Berufsorientierung modifiziert übertragen.

Anpassung der sprachlichen Heerausforderungen an die vorhandenen Sprachkompetenzen (sprachliche Zielgruppenorientierung)

Die Anpassung sprachlicher Herausforderungen wird dabei mit Blick auf ein Gleichgewicht zu den primären Kompetenzanforderungen gesehen  Es geht also nicht um eine pauschale sprachliche Vereinfachung, sondern um eine gezielte Minimierung der sprachlichen Anforderungen an den Stellen, an denen sprachliche Kompetenzen nicht im Fokus stehen oder die primär zu erbringenden Selbst- und Sozialkompetenzen sehr komplex sind. Andererseits sollte das Verfahren auch gezielt Möglichkeiten bieten, sprachlich-kommunikative Kompetenzen zu zeigen, wo diese im Mittelpunkt stehen (z.B. bei der Kommunikationsfähigkeit). An diesen Stellen sollte das verlangte Niveau knapp über dem vorhandenen Sprachstand der Jugendlichen liegen, um sie zu fordern, aber nicht zu überfordern (vgl. Leisen 2010).

Schaffung sprachlich anregender unterschiedlicher Handlungssituationen 

Sprachliche Kompetenzen können in ihren Teilkompetenzen Lesen, Schreiben, Sprechen und Hören bei den Jugendlichen sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Dies impliziert die Schaffung von Lernsituationen, die auf unterschiedliche Sprachkompetenzen differenzierter Niveaus zielen (vgl. Portmann-Tselikas 1998, 123f.). Um einseitige Überlastungen und damit Verzerrungen der Kompetenzfeststellung zu vermeiden, sollten also diesem Prinzip folgend unterschiedliche sprachliche Zugänge und Leistungen in das Verfahren integriert werden. So können sich die Teilnehmenden auch in ihren sprachlichen Stärken präsentieren. Interaktive Handlungssituationen, die ausgehend von der Alltagskommunikation zunächst mündlich und erst dann schriftlich sprachlich anspruchsvolle Elemente integrieren bieten hier – in Anlehnung an die Praxis im Fachunterricht (vgl. Portmann-Tselikas 1998; Gibbons 2006) -bessere Möglichkeiten als zentriert gelenkte input-lastige Vorgehensweisen.

Sprachlich anregend und damit erfolgsversprechender mit Blick auf einen erfolgreichen Einsatz von Sprachkompetenzen sind dabei Handlungssituationen, die nicht nur vom Niveau, sondern auch vom Inhalt an Vorerfahrungen der Jugendlichen ansetzen (vgl. Gibbons 2006). Biographie-orientierte und authentische Situationen mit direktem Lebensweltbezug, in die sich die Jugendlichen gut hineinversetzen können, erscheinen hier für eine Kompetenzfeststellung sehr geeignet.

Bereitstellung sprachlicher Hilfestellungen

Die Bereitstellung sprachlicher Hilfestellungen (z.B. Bilder, mündliche oder visuelle Veranschaulichung, Formulierungshilfen), kann auch bei der Kompetenzfeststellung dazu beitragen, dass Jugendliche hohe sprachliche Schwierigkeiten eigenständiger meistern, ohne die primär festzustellenden Kompetenzen aus dem Blick zu verlieren. Angebotene Hilfen der Sprachsensibilisierung sollten dabei so wenig wie möglich, jedoch in ausreichendem Maße angeboten werden (vgl. Leisen 2010).

Konstruktiver Umgang mit Fehlern

Sprachliche Defizite bzw. Kompetenzen werden nicht zuletzt auch von motivationalen Faktoren beeinflusst. Sprechhemmungen, Vermeidungsverhalten aber auch fehlendes Problembewusstsein der Jugendlichen in ihrem Sprachgebrauch können vermieden werden, indem u. a. eine konstruktive Fehlerkultur etabliert wird (vgl. Bethscheider/Käferlein/Kimmelmann 2014). Hierzu zählen beispielsweise konstruktives Feedback während des gesamten Prozesses sowie ein Fokus auf die sprachlichen Stärken statt Schwächen der Teilnehmenden. Dies erscheint uns im Kontext der Kompetenzfeststellung im gleichen Maße relevant sowie umsetzbar. Ziel des Prozesses ist nach unserem Verständnis in Anlehnung an Vonken (2011, 30) „kompetentes Handeln“ – und damit genau genommen eine erfolgreiche Performanz – in zweierlei Hinsicht: erstens die Fähigkeit, unsichere bzw. unbekannte Situationen zu bewältigen und zweitens, die kreative Schaffung und Gestaltung von Situationen. Dies trifft beispielsweise dann zu, wenn der Teilnehmende aktiv von sich aus sprachliche Handlungen in die Übungssituationen einbringt und in der Interaktion mit den Anderen sprachlich neues ausprobiert. In diesem Verständnis von kompetentem (Sprach-) Handeln ist die Sprachkompetenz an eine soziale Kommunikationsfähigkeit, gebunden und bedarf einer sprachsensiblen Umgebung, die auch motivierenden Charakter hat.

4 Sprachsensible Gestaltung von MISSION:possible

Das vorgestellte Kompetenzfeststellungsverfahren MISSION:possible vereint die skizzierten Ansatzpunkte einer sprachsensiblen Kompetenzfeststellung bei seiner übergreifenden Gestaltung. Ferner wurden auch die eingesetzten Übungen bewusst im oben beschriebenen Sinne gestaltet und werden deshalb im Folgenden als spezifische Strukturelemente der Sprachsensibilität bezeichnet wird.

4.1 Übergreifende sprachsensible Gestaltung des Verfahrens

Anpassung der sprachlichen Heerausforderungen an die vorhandenen Sprachkompetenzen (sprachliche Zielgruppenorientierung)

In Phasen der Moderation durch das Kompetenzfeststellungsverfahren werden möglichst einfache Wörter und Sätze verwendet, um keine unnötigen sprachlichen Herausforderungen aufzubauen. Nicht zu vermeidende schwierige Wörter und Fachbegriffe werden durch die Moderatoren nochmals gesondert erklärt. Auch während des Organisationsprozesses sind die Moderierenden auf zusätzlichen Unterstützungsbedarf eingestellt und halten alternative Erklärungen parat.

Schaffung sprachlich anregender und unterschiedlicher Handlungssituationen 

Durch den Methodenmix des Development Centers werden unterschiedliche sprachliche Kanäle angesprochen bzw. gefordert. Zusätzlich werden sowohl die Rahmenhandlung als auch Arbeitsaufträge von den Moderierenden mündlich erklärt und gleichzeitig durch PowerPoint-Folien bzw. Flipcharts unterstützt, d.h. angesprochen wird sowohl das Hörverstehen als auch das Leseverstehen.

Bereitstellung von Hilfestellungen

Zur Veranschaulichung der Rahmenhandlung werden auf den PowerPoint-Folien und Flipcharts vielfältige Bilder verwendet. Auch Videos werden eingesetzt. Die Beobachtenden stehen bei ausgewiesenen Übungen als unterstützende Partner zur Verfügung, um den Jugendlichen bei sprachlichen Problemen zu helfen.

Konstruktiver Umgang mit Fehlern

Bereits zu Beginn des Verfahrens wird die sprachsensible Gestaltung des Verfahrens gegenüber den Teilnehmenden offengelegt. Diese Ernsthaftigkeit der Orientierung an den Teilnehmenden soll sich bei den Lernenden in der Qualität ihrer Beiträge und der Motivation, sich auf die einzelnen Übungen des Workshops einzulassen, wiederspiegeln.

Zusätzlich werden direkt in der Anfangsphase des Development Centers Übungen durchgeführt, in denen durch die weiter gefasste Rolle der Beobachtenden als Impulsgeber ein Vertrauensverhältnis zwischen Teilnehmenden und Beobachtenden aufgebaut werden kann. Diese wurden hierfür geschult, Zutrauen in die Fähigkeiten der Teilnehmenden zu vermitteln.

Während des Verfahrens wird – wie auch bei den Sozial- und Selbstkompetenzen – der Fokus auf die vorhandenen sprachlichen Stärken und nicht auf die Fehler gelegt. Eine Rückmeldung an die Teilnehmenden erfolgt ausschließlich mit Blick auf das gezeigte Können und beobachtete Potenzial für die weitere Förderung.

4.2 Spezifische Strukturelemente der Sprachsensibilität

4.2.1 Biografie-orientierte Übungen

Das Verfahren umfasst insgesamt drei Biografie-orientierte Übungen, in denen sich die Teilnehmenden direkt mit ihren Interessen, Stärken und Zielen auseinandersetzen. Die Teilnehmenden entscheiden dabei selbst, was und wie ausführlich sie über sich erzählen und können damit eigenständig zwischen Selbstdarstellung und Selbstschutz tarieren. Dies soll die Offenheit der Teilnehmenden unterstützen. Sprachliche Unterstützung erfolgt durch die geschulten Beobachtenden, die an dieser Stelle als Gesprächspartner fungieren und damit dank einfacher Redemitteln und offener Fragen den Erzählfluss in Gang halten können.

4.2.2 Präsentationen

Präsentationen stellen einen gezielten Sprechanlass dar und werden in eine motivationale und sprachförderliche Atmosphäre eingebunden. Ergebnisse aus den Biografie-orientierten Übungen, die von den Jugendlichen schriftlich formuliert werden, werden nochmals mündlich durch die Jugendlichen präsentiert. Somit können auch fehlerhafte bzw. ergänzungsbedürftige schriftliche Formulierungen in der mündlichen Performanz erläutert werden – was als Stärke bei den Teilnehmenden dokumentiert wird.

4.2.3 Erlebnispädagogische Übungen

In die Rahmenhandlung sind insgesamt drei erlebnispädagogische Übungen integriert, die an der Handlungsbereitschaft der Jugendlichen ansetzen. Die Lösung der Aufgabe ist auch auf nicht-kognitivem Weg durch Ausprobieren, Zusammenarbeit oder Diskussion erreichbar. Zugleich gibt es auch die Möglichkeit, sich nicht-sprachlich aktiv bei der Suche nach der Lösung einzubringen (z.B. Hilfe anbieten, Empathie zeigen). Das sprachliche Anforderungsniveau kann bei diesen Übungen also zugunsten der zu zeigenden Selbst- und Sozialkompetenzen reduziert werden.

4.2.4 Kooperative Lernformen

Als Ergänzung zu den bisher skizzierten Übungsformaten wurden insgesamt drei kooperative Partner- und Gruppenarbeiten gestaltet, um eine gegenseitige sprachliche Unterstützung der Jugendlichen im Sinne einer sprachlichen Hilfestellung zu ermöglichen.

5 Empirische Untersuchung

5. 1 Forschungsfrage und -design

In der hier vorzustellenden Teilstudie der Gesamtevaluation des Verfahrens soll gezeigt werden, wie ein handlungsorientiertes Verfahren zur Feststellung der Sozial- und Selbstkompetenzen von Jugendlichen einer Deutschförderklasse (Mittelschule) im Rahmen der Berufsorientierung sprachsensibel gestaltet und durchgeführt werden kann.

Zur Beantwortung der Forschungsfrage wird der Ansatz der qualitativen Evaluationsforschung verfolgt, da diese besonders wertvolle Ergebnisse liefert, wenn die verschiedenen subjektiven  Meinungen und Bewertungen von verschiedenen Beteiligten gesammelt werden, um z. B. durch Vergleiche zu einer Erkenntnis bzw. zu einer Bewertung einer Intervention zu gelangen (vgl. Flick 2006, 18ff.).

Außerdem versteht sich die hier durchgeführte Evaluation als formative Evaluation, um „die Programmdurchführung zu optimieren und die Programmkonzeption zu verbessern“ (Gollwitzer/Jäger 2009, 124). Im konkreten Fall soll also die Basis geschaffen werden, um Konzeption und Durchführung des Verfahrens MISSION:possible hinsichtlich der Sprachsensibilität in der Zukunft weiter zu optimieren. Zugleich sollen Hinweise zur sprachsensiblen Gestaltung für ähnliche Kompetenzfeststellungsverfahren generiert werden.

5.2 Partner, Sampling, Datenerhebung und Datenauswertung

Die skizzierte sprachsensible Version von MISSION:possible wurde in einer Deutschförderklasse der Klassenstufe 8 mit 13 Schüler/innen an einer bayerischen Mittelschule durchgeführt. In der Klasse befinden sich ausschließlich Jugendliche mit Migrationshintergrund, die erst seit relativ kurzer Zeit in Deutschland leben und dementsprechende Defizite in der deutschen Sprache aufweisen. 

Außerdem wurden an derselben Schule im Vorfeld acht Lehrkräfte als Beobachtende ausgebildet. Sechs von ihnen nahmen bei der Durchführung des Development Centers auch in dieser Rolle teil.     

Die Datenerhebung erfolgte mit Hilfe einer ausgewählten Teilgruppe der teilnehmenden Jugendlichen und Lehrkräfte. Für die Bestimmung des gezielten Samplings verwendeten wir das Auswahlkriterium der Extremfälle (vgl. Mayring 2002, 43), um evtl. auch gegensätzliche Perspektiven zu erheben und so eine möglichst umfassende und differenzierte Bewertung des Verfahrens zu erhalten. Die interviewten Personen stellen insofern Extremfälle dar, da sie im Hinblick auf verschiedene Kriterien gegensätzliche Ausprägungen aufweisen. Bei den Lehrkräften sind diese Kriterien das Geschlecht und die Berufserfahrung. Bei den Jugendlichen wurden das Geschlecht, die Ausprägung der Sozial- und Selbstkompetenz sowie die Kompetenz in der deutschen Sprache als Kriterien gewählt. Die entsprechenden Kompetenzausprägungen wurden im Rahmen des Development Centers durch Beobachtungen erhoben.

Tabelle 1:     Sampling Jugendliche

Auswahlkriterium vier Jugendliche
Geschlecht zwei weibliche und zwei männliche Jugendliche
Ausprägung der Sozial- und Selbstkompetenz zwei Jugendliche mit einer stärkeren Ausprägung der Sozialkompetenz und zwei Jugendliche mit einer stärkeren Ausprägung der Selbstkompetenz
Sprachkompetenz in der deutschen Sprache zwei Jugendliche mit großen Sprachdefiziten und zwei Jugendliche mit mittleren Sprachdefiziten

Tabelle 2:     Sampling Lehrkräfte

Auswahlkriterium vier Lehrkräfte
Geschlecht drei weibliche und eine männliche Lehrkraft
Berufserfahrung zwei erfahrene Lehrkräfte und zwei unerfahrene Lehrkräfte

Durch die Einbeziehung von zwei unterschiedlichen Gruppen an involvierten Personen – Lehrkräfte und Jugendliche – wurde im Rahmen der Datenerhebung gleichzeitig eine personelle Triangulation verfolgt.

Zur Erhebung der qualitativen Daten wurden Leitfadeninterviews geführt. Da das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit nicht ausschließlich in der Bewertung des zu untersuchenden Verfahrens liegt, sondern darüber hinaus auch angestrebt wird, über die Evaluationsergebnisse zu Erkenntnissen mit Blick auf sprachsensible Gestaltungsmöglichkeiten von Kompetenzfeststellungsverfahren im Allgemeinen zu gelangen, wurden die Interviews als problemzentrierte Interviews (Witzel 1985, 227ff.) gestaltet. Demnach wurde ein Leitfaden entworfen, der neben erzählgenerierenden Impulsfragen auch Stichpunkte (Checks) für detaillierte Nachfragen enthält, die aus den oben skizzierten Ansatzpunkten einer sprachsensiblen Kompetenzfeststellung abgeleitet wurden. Möglichen sprachlichen Schwierigkeiten der befragten Jugendlichen wurde durch eine entsprechende einfache Wortwahl sowie einem ausreichend groß bemessenen Zeitraum für das Interview Rechnung getragen.

Die Auswertung der Interviews erfolgte nach Kriterien der qualitativen Inhaltsanalyse, um das Kategoriensystem von der Theorie geleitet am Datenmaterial entwickeln zu können und dabei auch größere Mengen an Datenmaterial systematisch auszuwerten (vgl. Mayring 2002, 114ff.).

Erwähnt sei an dieser Stelle noch, dass das hier skizzierte Verfahren bereits im vorhergehenden Schuljahr einem Pre-Test in einer Deutschförderklasse unterzogen wurde, dessen Erkenntnisse als Modifikationen in die hier evaluierte Version von MISSION:possible eingeflossen sind.

6 Ergebnisse

6.1 Bewertung der sprachlichen Strukturelemente

6.1.1 Biografie-orientierte Übungen

Perspektive der Jugendlichen

Aus Sicht der Jugendlichen waren die Biografie-orientierten Übungen ein Sprechanlass, der ihnen Freude bereitete (S 3). Manche Schüler erlebten es als besonders positiv, dass sie motiviert wurden, über sich selbst und die eigenen Ziele nachzudenken (S 3, S 4). Zwar kann die eigene Zurückhaltung ein Hemmnis sein, andererseits gelingt es auch einem schüchternen Menschen eher, Formulierungen für die eigene Person zu finden (S 1).

Grundsätzlich nahmen die Jugendlichen die Beobachtenden in den Biografie-orientierten Übungen gerne als niedrigschwelliges Angebot an, um sich Unterstützung bei sprachlichen Verständnisproblemen zu holen. Allerdings wird aus den Aussagen der Jugendlichen deutlich, welch große Rolle dabei die Einschätzung der Unterstützerperson spielte. Subjektive Kriterien waren hierbei sympathisches Auftreten, aktives Ansprechen der Jugendlichen und Bekanntheit aus dem Schulkontext (S 1, S 3, S 4). Auch unerwartete Kontrolleffekte aus der Nähe zwischen Jugendlichen und Beobachtenden – Lehrkräfte der eigenen Schule – wurden manchem Jugendlichen bewusst. Ein Schüler reflektiert darüber, dass er nicht den „coolen Typen“ spielen kann, da eine derartig überzogene Selbstdarstellung bei den schuleigenen Lehrkräften einen schlechten Eindruck erzeugen würde (S 1). Trotz dieser Wahrnehmung geben die Jugendlichen Beobachtenden aus dem eigenen Schulkontext klar den Vorzug vor schulfremden Personen (S 1, S 3, S 4). Hier fehlt ihnen das notwendige Vertrauen, bzw. es besteht die Angst, sich vor Fremden unwiderruflich zu blamieren (S 1).

So steigerten die schuleigenen Beobachtenden die Offenheit der Jugendlichen, sich auf das Development Center einzulassen (S 3, S 4). Auch positive Verstärkungseffekte stellten sich ein: Belobigende Kommentare einer Beobachtenden haben beispielsweise eine Jugendliche motiviert, sich bei den folgenden Übungen noch mehr anzustrengen (S 3).

Perspektive der Lehrkräfte

Die Lehrkräfte waren insgesamt positiv überrascht und beeindruckt von der Bereitschaft der Jugendlichen, offen über sich zu sprechen. Diese Offenheit beförderte die Sprachproduktion an sich, half aber auch bei der Bewältigung auftretender Hemmnisse. Drei Gründen war diese Offenheit zu verdanken. Erstens: Das große Interesse der Jugendlichen, sich im Klassenverband einmal exponieren zu dürfen – was im normalen Schulalltag eine Seltenheit darstellt. Zweitens: Die Freundlichkeit und Vertrauenswürdigkeit der Moderatoren und der Lehrkräfte. Drittens: Das Development Center als leistungsdruckfreier Kommunikationsraum, was vor dem Hintergrund des ergebnisorientierten Schulkontextes besonders deutlich wahrgenommen wurde (L 1, L 3, L 4).

Ein Erwachsener als zugewandter und interessierter Gesprächspartner, der offene Fragen stellt, war – so die Wahrnehmung der Beobachtenden – für die Jugendlichen ein willkommener Sprechanlass. Im schulischen Kontext existiert ein Erwachsener herkömmlicherweise lediglich in seiner Rolle als Lehrkraft (L 4). Zudem leistete der Erwachsene als Gesprächspartner durch behutsame Fragen Unterstützung bei der Bewältigung der Biografie-orientierten Fragen, die die Jugendlichen in der Regel so das erste Mal beantworteten (L 1).

Die Komplexität der Unterstützung in den Biografie-orientierten Übungen erfuhr eine Lehrkraft als schwierigen Balanceakt zwischen behutsamer Unterstützung und zu ergebnisorientierter Steuerung. Eine passive Kommunikationshaltung der Jugendlichen wurde hier als zusätzliche Herausforderung gesehen beim Versuch, einer möglichst neutralen, das Gegenüber lediglich spiegelnder Haltung (L 3).

Eine Einschränkung für Biografie-orientierte Übungen sieht eine Lehrkraft bei Jugendlichen, die bestimmte Teile ihres persönlichen Lebens nicht öffentlich machen möchten, da sie einem Tabu unterliegen (L 3). Persönliches unterliegt auch immer einer kulturellen Prägung. Wenn Jugendliche bewusst oder unbewusst wahrnehmen, dass ihre Vorstellungen vom hiesigen westlichen Kollektiv nicht ohne weiteres toleriert werden, hat dies Auswirkungen auf ihre Darstellung ihres Selbstkonzeptes (L 3). Hier zeigen sich interkulturelle Relevanzpunkte, die bei sprachsensiblen Verfahren – aufgrund der besonderen Zielgruppe – stärker zum Ausdruck kommen können.

Fazit:

Mit sehr kleinen Einschränkungen wird die Biografie-Orientierung sowohl von Jugendlichen als auch von Lehrkräften sehr positiv erlebt. Die Arbeit mit der eigenen Biografie regt zur Selbstreflexion an und bietet gleichzeitig Sprechanlässe und somit die Möglichkeit zur Entwicklung der Sprachkompetenz. Das Angebot, nach eigener Relevanzsetzung von sich erzählen zu dürfen, erzeugte bei den Teilnehmenden die notwendige offene Haltung und Motivation. Arbeit mit der eigenen Biografie ist daher ein idealer Ansatzpunkt für gezielte Sprachförderung. Sie erlaubt in inhaltlicher und sprachfördernder Hinsicht einen individuellen Zuschnitt. Dabei unterstützt die Biografie-Orientierung auch das eigentliche Ziel: Die Selbstentdeckung hinsichtlich der eigenen Kompetenzen zur Unterstützung der Berufsorientierung.

Der Erfolg der Übungen ist jedoch in hohem Maße abhängig von der positiven Einstellung, dem ehrlichen Interesse, der Empathie und Sozialkompetenz der Lehrkräfte, die als Beobachtende agieren. Vor dem beruflichen Hintergrund der Beobachtenden wird die Sensibilisierung für den Rollenwechsel zu einem zentralen Bestandteil der Schulung vor dem Development Center. Für Lehrkräfte steht die Ergebnisorientierung im Unterricht in der Begegnung mit den Schülerinnen und Schülern im Vordergrund. Mit dem Paradigma der Ergebnis- und Notenorientierung bricht das Konzept von „MISSION:possible“ jedoch vollständig.

Anzumerken ist noch, dass die Biografie-orientierten Übungen im Development Center als zeitintensive Einzelarbeiten der Teilnehmenden angelegt waren. Diese Einzelarbeiten erwiesen sich als „Auszeiten“, die für die Teilnehmenden wichtig waren, damit sie das Gehörte und Gelernte für sich bearbeiten und einordnen konnten. Zudem boten diese „Auszeiten“ – beispielsweise während einer kreativen Gestaltungsphase – Gelegenheit zur wechselseitigen Beobachtung. Dies hatte für Teilnehmende auch motivierende Effekte.

6.1.2 Präsentationen

Perspektive der Jugendlichen

Aus Sicht der Jugendlichen stellten Präsentationen im Rahmen des Development Centers eine besondere persönliche Bewährungsprobe dar. Vor der Präsentation nahmen die Jugendlichen einen inneren Widerstand wahr. Die Angst vor dem eigenen Scheitern trieb sie um (S 3, S 4). Als soziale Sanktion des Publikums für einen „misslungenen“ Vortrag antizipierten die Jugendlichen öffentliches Bloßstellen durch Gelächter (S 1, S 3, S 4). Nach der Präsentation wurde ihnen deutlich, welche positiven Effekte es hatte, sich dieser Herausforderung gestellt zu haben. Sie berichten von Erleichterung (S 4), von gesteigertem Selbstbewusstsein und weniger Angst, vor anderen Menschen zu reden (S 1, S 3). Mit der Präsentation konnte ein Sinn verknüpft werden, da es den Jugendlichen gelang, inhaltlich das zu vermitteln, was sie tatsächlich beabsichtigt hatten (S 1). Dank der Überwindung der anfänglichen Angst und der Bewältigung der eigenen Unsicherheit kam es auch zu einer gesteigerten Selbstwirksamkeitserwartung: „(…) dann weiß man, dass man was machen kann; dass nicht nur etwas Schlimmes passiert, sondern dass auch etwas Gutes passieren kann. Also sozusagen: man kann alles schaffen, wenn man nur will und man es probiert.“ (S 1)

Dies umfasst auch konkrete Erfolgserlebnisse im Hinblick auf die eigene Sprachkompetenz. Ein Jugendlicher berichtet beispielsweise von einer Erweiterung seines Wortschatzes, indem er während der Präsentation konzentriert der Wortwahl seiner Klassenkameraden folgte (S 1).

Sicherheit im Präsentieren von Ergebnissen aus der Biografie-orientierten Einzelarbeit vermittelte auch der exklusive Zugriff auf die eigene Biographie. Eine Jugendliche benennt es explizit als Unterstützung, dass nur sie ihre Interessen, Stärken und Ziele erläutern kann. Niemand kann ihre Äußerungen infrage stellen (S 3).

Perspektive der Lehrkräfte

Aus Sicht der Lehrkräfte bewirkten die Präsentationen eine Stärkung des sprachbezogenen Selbstkonzepts der Jugendlichen. Zunächst motivierte die Möglichkeit, „etwas sagen zu dürfen“ und dabei selbst im Mittelpunkt zu stehen, zur engagierten Vorbereitung der Präsentation (L 1). Nach der Präsentation war bei allen Jugendlichen ein enormer Stolz über den erfolgreichen Verlauf zu beobachten. Dies stellt einen idealen Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der Sprachkompetenz dar. Eine Beobachtende benennt den psychologischen Effekt der gelungenen Präsentation mit den Worten: „Ja, endlich sieht das mal einer!“ Die eigene Anstrengungsbereitschaft im Spracherwerb wird so sichtbar (L 4). Wichtig für eine nachhaltige Motivierung war auch der „gute“ Abschluss des Vortrags mit Applaus seitens des Publikums.

Eine weitere Stärkung des sprachbezogenen Selbstkonzepts ergab sich aus den Nachfragen des Publikums im Anschluss an die Präsentation. Dies versetzte die Vortragenden in die Situation, „ihr Ding“ vor anderen ad hoc verteidigen zu müssen (L 3).

Dank der exponierten Selbstdarstellung der Vortragenden im Rahmen einer Präsentation ergaben sich dabei vielfältige Gelegenheiten zum Lernen am Modell. D.h. das Beobachten der Präsentation der Mitschülerinnen und Mitschüler gab den Anstoß zu Überlegungen, die sich positiv auf die eigene Sprachproduktion und den eigenen Spracherwerb auswirken können. Die Konzentrationsbereitschaft während der Präsentation war bei den Jugendlichen enorm. Sie registrierten sehr genau, wie die anderen die Präsentation sprachlich gemeistert haben (L 3). Der besondere Sprechanlass der Präsentation gab – so ein Beobachtende - Impulse für die Erweiterung des eigenen sprachlichen Spektrums. Die Jugendlichen wechselten bewusst aus ihrer „Sprachvarietät, die sie normalerweise so untereinander pflegen“ in einen elaborierten Code (L 3).

Insgesamt käme der Ansatz des Förderns durch Fordern, z.B. durch einen Kurzvortrag vor Plenum, bei Lehrkräften im Deutschförderbereich oftmals zu kurz, merkte eine Beobachtende selbstkritisch an, und zwar aus Sorge vor Überforderung der Schüler. Das Development Center habe ihr gezeigt, dass die positiven Effekte überwögen.

Fazit:

Eine wichtige Erkenntnis ist, dass eine Verknüpfung von Biografie-orientierter Übung und anschließender Präsentation in der „Klassenöffentlichkeit“ mit Blick auf Sprachsensibilität absolut sinnvoll ist. Die Präsentation ermöglicht eine sprachliche Selbstentdeckung im geschützten Rahmen: Ich entdecke mich als aktiv deutsch sprechende Person vor einem Publikum. Zum einen befördert dies ein positives Selbstkonzept. Zum anderen kann dies zur Steigerung der Sprachkompetenz motivieren, aber auch die Einsicht in die Notwendigkeit der eigenen Sprachförderung bringen – was zentral ist, um das nächsthöhere Sprachniveau zu erreichen.

Im Hinblick auf die Berufsorientierung bietet die Präsentation der eigenen Biografie also eine Möglichkeit, sich selbst zu entdecken, sich selbst als erfolgreich zu erleben sowie eine für den gelungenen beruflichen Einstieg zentrale sprachliche Fähigkeit – die Selbstpräsentation – zu üben.

6.1.3 Erlebnispädagogische Übungen

Perspektive der Jugendlichen

Die erlebnispädagogischen Übungen brachten den Jugendlichen viel Spaß, obwohl der (sprachliche) Lösungsweg teilweise als kompliziert erlebt wurde (S 1, S 3, S 4). Dies ist aus motivationalen Gründen vorteilhaft, zumal Spaß im schulischen Kontext sonst meistens nur während der selbstbestimmten Zeit in den Pausen erlebt wird (S 4).

Perspektive der Lehrkräfte

Die Lehrkräfte haben bei den Jugendlichen insgesamt ebenfalls eine hohe Motivation wahrgenommen. Die Übungen regten die Schülerinnen und Schüler direkt zum Handeln und zur Kommunikation an. Erlebnispädagogische Übungen forderten auch zurückhaltende und stillere Jugendliche heraus, sich aktiv an der Suche nach der richtigen Lösung zu beteiligen und dies auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Dabei spielten der Zeitfaktor und damit der prozesshafte Verlauf einer erlebnispädagogischen Übung eine entscheidende Rolle. Vielfältige gescheiterte Anläufe auf der Suche nach der richtigen Lösung setzten schließlich Handlungs- und Sprechpotenziale der stilleren Teilnehmenden frei. Diese nutzten sodann die Gelegenheit, vermeintliche Meinungsführer innerhalb des Klassenverbands herauszufordern und ihre eigene Position einzubringen (L 1). Da die Jugendlichen zum Zeitpunkt des Development Centers bereits mehrere Monate in einem Klassenverband waren, verfügten sie über eine „gemeinsame Sprache“ und verstanden sich trotz unterschiedlicher Sprachniveaus. Die erlebnispädagogischen Übungen erlaubten außerdem ein „Sprachbad“. Die Sprachförderung bzw. das Einschleifen von sprachlichen Routinen läuft hier quasi nebenbei (L 1).

Die Übungen boten aber gleichzeitig die Chance, erfolgreich zu handeln – also die eigene Sozialkompetenz zu zeigen und zu erleben – ohne eine sprachliche Performanz vollziehen zu müssen (L 3). Ein Jugendlicher kann z.B. Sozialkompetenz zeigen, indem er den anderen Jugendlichen – auch ohne Worte - hilft. Somit kommt die erlebnispädagogische Übung gerade den Schülern bzw. Klassen mit sprachlichen Problemen entgegen (L 3).

Fazit:

Insgesamt zeigt sich, dass erlebnispädagogische Übungen sehr gut geeignet sind, die eigenen Stärken unabhängig von den Sprachkompetenzen zu vermitteln. Bemerkenswert ist, dass erlebnispädagogische Übungen sowohl sprachlich entlastend als auch sprachlich anregend wirken und somit sowohl eher stille als auch sehr redselige Jugendliche ansprechen. Jeder hat die Möglichkeit sich auf seine Art – mit wenigen oder vielen Worten – einzubringen. Somit dient die erlebnispädagogische Übung quasi als Instrument der sprachlichen Binnendifferenzierung. Alle Jugendlichen bekommen so die Chance, ihre individuellen Stärken in der Teamarbeit zu erleben, also für die Berufsorientierung relevante eigene Kompetenzen herauszufinden. Und alle Jugendlichen bekommen die Möglichkeit zu einem Erfolgserlebnis – einem Erlebnis, das die Selbstwirksamkeitserwartung für zukünftige Herausforderungen wie bspw. der erfolgreichen beruflichen Orientierung unterstützen kann.

6.1.4 Kooperative Lernformen

Perspektive der Jugendlichen

Die mit den kooperativen Lernformen verbundenen Hoffnungen einer gegenseitigen sprachlichen Unterstützung der Jugendlichen zeigen sich in den Interviews bestätigt. Eine sprachlich starke Jugendliche erlebte sich selbst als Unterstützerin für eine sprachlich schwächere Klassenkameradin und verbindet ein (sprachliches) Erfolgserlebnis mit dieser Methode (S 3). Eine sprachlich schwache Schülerin erlebte die Hilfe durch Gruppenmitglieder während der kooperativen Lernformen ebenfalls positiv und verbindet mit der Methode ein (sprachliches) Unterstützungsangebot (S 4).

Perspektive der Lehrkräfte

Die eingesetzten kooperativen Lernformen (Think-Pair-Share) förderten bzw. forderten gezielt die Kommunikation in der Gruppe und wurden insofern als positiv sprachfördernd wahrgenommen (L 3). Im Gegensatz zu einer „normalen“ Gruppenarbeit bieten sie den Schülern eine wichtige – auch sprachliche – Unterstützung, indem klar geregelt ist, wann wer mit wem, bzw. vor wem spricht und wann jeder für sich selbst im Stillen nachdenkt (L 4). Dies erscheint nach Auskunft der Lehrkraft gerade bei Jugendlichen dieses Schultyps bedeutsam, da hier oftmals die Bereitschaft zum Zuhören fehlt, wenn in Partner- oder Gruppenkonstellation ein Thema bearbeitet wird. Klare und differenzierte Aufträge an die Teammitglieder sind dann sehr hilfreich. Wenn beispielsweise in einem Partnerteam einer den Auftrag hat, dem anderen ein Feedback für die Mitarbeit zu geben, kann sich dieser andere nicht so einfach aus der Verantwortung herausnehmen und schweigen (L 4).

Fazit:

Die kooperativen Lernformen fordern zum Sprechen heraus. Durch die erforderliche Kommunikation und gegenseitige Unterstützung in der Gruppe werden für sprachlich stärkere Schüler Erfolgserlebnisse und für sprachlich schwächere Schüler Unterstützungserlebnisse ermöglicht. Dadurch wirkt kooperatives Lernen auf alle Jugendlichen sprachfördernd. Wichtig ist die korrekte Gestaltung der Lernformen, d.h. die Einhaltung der Struktur (Think-Pair-Share) und wichtiger Grundregeln.

6.2 Zentrale Herausforderungen in der Umsetzung

6.2.1 Mangelnde Motivation

Als große Herausforderung zeigt sich die mangelnde Motivation von einigen Jugendlichen, sich insbesondere sprachlich an den Übungen innerhalb des Development Centers zu beteiligen. Dies offenbarte sich z.B. in der Passivität einiger Jugendlicher während der Übungen. Sie zeigte sich aber auch darin, dass manche Jugendliche nicht aktiv bei den Moderierenden nachgefragt haben, wenn sie den Arbeitsauftrag für eine Übung nicht verstanden haben. Dieses Verhalten und die dahinterstehende Einstellung wurden nicht nur von Lehrkräften (L 2), sondern auch von motivierten Jugendlichen (S 1) kritisiert, die stattdessen ein proaktives Mitbringen von Wörterbücher (in ihrer jeweiligen Sprache) dieser Lernenden einfordern, um diese bei Verständnisproblemen während des Development Centers – und darüber hinaus auch im täglichen Unterricht – verwenden zu können.

Zudem zeigte sich mangelnde Motivation in einer fehlenden Offenheit für sprachliche Hilfestellungen. Manche Schüler zeigten keine Bereitschaft bzw. keine Fähigkeit, sprachliche Hilfestellungen der Moderierenden anzunehmen (L 1). Die fehlende Offenheit wird dabei auf ein fehlendes Verständnis über den Sinn und Zweck einer Übung zurückgeführt. Dies hat sich insbesondere bei erlebnispädagogischen Übungen gezeigt (L 1). Eine Beobachtende benennt den Bildungshintergrund der Schüler als zusätzlichen Einflussfaktor. Die Aufforderung zur Auseinandersetzung mit den eigenen Interessen, Stärken und Erfolgen oder die Beschäftigung mit den eigenen Lebenszielen setzt ein gewisses Planungsdenken voraus. Im Elternhaus der Schüler besteht keine Bereitschaft dazu. Es herrscht dort eher ein kurzfristiges Denken vor (L1).

6.2.2 Angst, sich zu blamieren

Eine weitere Herausforderung besteht in der Angst der Jugendlichen, sich in bestimmten Situationen bzw. bei bestimmten Übungen zu blamieren. Diese Angst wurde – wie bereits unter Punkt 6.1.2 ausgeführt – v.a. vor den Präsentationen oder bei Verständnisschwierigkeiten mit einem Arbeitsauftrag erlebt.

7 Handlungsempfehlungen

Die dargestellten Ergebnisse bestätigen die prinzipielle Eignung der vorgeschlagenen vier Strukturelemente sowie Prinzipien zur sprachsensiblen Gestaltung eines handlungsorientierten Kompetenzfeststellungsverfahrens, lassen aber auch ergänzende Handlungsempfehlungen zu:

Zu den Biografie-orientierten Übungen

Es könnte sein, dass die Auseinandersetzung mit biographischen Fragestellungen für die Teilnehmenden eines Kompetenzfeststellungsverfahrens eine Premiere darstellt, da sich in ihrem sonstigen Lebensumfeld niemand dafür interessiert. Dies kann insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund betreffen. Hierauf muss behutsam eingegangen werden.

Offenheit in den Vorgaben erzeugt Freiheit und fördert den Mut, es so gut zu tun, wie ich es kann. Für die Interviewer und Impulsgeber in den Biografie-orientierten Übungen bedeutet dies die Arbeit an der Grenze zwischen dem, was an Sprachroutine bei dem Teilnehmenden vorhanden ist und dem, was „sprachliches Neuland“ darstellt. Hier können die Begleiter mit Hilfe des Angebots von 2-3 neuen sprachlichen Routinen passgenaue Sprachförderung betreiben.

Zu den Präsentationen

Es hat sich gezeigt, dass Beobachtende die Jugendlichen bei der sprachförderlichen Vorbereitung der Präsentation zusätzlich unterstützen können. Dazu zählt das Bereitstellen von Redemitteln für Beginn, Hauptteil und Abschluss der Präsentation, aber auch Angebote für das freie Reden (bspw. Unterstützung beim Satzbau oder beim Erarbeiten von neuem Wortschatz) an sich. Dafür ist eine entsprechende Schulung der Beobachtenden erforderlich.

Zu den erlebnispädagogischen Übungen

Die soziale Kohärenz in der Klasse – gibt es eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsames Kommunikationsniveau und ein ausgeprägtes Gruppengefühl – hat nicht nur Einfluss auf den Verlauf der erlebnispädagogischen Übungen, sondern umgekehrt, kann der Verlauf der Übungen ebenso als Barometer für soziale Kohärenz in der teilnehmenden Schulklasse angesehen werden. Hier liegen Informationen für das Entwicklungspotenzial der Klassengemeinschaft, die von der Klassenleitung durch den weiteren Einsatz erlebnispädagogischer Übungen im Rahmen von Schulprojekten oder geeigneten Unterrichtseinheiten aufgegriffen und genutzt werden sollten.

Zu den kooperativen Lernformen

Wenn in die Kompetenzfeststellung zahlreiche Partner- und Kleingruppenarbeiten integriert sind, sollte vorab geklärt werden, wie vertraut die Jugendlichen mit dieser Lernform sind. Liegen diesbezüglich wenig bis keine (positiven) Erfahrungen vor, ist der Gedanke der konstruktiven sprachlichen Unterstützung durch Mitglieder aus der eigenen Kleingruppe vermutlich nicht ad hoc zu vermitteln.

Um die Kooperation in den Partner- und Kleingruppenarbeiten im Development Center zu verbessern, könnten sowohl die Fragevorgaben als auch mögliche Antworten sprachlich und visuell noch stärker standardisiert werden. So kann die Sprachproduktion zwischen den Gesprächspartnern besser gelingen. Auch die Ergebnispräsentation im Plenum wird dadurch erleichtert.

Zur mangelnden Motivation der Jugendlichen

Um die notwendige Motivation zu erzeugen, ist es erforderlich, den Jugendlichen Sinn und Nutzen des Development Centers und der darin enthaltenen Übungen noch transparenter zu machen. Es muss klar werden, dass die angestrebte Selbstentdeckung eine zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufsorientierung und somit auch für einen erfolgreichen Einstieg in das Berufsleben ist. Dabei muss klar werden, wie eng die Entwicklung der eigenen Sprachkompetenz an die eigenen beruflichen Chancen gekoppelt ist. Diese Herausforderung kann während eines zweitägigen Development Centers nur teilweise bewältigt werden. Bereits vor Beginn des Development Centers sollte die Lehrkraft die Jugendlichen entsprechend vorbereiten.

Zur Angst, sich zu blamieren

Um möglichen Ängsten entgegenzuwirken, sollten klare Regeln zum Schutz der einzelnen Teilnehmenden vereinbart werden, die zu einer Atmosphäre der Sicherheit beitragen. Außerdem scheint es hilfreich, die Jugendlichen im Unterricht schrittweise auf die Herausforderungen während der Kompetenzfeststellung vorzubereiten.

8 Schlussfolgerung und Ausblick

Aufgrund der Erkenntnisse aus der hier durchgeführten Evaluation lassen sich verschiedene Schlussfolgerungen für die Sprachsensibilität als Herausforderung bei der Kompetenzfeststellung im Rahmen der Berufsorientierung ziehen:

Es ist möglich ein Development Center als handlungsorientiertes Verfahren zur Feststellung der Sozial- und Selbstkompetenzen sprachsensibel zu gestalten. Eine durchdachte sprachsensible Gestaltung kann Jugendlichen mit sprachlichen Schwierigkeiten nicht nur eine erfolgreiche Teilnahme an der Kompetenzfeststellung ermöglichen, sondern sie kann darüber hinaus auch die Förderung der sprachlichen Kompetenzen der teilnehmenden Jugendlichen anregen und unterstützen.

Die Entwicklung, Durchführung und Implementierung bedeutet in der Praxis eine große Herausforderung, aber auch eine große Chance – nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für die Schulentwicklung, die professionelle Weiterentwicklung von Lehrkräften und die Verbesserung der Qualität des Unterrichts. Hierzu bedarf es allerdings einiger Anstrengungen und Investitionen: Es erweist sich als sinnvoll und notwendig, ein solches Verfahren in der Schule zu verankern, indem die Lehrkräfte als Beobachtende am Verfahren teilnehmen und im Vorfeld dazu ausgebildet werden. Im Rahmen dieser Aus- und Weiterbildung gilt es jedoch nicht nur, entsprechende handwerkliche Fähigkeiten mit Blick auf die Sprachsensibilität zu entwickeln, sondern in einem ersten Schritt, die dafür notwendige und förderliche stärkenorientierte Einstellung zu fördern. Dies betrifft insbesondere den Umgang mit sprachlichen Defiziten oder auch Fehlern der Jugendlichen. Diese dürfen nicht zu einem verzerrten Bild hinsichtlich der Selbst- und Sozialkompetenzen im Allgemeinen führen.

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Berufsorientierung als unbeliebte Zusatzaufgabe? Einstellungen und Selbstwirksamkeitserleben von Lehrpersonen zur Berufsorientierung im Gemeinsamen Lernen der Sekundarstufe 1

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1 Schule & Berufsorientierung – neue Herausforderung in der Inklusion

Die individuelle Zukunftsplanung und die Auseinandersetzung mit möglichen (beruflichen) Anschlusswegen sind für Schülerinnen und Schüler vor der Transition in die nachschulische Lebenswelt von wachsender Bedeutung (vgl. Butz 2008, 48f.). Die Schule respektive die Lehrpersonen nehmen als Begleiter in dieser Zeit, neben Elternhaus und Peers, eine zentrale Rolle ein. Die Bedeutung im Schulkontext wird deutlich durch die Festlegung der Berufsorientierung als „verpflichtender Bestandteil für alle Bildungsgänge [der Sekundarstufe I]“ (KMK 2013, 9). Bisher wird sie jedoch, je nach Bildungsgang, in unterschiedlicher Intensität realisiert. Mit steigenden Abschlüssen verliert Berufsorientierung an Bedeutung: An Gymnasien und auch Realschulen zumeist als (gesonderte) Projekte realisiert, erfolgt an Gesamt- und Hauptschulen eine starke und mit dem Unterricht verzahnte Fokussierung. Die größte Relevanz hat die Berufsorientierung im deutschen Schulsystem in Förderschulen (hervorzuheben ist insbesondere der zieldifferente Bildungsgang des Förderschwerpunkts Lernen) – sie ist zentrale, handlungsleitende Aufgabe (vgl. Hofsäss 2007, 23; KMK 2008, 18).

Die Berufsorientierung gilt für Sonderpädagogen als didaktische Kernaufgabe (vgl. Hofsäss 2007, 23) und insbesondere im Förderschwerpunkt Lernen als zentrale Inhaltsorientierung aller Lehrpersonen – indem „eine qualifizierte Vorbereitung auf Beruf und Beschäftigung sowie auf den Übergang in die Arbeitswelt […] wesentliche Bereiche in Erziehung und Unterricht […] im Förderschwerpunkt Lernen [sind]“ (KMK 2008, 18). Demgegenüber sinkt die Einbindung der Lehrperson mit steigender Schulform – Gymnasiallehrpersonen sind i. d. R. nur gering mit der Thematik konfrontiert (vgl. Butz 2008, 243; Dimbath 2007, 168).Diese lehramtsspezifischen Differenzen und die schulscharfe Trennung der Bedürfnisse der Schülerschaft verändern sich; die Heterogenität in allen Schulformen steigt. In Folge des Inklusionsprozesses wird die allgemeine Schule zum vorrangigen Ort der sonderpädagogischen Unterstützung (vgl. MSW NRW 2014a). In allen Schulformen der Sekundarstufe I steigt somit der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf (Schuljahr 2012: 40%) (vgl. KMK 2012). Neben den allgemeinen Unterrichtsfächern ist auch die Berufsorientierung als zentrale Aufgabe der Sek. I an die Bedürfnisse aller Schülerinnen und Schüler anzupassen. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die Schülergruppe mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt Lernen, deren zieldifferenter Bildungsgang der Berufsorientierung eine besonders hohe Bedeutung zuschreibt, mit ca. 49%(in NRW) (MSW NRW 2014b, 27) den größten Anteil der integrativ beschulten Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I stellen.

Die Berufsorientierung wird somit zur zentralen Aufgabe aller Schulformen der Sekundarstufe I, die der Neuausrichtung und des Ausbaus bedarf. Zu berücksichtigen sind für die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf beispielsweise neue Kooperationspartner, erweiterte Praxiselemente, geeignete Diagnostik- und Förderansätze sowie spezifische Anschlusswege im Übergangssystem. Zu beachten ist zudem, dass Berufsorientierung zugleich Aspekte der allgemeinen Lebensgestaltung einbezieht. Insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit ‚schlechten‘ Startbedingungen in die nachschulische Lebenswelt ist diese umfassende Begleitung relevant (vgl. Regionales Bildungsnetzwerk Ennepe-Ruhr Kreis 2013, 1; Kellinghaus-Klingberg/Schwager 2002, 93). Sowohl im Inklusionsprozess im Gesamten als auch bei der Berufsorientierung im Kontext dessen sind die Lehrpersonen besonders gefordert. Bei der Berufsorientierung sind es zum einen speziell die Studien-und Berufswahlkoordinatoren – als konzeptionell und curricular (Haupt-)Verantwortliche für die Berufsorientierung der Schule, die zukünftig für ALLE Schülerinnen und Schüler der Schule zuständig sind (vgl. Franz 2014, 5f.). Zum anderen sind die gesamten Kollegien gefordert.

2 Lehrpersonen als Schlüsselpersonen der schulischen Berufsorientierung

Als überfachliche Aufgabe ohne festes Bezugsfach ist die Berufsorientierung „integraler Bestandteil einer allgemeinen Orientierung der Schule auf die Arbeits- und Berufswelt“ (Kellinghaus-Klingberg/Schwager 2002, 91). Die Berufsorientierung wird somit zur jahrgangs- und fächerübergreifenden Aufgabe der Sekundarstufe I, die gemeinschaftlich von Kollegien zu tragen ist (vgl. Butz 2008, 46). Neben dem Studien- und Berufswahlkoordinator sind folglich alle Lehrpersonen (wenn auch in unterschiedlichem Umfang) mit der Aufgabe der Berufsorientierung konfrontiert.

2.1 Relevanz der Lehrpersonen in der schulischen Berufsorientierung

Die Überfachlichkeit der Berufsorientierung bedingt jedoch häufig deren Einordnung als außerhalb des Allgemeinbildungsauftrags liegende Aufgabe, die dem fachbezogenen Unterricht nachgeordnet wird. ‚Einzelkämpferphänomen‘ und ‚Verantwortungsdiffusion‘ als zentrale Schlagwörter der Praxis schulischer Berufsorientierung fassen die häufig fehlende Bereitschaft und das mangelnde Interesse der Lehrpersonen an dieser überfachlichen Aufgabe zusammen (vgl. Dreer/Kracke 2011; Knauf 2009). Als ergänzende Aufgabe – im Kontrast zu studierten Unterrichtsfächern mit eindeutiger Fachverantwortung – nimmt die Berufsorientierung für Lehrpersonen eine Sonderrolle ein. Einfluss nehmen zudem die skizzierten Schulformunterschiede, da die Ausgestaltung in Intensität und Umfang infolge der mit den Bildungsgängen verbundenen Abschlüsse variiert. Verbunden ist dies zugleich mit unterschiedlichen Sichtweisen der Lehrpersonen auf die Relevanz der Berufsorientierung (vgl. Dimbath 2007, 175).

Die Ausgestaltung und Umsetzung der Berufsorientierung in der Sekundarstufe I ist somit schulformspezifisch – die Zielsetzungen der Schulformen bedingen differenzierte Gewichtungen der Thematik – und schulspezifisch geprägt, indem die Schulen individuelle Curricula entwickeln; auch wenn beispielsweise in NRW die Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss“ aktuell die Zielsetzung einer schulformübergreifenden verbindlichen Ausgestaltung der Berufsorientierung mittels Standardinstrumenten verfolgt. Unabhängig von den schulischen Vorgaben ist Berufsorientierung jedoch letztendlich immer lehrerspezifisch. Die Lehrpersonen sind für die Umsetzung und Ausgestaltung im Schulalltag verantwortlich und werden somit zu zentralen Kräften der Berufsorientierung. Die Lehrpersonen „sind dafür zuständig, ob in diesem Bereich überhaupt gearbeitet wird bzw. welche Inhalte auf welche Weise vermittelt werden“ (Düggeli 2009, 50).Von Bedeutung ist grundlegend die individuelle Bereitschaft der Lehrpersonen, die sich im persönlichen Engagement widerspiegelt. „Berufsorientierende Inhalte sind zwar prinzipiell im Lehrplan der einzelnen Fächer vorgesehen; die Art und Weise der Thematisierung obliegt jedoch dem Engagement des Lehrers oder der Lehrerin“ (Dimbath 2007, 175).

2.2 Professionelle Handlungskompetenz in der schulischen Berufsorientierung

Die Bereitschaft der Lehrpersonen zur Berufsorientierung, die das Engagement bedingt, rückt somit in den Fokus der Bedingungen einer effektiven Berufsorientierung. Insbesondere im Hinblick auf die erweiterte Zielgruppe der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, welche eine noch individuellere und engere Begleitung benötigen (vgl. Kellinghaus-Klingberg/Schwager 2002), ist die Bereitschaft der Lehrpersonen eine Basisvoraussetzung.

Ausdifferenziert in motivationale, volitionale und soziale Aspekte (vgl. Weinert 2001) ist die Bereitschaft zu Handeln eine Kompetenzfacette der professionellen Handlungskompetenz von Lehrpersonen in der Domäne Berufsorientierung (Abbildung 1). Im Kontext der Bereitschaft liegt der Fokus auf den professionellen Überzeugungen und Werthaltungen sowie motivationalen Orientierungen der Lehrpersonen. Als nicht-kognitive Komponente grenzt sich die Bereitschaft zu Handeln somit vom Professionswissen als zweite Kompetenzfacette ab (vgl. Baumert/Kunter 2006). Die kognitive Komponente in der Berufsorientierung bezieht sich auf dieses Professionswissen in den zentralen Aufgabenbereichen: Unterrichten, Organisieren, Kooperieren und professionelle Partner (vgl. Dreer 2013). Beide Facetten sind gleichwertig zu gewichten und für professionelles Lehrerhandeln in der Berufsorientierung unabdingbar (vgl. Kunter 2011, 259).

Abbildung 1:  Professionelle Handlungskompetenz von Lehrpersonen in der Domäne Berufsorientierung (leicht verändert nach Dreer 2013, 149; Schaper 2009)Abbildung 1: Professionelle Handlungskompetenz von Lehrpersonen in der Domäne Berufsorientierung (leicht verändert nach Dreer 2013, 149; Schaper 2009)

Wissenschaftliche Diskussionsbeiträge verweisen übereinstimmend auf die Bedeutung der professionellen Handlungskompetenz der Lehrpersonen in der schulischen Berufsorientierung als grundlegende Bedingung für hohe Qualität (vgl. Butz 2008; Brüggemann/Pichl 2011). Geschlossen konstatieren die Autoren jedoch zugleich ein schulformübergreifendes Qualifikationsdefizit der Lehrpersonen (vgl. Deeken 2008; Dreer/Kracke 2011). Neben den (allgemeinen) Lehrpersonen schließt dies auch die Studien- und Berufswahlkoordinatoren als Experten ein, die sich „ohne kontinuierliche Weiterbildung nicht optimal zu dieser pädagogischen und didaktischen Herausforderung befähigt [fühlen]“ (Brüggemann/Pichl 2011, 453).

Bezogen werden die Forschungserkenntnisse dabei ausschließlich auf die kognitive Facette professioneller Handlungskompetenz – das Professionswissen. „Im Bereich der Lehrerinnen- und Lehrerqualifikationen [in der Berufsorientierung] zeigen sich Lücken in praktisch allen denkbaren Bereichen. Es fehlt an berufs- und arbeitsweltbezogenem fachlichen Wissen, es fehlt an entwicklungspsychologischem Wissen, es fehlt an kommunikativen Fähigkeiten, es fehlt an organisatorischem Wissen“ (Butz 2008, 58). Vernachlässigt wird die zweiseitige Zusammensetzung der professionellen Handlungskompetenz, unter die Wissen und Bereitschaften fallen. Erforderlich ist der Einbezug der motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften der Lehrpersonen in der Berufsorientierung. Autoren betonen zwar deren gleichwertige Bedeutung und heben die Problematik ihrer Ausprägung in Kollegien hervor; die Erkenntnisse beziehen sich jedoch ausschließlich auf Aussagen Dritter über Lehrpersonen: der Studien- und Berufswahlkoordinatoren, Schülerinnen und Schüler oder Eltern (vgl. Knauf 2009). So stellen beispielsweise Dreer und Kracke (2011, 33) fest, dass aus Sicht von Studien- und Berufswahlkoordinatoren „in den Kollegien eine engagierte sowie qualifizierte Mitarbeit [in der Berufsorientierung] an den Schulen häufig nur unzureichend stattfindet.“

Insbesondere die Bereitschaft zu Handeln ist genauer zu hinterfragen, da sie als handlungsleitend betrachtet wird und wesentlichen Einfluss auf das Verhalten und Agieren von Lehrpersonen hat. Die Bereitschaft bildet die Basis des wahrgenommenen Engagements einer Lehrperson in der Berufsorientierung. Relevant ist sie zudem im Kontext der Inklusion, da die Bereitschaft der Lehrpersonen die Grundlage einer gelingenden Realisierung der Inklusion im Schulalltag bildet. Durch die Fokussierung der Lehrpersonensicht auf die Berufsorientierung im Kontext der Inklusion wird die Bereitschaft zur zentralen Forschungsfrage. Aufbauend auf Kunter (2011), Baumert und Kunter (2006) und Schaper (2009) kann die Bereitschaft als Teil der professionellen Handlungskompetenz über das Konzept der Einstellung und Lehrerselbstwirksamkeit beschrieben und erfasst werden. Einstellungen bilden die Überzeugungen und Werthaltungen ab, während die motivationalen Orientierungen über die Selbstwirksamkeit erfasst werden und im Zusammenspiel die sozialen, volitionalen und motivationalen Bereitschaften und Fähigkeiten bedingen (Abbildung 1).

3 Einstellung & Selbstwirksamkeit von Lehrpersonen

Ausgewählt vor dem Hintergrund ihrer Relevanz für die übergeordnete Thematik der Berufsorientierung im Gemeinsamen Unterricht, werden im Folgenden Forschungserkenntnisse zu den zentralen Kategorien der Einstellung und Lehrerselbstwirksamkeit skizziert.

„Attitude is a psychological tendency that is expressed by evaluating a particular entity with some degreee of favor or disfavor“ (Eagly/Chaiken 1993, 1). Einstellungen beziehen sich demnach auf sämtliche Aspekte des menschlichen Lebens. Sie beinhalten kognitive, affektive und behaviorale Komponenten, die positiv oder negativ gewichtet sein können (vgl. Aiken 1996, 226). Die Einstellung einer Person bildet die Basis der Einschätzung einer Situation und möglicher Handlungen (vgl. Kunz/Luder/Moretti 2010). Der direkte Zusammenhang von Einstellungen und Handeln ist jedoch umstritten – vielmehr ist von einer Verhaltensrelevanz der Einstellung auszugehen, die die menschlichen Intentionen beeinflusst. Stand in der schulischen Forschung lange Zeit vorrangig das Professionswissen im Fokus, gewinnen zunehmend nicht-kognitive Komponenten wie Einstellungen an Bedeutung (vgl. Kunter 2011). In der gegenwärtigen Fachdiskussion bezieht sich die schulische Einstellungsforschung vor allem auf die Inklusionsdebatte und die Perspektive unterschiedlicher Akteure (z. B. Avramidis/Norwich 2002). Die Studien konstatieren übereinstimmend die Bedeutsamkeit der positiven Einstellung aller Akteure als Basis einer gelingenden Umsetzung von Innovationen wie der Inklusion.

Untersucht wurden neben der Inklusion auch Einstellungen von Lehrpersonen zu ausgewählten Unterrichtsfächern oder -themen (vorrangig Mathematik und Naturwissenschaften). Studien zu fächerübergreifenden Aufgabenbereichen, wie der Berufsorientierung, sind jedoch nur in geringem Umfang vertreten. Einzelerhebungen zu Einstellungen zur Berufsorientierung finden sich im deutschsprachigen Raum nicht; die wenigen existenten Instrumente sind in übergeordnete Erhebungen mit anderen Schwerpunkten integriert und umfassen zumeist nur zwei bis vier Items (u. A. Dreer 2013). Im Unterschied zu spezifischen Fächern können internationale Studien im Kontext Berufsorientierung aufgrund der fehlenden Vergleichbarkeit zudem nicht bzw. nur begrenzt einbezogen werden – bedingt durch das spezifische deutsche Übergangs-, Ausbildungs- und Berufssystem.

Neben der Einstellung sollte im Kontext der Bereitschaft zu Handeln jedoch zudem die Selbstwirksamkeit als Komponente der motivationalen Orientierung einbezogen werden. Im Unterschied zur Einstellung wird bei der Kompetenzeinschätzung einer Person ein direkter Zusammenhang mit dem praktischen Handeln angenommen. Von Interesse ist im Kontext der vorliegenden Arbeit die Lehrerselbstwirksamkeit als bereichsspezifische Form der allgemeinen Selbstwirksamkeit.Basierend auf der sozial-kognitiven Theorie Banduras (1997) ist Lehrerselbstwirksamkeit zu definieren als „teachers’ belief in her or his ability to organize and execute the courses of action required to successfully accomplish a specific teaching task in a particular context“ (Tschannen-Moran/Woolfolk Hoy/Hoy 1998, 233). Im Fokus steht die subjektive Einschätzung der eigenen Fähigkeiten durch Lehrpersonen, die kontextspezifisch zu interpretieren ist. Die Selbstwirksamkeit von Lehrpersonen ist demnach in Bezug zu einzelnen Unterrichtsfächern und Kontexten zu setzen (vgl. Gibson/Dembo 1984). Nur wenige Studien berücksichtigen jedoch diese Spezifität und erheben die Lehrerselbstwirksamkeit in einzelnen Fächern mit domänenspezifischen Instrumenten (Bandura 1997, 243; Riggs/Enochs 1990). Spezifische Erhebungen verweisen auf eine niedrige Selbstwirksamkeit von Lehrpersonen im fachfremden Unterricht (vgl. Ross et al. 1999) und zeigen kontextbezogen den Einfluss der Schulform auf – Lehrpersonen der Primarstufe verfügen demnach über eine höhere Selbstwirksamkeit als Lehrpersonen der Sekundarstufe I (Coladarci/Breton 1997). Die Ausprägung der Selbstwirksamkeit bedingt indirekt den Handlungserfolg, indem sie – in motivationaler und volitionaler Hinsicht – die Auswahl von Handlungen, die Ausdauer bei Schwierigkeiten und die investierte Anstrengung beeinflusst (vgl. Schmitz/Schwarzer 2000, 13). So sind Lehrpersonen mit hoher Selbstwirksamkeit motivierter, offener gegenüber Innovationen, betrachten den Umgang mit schwierigen Schülerinnen und Schülern als zu bewältigende Herausforderung und zeigen ein höheres Engagement (u. A. Coladarci/Breton 1997; Tschannen-Moran et al. 1998). Eine hohe Lehrerselbstwirksamkeit wirkt sich demnach auch positiv auf die Einstellung zur Inklusion aus (Coladarci/Breton, 1997; Heyl/Seifried 2014) und stärkt die Bereitschaft Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf zu unterrichten und zu betreuen (Brownell/Pajares, 1999).

Als relevant wird eine hohe Selbstwirksamkeit der Lehrpersonen auch für die fächerübergreifende Aufgabe der Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf erachtet. Als (nicht-studierter/fachfremder) Arbeitsbereich erfordert die Berufsorientierung ein besonderes Engagement und die individuelle Einarbeitung – sowie im Kontext der Inklusion – innovative Ansätze und die vertiefte Beschäftigung mit der Zielgruppe. Studien, die die Lehrerselbstwirksamkeit in der Berufsorientierung – sowohl allgemein, als auch im Kontext von Inklusion – untersuchen, stehen jedoch bislang noch aus.

Die Forschungsergebnisse zeigen die Bedeutsamkeit von Einstellungen und Selbstwirksamkeitserleben als Basis engagierten pädagogischen Handelns auf und verweisen zugleich auf ein Forschungsdefizit im fokussierten Kontext der schulischen Berufsorientierung (im Gemeinsamen Lernen).

4 Empirische Erhebung

Ausgehend vom geschilderten Problemhintergrund besteht das Ziel der vorliegenden Studie in der Erhebung und dem Vergleich der Einstellung von Lehrpersonen verschiedener Schulformen zur Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf. Zudem wird untersucht, welchen Einfluss die Lehrer-Selbstwirksamkeit in der Berufsorientierung, die Rahmenbedingungen der Berufsorientierung an der jeweiligen Schule sowie Einstellung der Lehrpersonen zur Inklusion und ihre Erfahrungen mit Inklusion haben.

4.1 Methodik

Tabelle 1: Stichprobenverteilung nach Ausbildung und Schulform (Lehrpersonen)

  Schulform Gesamt-
summe
Haupt-
schule
Real-
schule
Gesamt-
schule
Gym-
nasium
Sekundar-
schule
Förder-
schule
Aus-
bildung
Regelschule 126 48 39 2 10 5 230
Sonderpädagogik 12 7 9 0 0 113 141
Gesamtsumme 138 55 48 2 10 118 371

In die Erhebung im Schuljahr 2013/2014 wurden 201 Schulen aus dem Regierungsbezirk Arnsberg in Nordrhein-Westfalen einbezogen. Die Stichprobe umfasst Regelschulen (Haupt-, Real-, Gesamtschulen, Sekundar- und Gemeinschaftsschulen sowie Gymnasien) mit integrativen Lerngruppen (n=153) sowie Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen (n=48). Die höchsten Rückläufe waren bei den Förderschulen (54%) und den Hauptschulen (48%) zu verzeichnen, am geringsten waren sie bei den Gymnasien (4%) sowie den Gemeinschafts- (0%) und Sekundarschulen (1%). Gründe für die differierenden Rücklaufquoten sind darin zu sehen, dass die Berufsorientierung nach Auskunft der Studien- und Berufswahlkoordinatoren überwiegend (45%) erst in der 7. Klasse beginnt, die Inklusion sich in der Sekundarstufe I jedoch noch im Aufbau befindet. Insbesondere die Gemeinschafts- und Sekundarschulen als neue Schulformen sowie die Gymnasien verfügen noch nicht über entsprechende Erfahrungen.

Insgesamt wurden die Daten von 69 Studien- und Berufswahlkoordinatoren (n=43 Regelschulen und n=26 Förderschulen) und 371 Lehrpersonen (Regelschullehrer, Sonderpädagogen im GU und Sonderpädagogen an Förderschulen – siehe Tabelle 1) erhoben. Von den Lehrpersonen waren 66% weiblich und 34% männlich, mit einem Durchschnittsalter von 46-60 Jahren. Die Studien- und Berufswahlkoordinatoren waren zu 60% männlich und zu 40% weiblich und mehrheitlich zwischen 46-60 Jahre alt. Die mittlere Berufstätigkeit der Lehrpersonen und der Studien- und Berufswahlkoordinatoren lag bei 11-20 Jahren. In ihrer Funktion als Studien- und Berufswahlkoordinatoren waren die befragten Personen mehrheitlich zwischen 5-10 Jahren tätig. Der Median der Lehrpersonen pro erfasstem Studien- und Berufswahlkoordinator liegt bei 4 (MAD = 5).

Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurde eine standardisierte Fragebogenerhebung durchgeführt, die die Einstellung von Lehrpersonen und die Lehrer-Selbstwirksamkeitin der Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern (1) ohne und (2) mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf (Eigenentwicklung) erhebt. Im Kontext von Inklusion wurden zudem die Einstellung zur Integration (EZI-D, Kunz et al. 2010) und die allgemeine Lehrer-Selbstwirksamkeit (Schwarzer/Jerusalem 1999) ermittelt. Als deskriptive Daten wurden das Geschlecht, das Alter, die Berufserfahrung sowie die Erfahrungen mit Gemeinsamen Unterricht der Lehrpersonen erhoben. Die Rahmenbedingungen der Berufsorientierung an Schulen, mit den drei Schwerpunkten Angebotsstruktur und -gestaltung, Kooperationen und Qualifikationen des Kollegiums, wurden über die Studien- und Berufswahlkoordinatoren hinterfragt.

Das Instrument zur Erfassung der Einstellung von Lehrpersonen zur Berufsorientierung stellt – aufgrund fehlender geeigneter Instrumente (vgl. Kapitel 3) – eine Eigenentwicklung dar und umfasst 11 Items, die die Perspektive der Lehrpersonen auf zentrale Inhalts- und Aufgabenbereiche fokussieren. Diese wurden auf einer sechsstufigen Skala von „stimme gar nicht zu“ bis „stimme völlig zu“ erfasst (Beispielitem „Die schulische Berufsorientierung ist Aufgabe aller Lehrpersonen der Schule und darf nicht Aufgabe einzelner ausgewählter Lehrpersonen sein.“) (Cronbach’s αSUSmitspU=.67; Cronbach’s αSUS_RS=.64). Die Items wurden durch Rückgriff auf theoretische Ausführungen effektiver Berufsorientierung formuliert (u. a. Butz 2008; Deeken 2008) und hinterfragen Sichtweise und Bereitschaft der Lehrpersonen zur Verantwortungsübernahme in der Berufsorientierung (z. B. Stellenwert Berufsorientierung im Schulalltag, Bereitschaft zur Integration der Berufsorientierung in den eigenen Unterricht, Relevanz der Berufsorientierung für die Schülerschaft, erlebte Zuständigkeiten in der Berufsorientierung).

Die 11 Items umfassende Skala zur Erhebung der Lehrer-Selbstwirksamkeit in der Berufsorientierung ist ebenfalls neu entwickelt worden und umfasst eine sechsstufige Skala („stimme gar nicht – stimme völlig zu“). Die subjektive Einschätzung der Fähigkeiten bezieht sich auf die (Kompetenz-)Anforderungen an Lehrpersonen in der Berufsorientierung. Die Itemformulierung erfolgte unter Rückgriff auf Forschungserkenntnisse zu zentralen Aufgabenbereichen in der Domäne Berufsorientierung: Unterrichten, Organisieren, Kooperieren, professionelle Partner (vgl. Dreer 2013). Ausgewählt wurden 11 spezifische Anforderungsbereiche, die in Items überführt wurden (Beispielitem „Ich kenne geeignete Medien und Materialien zum Einsatz in der schulischen Berufsorientierung und kann diese gezielt im Unterricht einsetzen“). Eine Reliabilitätsüberprüfung der vorliegenden Werte ergab sehr gute interne Konsistenzen (Cronbach’s αSUSmitspU=.94; Cronbach’s αSUS_RS=.90).

Beide Instrumente liegen in zwei Versionen vor und beziehen sich zum einen auf Schülerinnen und Schüler ohne und zum anderen auf solche mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, so dass eine differenzierte Sichtweise ermöglicht wird. Die Skalen mit Bezug zu Regelschülern wurden nur den Regelschullehrern vorgelegt. In einem zuvor durchgeführten Pretest zeigten beide Instrumente zufriedenstellende Werte.

Der EZI-D (Kunz et al. 2010) umfasst die Komponenten schulische Förderung und Integration sowie soziale Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf. Mittels 11 Items, die auf einer sechsstufigen Likert-Skala beantwortet werden, wird die Einstellung von Lehrpersonen zur Integration erfasst („Je mehr Zeit Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen in einer Regelklasse verbringen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die Qualität ihrer schulischen Förderung verbessert“). Eine Reliabilitätsüberprüfung der vorliegenden Werte ergab zufriedenstellende interne Konsistenzen (Cronbach’s α=.87).

Zur Messung der allgemeinen motivationalen Orientierung der Lehrpersonen wurde als bewährtes Instrument zudem die Lehrer-Selbstwirksamkeitsskala von Schwarzer und Jerusalem (1999) eingesetzt, die zentrale Kompetenzbereiche des Lehrerberufs umfasst. In einer modifizierten Version wurden diese auf einer sechsstufigen Skala („stimme gar nicht zu – stimme völlig zu“) erfasst. Die Reliabilitätsüberprüfung der vorliegenden Werte ergab einen Cronbach’s Alpha von .84 und ist zufriedenstellend.

4.2 Ergebnisse

Im Folgenden werden erste Ergebnisse der im Sommer 2014 abgeschlossenen Erhebung vorgestellt. Eine ausführliche Darstellung und Diskussion erfolgt zu einem späteren Zeitpunkt in einer Monographie. Ausgehend von der Vorstellung ausgewählter Rahmenbedingungen werden deshalb einige ausgesuchte Daten der Skalen zur Erhebung von Einstellungen zur Berufsorientierung, der Selbstwirksamkeit in der Berufsorientierung sowie zur Einstellung zur Integration thematisiert.

4.2.1 Rahmenbedingungen der Berufsorientierung

An der schulischen Berufsorientierung wirken verschiedene Personengruppen mit. Differenziert nach Organisation und Durchführung der Berufsorientierung zeigten sich unterschiedliche Perspektiven der Studien- und Berufswahlkoordinatoren (n=69) und Lehrpersonen (n=371) auf die Anteile der Beteiligten an der schulischen Berufsorientierung.

Insgesamt zeigten die Einschätzungen, dass neben den Studien- und Berufswahlkoordinatoren die Klassenlehrpersonen die Hauptinvolvierten in der schulischen Berufsorientierung für Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf waren. Die Organisation lag dabei aus der Perspektive aller Befragten vorrangig in den Händen der Studien-und Berufswahlkoordinatoren – diese schätzten ihren Anteil selbst im Vergleich zu den Lehrpersonen noch höher ein. Hohe Anteile in der Organisation der Berufsorientierung hatten zudem die Klassenlehrer und aus Sicht der Lehrpersonen die Sonderpädagogen. Die Fachlehrer, Schulleitungen und Externen waren demgegenüber nach Einschätzung der Befragten mit weniger als 60% in die Organisation eingebunden.

Mit dem Schwerpunkt der Durchführung (siehe Abbildung 2) übernehmen die Klassenlehrer den Hauptanteil der schulischen Berufsorientierung. Während die Studien- und Berufswahlkoordinatoren ihren eigenen Anteil als zurückgehend einschätzen, sehen die Lehrpersonen diese weiterhin als zentrale Beteiligte an – mit einer noch stärkeren Einbindung als in der Organisation. Verstärkt eingebunden werden zudem aus beiden Perspektiven die Fachlehrer sowie externe Personen. Die Sonderpädagogen haben einen mit der Organisation vergleichbaren Anteil, der deutlich hinter dem der Klassenlehrer zurückbleibt. Die Lehrpersonen schätzen deren Anteil jedoch erneut höher ein als die Studien- und Berufswahlkoordinatoren. Niedrig bleibt weiterhin der Anteil der Schulleitungen.

Anmerkung. Die Einschätzung der Beteiligung der Sonderpädagogen bezieht sich auf das Gemeinsame Lernen und wurde ausschließlich von an Regelschulen tätigen Befragten eingeschätzt (n=253 Lehrpersonen, n=43 StuBos), alle anderen Einschätzungen umfassen die gesamte Stichprobe (n=371 Lehrpersonen, n=69 StuBos).

Abbildung 2: Anteile in der Durchführung der Berufsorientierung (aus Perspektive der Studien- und Berufswahlkoordinatoren & Lehrpersonen)Anmerkung. Die Einschätzung der Beteiligung der Sonderpädagogen bezieht sich auf das Gemeinsame Lernen und wurde ausschließlich von an Regelschulen tätigen Befragten eingeschätzt (n=253 Lehrpersonen, n=43 StuBos), alle anderen Einschätzungen umfassen die gesamte Stichprobe (n=371 Lehrpersonen, n=69 StuBos).

Abbildung 2: Anteile in der Durchführung der Berufsorientierung (aus Perspektive der Studien- und Berufswahlkoordinatoren & Lehrpersonen)

Im Kontext der Berufsorientierung für Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf sind Veränderungen und Neuerungen der Berufsorientierungsangebote in den Schulen erforderlich. Die Veränderungen bestehender Angebote stiegen mit dem Erfahrungszeitraum der Schulen mit der neuen Schülergruppe. Hatten Schulen mit weniger als 3 Jahren Erfahrung mit Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf nur zu 13% (n=16) Veränderungen der Berufsorientierungsangebote vorgenommen, bestätigten dies 47% (n=15) der Schulen mit 4-6 Jahren Erfahrung und 58% (n=12) der Schulen mit mehr als sechsjähriger Erfahrung. Neue Angebote führten die Schulen demgegenüber seltener ein, mehr als die Hälfte aller Schulen (58%) gab keine Neuerungen an, 23% befanden sich in der Planung – dies waren vorrangig Schulen mit kurzen Erfahrungszeiträumen.

Von Interesse war zudem, ob die Schulen Fortbildungen zur Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf wahrgenommen haben. Mit 23% bestätigten weniger als ein Viertel der befragten Schulen (n=10) die Teilnahme, 26% (n=11) der Schulen gaben an die Teilnahme zu planen. Über die Hälfte der befragten Regelschulen hatten Fortbildungen demgegenüber noch gar nicht thematisiert (n=22).

4.2.2 Einstellung von Regelschullehrpersonen zur Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf

Im Fokus der Erhebung steht, aufgrund der theoretischen Erkenntnisse, die Einstellung der Lehrpersonen zur Berufsorientierung von Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf. Der theoretische Mittelwert beider Skalen liegt bei einem Minimalwert von 1 und einem Maximalwert von 6 bei 3.5 Punkten.

Mit 4.65 Punkten (n=268, SD=.62) liegt der Mittelwert der Regelschullehrpersonen zur ‚Einstellung zur Berufsorientierung von Schülern ohne Unterstützungsbedarf‘ über dem theoretischen Mittelwert (Tabelle 2). Die durchschnittliche Varianz liegt bei .38. Die Kollegien der Hauptschulen (M=4.69, SD=.60) und Sekundarschulen (M=4.62, SD=.63) waren am positivsten zur Berufsorientierung eingestellt. Es lagen jedoch keine signifikanten Unterschiede zu den anderen Schulformen vor. Ein für den Faktor Schulform gefundener signifikanter Haupteffekt (F(4,258)=4.43, p<0.05* – bedingt durch die Gymnasien (M=3.27)) ist aufgrund der Stichprobengröße (n=3) nicht zu interpretieren.

Tabelle 2:     Einstellung zur Berufsorientierung von Regelschülernund von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf

Einstellung zur Berufsorientierung von N Minimum Maximum Mittelwert SD Varianz
Regelschülern 268 2.36 5.82 4.65 .62 .38
SuS mit spU 440 1.25 6.00 4.63 .65 .42

Die Studien- und Berufswahlkoordinatoren zeigten eine durchgehend positivere Einstellung zur Berufsorientierung von Regelschülern (M=4.85, SD=.59) als ihre Kollegien (M=4.61, SD=.62). Es lagen jedoch keine signifikanten Haupteffekte für die Faktoren Schulform oder Rolle (Lehrperson/Studien- und Berufswahlkoordinator) vor.

4.2.3 Einstellung von Regelschullehrpersonen und Sonderpädagogen zur Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf

Die Auswertung der Item-Mittelwerte der Skala ‚Einstellung zur Berufsorientierung von Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf‘ für die Gesamtstichprobe verweist auf einen etwas niedrigeren Mittelwert als bei den Regelschülern (M=4.63, SD=.65), liegt jedoch immer noch über dem theoretischen Mittelwert. Die Varianz ist mit .42 etwas höher (Tabelle 2).

Die höchsten und zudem überdurchschnittlichen Mittelwerte wiesen die Sonderpädagogen (M=4.81, SD=.57) auf, gefolgt von den Studien- und Berufswahlkoordinatoren an Förderschulen (M=4.78, SD=.50). Eine Varianzanalyse zeigte einen signifikanten Haupteffekt für den Faktor Ausbildung der Lehrpersonen (F(5,424)=4.01, p <0.05*). Niedrigere Mittelwerte der Regelschullehrpersonen (M=4.48, SD=.67) und der Studien- und Berufswahlkoordinatoren der Regelschulen (M=4.69, SD=.67) verdeutlichten dies. Sie lagen unter den Werten der Einstellung zur Berufsorientierung von Regelschülern (siehe vorheriger Abschnitt).

4.2.4 Selbstwirksamkeit der (Regelschul-)Lehrpersonen in der Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf

Die Analyse der Selbstwirksamkeit von Lehrpersonen in der Berufsorientierung von Regelschülern zeigte, dass die Studien- und Berufswahlkoordinatoren der Regelschulen sich im Vergleich zu ihren Kollegien als wirksamer einschätzten (M=4.67, SD=.65). Sie unterschieden sich höchst signifikant von den Lehrpersonen ohne Verantwortung in der Berufsorientierung (F(1,258)=14.98, p<0.001***). Am Wirksamsten schätzten sich die Studien-und Berufswahlkoordinatoren am Gymnasium sowie der Realschule ein, es lagen jedoch keine signifikanten Schulformunterschiede vor (Item-Mittelwerte der Gesamtauswertung siehe Tabelle 3).

Tabelle 3:     Lehrer-Selbstwirksamkeit in der Berufsorientierung von Regelschülern und von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf

SWE in der BO von N Minimum Maximum Mittelwert SD Varianz
Regelschülern 268 1.09 6.00 3.98 .97 .93
SuS mit spU 440 1.00 6.00 3.53 1.25 1.57
4.2.5 Selbstwirksamkeit der Regelschullehrpersonen und Sonderpädagogen in der Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf

Insgesamt liegen die Item-Mittelwerte der Selbstwirksamkeitseinschätzung in der Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf mit einem Wert von M=3.53 unter dem Mittelwert in Bezug auf Regelschüler (vgl. Tabelle 3).

Am wirksamsten in der Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf schätzten sich mit einem Mittelwert von 4.85 (SD=.60) die Studien- und Berufswahlkoordinatoren der Förderschulen sowie die Sonderpädagogen an Förderschulen (M=4.33, SD=.97) und im Gemeinsamen Lernen ein. Die Sonderpädagogen unterschieden sich höchst signifikant von den Lehrpersonen mit Regelschulschwerpunkt (F(1,424)=20.82, p<0.001***).

Im Schulformvergleich der Regelschulen zeigten die Haupt- und Gesamtschulen die positivsten Werte. Die Studien- und Berufswahlkoordinatoren der Regelschulen beurteilten ihre Wirksamkeit im Unterschied zur Zielgruppe der Regelschüler durchgehend negativer; grenzten sich jedoch immer noch von den (Regelschul-)Kollegien, als Gruppe mit der negativsten Wirksamkeitseinschätzung im Gruppenvergleich ab.

4.2.6 Einstellung zur Integration

Von den befragten 440 Lehrpersonen verfügten 73% über Erfahrungen im Gemeinsamen Lernen, die zu 79% in der Sekundarstufe I gesammelt worden waren. Mehr als die Hälfte der Personen (56%) gab zudem an, Erfahrungen mit Integrativen Lerngruppen gesammelt zu haben. Die Gesamterfahrungszeiträume der Lehrpersonen umfassten bei über 40% der befragten Lehrpersonen durchschnittlich zwischen 2 bis 5 Jahre.

Die mit dem EZI-D erfasste ‚Einstellung zur Integration‘ aller Lehrpersonen lag im Gesamten leicht im negativen Bereich (n=440, M=3.29, SD=.94) und war bei den Sonderpädagogen (n=167, M=3.02, SD=.98) niedriger ausgeprägt als bei den Regelschullehrpersonen (n=273, M=3.46, SD=.88). Am negativsten war die Einstellung der Sonderpädagogen an Förderschulen (n=139, M=2.88, SD=.90). Die positivsten Einstellungen zu Integration vertraten demgegenüber die Regelschullehrer der Gesamt- (n=46, M=3.59, SD=.83) und Hauptschulen (n=151, M=3.58, SD=.89).

4.2.7 Allgemeine Lehrerselbstwirksamkeit

Die allgemeine Lehrerselbstwirksamkeit schätzten die befragten Personen insgesamt hoch und überdurchschnittlich ein (n=440, M=4.66, SD=.63). Die positivsten Selbstwirksamkeitserwartungen zeigten im Durchschnitt die Sonderpädagogen (Lehrpersonen und Studien- und Berufswahlkoordinatoren).

Im Vergleich zwischen Studien- und Berufswahlkoordinatoren der Regelschulen, Lehrpersonen an Regelschulen und Sonderpädagogen im Gemeinsamen Lernen wurde deutlich, dass die Studien- und Berufswahlkoordinatoren die höchsten Werte angaben, gefolgt von den Sonderpädagogen. Die niedrigsten Werte hatten stets die (Regelschul-)Kollegien. Im Schulvergleich gaben die Gymnasien und Realschulen die positivsten und die Sekundar- und Hauptschulen die negativsten Einschätzungen ihrer Selbstwirksamkeit ab. Es ergab sich ein signifikanter Haupteffekt für den Faktor Schulform (F(5,424)=2.34, p=<0.05*) sowie ein signifikanter Interaktionseffekt für die Faktoren Schulform und Ausbildung (Sonderpädagogik/Regelschullehramt) (F(3,424)=3.07, p<0.05*).

5 Diskussion und Ausblick

Die ersten hier vorgelegten Ergebnisse verdeutlichen grundlegend differenzierte Perspektiven auf den Prozess der Berufsorientierung im Gemeinsamen Lernen der Sekundarstufe I. Der Umfang der Involvierung in den Prozess der Berufsorientierung sowie die Profession der Lehrpersonen können auf Grundlage der ersten Analysen als zentrale Einflussgrößen identifiziert werden. Zu interpretieren sind die Ergebnisse vor dem Hintergrund, dass die befragten Personen überwiegend bereits längere Erfahrungen in der gemeinsamen Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf sammeln konnten und insbesondere die Regelschullehrer – entgegen der theoretischen Vorannahmen – positivere Einstellungen zur Integration zeigten als die Sonderpädagogen. Begründet werden können diese Unterschiede möglicherweise mit den gesammelten Erfahrungen der Personen sowie bezüglich der negativen Einstellung der Sonderpädagogen mit dem Einfluss der aktuell unsicheren Situation der Förderschulen und infolge dessen bedingter Zukunftsängste.

Es besteht Konsens über die Berufsorientierung aller Schülerinnen und Schüler als fächer- und professionsübergreifende Aufgabe der Sekundarstufe I, deren zentrale Personen aus Sicht der Befragten neben den Studien- und Berufswahlkoordinatoren vor allem die Klassenleitungen/ Regelschullehrpersonen sind. Dieses ergibt sich aus der überwiegenden Praxis der Integration der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in vorhandene Berufsorientierungsangebote der Schulen, die von den Regelschullehrpersonen verantwortet werden. Kritisch zu betrachten ist, dass die Regelschullehrpersonen insbesondere in der Durchführung diese Hauptverantwortung ablehnen und auf die Studien- und Berufswahlkoordinatoren sowie Sonderpädagogen verweisen. Es kann somit von einem mangelnden Bewusstsein der Regelschullehrpersonen für ihre zentrale Stellung in der Berufsorientierungspraxis ausgegangen werden. In der schulischen Praxis spiegelt sich dieses in dem von Dritten wahrgenommenen mangelnden Engagement der Lehrpersonen wieder. Die Ergebnisse der durchgeführten Erhebung verdeutlichen jedoch, dass die Ursachen für die eingenommenen Perspektiven der befragten Personen tiefer liegen: in den Einstellungen und dem Selbstwirksamkeitserleben der Lehrpersonen.

Grundsätzlich zeigen sich unabhängig von der Konfrontation aller Lehrpersonen mit der Berufsorientierung der Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf deutliche Unterschiede in der diesbezüglichen Einstellung. So ergeben sich professionsspezifische Unterschiede, die positivere Einstellungen zur Berufsorientierung der jeweiligen Zielgruppe (Sonderpädagogen – SuS mit sonderpäd. Unterstützungsbedarf/ Regelschullehrer – Regelschüler) hervorrufen. Es ergeben sich zudem rollenspezifische Unterschiede. Die Kollegien der Regelschulen und somit auch die besonders involvierten Klassenleitungen geben eine durchgehend negativere Einstellung zur Berufsorientierung als die Studien- und Berufswahlkoordinatoren an. Dies gilt verstärkt für die Berufsorientierung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, aber auch für die der Regelschüler. Eine Erklärung für die Unterschiede wird zum einem im mangelnden Bewusstsein für die Relevanz der Berufsorientierung im Schulalltag/ für die Schülerinnen und Schüler gesehen – begründet durch die überfachliche Rolle der Berufsorientierung, die fachfremd übernommen werden muss. Zum anderen können die gesammelten Erfahrungen bzw. der Kontakt mit dem Aufgabenfeld der Berufsorientierung als Einflussfaktor auf die Einstellung der Lehrpersonen betrachtet werden. Diese erklärt auch die Differenzen zwischen den Perspektiven der Studien- und Berufswahlkoordinatoren und der Gesamtkollegien. Gestützt wird die „Erfahrungshypothese“ auch durch weitere Erkenntnisse der durchgeführten Erhebung: Die Einstellungen differenzieren nach Schulformen. Vor allem in Schulformen, welche die Berufsorientierung eher als Randthema betrachten, zeigen die Befragten die negativsten Einstellungen und haben zugleich im Hinblick auf die Berufsorientierung der Schülerschaft mit Unterstützungsbedarfen die größten Handlungsbedarfe. Erforderlich sind grundsätzlich gesonderte und neue Angebote in der Berufsorientierung für die Schülerschaft mit besonderen Bedarfen, die bislang ausschließlich in bestehende (wenn vorhandene Angebote) integriert werden -eine Diskrepanz, die zu Lasten der Schülerinnen und Schüler geht und dringender Veränderung bedarf. Bereits bei der Ansprache der Schulen zur Vorstellung der Studie zeigten sich diese schulformspezifischen Differenzen mit der Konsequenz der ungleichen Stichprobenverteilung. Es ist somit von einer Wechselwirkung von Erfahrungen, Einstellungen und Handlungsbereitschaft auszugehen. Diese Ergebnisse sind von Bedeutung, da die positive Einstellung zur Berufsorientierung aller als Basis einer erfolgreichen Realisierung betrachtet wird. Sowohl die Kollegien, aber insbesondere die Studien- und Berufswahlkoordinatoren, sind maßgeblich für Ausgestaltung verantwortlich. Die Einsicht in die Bedeutsamkeit der Berufsorientierung für die Schülergruppe mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf und auch die Offenheit für neue Erfahrungsräume sind daher unabdingbar.

Zugleich wird jedoch auch die Unsicherheit der Beteiligten mit der Aufgabe der Berufsorientierung aller Schülerinnen und Schüler deutlich. Die Selbstwirksamkeitserwartung der Befragten in der Berufsorientierung fällt im Mittel negativer als die Einstellung aus, gilt jedoch zugleich als handlungsleitender. Zurückgeführt werden kann die negativere Gewichtung der Selbstwirksamkeit auf deren Praxisnähe: Bildet die Einstellung grundsätzliche Sichtweisen ab, bezieht sich die Selbstwirksamkeit auf subjektive Fähigkeitseinschätzungen. Die Lehrpersonen sind demzufolge subjektiv nicht bzw. nur wenig von ihren eigenen Fähigkeiten in der Berufsorientierung überzeugt. Der in der Erhebung aufgezeigte Aus- und Fortbildungsmangel (der Gesamtkollegien) in der Domäne Berufsorientierung wirkt sich in diesem Kontext aus. In der Konsequenz kann dies zu einer nicht ausreichenden Ausgestaltung der Berufsorientierung im Schulalltag führen, da nur eine hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung sich positiv auf die Motivation und das Handeln auswirken. Erneut ergeben sich rollenspezifische Unterschiede zwischen Studien- und Berufswahlkoordinatoren und Kollegien, die sich im Vergleich als weniger selbstwirksam einschätzen. In Bezug auf die Schülerschaft mit Unterstützungsbedarf wird zudem die Profession der Lehrpersonen zentral. Bewerten Sonderpädagogen sich im Hinblick auf die Berufsorientierung der Schülergruppe mit Unterstützungsbedarfen als hoch wirksam, trifft dies für die Regelschulehrpersonen vorrangig für die Zielgruppe der Regelschüler zu.

Die aus den ersten Analysen abgeleiteten rollen- und professionsspezifischen Einflüsse auf die Einstellungen und die Lehrerselbstwirksamkeit in der Berufsorientierung bestätigen grundlegend die übergeordnete Annahme der Berufsorientierung als unbeliebte Zusatzaufgabe der Kollegien im Gemeinsamen Lernen. Insbesondere die stark eingebundenen bzw. geforderten (Regelschul-)Lehrpersonen zeigen die negativsten Einstellungen und Selbstwirksamkeitseinschätzungen. Diese Erkenntnis ist in weiteren Analysen spezifischer zu untersuchen und auf weitere Einflussgrößen zu überprüfen. Bereits zum jetzigen Auswertungszeitpunkt sind jedoch die Faktoren der Erfahrungsräume und Weiterbildungsangebote als relevant zu erachten.

Deutlich wird grundlegend, dass die Annahme der Berufsorientierung als Aufgabe aller Lehrpersonen im Gemeinsamen Lernen für eine effektive Praxis nicht ausreicht. Um ihre Rolle als „unbeliebte Zusatzaufgabe“ zu überwinden, ist es erforderlich ein Bewusstsein für die Relevanz der differenzierten Einstellungen und Selbstwirksamkeitserwartungen involvierter Lehrpersonen in der Berufsorientierung zu schaffen. Dieses richtet sich sowohl an Verantwortliche in übergeordneten Organisationsebenen, wie den Koordinierungsstellen der Bezirksregierungen (in Nordrhein-Westfalen), aber auch an die Schulleitungen und Studien- und Berufswahlkoordinatoren. Multiplikatorenansätze zur Weiterbildung reichen nicht aus – erforderlich werden Angebote für Gesamtkollegien. Neben der Vermittlung von Professionswissen ist ein Schwerpunkt auf der Verdeutlichung der Relevanz und Notwendigkeit der umfassenden Berufsorientierung für die Schülerschaft mit besonderen Bedarfen zu setzen. Zudem sind die Einflussmöglichkeiten und die Bedeutsamkeit der (Klassen-)Lehrpersonen im Berufsorientierungsprozess aufzuzeigen. Unterstützend können zudem Supervisionsangebote zur Begleitung von Praxiserfahrungen wirken.

Die weiteren Schritte der vorgestellten Untersuchung orientieren sich an der Zielsetzung des vertieften und differenzierten Erkenntnisgewinns zu Einstellungen und Selbstwirksamkeitserwartungen von Lehrpersonen in der Berufsorientierung im Gemeinsamen Lernen sowie weiteren Einflussgrößen und Kontextbedingungen. Die Gesamterkenntnisse sollen zur Qualitätsverbesserung der Berufsorientierung im Gemeinsamen Lernen beitragen, indem Verantwortliche für die Relevanz der Bereitschaft von Lehrpersonen sensibilisiert und Fortbildungsangebote entsprechend weiterentwickelt werden.

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Die Einbettung der Berufsorientierung in die Curricula der allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I in NRW als eine berufspädagogische Entwicklungsaufgabe

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1 Rahmenbedingungen, Entwicklungen und Neuerungen im Übergang Schule – Beruf aus berufspädagogische Perspektive

Die Berufswelt ist durch einen vielfältigen Wandel (demographischer und technologischer Wandel usw.) gekennzeichnet und geht immer auch mit Veränderungen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Anforderungen einher. Dem Individuum wird eine zunehmende Verantwortung zugesprochen, denn vor dem Hintergrund sich ständig wandelnder gesellschaftlicher Anforderungen müssen sich auch die Akteure diesen Veränderungen anpassen können. Für die Schülerinnen und Schüler bedeutet der moderne Arbeitsmarkt eine steigende Notwendigkeit der Individualisierung der eigenen (Aus)Bildungsbiographie und stellt somit eine wachsende Bedeutung für die berufliche Orientierung als einen lebensbegleitenden Prozess dar. Die Herausforderung besteht daher für Lehrkräfte darin, mit den Schülerinnen und Schülern eine aktive Auseinandersetzung mit ihrer möglichen beruflichen Zukunft anzustreben.

1.1 Relevanz der beruflichen Orientierung

Für eine berufliche Einmündung spielt die Berufsorientierung eine entscheidende Rolle, denn „(E)eine fundierte berufliche Orientierung ist Voraussetzung für eine gelingende Berufswahl, die wiederum einen wesentlichen Einflussfaktor für eine erfolgreiche Einmündung in die berufliche Ausbildung darstellt“ (Benner/John 2011, 1).

Hier finden auch die Zahlen zur Ausbildungseinmündung sowie Abbruchquoten große Relevanz. In einer Befragung des BMBF zu den Gründen für den Ausbildungsabbruch gaben 30 % der Befragten eine Verbindung zur ihrer Berufswahl und der unzureichenden beruflichen Orientierung an. Bei insgesamt 42 % deckten sich die persönlichen Vorstellungen zum Berufsbild nicht mit den realen Anforderungen (vgl. BMBF 2009, 13). Fehlende Orientierung ist im Durchschnitt für 22 % der Befragten der Grund für die vorzeitige Beendigung des Ausbildungsverhältnisses, wobei hier eine unterschiedliche Verteilung auf die Fachbereiche vorliegt (bspw. hoher Ausbildungsabbruch im Gastronomiegewerbe) (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 7). Die Rolle, die Lehrerinnen und Lehrer bei der beruflichen Orientierung spielen, verdeutlichen Benner und John (2011), indem sie sowohl den Einfluss unterschiedlicher Bezugsgruppen und -systeme untersuchten als auch der Frage nachgingen, wer auf potenzielle Probleme hätte hinweisen sollen. In der Befragung von Jugendlichen zu Einflüssen ihrer Berufswahl wurden Lehrkräften (0-7,8 %) und Berufsberatern (1,3–5 %) der geringste Einfluss zugeschrieben. Im Gegensatz dazu stehen Lehrkräfte bei der Frage nach Personen, die auf eventuelle Probleme hätten hinweisen können, mit 20,3–31 % an erster Stelle (vgl. Benner/John 2011, 7f.). Es wird deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler die Verantwortung für die Aufklärung über berufliche Möglichkeiten und den damit verbundenen Problemstellungen bei den Lehrkräften durchaus sehen, diese jedoch in ihrer Einschätzung nur einen geringen Einfluss ausüben. Diese Ergebnisse werfen die Frage auf, welche Instrumente, Informationen und Maßnahmen den Lehrkräften an die Hand gegeben werden können, um ihrer Verantwortung entsprechend nachzukommen, und inwiefern diese innerhalb des Unterrichts verankert sind.

Die Jugendlichen müssen lernen, über eigene Fähigkeiten, Interessen und Talente zu reflektieren, diese zu testen und mit den an sie gestellten realen Anforderungen abzugleichen (vgl. Benner/John 2011, 10f.). Der Blick muss auf den kompletten Prozess der beruflichen Orientierung und anschließenden Berufswahl gerichtet werden. Der Gesamtzusammenhang zwischen allgemeinbildender Schule, beruflicher Schule und beruflicher Ausbildung muss berücksichtigt werden, damit die Übergänge von der schulischen in die berufliche Ausbildung kontinuierlich begleitet werden (vgl. Kremer 2011, 8). Die Kernelemente der beruflichen Orientierung, wie Diagnostik und Beratung, individuelle Begleitung (und Förderplanung), Lernmotivation und Selbstlernkompetenz sowie Betriebspraktika müssen in die Maßnahmen aufgenommen werden. Eine Abstimmung und Ausdifferenzierung der Maßnahmen auf die konkreten Zielgruppen und deren Bedarfe kann als grundlegend für eine erfolgreiche berufliche Orientierung angesehen werden (vgl. Euler/Severing 2010, 4ff.). Auch von Benner und John (2011) wird die Unterstützung des Lehrers als unerlässlich eingestuft, woraus sich eine notwendige curriculare Implementierung der Berufsorientierung ergibt (vgl. Benner/John 2011, 10f.).

Jugendliche, denen aus verschiedenen Gründen kein ungehinderter Übergang von der Schule in eine berufliche Ausbildung möglich war, finden sich häufig im sogenannten Übergangssystem wieder, das sich als Maßnahmenbündel beschreiben lässt und Jugendlichen eine (Übergangs-)Perspektive bieten soll, die keinen direkten Anschluss von der Sekundarstufe I in eine berufliche Ausbildung gefunden haben. Intendiert ist in diesem Rahmen, den Jugendlichen durch geeignete Maßnahmen einen Übergang in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Dieser Anspruch wird allerdings zum Großteil nicht eingelöst. Die Jugendlichen finden sich in dem Dschungel von angebotenen Maßnahmen nicht zurecht oder verweilen im System, indem sie eine Maßnahme beenden und in eine weitere einmünden. Der Vergleich des Systems mit einem Labyrinth, wie Münk/Rützel/Schmidt (2008) es umschreiben, ist durchaus zutreffend. Die Unübersichtlichkeit über die verschiedenen Maßnahmen des Bundes, der Bundesländer oder auch der einzelnen Kommunen ist selbst für Experten kaum noch zu durchschauen (vgl. Münk 2008, 31ff.).

Um jedoch die Potentiale des Übergangs nutzen zu können, wurde in NRW ein neues Gesamtkonzept zur Gestaltung der beruflichen Orientierung, ein „Neues Übergangssystem“, aufgelegt, welches die Schülerinnen und Schüler effektiver in ihrer Berufswahl unterstützen und so direkte Übergänge ermöglichen soll.

1.2 Bildungspolitische Rahmung in NRW

Unter dem Motto „Jeder Mensch in Nordrhein-Westfalen, der ausgebildet werden will, wird ausgebildet“ wurde 1996 der Ausbildungskonsens NRW von der Landesregierung initiiert. Die Mitwirkenden kommen aus Politik, Organisationen der Wirtschaft, Gewerkschaften, der Arbeitsverwaltung und den Kommunen[1]. Entschieden wird in diesem Gremium über strategische Fragen, aber auch über Verfahren und Instrumente im Konsens (vgl. MAIS NRW 2014, o. S.). Seit 2010 wird an einer Reform des Übergangssystems gearbeitet. Auslöser der Bemühungen war die Vielfalt der professionellen Angebote für Jugendliche im Übergang, die kaum noch einen Überblick zuließen. Des Weiteren wurde die bereits erwähnte Kritik der sogenannten „Warteschleife“ geübt, die den Verbleib von Jugendlichen in Übergangsmaßnahmen, ohne eine Verbesserung der persönlichen oder beruflichen Ausgangslage beschreibt (vgl. MAIS NRW 2012, 3). Zunächst wurde Anfang 2010 die erweiterte Arbeitsgemeinschaft „Rahmenkonzept für ein Gesamtsystem zur beruflichen Integration für Jugendliche mit Förderbedarf in NRW“ einberufen, im Juli 2010 folgte dann, bedingt durch einen Regierungswechsel, die Aufnahme als Element in den Koalitionsvertrag der rot-grünen Landesregierung. Die abschließende Beratung des Ausbildungskonsens veröffentliche im Februar 2012 das Papier „Kein Abschluss ohne Anschluss“ wobei eine schrittweise Umsetzung des Programms bereits Ende 2011 mit 7 Referenzkommunen begann (vgl. MAIS NRW 2012, 6f.). Im Gegensatz zu den vorherigen Maßnahmen des Übergangssystems, die sich auf die Jugendliche nach Abschluss der Sekundarstufe I konzentrierten und den Fokus auf sozial sowie marktbenachteiligten Jugendlichen legten, richtet sich das neue Programm im Endausbau an alle Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I sowie der gymnasialen Oberstufe und beginnt bereits ab Klasse 8 mit der Durchführung berufsorientierender Maßnahmen (vgl. MAIS NRW 2012, 44). Der bildungspolitische Anspruch des Programms ist es, die Ressourcen der Jugendlichen zu nutzen, um eine unmittelbare Einmündung in eine duale oder vollzeitschulische Ausbildung möglich zu machen. Für dieses Ziel muss einerseits die Qualifizierung der Jugendlichen den Aufnahmevoraussetzungen für die jeweiligen Ausbildungsberufe entsprechen und andererseits eine ausreichende berufliche Orientierung der Jugendlichen bereits bei Abschluss der allgemeinbildenden Schule erreicht sein (vgl. MAIS NRW 2012, 77).

Die Umsetzung des Programms erfolgt in vier zentralen Handlungsfeldern:

1. Berufs- und Studienorientierung

Die Berufs- und Studienorientierung soll an allen allgemeinbildenden Schulen durchgeführt werden, mit dem Ziel, Jugendlichen zu einer überlegten und realistischen Berufs- und Studienwahl zu verhelfen. Es sollen konkrete Wege zum jeweiligen Ziel erarbeitet und durch Standardelemente unterstützt werden. Unter diesen Standardelementen sind Instrumente und Phasen im Prozess zu verstehen. Beispielsweise wird durch das Element 5 „Potenzialanalyse“ in Klasse 8 ein Testverfahren durchgeführt (von einem externen Träger außerhalb der Schule), welches die Interessen, Stärken und Schwächen der Schülerinnen und Schüler erfasst und in den Berufswahlprozess einbindet. So können Schülerinnen und Schüler mehr über ihre eigenen Fähigkeiten erfahren und über berufliche Anforderungen reflektieren (vgl. MAIS NRW 2012, 29).

2. Übergangssystem Schule – Ausbildung

Es wird eine Systematisierung des Übergangssystems durch transparente Angebote durchgeführt, Maßnahmen mit gleichen Inhalten und Zielgruppen werden zusammengelegt, die Angebote insgesamt erheblich reduziert und eine eindeutige Zuordnung der Zielgruppen fokussiert.

3. Attraktivität des dualen Systems

Es werden Programme erstellt, um das duale System nicht nur bei Schülerinnen und Schülern, sondern auch bei deren familiären Umfeld attraktiv zu gestalten. Hierzu sollen beispielsweise jugendmediale Netzwerke genutzt werden, mit dem Ziel, in Zukunft mehr Fachkräfte dual auszubilden und so einem drohenden Fachkräftemangel entgegenwirken zu können.

4. Kommunale Koordinierung

Dieses Handlungsfeld hängt eng zusammen mit der Systematisierung des Übergangssystems und soll einer erneuten Unübersichtlichkeit oder Doppelung von Maßnahmen vorbeugen. In den Kommunen werden Institutionen benannt, welche sowohl die Koordinierung der Maßnahmen als auch die Qualitätssicherung übernehmen. Durch die entstehende Vernetzung aller am Prozess beteiligten Akteure soll Zusammenarbeit und Austausch initiiert werden (vgl. MAIS NRW, 2012, 8f.).

Diese Bereiche folgen vor allem dem Leitgedanken der Prävention statt Nachsorge. Durch zielgruppenspezifische Angebote soll der Gefahr einer „Warteschleife“ entgegengewirkt werden, und eine aufeinander abgestimmte Vorgehensweise soll Einstiege in eine  Berufsausbildung ermöglichen. Die Entwicklung von Perspektiven findet in der kommunalen Koordinierung statt, die die Beratung sowie Orientierung für alle am Prozess beteiligten Personen abstimmt (vgl. MAIS NRW 2012, 13).

Die Stadt Dortmund ist als eine der Referenzkommunen in NRW zu nennen, die kommunale Koordinierung (Handlungsfeld 4) liegt hier beim Regionalen Bildungsbüro (RBB). Das RBB beschäftigt sich nicht erst seit der Reform des Übergangssystems mit der Thematik, sondern arbeitete bereits in der Vergangenheit in Form von verschiedenen Projekten daran, die Situation des Jugendlichen im Übergang zu verbessern.. (vgl. Stadt Dortmund 2014, 24).

Für einen besseren Übergang in berufliche Ausbildungsgänge ist auch eine verbesserte berufliche Orientierung nötig. Ein Schwerpunkt ist es für NRW die Berufsorientierung als Kern in den Alltag der Schule einzubauen, nicht nur in den Stundenplan, sondern in den Fachunterricht zu integrieren. Auch das RBB als eine beteiligte Kommune in NRW bestätigt diesen Aspekt im zweiten kommunalen Bildungsbericht. „Sinnvolle Berufs- und Studienorientierung ist eine dauerhafte Querschnittsaufgabe der gesamten Schule, die früh beginnt, fächerübergreifend angelegt ist und die Jugendlichen begleitet ohne sie zu bevormunden“ (Stadt Dortmund 2014, 192).

1.3 Die Rolle der allgemeinbildenden Schulen

Um die Umsetzung des Programmes in NRW anschaulich zu benennen sind Standardelemente formuliert worden, von denen im Kontext dieser Veröffentlichung eines konkret in den Blick genommen wird, dass sich mit der Umsetzung an den allgemeinbildenden Schulen beschäftigt.

Im Standardelement 3 „Strukturen an Schulen“ findet sich das Element 3.1 „Curriculum“. Im schuleigenen Curriculum sollen demnach fächerübergreifende Inhalte zur Berufs- und Studienorientierung eingearbeitet werden. Die Festlegung der Inhalte und angesprochenen Kompetenzbereiche liegt in der Verantwortung der Fachlehrerinnen und Fachlehrer sowie der Schulleitung (vgl. MSW NRW 2012, 22). Die Bereiche, in denen die Schülerinnern und Schüler innerhalb der Fächer durch die Lehrkräfte gefördert werden sollen, umfassen:

  • „eigene Entscheidungen im Hinblick auf ihre Lebensplanung und den Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt vorbereiten und selbstverantwortlich treffen (Entscheidungs- und Handlungskompetenz)
  • Kenntnisse über Wirtschafts- und Arbeitswelt und über Bildungs- und Ausbildungswege, auch an Hochschulen, systematisieren
  • eigene Berufs- und Entwicklungschancen erkennen und sich über den Übergang in eine Ausbildung, in weitere schulische Bildungsgänge oder in ein Studium orientieren (Sach- und Urteilskompetenz)“ (MSW NRW 2012, 22).

Für die angesprochenen Fördermaßnahmen wurde ein zeitlicher Überblick festgelegt, wonach die einzelnen Elemente systematisch aufeinander aufbauen. 

Abbildung 1: Prozess der schulischen Berufs- und Studienorientierung in der Sekundarstufe I, eigene Abbildung nach MSW NRW (2015): Prozess der Schulischen Berufs- und Studienorientierung.Abbildung 1: Prozess der schulischen Berufs- und Studienorientierung in der Sekundarstufe I, eigene Abbildung nach MSW NRW (2015): Prozess der Schulischen Berufs- und Studienorientierung.

Neben der deutlich akzentuierten kontinuierlichen Beratung der Jugendlichen stehen vor allem die Aspekte „Potenziale erkennen“ und „Berufsfelder kennen lernen“ (durch Potenzialanalyse und Erkundung der Berufsfelder), „Praxis erproben“ (durch Erweiterung und Vertiefung von Praxiserfahrungen) und „Entscheidungen konkretisieren“ und „Übergänge gestalten“ (durch Hinweise zur Bewerbung, der Begleitung von Übergängen und einer Schwerpunktsetzung) im Vordergrund. Des Weiteren wird die Dokumentation im Portfolioinstrument als prozessbegleitendes Element eingeführt. Alle Schülerinnen und Schüler ab der Klasse 8 werden in diesen Prozess mit einbezogen, um vom Erkennen von Potenzialen über die Erfahrungen in der Praxis zu individuellen und passgenauen Anschlussmöglichkeiten und einem lückenlosen Übergang zu gelangen (vgl. MAIS NRW 2012, 23).

Den Lehrerinnen und Lehrern der Sekundarstufe I kommt eine besondere Rolle im Prozess der Berufsorientierung (und auch Studienorientierung) zu. Die Schule legt fest, wer im Rahmen der Berufs- und Studienorientierung sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch ihre Eltern berät und umfassende Projekte und Maßnahmen der Berufsorientierung übernimmt (vgl. MAIS NRW 2012, 17f.).

2 Vergleichende Analyse der curriculare Einbettung der berufsorientierenden Inhalte an den relevanten Schulformen

Nachdem die Rahmenbedingungen und Entwicklungen aufgezeigt wurden, folgt nun die Auseinandersetzung mit den vom Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen erlassenen curricularen Vorgaben anhand der Frage wie viel und welche Elemente der Berufsorientierung bereits in den Kernlehrplänen der Schulen in der Sekundarstufe I enthalten sind. Die Heranführung der Schülerinnen und Schüler an eine berufliche Orientierung beginnt in den allgemeinbildenden Schulen bereits in der Sekundarstufe I, wenn auch noch undifferenziert und nicht zielgerichtet, mit der Klasse 5. Berufsorientierung, Lebensplanung und die damit einhergehende Kompetenzorientierung sind Bereiche, die bereits früh ansetzen sollen. Die Schülerinnen und Schüler sollen sukzessiv ihrem jeweils individuellen Berufswunsch näher gebracht werden.

Das in NRW entwickelte Konzept der Kernlehrpläne ist an länderübergreifenden Bildungsstandards orientiert (vgl. MSW NRW 2014, o. S.). In diesen erstmals 2004 eingeführten Kernlehrplänen stehen die von den Kindern und Jugendlichen erwarteten Lernergebnisse im Mittelpunkt. Kernlehrpläne definieren in knapper und übersichtlicher Form verbindlich die wesentlichen Ergebnisse der unterrichtlichen Arbeit in der Sekundarstufe I und sollen kompetenzorientierten Unterricht befördern. Neben der fachlichen Kompetenz sind auch weitere Kompetenzen von Bedeutung für den weiteren Bildungsweg der Schülerinnen und Schüler sowie für ihren persönlichen und späteren beruflichen Alltag (vgl. MSW NRW 2014, o. S.).

2.1 Ablauf der Analyse und Auswertung

Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die Kernlehrpläne des allgemeinbildenden Schulwesens der Sekundarstufe I des Landes NRW. Aus diesen Kernlehrplänen wurden zuerst anhand der Schlüsselwörter „Beruf“ und „Arbeit“ relevante Stellen ermittelt um anschließend die Passagen einer detaillierten Analyse hinsichtlich Maßnahmen, die im weitesten Sinne auf eine berufliche Orientierung der Schülerinnen und Schüler abzielen, unterziehen zu können. Dabei ist zu beachten, dass in der vorliegenden Untersuchung die allgemeinbildende Schule und die Curricula der Sekundarstufe I den alleinigen Fokus und Erhebungsbereich bilden. Weitere für die Berufsorientierung von Jugendlichen relevante Faktoren, wie Peer-Groups oder Medien, finden daher keine Berücksichtigung.

Für die vorliegenden Analysen wird die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) herangezogen. Das Verfahren verläuft nach den hier aufgeführten Stufen (vgl. Mayring 2010, 60):

Tabelle 1:     Analyse und Auswertung

Analysestufen Analyse Kernlehrpläne
Die Analyse beginnt mit der Festlegung des Materials. Dabei wird nach der Datengrundlage gefragt, also nach den theoretischen Grundlagen und dem zu untersuchenden Material. Die theoretische Grundlage bzw. die Datengrundlage bezieht sich insbesondere auf die veröffentlichten Kernlehrpläne für die Sekundarstufe I aller allgemeinbildenden Schulformen in Nordrhein-Westfalen. Innehrhalb der Kernlehrpläne wird die Einbettung der beruflichen Orientierung berücksichtigt. Die Kriterien für die Analyse werden aus der Grundlagenliteratur und den Konzepten des neuen Übergangssystems gewonnen.
Anschließend folgen die Analyse der Entstehungssituation und die Betrachtung der formalen Charakteristika des Materials. Die länderspezifischen Kernlehrpläne wurden auf der Grundlage der von der KMK festgelegten Bildungsstandards erlassen. Sie beschreiben in Bezug auf die Schulform die zu erreichenden Kompetenzniveaus der Schülerinnen und Schüler am Ende der einzelnen Schuljahre im jeweiligen Fach. Der Kernlehrplan gibt die Mindestanforderungen der zu vermittelnden Lerninhalte an. Die Quelle ist öffentlich einsehbar, das Verfahren der Umsetzung in den Schulen bleibt für die durchgeführte Studie unberücksichtigt.
Die Richtung der Analyse wird entwickelt. Betrachtung finden dabei beispielsweise der soziokulturelle Rahmen und die Wirkung der Analyse. Die Relevanz einer guten Berufsorientierung ist unumstritten. Unklar ist jedoch die Auslegung, was eine gute Berufsorientierung ausmacht. NRW hat in diesem Kontext durch das neue NRW Programm einen Vorstoß unternommen und Standardelemente für eine gute Berufsorientierung entwickelt. Die Kernlehrpläne in NRW werden über alle allgemeinbildenden Schulformen (Sek. I) hinweg auf die Einbettung der dem NRW Programm entnommenen Kriterien analysiert.
Daraus resultiert die theoretische Differenzierung der Fragestellung. Die vorliegende Studie befasst sich mit der Fragestellung der Einbettung der Berufsorientierung in die Kernlehrpläne der allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I in NRW.
Die Bestimmung der Analysetechnik (Zusammenfassung, Explikation, Strukturierung) und die Definition der Analyseeinheit. Die Durchsicht der Kernlehrpläne erfolgt auf der Grundlage der durch die theoretische Fundierung und der Dokumente zum NRW Programm entwickelten Kriterien. Die Indikatoren werden mit einer Durchsicht der Kernlehrpläne gewonnen. Analysiert wird die Häufigkeit (Frequenzanalyse) unterschiedlicher Inhalte zur beruflichen Orientierung.
Der eigentliche Analysevorgang Durch die theoretische Fundierung und Darlegung des Standardelementes „Curriculum“ des NRW Programms wurden Kriterien für eine gute berufliche Orientierung gewonnen. Mit einer Frequenzanalyse werden die aus dem Material gewonnenen Indikatoren entsprechend der Kriterien ausgewertet.
Die Interpretation, um abschließend in Richtung der Hauptfragestellung die einzelnen Fälle zu generalisieren Durch die Analyse können die einzelnen Schulformen hinsichtlich ihrer Einbettung der berufsorientierenden Maßnahmen miteinander verglichen werden.Durch den Vergleich der Schulformen kann eine differenzierte Aussage über die Erfüllung der ausgeführten Kriterien gegeben werden.

2.2 Darstellung der abgeleiteten Kriterien zur beruflichen Orientierung

Aus den vorausgehenden Ausführungen zu den Zielsetzungen, insbesondere des neuen NRW Programms, lassen sich Kriterien für eine gute berufliche Orientierung im allgemeinbildenden Schulwesen ableiten und für die bevorstehende Analyse der Kernlehrpläne der Sekundarstufe I nutzen: 

  • Wissen (Berufsorientierung): Die Basis einer guten Berufsorientierung stellt die Informiertheit des Klientel (der Schülerinnen und Schüler) dar. Hierunter fallen alle Informationen sowohl zu berufsqualifizierenden Maßnahmen als auch zu den unterschiedlichen Berufsfeldern/Berufsbildern und Branchen sowie deren Qualifikationsvoraussetzungen.
  • Verbindung Beruf – Individuum: Für die Schülerinnen und Schüler ist es nicht nur wichtig, über die einzelnen Berufsfelder informiert zu werden, sie müssen auch in die Lage versetzt werden, diese Informationen auf ihre persönlichen Interessen und ihre Lebensumstände beziehen zu können. Es geht darum, eigene Berufswünsche zu entwickeln, Konsequenzen für eine Berufswahl zu erkennen und die individuellen Fähigkeiten in Bezug auf das Berufsprofil einschätzen zu können.
  • Lebensplanung und persönliche Entwicklung: Neben der gezielten Orientierung bzw. Vorbereitung auf die berufliche Biographie ist auch die Vermittlung eines Lebensplanentwurfs notwendig. Hierunter fallen allgemein die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, insbesondere die Teilhabe am kulturellen Leben, die familiale Planung, sowie der Stellenwert von Freunden, sozialem Engagement und die Einbeziehung persönlicher Lebensumstände. Die allgemeinbildende Schule muss die Schülerinnen und Schüler auf die anstehende Aufgabe vorbereiten und Fähigkeiten vermitteln, die gewonnenen Informationen auf die eigenen Lebensverhältnisse zu beziehen und daraus eine sinnvolle berufliche Planung abzuleiten. Zur Entwicklung eines Lebensplanentwurfes ist auch die Förderung der persönlichen Entwicklung und die Entfaltung der Kompetenzen und Fähigkeiten eines Subjekts von Relevanz. Hierunter fällt beispielsweise die Reflexionsfähigkeit. Die Schülerinnen und Schüler sollen die Fähigkeit erlangen, sowohl den eigenen Lebensweg und eigene Urteile als auch eigene Erfahrungen (aus der Praxis) reflektieren zu können, die dann in Entscheidungen münden. Im Kern werden die für die Berufsorientierung benötigten personalen und sozialen Kompetenzen aufgeführt.
  • Kooperation: Hierunter werden generell alle Kooperationen außerhalb des allgemeinbildenden Schulsystems verstanden. Differenziert wird nicht zwischen der Art der Kooperation und den einzelnen Kooperationspartnern wie Partner aus der Wirtschaft, der Bundesagentur für Arbeit oder aus den Berufskollegs.
  • Beratung und Begleitung: Hierunter fallen alle beratenden und begleitenden Tätigkeiten und Angebote des Lehrpersonals bezüglich der beruflichen Orientierung der Jugendlichen, ausgeschlossen sind Beratungsangebote von externer Seite. Auf die Einflussnahme weiterer Partner wie beispielsweise die Elternarbeit wird hier nicht näher eingegangen, da sich die Analyse auf die schulische Berufsorientierung, konkret auf das Lehrerhandeln, konzentriert. Es werden alle Prozesse eingeschlossen, die auf von den Lehrkräften initiierte Prozesse der Beratung und Begleitung bezüglich berufsorientierender Maßnahmen abzielen.
  • Praxiserkundung in der unterrichtlichen Verankerung: Die Erkundung der Praxis bezieht sich auf im Kernlehrplan fest verankerte Phasen, in denen die Schülerinnen und Schüler sich außerhalb der Schule in einem beruflichen, arbeitsbezogenen Kontext befinden. Ob sie selbst tätig werden oder sich die Abläufe in einem Betrieb lediglich anschauen, ist für die Betrachtung nicht relevant.
  • Kontinuität: Die Kontinuität zu gewährleisten ist ein starkes Kriterium für die berufliche Orientierung in den allgemeinbildenden Schulen. Diese bezieht sich sowohl auf den Aspekt der Wiederholung (Maßnahmen werden in jeder Klasse durchgeführt) als auch die Absicht die einzelnen Maßnahmen sinnvoll (spiralcurricular) aufeinander aufzubauen (die Durchführung findet nicht nur in jedem Jahrgang statt, thematisch bauen die Inhalte aufeinander auf).
  • Fachbezogen/Querschnitt: Die Implementierung der berufsorientierenden Inhalte kann sowohl in den jeweiligen Fächern (fachspezifisch oder fächerübergreifend) oder im Rahmen eines gesondertes Fach durchgeführt, als auch in der Kombination beider Varianten vermittelt werden.

2.3 Kriterien geleitete Auswertung der Kernlehrpläne

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Analyse der Kernlehrpläne Kriterien bezogen dargestellt.

Wissen (Berufsorientierung)

Das Wissen über den Arbeitsmarkt und berufliche Möglichkeiten, aber auch über Anforderungen ist grundlegend, um eine Entscheidung über den persönlichen beruflichen Werdegang zu treffen. In der Analyse der Curricula wurde dies deutlich, da der Bereich „Wissen (Berufsorientierung)“ insgesamt den größten Umfang ausmachte. Im Vergleich der Schulformen wird in der Hauptschule diese Thematik in den Unterricht im beträchtlichsten Maße vor allem im Fach Arbeitslehre (der Anteil an Unterrichtsstunden beträgt in den Klassen 07 – 10 jeweils drei Stunden) integriert. Hier geht es unter anderem darum, ein umfassendes Verständnis zum Begriff Arbeit zu vermitteln, geschlechtsspezifische Berufswahlverfahren zu hinterfragen oder auch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in den Berufswahlprozess einzubeziehen. Diese und ähnliche Thematiken sind in den Curricula der anderen Schulformen ebenfalls zu finden, wie die Bedeutung von Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt (Gymnasium), gesetzliche Rahmenbedingungen einzelner Berufsfelder (Realschule) oder Herausforderungen des beruflichen Alltags (Gesamtschule), allerdings in geringerem Umfang als dem an der Hauptschule.

Verbindung Beruf – Individuum

Das bereits beschriebene Wissen über den Arbeitsmarkt und seine Berufsfelder ist einer der ersten Schritte in der Berufsorientierung, die persönliche Auseinandersetzung mit der Thematik geht einen Schritt weiter und kann durch die Unterrichtseinheiten in der Schule angeregt und begleitet werden. Die Curricula der Hauptschule (eigene Berufswünsche benennen und entwickeln) und der Gesamtschule (eigene Kompetenzen kennen) weisen die meisten Inhalte auf. Im Fach Arbeitslehre der Gesamtschule geht es sogar ganz konkret um Kompetenzchecks und Eignungstests. Des Weiteren werden auch Konsequenzen der Berufswahl erörtert. Die Gesamtschule beschäftigt sich insgesamt umfassender als die anderen Schulformen mit der Anregung der Schülerinnen und Schüler auf unterschiedlichen Niveaustufen. In den Curricula der Realschule sollen die Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten einschätzen lernen, im Gymnasium wird nur im Fach Politik die Darstellung der eigenen Fähigkeiten und Interessen im Zusammenhang mit der beruflichen Entwicklung erwähnt. Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass das Standardelement der Potenzialanalyse in Klasse 8 verpflichtend für alle Schulformen formuliert worden ist und – da von externen Trägern durchgeführt - wohl auch keinen Einzug in das schulische Curriculum erhalten wird. Somit kommen diese auf Stärken-Schwächen-Analyse abzielenden Testverfahren allen Schülerinnen und Schülern zu Gute inklusive der Vor- und Nachbereitung im Unterricht.

Lebensplanung und persönliche Entwicklung

Zu der beruflichen Orientierung gehört auch die Lebensplanung, denn beide Bereiche wirken deutlich aufeinander ein. Ein Lebenslaufentwurf kann nur durch eine Auseinandersetzung mit dem privaten, gesellschaftlichen und beruflichen Umfeld erfolgen. Für die Relevanz in den Kernlehrplänen ist zu vermerken, dass eine Differenzierung von Wissen, Planung, Handlung und Reflexion nicht herzustellen ist. Besonders deutlich ist die Lebensplanung in der Hauptschule vertreten, am geringsten am Gymnasium. Auffällig für das Gymnasium ist, dass das Element der Lebensplanung nicht wie in den anderen Schulformen in den Haupt- sondern in den Nebenfächern verortet ist, der Schwerpunkt liegt hier inhaltlich auf der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Eine differenzierte Konkretisierung ist für das Gymnasium wie auch für die Gesamtschule (persönlicher Lebensgestaltung) und die Realschule (Lebensplanung und eigene Wertvorstellung) - wenn auch schon deutlicher aufgeschlüsselt - kaum gegeben. Für die Hauptschule wird das Thema der Lebensplanung aus mehreren Perspektiven analysiert. Thematisch werden die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Bürger sowie unterschiedliche Lebensstile und regionale Besonderheiten angesprochen. Die Jugendlichen werden jedoch auch dazu aufgefordert, sich mit eigenen Lebensentwürfen auseinanderzusetzen, ihre Wünsche und Werte zu reflektieren und eine individuelle Perspektive zu entwickeln. Für die Gestaltung eines Lebensplanentwurfes ist auch das Erkennen und die Entwicklung von Kompetenzen zu berücksichtigen. Um die Schülerinnen und Schüler in ihrer persönlichen Entwicklung zu stärken und zu unterstützen bietet das Curriculum der Hauptschule die vielfältigsten Möglichkeiten (im Rahmen der vorliegenden Analyse kann aufgrund des Vorgehens nur über die Möglichkeiten, nicht über die tatsächliche Umsetzung gesprochen werden). Die Inhalte und zu vermittelnden Fähigkeiten in den einzelnen Fächern sind kleinschrittig angelegt (selbstständig planen, miteinander reden und arbeiten) und zielen besonders auf die Förderung der Selbst- und Sozialkompetenz ab. Das Gymnasium und die Gesamtschule stellen die sozialen und interkulturellen Kompetenzen in den Mittelpunkt (soziales Engagement, Toleranz) und möchten dazu anregen, sich mit kontroversen Sichtweisen auseinanderzusetzen. Im Gymnasium wird dieser Anspruch besonders in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern durchgesetzt, in der Gesamtschule zum größten Teil im Fach Arbeitslehre. Die Realschule konzentriert die Förderung der persönlichen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler nicht auf ein Fach, sondern legt die Inhalte fächerübergreifend an (Voraussetzung für lebenslanges Lernen oder Selbstständigkeit).

Beratung und Begleitung

Sowohl die theoretische Auseinandersetzung mit der eigenen Lebens- sowie Berufsplanung als auch die Suche nach geeigneten Möglichkeiten, die Praxis zu erkunden, stellt Anforderungen an Schülerinnen und Schüler, die ohne Hilfe nicht immer gelöst werden können. Durch die Implementierung der berufsorientierenden Inhalte in den Unterricht, kommen den Lehrkräften so Beratungs- und Begleitungsfunktionen zu. In der curricularen Analyse zeigten sich die Ergebnisse diesbezüglich sehr übersichtlich. Als konkret niedergeschriebener Lerninhalt konnte dies nur in der Hauptschule (Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer auf Bedürfnisse der Lerngruppe einzugehen, Orientierungshilfe bieten) und der Gesamtschule (Beratungsmöglichkeiten) gefunden werden. Sowohl in den Curricula der Realschule, als auch in denen des Gymnasiums tauchten diese Begrifflichkeiten nicht auf. Insgesamt muss berücksichtigt werden, dass das Thema der Beratung und Begleitung auch eher in anderen schulischen Ordnungsmittel zu erwarten gewesen wäre.

Praxiserkundung in der unterrichtlichen Verankerung

Die Relevanz für die Schülerinnen und Schüler, einen Einblick in die berufliche Praxis zu bekommen, wird als wichtig für die Auseinandersetzung mit den einzelnen Berufsfeldern erachtet. Die Praxiserkundung findet prinzipiell in allen Schulformen Relevanz, jedoch in unterschiedlicher Ausprägung. In der Hauptschule findet man die Verankerung der Praxis in den Kernlehrplänen sehr differenziert vor und auch der Theorie-Praxis-Transfer wird hervorgehoben. In der Realschule wird das Thema Praxis besonders durch Praktikumsphasen aufgenommen und unterrichtsbegleitend als Praxisbezüge in den einzelnen Fächern herangezogen. In der Gesamtschule wird nur relativ unspezifisch von „Praktika“ gesprochen und für das Gymnasium lässt sich bezüglich des Praxisbezugs nur der Begriff „Ferienjob“ im Fach Französisch ausfindig machen. Hierbei ist anzumerken, dass schulische Praxisphasen durch den Runderlass zur Berufs- und Studienorientierung des Landes NRW geregelt sind. Hier werden Dauer, Organisation und rechtliche Absicherung bezüglich der Schülerbetriebspraktika formuliert.

Kooperation

Kooperationen mit Einrichtungen außerhalb des allgemeinbildenden Schulsystems werden besonders in den Schulformen Realschule und Hauptschule aufgeführt. Für die Realschulen scheinen besonders die Kooperationen mit Berufskollegs (neben dem Stichwort außerschulische Kooperationen) eine besondere Stellung einzunehmen. Der Begriff der Vernetzung ist hingegen nur an den Hauptschulen zu finden. In dieser Schulform wird auch der Vergleich von regionalen Ausbildungsangeboten und Berufsbildern thematisch angesprochen. Für das Gymnasium ist keine konkrete Verankerung von Kooperationen in den Kernlehrplänen zu finden.

Kontinuität und Fachbezug

Die vorgestellten Inhalte der beruflichen Orientierung finden durchgehend in den einzelnen Fächern statt. Zum einen wird der Bezug der Arbeit zum Fach hergestellt, zum anderen werden konkrete Handlungs- und Entwicklungshinweise für eine berufliche Orientierung gegeben. Hinweise auf eine fächerübergreifende Berufsorientierung lassen sich in den Kernlehrplänen finden, die Anmerkungen verbleiben aber bei Formulierungen, die zwar eine fächerübergreifende Ausrichtung der beruflichen Orientierung ermöglichen, jedoch nicht weiter ausgeführt werden.

Ein kontinuierlicher Aufbau der beruflichen Orientierung ist formal in der Hauptschule ab der Jahrgangsstufe 5/6; im Fach Arbeitslehre entsprechend ab der Jahrgangsstufe 7/8 und aufbauend in den verschiedenen Fächern bis zum Jahrgang 09/10 gegeben. Auch beim Anspruchsniveau kann von einer Steigerung gesprochen werden. Beginnend mit einer generellen Informiertheit über Berufe, Arbeitsfelder und die gesellschaftliche Integration werden in den folgenden Jahrgängen spezielle Aspekte ausgewählt und besprochen (Geschlechterverhältnis, Wertevermittlung) beziehungsweise Rückschlüsse auf die eigene Person durch die Benennung und Entwicklung von Berufswünschen gezogen. In der Gesamtschule wird die Arbeitslehre nach Kompetenzbereichen unterteilt. Im Mittelpunkt steht jedoch die Entwicklung von Kompetenzen, ein eindeutiger Berufsbezug im Sinne einer Passung von Kompetenzen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler und der Anforderungen einzelner Berufe ist nicht auszumachen. In den anderen Schulformen ist ein kontinuierlicher Aufbau nicht so deutlich zu erkennen.   

2.4 Zusammenfassende Darstellung

Aufgrund der Vorgehensweise der Untersuchung, die Kernlehrpläne mit den Begriffen „Arbeit“ und „Beruf“ zu durchsuchen, ist es nicht erstaunlich, dass das Kriterium „Wissen (Berufsorientierung)“ den größten Umfang ausmacht. Insgesamt sind in allen Schulformen Inhalte zu finden, die den Schülerinnen und Schülern Wissen über den Arbeitsmarkt, seine Entwicklung und die Einbettung der Berufsfelder darin vermitteln. Positiv anzumerken ist besonders der Bezug zu aktuellen Entwicklungen und dem Wandel des Arbeitsmarktes. Die Förderung der Verantwortung der Schülerinnen und Schüler wird auch im Hinblick auf die Lebensgestaltung vor dem aktuellen Kontext betrachtet.

In Anbetracht der Individualisierung des Arbeitsmarktes und der zunehmenden Verantwortung des Individuums für die eigenen Gelingens Chancen ist die „Verbindung Beruf-Individuum“ in welcher es um die persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Berufswahl geht für die Schülerinnen und Schüler sehr wichtig. Hier schneiden die Haupt- und Gesamtschule in diesem Zusammenhang gut ab, da nicht nur Inhalte vermittelt, sondern auch die Schülerinnen und Schüler dazu angeregt werden, dieses Wissen auf die eigene Situation zu beziehen und daraus mögliche berufliche Wege zu entwickeln. Diese Thematik innerhalb des Gymnasiums nur in einem Fach einzubeziehen, ist sehr kurz gedacht.

Die persönliche Entwicklung der Jugendlichen spielt eine entscheidende Rolle in diesem Prozess. Die Ausprägung der sozialen, personalen, interkulturellen und Selbstkompetenz unterstützt sie einerseits darin, eigene Entscheidungen mit einer entwickelten Urteilskraft treffen und reflektieren zu können, andererseits sind diese Kompetenzen neben fachlichen Qualifikationen wichtig, um auf dem Arbeitsmarkt und in einem Unternehmen bestehen zu können. Alle Schulformen folgen zwar diesem Anspruch, unterscheiden sich jedoch im Anspruchsniveau und der differenzierten Auseinandersetzung in den festgelegten Schwerpunkten. Nur durch diese Auseinandersetzung ist auch eine erfolgreiche Lebensplangestaltung möglich. Die unterschiedliche Herangehensweise an dieses Thema hängt stark vom Fach Arbeitslehre ab.

Dass lediglich bei zwei Schulformen der Begriff Beratung in den Kernlehrplänen auftaucht, ist als auffällig anzusehen. Die Jugendlichen im Berufswahlprozess sind oft überfordert mit der Flut an Informationen und benötigten objektive Begleitung und Beratung. In der eingangs genannten Erhebung wurde Lehrkräften eine große Bedeutung bei der Beratung zum beruflichen Werdegang von Schülerinnen und Schülern zugesprochen. Wenn dieser Aspekt in die Curricula aufgenommen werden würden, könnte der Beratung durch Lehrkräfte mehr Bedeutung verliehen und entsprechende Zeit im Unterricht eingeplant werden. Anzunehmen ist, dass diese Beratung und Begleitung der Schülerinnen und Schüler aktuell im Unterricht und während der Praxisphasen informell stattfindet und so nicht in den Curricula festgeschrieben ist.

Die auf Praxisphasen abzielenden Inhalte finden in unterschiedlicher Intensität statt. Während in der Hauptschule die Verankerung der Berufserkundung sehr deutlich in die Kernlehrpläne eingebracht und der Theorie-Praxis-Transfer hervorgehoben wird, ist die Thematik im Gymnasium nur in einem Fach vertreten. In dieser Schulform besteht noch Entwicklungspotential. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass ein Praktikum im Gymnasium in der Sekundarstufe I entfallen kann wenn in der Sekundarstufe II ein Praktikum durchgeführt wird. Möglicherweise werden aus diesem Grund weniger Praxisaspekte in den Kernlehrplänen des Gymnasiums der Sekundarstufe I angesprochen. Auch wenn die Schülerbetriebspraktika durch den Runderlass geregelt sind, findet die Vor- und Nachbereitung dieser sowie die damit zusammenhängende Beratung und Begleitung im Rahmen der Schule statt und ist somit auch als Aufgabe dieser zu verzeichnen. Aus diesen Gründen ist ein konkreter Einbezug der vor- sowie nachbereitenden Inhalte in die schulischen Curricula wünschenswert, wie die Hauptschule ihn bereits eingeführt hat.

Sowohl in Bezug auf die schulischen Praxisphasen ist die Kooperation der Institution Schule mit außerschulischen Partnern von Bedeutung, als auch bei der Planung des beruflichen Wegs nach Abschluss der Sekundarstufe I. Kooperationen mit Unternehmen und mit berufsbildenden Schulen sind ein Faktor, der den positiven Übergang der Schülerinnen und Schüler fördern kann. In der Haupt- und Realschule werden unterschiedliche Kooperationen explizit aufgeführt, in der Gesamtschule wird allgemein von enger Kooperation mit Betrieben gesprochen, für das Gymnasium sind keine konkreten Ausführungen zu finden. Der fehlende Bezug zu Kooperationspartner für das Gymnasium kann einerseits auf die Weiterführung in der Sekundarstufe II zurückgeführt werden, jedoch auch auf eine Ausrichtung auf ein anzustrebendes Hochschulstudium und der damit zusammenhängenden Studienberatung. Der Bezug zu Kooperationen sollte dennoch intensiver aufgenommen werden, da nicht ohne weiteres von einem direkten Übergang aller Schülerinnen und Schüler in die gymnasiale Oberstufe ausgegangen werden kann.

Neben den bereits angesprochenen Kriterien wie dem Wissen über Berufe, der persönlichen Auseinandersetzung damit und der Erprobung der eigenen Fähigkeiten in Praxisphasen können durch bestehende Kooperationen, die gewonnenen Erkenntnisse in konkrete Wege übergeleitet werden. Durch den persönlichen Kontakt werden Hemmungen bei den Schülerinnen und Schülern abgebaut und Berufswünsche mit realen Fakten abgeglichen. Diese Entwicklung ist für die Schülerinnen und Schüler aller Schulformen von Bedeutung und sollte dementsprechend in alle Curricula Einzug erhalten.

Elemente der beruflichen Orientierung spielen in allen Schulformen und in allen Jahrgangsstufen eine Rolle und sind zumeist in das einzelne Fach eingebettet. Eine fächerübergreifende berufliche Orientierung wird lediglich angedeutet. Insgesamt kann festgehalten werden, dass besonders die Hauptschulen das Thema Berufsorientierung sehr differenziert aufgreifen. Es finden sich jedoch auch in den Gesamt- und Realschulen einige Bezüge zu Aspekten der beruflichen Orientierung. Als Schlusslicht kann das Gymnasium betrachtet werden. Hier wurden insgesamt die wenigsten berufsorientierenden Aspekte gefunden.

3 Ansätze für eine weiterführende Qualitätsverbesserung

Insgesamt konnte festgestellt werden, dass alle Schulformen den Großteil der im Vorfeld zusammengestellten Kriterien vermitteln. Einige dargestellte Unterschiede werfen Fragen auf und geben Anregung zu weiteren Überlegungen.

  1. In Ansätzen ist ein Verweis auf Praktika in einzelnen Fächern bereits gegeben, die fachspezifische Verknüpfung bzw. eine Reflektion dieser Praxiserfahrung hat jedoch keine Einbettung in die Kernlehrpläne gefunden. Nur für die Hauptschule wird eine Verknüpfung von Theorie und Praxis angedeutet. Hier besteht Nachholbedarf, denn besonders die Reflexion über gemachte Praxiserfahrungen führen zu einer Kompetenzentwicklung und einer bewussten Auseinandersetzung mit der beruflichen Praxis.
  2. Ziel ist es, die Schülerinnen und Schüler optimal für den Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt vorzubereiten. Diese Vorbereitung erfolgt in den Schulformen besonders innerhalb der einzelnen Fächer, wobei die Intensität von Schulform und Fach sehr unterschiedlich ist. Besonders durch das Fach Arbeitslehre an den Haupt- und Gesamtschulen wird ein Großteil der berufsorientierenden Inhalte vermittelt, das Fehlen dieses Faches muss in der Realschule und dem Gymnasium ausgeglichen werden. Für eine gezielte berufliche Orientierung wäre zu überdenken, ob nicht eine fächerübergreifende Ausrichtung aus unterschiedlichen Blickwinkeln wünschenswert wäre. Eine fächerübergreifende Berufsorientierung darf allerdings nicht zu einer Reduktion der berufsorientierenden Inhalte in den einzelnen Fächern führen.
  3. In der Betrachtung der Kriterien ist erfreulich, dass eine Vielzahl der Elemente in den Curricula der Schulformen bereits zu finden sind, auch die Auseinandersetzung mit individuellen Stärken und deren Abgleich mit beruflichen Anforderungen konnte in der Analyse dargestellt werden. Deutlich vernachlässigte Punkte sind die Kontinuität und die Beratung. Vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Veränderungen am Arbeitsmarkt, dem Schwerpunkt der kontinuierlichen Beratung im NRW Programm und der Relevanz die Schülerinnen und Schüler mit aufeinander aufbauenden Inhalten der Berufsorientierung zu konfrontieren sollten diese Punkte nicht außer Acht gelassen werden. Des Weiteren muss in Zukunft die Vor- und Nachbereitung der verpflichtenden Potenzialanalyse in die Curricula eingebunden werden. Der Prozess des Einbezugs der erlangten Ergebnisse in den persönlichen Berufswahlprozess wird ebenfalls durch die Lehrkräfte begleitet werden müssen.

Aus den Unterschieden der Schulformen ergeben sich verschiedenartige Möglichkeiten und Begrenzungen für die Schülerinnen und Schüler. Da in jeder Schulform Besonderheiten, Stärken und Schwächen gefunden wurden, können hier die Schulformen voneinander lernen. Ein Austausch zwischen diesen wäre wünschenswert. Abschließend bleibt zu sagen, dass die Kerncurricula der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen größtenteils an die Anforderungen der Jugendlichen angepasst sind und sich so auch mit der Einführung des neuen Übergangssystems „Kein Abschluss ohne Anschluss“ vereinbaren lassen. An einzelnen Stellen muss und wird in Zukunft noch nachgebessert werden, um die konkreten Inhalte in die Curricula zu implementieren und die durch die Standardelemente entwickelten Punkte in den Alltag der Schule miteinzubeziehen.

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[1]   Partner des Ausbildungskonsens: Staatskanzlei NRW; Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des NRW; Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW; Ministerium für Wirtschaft, Energie, Bauen, Wohnen und Verkehr NRW; Ministerium für Innovation, Wissenschaft, Forschung NRW; Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport NRW; Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter NRW; Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit; Landesvereinigung der Unternehmensverbände NRW e.V.; Deutscher Gewerkschaftsbund; IHK NRW – Die Industrie- und Handelskammern NRW e.V.; NRW Handwerkstag; Westdeutscher Handwerkskammertag; Unternehmerverband Handwerk NRW; Verband freier Berufe; Städtetag NRW; Städte- und Gemeindebund NRW; Landkreistag NRW; Kommunaler Arbeitgeberverband NRW

Berufswahl als Entscheidung. Zur Entwicklung eines Modells von der Berufswahl

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Einleitung

Die Berufswahl, insbesondere die primäre Berufswahl, d. h. nach Bußhoff (1995, 9) die Wahl beim Übergang von der Schule und dem Erreichen einer Erstposition im Beschäftigungssystem, kann als „Schicksalswahl“ (Achenbach 1992, 4) bezeichnet werden, denn sie ist von ausschlaggebenden und konsequenzenreichem Gewicht. Sie stiftet (immer noch) gesellschaftliche Identität, wenngleich sie lediglich einer Erstqualifikation entspricht und bezüglich der Erwerbsbiographie von mehreren Berufswechseln auszugehen ist.

Die Entscheidungsfindung als zielgerichtetes Verhalten ist kognitives Problemlösen, das die Lebensgeschichte verändert und Ausdruck von Identitätsbewährung ist. Deshalb gilt es zunächst, die Elemente des mehrdimensionalen Entscheidungsprozesses auszuweisen, das Entscheidungsproblem zu charakterisieren und die Entscheidung als Handlungsschluss und (u. U. auch als Belastungssituation) auszuweisen. Je nach Einschätzung des Entscheidungskonfliktes sind verschiedene Entscheidungsstrategien zu differenzieren.

Bei der Betrachtung des Wahlverhaltens i. e. S. wird aber schnell deutlich, dass es Unterschiede hinsichtlich der Wahl der Perspektive, der Auswahl der die Berufswahl bestimmenden Komponenten und der terminologischen Auslegungen in den einzelnen, zahlreich vorliegenden Berufswahl- und Berufsentwicklungskonzepten gibt. Hinsichtlich des Anspruches (vgl. BIBB 2006, 18), Berufswahlberatende bieten wissenschaftlich fundierte, systematische und strukturierte Berufsorientierung an, leisten die verschiedenen Konzepte zur Berufswahl Unterstützung in der (deutlicheren) Wahrnehmung subjektiver und objektiver Realitäten. Nach Sickendiek (2007, 53f.) helfen sie, Situationen und Sachverhalte zu erklären und Lösungsmöglichkeiten zu finden. Gleichsam eröffnen sie Diskussionsansätze für Sachfragen sowie Reflexions- und Bearbeitungsansätze. Die Auseinandersetzung Beratender mit der Vielzahl an Konzepten zur Berufswahl erscheint praktisch nicht realisierbar. Folglich ist es anstrebenswert, nach der Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten zur Berufswahl und deren Systematisierung, ein Modell in Form einer überschaubaren Abbildung bei großer Komplexität des Beziehungsgefüges zu entwickeln, was dieser Beitrag versucht. Das Ziel der (pädagogisch unterstützten) Berufsorientierung, „den gesamten Berufsorientierungsprozess so zu fördern, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die Jugendlichen die einzelnen Teilaufgaben des Berufswahlprozesses ... vollständig und vor allem rechtzeitig bearbeiten und lösen“ (Brüggemann/Rahn 2013, 16) wird erreichbar, denn die Abbildung des gesamten Prozesses macht diesen für alle Beteiligten transparenter. Die „Person-im-Kontext“ – lt. Hirschi (2013, 31) ein zentraler Ansatz moderner Konzepte zur Berufswahl – kann in den Blick genommen werden, denn das Modell ermöglicht beispielweise zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme von Berufswahlberatung die individuelle Verortung im Prozess der Berufsorientierung und das Management entsprechender Förderangebote. Es trägt also maßgeblich dazu bei, Strukturierungsprobleme zu lösen.

1 Entscheidungsaufgabe Berufswahl

Bezogen auf die Berufswahl ist zu konstatieren, „dass es sich um einen (begründeten) Prozess handelt, an dessen Ende immer eine Entscheidung steht, die aus der Wahl zwischen Alternativen hervorgeht und Grundlage für nachfolgendes Verhalten ist“ (Forßbohm 2010, 3). Das Finden der Entscheidung ist zielgerichtetes kognitives Problemlösen, auch wenn es von den Wählenden nicht als Problem wahrgenommen wird. Wesentliche Elemente in diesem persönlichen Entscheidungsprozess sind (1) ein defizitärer Ausgangszustand, (2) ein angestrebter Zielzustand und (3) noch zu entwickelnde oder bereits bekannte Operatoren zur Transformation des Ausgangszustandes in den Endzustand (vgl. Hellberg 2005, 33).

Eine Berufswahlentscheidung – Entscheidung als Handlungsentschluss – zu treffen, verläuft nach dem Stufenmodell von Beck (Abbildung 1) in seiner einfachsten Form in vier Phasen von (1) der Auslösung des Entscheidungsprozesses über (2) die Reflexion der Möglichkeiten und (3) die Reflexion der Kriterien zu (4) der Anwendung der Kriterien auf die Möglichkeiten.

Abbildung 1: Die Stufen des entscheidungsbezogenen Berufswahlprozesses (Beck 1976, 107)Abbildung 1: Die Stufen des entscheidungsbezogenen Berufswahlprozesses (Beck 1976, 107)

Dem folgende Modelle erweitern (vgl. Janis/Mann 1977, die die Phasen „Einschätzung der Herausforderung“, „Suche und Sichtung von Möglichkeiten“, „Abwägen der Möglichkeiten“, „Entscheidung und Planung der Realisierung“ und „Festhalten an der Entscheidung“ unterscheiden) bzw. fassen zusammen (vgl. Gati/Asher 2001, die in ihrem PIC-Ansatz die Phasen „Vorauswahl“, „Vertiefte Exploration“ und „Wahl“ unterscheiden), bilden aber immer die Komplexität der Entscheidung ab.

Das Problemlösen ist dann schwierig, „wenn das Problem mehrdimensional ist, wenn die benötigten bzw. zu berücksichtigenden Informationen umfangreich und widersprüchlich sind, wenn Unwissenheit über die zu erwartenden Folgen besteht, wenn der Entscheider sich über seine Ziele und Präferenzen unklar ist“ (Zimolong/Rohrmann 1990, 625). Die Berufswahl ist ein komplexes Entscheidungsproblem, folgt man der Charakterisierung von Orasanu/Connoly (1993, angeführt in Hellberg 2005, 58f.):

  • „Im Zuge der Berufswahl stehen die Wählenden unter einem gewissen Zeitdruck, denn die gesellschaftliche Erwartung von einer nahtlos an die Schulzeit anschließende Berufswahl ist existent.
  • Berufswahl findet in einer unbeständigen dynamischen Umwelt statt, d. h. Informationen, über die die Wählenden verfügen, sind ständigen Veränderungen unterworfen, mehrdeutig und folglich unvollständig.
  • Wechselnde Bedingungen führen auch zu wechselnden oder in Konkurrenz zueinander stehenden Zielen – ohnehin ein komplexes Phänomen mit zumeist unklaren Zielsetzungen – die zudem schlecht definiert werden können.
  • Dies wiederum verursacht ein zaghaftes, kleinschrittiges Herantasten bei dem auf Feedback-Schleifen zurückgegriffen wird.
  • Hinzu kommt, dass Vorgaben von Organisationen bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden müssen.
  • Die realite Berufswahl ist eine schlecht strukturierte Problemsituation, da es verschiedene Möglichkeiten der Problemlösung gibt.
  • Darüber hinaus sind auch zahlreiche andere Personen an der Entscheidungsfindung und damit auch an der Berufswahl beteiligt.
  • Und die letztendlich getroffene Entscheidung zeugt von hoher Beteiligung, denn der Ausgang betrifft die Entscheidenden in hohe Maße selbst.“ (Forßbohm 2010, 6f.)

Die Berufswahl ist aber immer auch durch zufällige Ereignisse, wie die Happenstance Learning Theory (Krumboltz 2009) aufzuzeigen vermag, beeinflusst.

Weiterhin gilt, dass von einer Orientierung der Wählenden an den Grundsätzen rationalen Handelns, vergleichbar dem homo oeconomicus, der unbeeinflusst von Emotionen und unbeschränkt in der Informationsaufnahme, -speicherung und hinsichtlich der Kapazitäten der Informationsverarbeitung ist, nicht auszugehen ist. Präskriptive Modelle der Berufswahl und die denen übergeordneten normativen Modelle (vgl. Schreiber 2005, 6) berücksichtigen also die realite Berufswahl nur unzureichend, denn Wählende sind „zum einen unvollkommen über die objektiv offen stehenden beruflichen Alternativen und ihrer Konsequenzen informiert, verfügen zum anderen nicht über eine klar strukturierte Rangfolge ihrer Ziele und auch nicht über ausgefeilte Entscheidungsregeln (vgl. Bußhoff 1992, 4), und sie sind nicht erhaben über die Verzerrung oder Ausblendung objektiver Gegebenheiten (vgl. Steffens 1975, 46ff.) in dieser Problemsituation“ (Forßbohm 2010, 8f.). Berufswahl ist immer auch ein Dilemma, denn der Abwägungsprozess und die Wahl einer Alternative bedeuteten gleichermaßen den Verzicht einer anderen Alternative. So wird die Entscheidungsfindung zu einem Entscheidungskonflikt, zu einer Belastungssituation. Janis/Mann (1977, zitiert in Brown 1994b, 433f.) formulieren folgende Grundthesen zum Zusammenhang von Entscheidungskonflikten und Stressgefühlen:

  • „Das Ausmaß an Streß, der aus einem Entscheidungskonflikt resultiert ist abhängig von den individuellen Zielen, den mit diesen Zielen assoziierten Bedürfnissen und der Erwartung, daß bestimmte Bedürfnisse infolge der Entscheidung nicht befriedigt werden. Je größer die Erwartung ist, daß Bedürfnisse nicht erfüllt werden, desto größer ist der Streß.
  • Bedrohungen und/oder Möglichkeiten beschleunigen die Entscheidung. Der Entscheidungsstreß hängt damit zusammen, wie stark die Person sich an ihre derzeitige Handlungsweise gebunden fühlt, wenn Bedrohungen oder Möglichkeiten auftauchen.
  • Wenn alle tragfähigen Lösungen des Problems und der Bedrohung als schwerwiegende Risiken empfunden werden, verliert die Person die Hoffnung auf eine akzeptable Lösung und geht zur defensiven Vermeidung über. Charakteristisch für die defensive Vermeidung ist, daß die Person Gewinne und Verluste, die mit einzelnen Alternativen verbunden sind, übertreibt bzw. untertreibt, daß sie zaudert, sich von anderen abhängig macht und Informationen selektiv verarbeitet.
  • Wenn ein Entscheidungskonflikt zu mäßigem Streß führt, unternimmt die Person eine wachsame Anstrengung, um eine verfügbare Lösung zu finden oder zu bewerten, solange die Hoffnung besteht, daß eine vernünftige Lösung möglich ist.“

Die Einschätzung des Entscheidungskonfliktes bestimmt maßgeblich die Anwendung von Strategien und Methoden, den Konflikt zu lösen, die Aufgabe Berufswahl zu bewältigen. Diese thematisieren deskriptive Modelle, indem sie psychologische Prozesse durch Entscheidungsstile (weiterführend zu Entscheidungsstilen allgemein Schreiber 2005, 14ff.) abbilden. Zu einer stabilen Entscheidung führt wachsames (vigilantes) Verhalten, der entscheidungsstrategische Prototyp, wobei die Stressgefühle mittelstark ausgeprägt sind, die Suche nach unterstützenden und diskrepanten Informationen mit großem Interesse erfolgt und relevante sowie irrelevante Informationen sorgfältig unterschieden werden (vgl. Bußhoff 1999, 13).

Und dennoch existiert im Umgang mit Entscheidungskonflikten kein generelles Lösungsmuster, denn Wählende können neben dem vigilanten Verhalten ebenso in anderen Problemlösemodi – wie etwa der konfliktfreien Fortführung des Verhaltens, der relativ konfliktfreien Verhaltensänderung, dem defensiven Ausweichverhalten oder dem hypervigilanten Verhalten – agieren, und das unter Umständen in einem Entscheidungsprozess (vgl. Bußhoff 1999, 13).

Hinzu kommt die Vielzahl an nicht zeit- und situationsüberdauernden Entscheidungsregeln, nach denen eine Festlegung, d. h. die konkrete (optimale bzw. befriedigende) Entscheidung für eine Alternative, erfolgt. Im Wesentlichen sind nach Schreiber (2005, 18ff.) die Erwartungsnutzen-Regel, die Eliminations-Regel und die Satisfacing-Regel.

  • Erwartungsnutzen-Regel
    Berufswahl ist ein Prozess, in dem eine Analyse jeder Möglichkeit anhand eines Kriterienkataloges erfolgt, die für jede Möglichkeit einen Nutzenwert ermittelt. Die Möglichkeit mit dem höchsten Nutzenwert und der höchsten Realisierungswahrscheinlichkeit wird letztlich gewählt und führt zu einer optimalen Entscheidung.
  • Eliminations-Regel
    Gleichzeitig werden alle Entscheidungsmöglichkeiten in Betracht gezogen und auf der Basis eines Kriteriums – geordnet nach Wichtigkeit – bewertet. Wird ein Kriterium vor dem Hintergrund einer bestimmten akzeptablen Toleranzbreite nicht erfüllt, führt dies direkt zum Ausschluss. Berufswahl wird zu einem Prozess zunehmender Eingrenzung mit dem Ziel, eine optimale Entscheidung zu treffen.
  • Satisficing-Regel
    Berufswahl ist eine befriedigende Entscheidung, bei der nach der Bewertung die Möglichkeit gewählt wird, die in Bezug auf alle wichtigen Kriterien zufriedenstellende Werte erreichen konnte.

Die dargestellten Entscheidungsregeln lassen sich, in Anlehnung an Brown (1994b, 449ff.), darüber hinaus über die Zuordnung zum kriterien- bzw. alternativenbezogenen Vorgehen charakterisieren. So wird bei der Eliminations-Regel beispielsweise kriterienbezogen vorgegangen, indem zunächst alle Möglichkeiten hinsichtlich eines Kriteriums analysiert werden, um dann eine Analyse eines nächsten Kriteriums vorzunehmen usw. Immer vor dem Hintergrund, sofort eine Entscheidung zu treffen, ob die Möglichkeit weiterhin in Betracht gezogen oder verworfen wird. Anders bei der Erwartungsnutzen- und Satisficing-Regel, bei denen alternativenbezogen vorgegangen wird und die Möglichkeiten umfassend (auf der Basis aller Kriterien) analysiert und verglichen werden. So können Nachteile einer Möglichkeit hinsichtlich eines Kriteriums beispielsweise durch eine positive Bewertung eines anderen Kriteriums „korrigiert“ werden, was einem alternativenbezogenen-kompensatorischen Vorgehen entspricht und in verschiedenen Konzepten zur Berufswahl Niederschlag findet. (vgl. Schreiber 2005, 21).

2 Konzepte zur Berufswahl – Der Versuch einer Systematisierung

In der Auseinandersetzung mit Berufswahl als Entscheidungsaufgabe (Entscheidungsproblem und -konflikt) bedient sich die Berufswahlforschung in ihrer Vermittlung der Hilfe von Modellen und Theorien.

Modelle repräsentieren „ihre Originale in der Regel immer nur für bestimmte (erkennbare oder/und handelnde) Subjekte (die Modellbenutzer), und zwar innerhalb bestimmter Zeitspannen (der Originalrepräsentation) sowie unter Einschränkung auf bestimmte (gedankliche oder tatsächliche) Operationen“ (Stachowiak 1992, 219) und sind abgeleitet aus umfassenderen Theorien: Theorie als „Lehrgebäude, ohne die Rücksicht auf die Methode(n), mit denen es gewonnen wurde, oder auf seinen Gegenstand“ (Seiffert 1992, 368). Dennoch ist eine Angrenzung der verschiedenen Konzepte, die sich mit der Berufswahl auseinandersetzen, schwierig. Stachowiak (1973, 1) begründet das u. a.. mit der Wandlung im wissenschaftlichen Denken und der zunehmenden Neigung Forschender, „sogar Erkenntnisgebilde von der Qualität hochkomplexer erfahrungswissenschaftlicher Theorien als ‚Modelle’ aufzufassen oder sie zumindest kurzweg so zu nennen“. Und so wird Konzept als Schnittstelle oder Vorstufe zu einer Theorie favorisiert, weil es in seiner Verwendung unverfänglicher erscheint.

Im Folgenden werden mit dem Ziel der Systematisierung alle Modelle, Konzepte und Theorien zur Berufswahl den Kategorien „Ökonomisch orientierte Konzepte zur Berufswahl“, „Psychologisch orientierte Konzepte zur Berufswahl“ und „Soziologisch orientierte Konzepte zur Berufswahl“ zugeordnet. Dabei werden Konzepte in den Blick genommen, die die Erkenntnisse in einen (Wirkungszusammenhänge erfassenden und theoretischen) Bezugsrahmen einbinden, die Strukturen bestimmter Mechanismen aufzeigen, die kausale Beziehungsnetze abbilden und die zudem einen gegenwärtigen Einfluss, sowohl auf die Forschung als auch auf die (Beratungs-)Praxis, haben. Gleichsam ist dem Anspruch gerecht zu werden, klassische Konzepte, moderne Konzepte und neuere Entwicklungstendenzen aufzugreifen.

Zunächst ist aber Berufswahl – wie bereits herausgestellt – immer als eine Entscheidung auszuweisen. Somit ist jedes Berufswahlkonzept in dem vorliegenden Beitrag als entscheidungstheoretisches Konzept anzuerkennen. Auch dann, wenn die Konzepte nicht explizit abbilden, wie Wählende zu einer Entscheidung gelangen, und z. T. auch im Gegensatz zur einschlägigen Literatur (exemplarisch Seifert 1977, Kahl 1981, Bußhoff 1989, Beyer 1992, Brown 1994b), in der explizit entscheidungstheoretisch orientierte Konzepte neben Konzepten mit anderen Betrachtungsperspektiven dargestellt werden.

2.1 Ökonomisch orientierte Konzepte zur Berufswahl

Basierend auf der ökonomischen Entscheidungstheorie legen ökonomisch orientierte Konzepte zur Berufswahl den Schwerpunkt auf die Analyse des ökonomisch ausgerichteten, rationalen Entscheidungsprozesses (vgl. Seifert 1977, 240). Demnach ist anzunehmen, dass Individuen vorteilhafte Beschäftigungen hinsichtlich des Nettovorteils im Sinne des besten Lohn- und Gehaltsniveaus suchen und folglich persönliche ökonomische Interessen verfolgen. Weiterhin bezieht sich die ökonomische Entscheidungstheorie auf wirtschaftliche Konsequenzen des Wahl- und Entscheidungsverhaltens: Individuen wählen Beschäftigungsverhältnisse in von Arbeitskräftemangel geprägten Berufen, weil in diesen das Lohn- und Gehaltsniveau hoch ist. Und hier wird deutlich, dass die Annahmen des abstrakten, idealtypischen Modells nicht dem realen Berufswahlverhalten gerecht wird, wenn etwa die Berufswahl zu wenigen, von Nachfrageüberhang gekennzeichneten Berufen tendiert. So wählten 2011 71 % der Berufswählerinnen einen der 20 Berufe, die von weiblichen Jugendlichen am häufigsten ergriffen werden und immerhin noch 55 % der Berufswähler einen der 20 Berufe, die männliche Jugendliche am häufigsten ergreifen (vgl. Statistisches Bundesamt 2013, 24). Hinzu kommt, dass etwa individuelle Mobilitätshemmnisse (beispielsweise im Kontext milieuangemessener Berufswahl) und der Versuch, zukünftige Entwicklungen zu antizipieren die vollkommene Berufswahlfreiheit beeinflussen (vgl. Seifert 1977, 240f.; Hotchkiss/Borow 1994, 291f.). Letzteres thematisiert die Humankapitaltheorie, die davon ausgeht, dass Individuen Entscheidungen treffen, um maximale diskontierte Langzeiteinnahmen bei verschiedenen Präferenzen und Eignungen zu erzielen. Wirtschaftlicher Erfolg ist abhängig von der Kontinuität und der Dauer einer Berufsausübung, von der Steigerung der Entgeltraten mit zunehmender Arbeitsmarkterfahrung, von der Annahme, dass Entgelt ein Indikator für Qualität ist und von der Entlohnung entsprechend des Beitrages zur Produktion (vgl. Hotchkiss/Borow 1994, 292). Da aber z. B. die Qualität der Arbeit von weiteren Faktoren (Grad der Autorität, geographische Lage eines Arbeitsplatzes und Organisationsgröße) beeinflusst wird und sich die (nicht produktivitätsrelevante) Kategorie Geschlecht auf die Lohnbildung auswirkt, erscheint die Theorie kompensierender Lohndifferentiale Berufswahl realistischer erklären zu können. Ihr folgend verzichten Individuen bewusst auf Entlohnung, um individuell spezifische Arbeitsbedingungen schaffen zu können. So ist beispielsweise Familie und Erwerbstätigkeit vereinbar, wenn Teilzeitarbeit möglich ist und zusätzliche Sozialleistungen angeboten werden. Berufswahl wird zu einer bewussten, die persönliche Entwicklung und Entwicklungsabsichten berücksichtigenden Entscheidung in der beruflichen Laufbahn.

Mit der individuellen Persönlichkeitsstruktur und dem Einfluss dieser auf die Berufswahl setzen sich psychologisch orientierte Konzepte zur Berufswahl auseinander.

2.2 Psychologisch orientierte Konzepte zur Berufswahl

In diesen Konzepten ist Berufswahl als individuelle Aufgabe ausgewiesen, weil die Persönlichkeit und weniger ökonomische Faktoren zentral sind. Vor diesem Hintergrund sind (1) psychodynamisch, (2) persönlichkeitspsychologisch und (3) entwicklungspsychologisch orientierte Konzepte zu unterscheiden, wobei eine klare Trennung problematisch ist.

Psychodynamische Konzepte gehen davon aus, „dass in der Kindheit ausgeprägte und lang wirksame Antriebe, Motive und Bedürfnisse menschliches Verhalten steuern“ (Forßbohm 2010, 21) und beschäftigen sich mit diesen Bedürfnisstrukturen und der Befriedigung von Bedürfnissen. Die psychische Ausstattung entwickelt sich dabei in einer relativ kurzen Zeit, in der Regel in den ersten Lebensjahren (vgl. Crites 1969, zitiert in Beck 1976, 87), und sie ist sehr konstant und durchschlagend wirksam im Verhalten, sie ist den Individuen nicht bewusst, und sie wird nicht reflektiert. Folgt man Beyer (1992, 15), dann begegnen den Individuen bei Befriedigungshandlungen verschiedenste Umwelten, die ihrerseits wiederum – indem sie gestatten, verzögern oder verwehren – die Ausbildung der Bedürfnisstruktur beeinflussen. Im Kontext der Befriedigung des Bedürfnisses Berufsarbeit wird die Berufswahl zur Befriedigungshandlung, die durch individuelle Motiv- und Antriebskonstellationen beeinflusst wird und im Zentrum psychoanalytischer und bedürfnispsychologischer Konzepte steht.

Psychoanalytische Konzepte (Freud 1930; Moser 1963; Bordin 1963) setzen sich mit der schwer zugänglichen inneren Realität der Individuen und der Umsetzung sozialer Normen in diese auseinander und ermöglichen somit, „Strukturen der Vergesellschaftung im Subjekt“ (Lorenzer 1972, 13) nachzuweisen. Bedeutsam im Zuge der Auseinandersetzung mit Berufswahl wurden nach Scheller (1976, 14) die Ausführungen von Bordin (weiterführend u. a.. Forßbohm 2010, 23ff.), im Wesentlichen aus der Zusammenarbeit mit Nachmann und Segal entstanden und sich als Ergänzung zu anderen Konzepten verstehend.

Bedürfnispsychologische Konzepte zur Berufswahl oder „Need-Drive-Ansätze“ (Vroom 1964; Roe 1956) gehen davon aus, dass Individuen Bedürfnisse (needs) eigen sind, die in Antriebsenergie (drive) transformiert werden, wobei eine Hinwendung zu Personen und/oder Aktivitäten erfolgt, von denen Bedürfnisbefriedigung zu erwarten ist (vgl. Forßbohm 2010, 25). Beruf wird zum Mittel der Bedürfnisbefriedigung und Berufswahl als Entscheidungsprozess basiert u. U. doch auf Motiven, die sich nicht dem Bewusstsein entziehen, wenn Berufe in Übereinstimmung von Motiven und Fähigkeitsanforderungen einzelner Berufe gewählt werden. Dies wiederum ist Gegenstand persönlichkeitspsychologisch orientierter Konzepte.

Berufswahl ist in persönlichkeitspsychologisch orientierten Konzepten zur Berufswahl die Zuordnung von Individuen zu einem Beruf. Dabei sind wahrgenommene Persönlichkeitsmerkmale Bewertungskriterien und Berufe Entscheidungsalternativen, was bei der Analyse des übergeordneten differentialspsychologischen Ansatzes („Trait-and-Factor“-Ansatz) und der an dessen Tradition anschließenden Kongruenztheorie von Holland (u. a.. 1973), eines der einflussreichsten Berufswahlkonzepte, deutlich wird.

Bedingungen für die Berufswahl sind nach Parsons (1909, 5) und Brown/Brooks (1994, 3)

  • „eine klare Vorstellung von sich selbst, seinen Eignungen, Fähigkeiten, Interessen, Ambitionen, Ressourcen, persönlichen Grenzen und deren Ursachen;
  • eine genaue Kenntnis der Voraussetzungen und Bedingungen für den beruflichen Erfolg, der Vor- und Nachteile, der Entlohnungen, Möglichkeiten und Aussichten in verschiedenen Berufsrichtungen;
  • gründliches Nachdenken über das Verhältnis dieser beiden Tatsachengruppen und wirklich vernünftige Überlegungen“.

Demnach sind für das „Matching-Modell“ bzw. das „matching of men to jobs“ (Bußhoff 1989, 33) in Anlehnung an Miller (1964), Klein/Wiener (1977) und Crites (1981) folgende Annahmen (Forßbohm 2010, 34) zu konstatieren:

  • „Jedes Individuum verfügt über ein spezifisches Muster hinsichtlich beruflich relevanter Fähigkeiten, Interessen und Wertvorstellungen, die valide und reliabel gemessen werden können und die optimale Eignung für einen Beruf gewährleisten.
  • Jeder Beruf kennzeichnet sich durch typische Anforderungsmuster, d. h. ein spezifisches pattern an Persönlichkeitsmerkmalen, und Befriedigungsmöglichkeiten aus.
  • Bei der Berufswahl handelt es sich um einen unkomplizierten, rationalen Prozess, da die Zuordnung von persönlichkeits- und berufsspezifischen Merkmalen grundsätzlich möglich ist. Lediglich Williamson (1939) räumt ein, dass emotionale Instabilität eine Ursache für Unsicherheiten bei der Berufswahl darstellt (vgl. Brown 1994a, 25).
  • Berufliche Anpassung, d. h. individueller Ausbildungs- und Berufserfolg und berufliche Zufriedenheit, werden wesentlich durch den Grad der Übereinstimmung zwischen individuellen Eignungsmerkmalen und beruflichen Eignungsanforderungen bestimmt.“

Werden nun entwicklungspsychologisch Vorstellungen und Konzepte über Sozialisation und Lernprozesse in die persönlichkeitspsychologisch orientierten Konzepte zur Berufswahl integriert, können Schwächen der Kongruenztheorie (weiterführend Forßbohm 2010, 44ff.) behoben werden.

In entwicklungspsychologisch orientierten Konzepten zur Berufswahl wird Berufswahl nicht als einmalig, punktuell und statisch betrachtet, die Berufswahl ist vielmehr als eine längerfristige Entwicklung – von Rollenspielen und träumerischen Berufsvorstellungen im Kindesalter über einen Reifungsprozess, der in das Berufsziel mündet – und als gestufte Folge von Entscheidungen anzuerkennen. „Die Berufswahl ist dabei eine Entscheidungsaufgabe des Jugendalters und eine Phase im lebenslangen Prozess der vorberuflichen, beruflichen und nachberuflichen Entwicklung“ (Forßbohm 2010, 46), mit der sich insbesondere Ginzberg et al. (1951) und Super (u. a.. 1957) auseinandersetzten. Diese Konzepte berücksichtigen – anders als soziologisch orientierte Konzepte zur Berufswahl – Umwelteinflüsse nur in geringem Umfang.

2.3 Soziologisch orientierte Konzepte zur Berufswahl

Scharmann (1965, 14) folgend sind Berufswahl und Berufsfindung in erster Linie Produkte der sozialen Umwelt, wenn sie auch als subjektive Entscheidung erlebt werden. In soziologisch orientierten Konzepten zur Berufswahl treten die Wählenden (und deren individuelle Entscheidungen) in den Hintergrund und Berufswahl hat den Charakter von Zuweisung. Nach Daheim (1970), der ebenso wie Beck/Brater/Wegener (1979) den allokationstheoretischen Ansatz vertritt, ist folgender Bezugsrahmen für die primäre Berufswahl auszuweisen:

  • Festgelegt wird der Zugang zu bestimmten Berufspositionen durch die stark familiär geprägte, quantitativ und qualitativ verengend wirkende Entscheidung für eine bestimmte Schulbildung.
  • Die Entscheidung für eine Berufsposition ist dann in der zweiten Stufe durch verschiedene Agenten (Lehrende, Beratende und Gleichaltrige) beeinflusst und wesentlich spezieller.

In der Weiterentwicklung des Modells heben Beck/Brater/Wegener (1979) hervor, dass dem Berufsfindungsprozess eine Tendenz zur Milieuanpassung obliegt und soziale Barrieren zwischen Berufen sehr präsent sind. „Die Wahrscheinlichkeit, einen Ausbildungsvertrag abzuschließen, steigt mit Zunahme der Übereinstimmung von milieutypischen Basisfähigkeiten mit berufstypischen Basisfähigkeiten“ (Forßbohm 2010, 71) und stellt keine Einschränkung der Wahlfreiheit dar. Vielmehr ist es ein „Schutzmechanismus vor Konflikten bei einer stärkeren Individualisierung der Berufsinteressen“ (ebd., 72) im Sinne einer Überbrückung der kürzesten Distanz zwischen Milieu und Beruf (vgl. Heinz et al. 1987, 250) und hat seine Ursachen in innerfamiliären Interaktionen.

Es handelt sich – Sozialisationstheorien (weiterführend Forßbohm 2010, 72ff.) folgend – bei der Berufswahl um einen Lernprozess, da er auf soziale Interaktionen, die für die Ausbildung bestimmter Handlungskompetenzen und bestimmter Verhaltensweisen verantwortlich sind, zurückzuführen ist. Wird im Wahlprozess eine Handlungsalternative umgesetzt, initiiert das den Erwerb neuer Lernerfahrungen, die dann wiederum das Verhalten in zukünftigen Entscheidungsprozessen beeinflussen. „Also setzt die Berufswahl als Entscheidungsaufgabe einerseits Lernprozesse voraus, mündet andererseits in Lernprozesse und ist darüber hinaus von diesen durchsetzt, wenn beispielsweise Informationsaktivitäten eingeschaltet werden“ (ebd., 72).

In der Theorie des sozialen Lernens von beruflichen Entscheidungsprozessen nach Krumboltz/Mitchell/Jones (1976) streben intelligente, problemlösende Individuen nach dem Verstehen der Verstärkungsbedingungen der individuellen Umwelt, um diese im Sinne einer Anpassung an individuelle Absichten und Bedürfnisse verändern zu können. Ausgangspunkt sind vier Faktorengruppen – Genetische Ausstattung und besondere Begabungen, Umweltbedingungen und -ereignisse, Lernerfahrungen (instrumentell, assoziativ und/oder vikariierend), Aufgaben- und Problemlösefähigkeiten – die im Zusammenspiel Realitäten ausdrückende Verallgemeinerungen ermöglichen. Dies sind zum einen generalisierte Weltanschauungen und generalisierte Selbstbeobachtungen, insgeheim oder offen geäußert, mehr oder weniger zutreffend, immer aber Ergebnisse früherer Lernerfahrungen und Ergebnisse neuer Lernerfahrungen beeinflussend (vgl. Forßbohm 2010, 101). Und werden die folgenden Problemlösefähigkeiten (Mitchell/Krumboltz 1994, 173f.) betont, die positiv verstärkt eher erlernt werden, und mit den eingangs formulierten Phasen vigilanter Entscheidungen übereinstimmen, wird Berufswahl als Identitätsbewährung möglich:

  1. „das Erkennen einer wichtigen Entscheidungssituation,
  2. die praktische und realistische Definition einer Entscheidung oder Aufgabe,
  3. die Untersuchung und präzise Einschätzung generalisierter Selbstbeobachtungen und Weltanschauungen,
  4. das in Betracht ziehen eines breiten Spektrums an Alternativen,
  5. die Sammlung notwendiger Informationen über die Alternativen,
  6. die Entscheidung, welche Informationsquellen am verlässlichsten, genauesten und wichtigsten sind und
  7. die Fähigkeit zur Planung und Durchführung der sechsstufigen Abfolge.“

3 Berufswahl als Identitätsbewährung

Ganzheitlich betrachtet zielt Berufswahl als Übergang nach Bußhoff auf die Erhaltung und Entfaltung (Bewährung) der Identität in beruflicher Dimension ab und bedeutet die Integration neuer Identitätsmerkmale oder Teilidentitäten und die wechselseitige Abstimmung dieser Teilidentitäten (vgl. Bußhoff 1992, 7). Identität entsteht „in einem dynamischen Prozess aus der Erfahrung des Individuums in einer bestimmten Umwelt und mit den verschiedenen Interaktionspartnern/-innen“ (Forßbohm 2010, 121) und kann – da aus verschiedenen Teilidentitäten bestehend – nur als Plural verstanden werden. So wird im Rahmenmodell der zur Erklärung der Berufswahl nach Bußhoff (1989, 57) deutlich, dass Berufswahl als Identitätsbewährung ein Entwicklungsprozess ist, dessen innere Dynamik sich im Zusammenspiel von Reifungsprozessen und Lernerfahrungen begründet. Grundlage war nach Seifert (1977, 226) die „informationstheoretisch-kybernetische Modellvorstellung der Berufswahl“ von Ries (1970), einem Konzept, das die Berufswahl als sozialen Integrationsprozess verstanden wissen will, in dem das Individuum (allerdings) als black box in Erscheinung tritt. Bußhoff vermag in seinen Ausführungen – für Beyer (1992, 83) bei der Betrachtung der Berufswahl unerlässlich – kognitive Prozesse, psychische Verarbeitungsmechanismen und interaktive Beziehungen der Umwelt mit dem individuell kognitiven Bezugsrahmen herzustellen und diese bei großer Komplexität des Beziehungsgefüges überschaubar abzubilden. Folglich eignet es sich ausgesprochen gut als Grundlage für die eigene Modellbildung, d. h. die Erzeugung geordneter Komplexität durch Verringerung von Komplexität, in dem Einflussfaktoren auf die Berufswahl nicht isoliert betrachtet werden.

Also gilt es zunächst, dem Reduktionismus zu folgen und mithilfe der Analyse den Berufswahlprozess – um ihn verstehen, klassifizieren und bewerten zu können – zu zerlegen. Wobei die einzelnen Einheiten als Teile eines nächsthöheren Ganzen nicht überbetont werden, sondern vielmehr der Kompensation und Neutralisation bedürfen. Dies führt, Patzak (1982, 6f.) folgend, zum Expansionismus: „Jede Einheit besitzt Eigenschaften, wodurch das Verhalten des Ganzen zwar beeinflußt wird, die Eigenschaften des Ganzen läßt sich jedoch nur aus der Wechselwirkung der in ihr enthaltenen Einheiten erklären. Darüber hinaus können manche Komponenteneigenschaften erst durch die Existenz der im System befindlichen weiteren Komponenten zur Wirkung kommen. Die Synthese als kreative Methode des funktionsorientierten Zusammensetzens ... von Betrachtungseinheiten gewinnt hierdurch an Bedeutung.“ Und so integriert das Modell der Berufswahl als Entscheidung (Abbildung 2), in dem die Stufen des entscheidungsbezogenen Berufswahlprozesse nach Beck (Abbildung 1) erkennbar sind, sowohl Erkenntnisse, die aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten zur Berufswahl resultieren (vgl. Forßbohm 2010), als auch das Modell von der Berufswahl als Identitätsbewährung nach Bußhoff (1989).

Abbildung 2: Berufswahl als Entscheidung (Forßbohm 2010, 124)Abbildung 2: Berufswahl als Entscheidung (Forßbohm 2010, 124)

Das Individuum mit seiner Persönlichkeitsstruktur – in Anlehnung an Bußhoff (1998, 63ff.) (a) selbstbezogene, (b) umweltbezogene und (c) methodische Dispositionen umfassend (Abbildung 3) – steht im Zentrum der Berufswahl.

Abbildung 3: Das Individuum mit seiner Persönlichkeitsstruktur (Forßbohm 2010, 125)Abbildung 3: Das Individuum mit seiner Persönlichkeitsstruktur (Forßbohm 2010, 125)

  1. Selbstbezogene Dispositionen sind das Selbstkonzept – sowohl real als auch ideal und normativ – als Summe der Vorstellungen der Individuen über sich, die Selbstwertorientierung, selbstbezogene Motive und Gefühlsdispositionen.
  2. Umweltbezogene Dispositionen umfassen Umweltkonzepte, d. h. „Vorstellungen, in denen sich dem einzelnen die bisher erfahrene Umwelt (realiter oder symbolisch vermittelt) darstellt“ (Bußhoff 1998, 66), umweltbezogene Einstellungen, Gefühlsdispositionen im Sinne der Bereitschaft zu bestimmten Emotionen und Motive.
  3. Methodische Dispositionen – sowohl die routinierte Anwendung einfacher Verhaltensschemata als auch komplexe Handlungsstrategien –sind erlernte Verhaltensbereitschaften, die die Bewältigung der Entscheidungsaufgabe maßgeblich beeinflussen. Insbesondere wenn vollständige Lösungsprogramme und methodische Problemlösungselemente (z. B. das Setzen von Zielen, das Entwickeln und das Auswählen von Alternativen usw.) anzupassen und ggf. weiterzuentwickeln sind.

Ausgangspunkt der Berufswahl ist ein ausbalanciertes Personen-Umwelt-Verhältnis, in dem das Individuum – sich in der Phase der Schulbildung befindend – in seinen Dispositionen nicht in Frage gestellt wird und die (erlebte) Umwelt keinen gravierenden Veränderungen unterliegt. Bußhoff (vgl. 1995, 4), und dem folgt die Autorin, geht von einem funktionierenden Prozess der Selbst- und Umwelterfahrung aus.

Rückt der Schulabschluss näher, fordert die Umwelt Individuen heraus, eine Berufsrolle zu übernehmen, stellt (z. T. verrechtlichte) Entwicklungserwartungen. Die Umwelt wirkt sich – indem sie gestaltet, verwehrt oder verzögert – auf die Ausbildung der individuellen Persönlichkeitsstruktur aus: der Selbsterfahrungskreis wird durch Veränderungen der Umwelt unterbrochen, Identität wird zur Aufgabe und verlangt ein hohes Maß an Flexibilität bei der Entscheidungsfindung in einer multiattributiven und von Unsicherheit gekennzeichneten Situation (vgl. Forßbohm 2010, 127f.).

Folglich ist die Umwelt, und insbesondere die soziale Umwelt, ein zentrales Element, betrachtet man Berufswahl als Identitätsbewährung. Die Lebenswelt wird bedeutsam, in der die Wählenden weniger nach weittragenden Zielstellungen und ohne sich an langfristigen Handlungsfolgen orientierend überwiegend pragmatisch denken: „Menschen finden sich in Verhältnissen, in Erfahrungen der räumlichen, zeitlichen und sozialen Strukturiertheit, sie müssen mit vielfältigen, komplexen Alltagsaufgaben zu Rande kommen; gesichert in oft nicht weiter hinterfragten Typisierungen und Routinen agieren sie pragmatisch, also nicht primär prinzipien- oder analyseorientiert, sondern in der Intention, die Situation zu bewältigen.“ (Thiersch 2007, 700). Dies auch, weil u. U. der weittragenden Zielstellung ein aus materiellen oder kulturellen Bedingungen resultierender Handlungsdruck gegenübersteht und darüber hinaus Alltagstheorien der Wählenden existent sind. „In unseren Alltagstheorien verbinden wir unsere Werte und Bedeutungszuschreibungen, eigene und von anderen übernommene Erfahrungen sowie unsystematisches Wissen zu bestimmten Vorstellungen darüber, wie die Welt ... zu erklären ist, nach welchen Regeln sie funktioniert ... und woran man das eigene Handeln am besten ausrichten sollte“ (Sickendiek 2007, 81). Im Sinne einer Neuabstimmung der verschiedenen Lebensbereiche ist die Grundlage für eine nachhaltige Lösung, dass die im Berufswahlprozess getroffene Entscheidung in die Lebenswelt integrierbar ist, sich als tauglich erweist.

Mit Bewusstwerden des Spielraumes alternativer Handlungszwänge wird eine biographische Aufgabe initiiert, die mit einer Entscheidung schließt, die in der Regel einmal getroffen wird und folgenreich ist. „In einer komplexen und pluralen Gesellschaft bedarf dies einiger Aufmerksamkeit und bestimmter Vorkehrungen, da dem Identitätsprozess die Grundlage entgleitet, eingeregelte Identitätsstandards untauglich werden und ein Anschlussstatus noch nicht gefunden ist“ (Forßbohm 2010, 129). Das ausbalancierte Personen-Umwelt-Verhältnis wird zu einer Personen-Umwelt-Diskrepanz. Dies verlangt es, den veränderten Umweltbedingungen das individuelle Dispositionsgefüge anzupassen und/oder die Umwelt – in Richtung selbstkonformer Rückmeldungen – zu beeinflussen und eröffnet (Phase I,1) den Zyklus vom Übergang als Identitätsbewährung (Abbildung 4).

Abbildung 4: Übergang als Identitätsbewährung (Bußhoff 1998, 24)Abbildung 4: Übergang als Identitätsbewährung (Bußhoff 1998, 24)

Die Aufgabe, den Identitätsprozess neu zu regeln, verläuft entweder undramatisch oder wird als Situation mit schmerzhaften Brüchen und/oder psychosozialen Spannungen wahrgenommen, insbesondere wenn von der Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft (vgl. Beck 1996, 42) auszugehen ist: gesellschaftliche Krisen, etwa ein deutlicher Überhang an Bewerbern/-innen, werden als individuelle Krisen in einer sich zeitdynamischen und sich entziehenden Zeit erlebt. Sich der Aufgabe entziehen zu wollen (Phase I,2) führt zu Umwegen und im ungünstigsten Fall in eine Sackgasse. Eine Befreiung aus dieser erfordert in der Regel hohe materielle und/oder psychische Aufwendungen. Unabhängig von der Erlebensebene gilt es, die Entscheidungsaufgabe – als Suche nach und Entscheidung für eine Zielidentität anzunehmen (Phase II,1). Dies bei einer nicht festgelegten Menge an Optionen, da u. U. Optionen zur Verfügung stehen, die (noch) nicht in Betracht gezogen wurden und wiederum jede Option konsequenzenreich in verschiedensten Dimensionen ist, die nicht (sicher) vorhersagbar sind (vgl. Forßbohm 2010, 130). Ausreichend Intensionsstärke und günstige Gelegenheiten vorausgesetzt, setzen zumeist übergangslos Realisierungshandlungen zum Erwerb von Identitätsmerkmalen (Phase III) ein. Grundsätzlich ist nach Beck (1996, 41) in der westlichen Welt davon auszugehen, dass Individuen das „eigene Leben“ in die eigene Hand nehmen wollen und nach Autonomie streben. Die Normalbiographie wird zur Wahlbiographie und das Leben – dazu gehört eben auch die Berufswahl – zu Aktivität verdammt, wird zum experimentellen Leben (vgl. ebd., 42). In diesem ist es grundsätzlich möglich (wenn auch zunächst vorerst), eine angestrebte berufliche Identität zu erlangen, den Identitätszyklus zu schließen und den Identitätsprozess in einen entproblematisierten Verlauf (Phase IV) zu überführen.

Plausibel im Kontext der Realisierungshandlungen – selbstgesteuert oder durch Inanspruchnahme von Berufswahlberatung – zur Lösung der Entscheidungsaufgabe Berufswahl erscheint es, dass das individuelle Dispositionsgefüge an bestehende Strukturen der Umwelt, einem von Diversität gekennzeichneten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, angepasst wird. Berufswahl wird zum persönlichkeitspsychologisch orientiertem „matching of men to jobs“. In diesem leiten sich aus selbstbezogenen Dispositionen der Individuen die Entscheidungskriterien, aus umweltbezogenen Dispositionen die beruflichen Entscheidungsalternativen und aus methodischen Dispositionen die Entscheidungsstrategie (Entscheidungsstile und Entscheidungsregeln), die idealerweise wachsam (vigilant) ist, ab (vgl. Forßbohm 2010, 135).

Die Entscheidungsaufgabe i. e. S. ist in ihrer Ausrichtung ökonomisch orientiert, psychologisch orientiert oder soziologisch orientiert und mündet in der aus Überlegungen und unbewussten Handlungstendenzen resultierenden Handlungsabsicht. Damit einhergehend sind die Handlungsbereitschaft und der Handlungsplan, die den Entscheidungsprozess (zunächst) beenden. Die biographische Entscheidung ist Ausdruck von Identitätsbewährung, indem sie Strukturierungsprobleme löst.

Beim Auftreten von Nachentscheidungsproblemen im Zuge der Realisierungshandlungen, wird eine Entscheidung hinterfragt und bereits eingeleitete Handlungsketten unterbrochen (Phase II,2 im Zyklus vom Übergang als Identitätsbewährung, Abbildung 3). Dies führt – ebenso wie teilweise bzw. vollständig erfolglose Realisierungsbemühungen – den Identitätskonflikt fort. Der Identitätsprozess ist zumindest zeitweise zirkulär verlaufend, birgt aber auch die Gefahr einer Bruch- oder Zusammenbruchsbiographie (vgl. Beck 1996, 42). Biographie kann zum Risiko werden und verdeutlicht erneut, dass die Entscheidungsaufgabe Berufswahl in Anlehnung an Orasanu/Connoly sachlich, zeitlich und sozial komplex ist und Unterstützung in Form der Berufswahlberatung bzw. der Berufsorientierung im allgemeinbildenden Schulwesen bedarf. Dies betrifft nach Schudy (2008, 103f.) sowohl die subjektive Berufsorientierung (Anerkennung des Berufes bzw. der Arbeit als wichtiges Element im Lebensentwurf) als auch die Berufsorientierung von Bildungsinhalten und Unterrichtsmethoden (Ausrichten der Dimensionen des Unterrichtes auf Anforderung im Kontext Beruflicher Handlungskompetenz), die Berufsorientierung im Sinne von Berufswahlvorbereitung (Ausbilden von Kompetenzen zur Bewältigung der primären Berufswahl) und die Berufsorientierung im Sinne arbeitsweltbezogener Allgemeinbildung (Auseinandersetzen mit den Grundlagen der Arbeitswelt). Dabei sollte eine befriedigende Lösung – die die Fähigkeit, einen Berufswunsch benennen zu können, bei weitem übersteigt – zentraler Gegenstand aller Bemühungen sein. Denn das o. g. experimentelle Leben erfordert es, Unsicherheiten als Chance anzuerkennen, offen für verschiedene Möglichkeiten zu sein und unerwartete Gelegenheiten aktiv herbeizuführen, diese zu erkennen und zu nutzen (vgl. Hirschi 2013, 33).

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Berufswahlbereitschaft und -fähigkeit als Metakompetenz aus Identität, Adaptabilität und Resilienz. Eine neue Konzeptualisierung der Zielgröße von Berufsorientierungsmaßnahmen

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1 Berufswahlkompetenz

1.1 Einleitung

Die Effektivität pädagogischer Maßnahmen zur Berufsorientierung zu bestimmen, lässt einige Wahlmöglichkeiten zu. Das naheliegende Ziel ist die Einmündung in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Aber zum einen ist das gemessen am Zeitpunkt der Maßnahme ein distales, weit in der Zukunft liegendes, Ziel und zum anderen ist es abhängig von maßnahmenunabhängigen Faktoren, wie Konjunktur und den Gegebenheiten des lokalen Arbeitsmarktes. Andere Ansätze sind Verfahren der betriebswirtschaftlichen Qualitätssicherung, die Strukturen und Prozessabläufe in den Organisationen überprüfen, oder sozialwissenschaftliche Methoden, die Maßnahmenerfolge an Output- und Outcome-Indikatoren festmachen (Bleck 2011).

Ein Outcome-Konzept, das in der Berufsvorbereitung und Berufsorientierung einen hohen Stellenwert erlangt hat, ist das Konzept der Ausbildungsreife. Es ist die übergeordnete Zielgröße im Rahmenkonzept der Berufsorientierung des Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland (2006b). Die notwendigen Kriterien für die inhaltliche Bestimmung und Operationalisierung des Begriffs hat ebenfalls eine Arbeitsgruppe des Pakts festgelegt (2006a). Die Kriterienliste ist jedoch so umfassend und facettenreich, dass entweder jede Art von Maßnahme irgendeinem Aspekt der Liste gerecht werden kann, oder es erfolgt eine Reduzierung auf plakative Verkürzung wie Schulleistungen, Arbeitstugenden und das, was von Praktikern Berufsorientierung genannt wird. In den jährlichen Umfragen der Industrie- und Handelskammer beklagen 30% der Betriebe die fehlende Berufsorientierung der Bewerber um Ausbildungsstellen (DIHK 2013). Gemeint ist damit, dass die Jugendlichen trotz umfangreicher Berufsorientierungsmaßnahmen noch keine Klarheit über ihre berufliche Zukunft erlangt haben. Dieser Aspekt ist als Berufswahlreife ebenfalls in der Kriterienliste des Pakts vertreten.

Berufswahlreife ist im Gegensatz zur Ausbildungsreife ein wissenschaftliches Konzept, das aus der empirischen Forschung zur Entwicklung des Berufswahlverhaltens Jugendlicher hervorgegangen ist. Es entspricht in der Konzeptualisierung und in den Grundannahmen Gegebenheiten der 50er bis 70er Jahre und spielt im internationalen Fachdiskurs heute kaum eine Rolle. Alternativ wurden Konzepte der Berufswahlbereitschaft, der Employability oder des selfdirected career management vorgeschlagen (Hirschi 2012). Die größte Akzeptanz in der internationalen Fachwelt findet das Konzept der Adaptabilität, das als direkte Weiterentwicklung und Rekonzeptualisierung der Berufswahlreife vorgestellt wurde (Savickas 1997). Im deutschen Sprachraum ist inzwischen der Begriff Berufswahlkompetenz (Ratschinski 2008) verbreitet. Er ist in einigen Modellprojekten als Zielgröße definiert worden (Driesel-Lange/Hany/Kracke/Schindler 2010; INBAS 2010; Ratschinski/Sommer/Struck 2013; Ratschinski/Struck 2012) und wird konzeptuell unterschiedlich weiterentwickelt (Kaak/Kracke/Driesel-Lange/Hany 2013; Ratschinski/Struck 2014).

In diesem Beitrag werden die theoretischen Hintergründe und die empirische Absicherung eines neuen Modells der Berufswahlkompetenz vorgestellt. Gleichzeitig werden Praktikern veröffentlichte Skalen in ökonomischen Kurzformen zugänglich gemacht. Wir kommen damit häufigen Nachfragen und einem offensichtlich großen Bedarf nach. Ich bin den Autoren der Original-Skalen Nadya Fouad, Bärbel Kracke und Werner Stangl für die Erlaubnis dankbar, die verwendeten Skalenitems im Wortlaut wiedergeben zu dürfen.

Die Daten für die Modellüberprüfung stammen aus einer Onlinebefragung von 1343 Haupt- und Realschülern der 7. bis 10. Klassen aus einem niedersächsischen Landkreis, die im Rahmen des Bundesprojektes „Perspektive Berufsabschluss“ durchgeführt wurde (Ratschinski/Struck 2012). Es sind Daten der dritten und letzten Befragungswelle, weil hier erstmals alle Modellskalen eingesetzt wurden. Um eindeutige Gruppenzuordnungen zu ermöglichen, wurden Ergebnisse der wenigen Förder- und Gesamtschüler nicht berücksichtigt. Fehlende Werte wurden durch Maximum-Likelihood-Schätzungen ersetzt.

1.2 Berufswahlkompetenz

Es ist unbestritten, dass der Berufswahlprozess spezifische Kompetenzen voraussetzt. Berufswahlkompetenz als Oberbegriff für alle personalen Voraussetzungen einer erfolgreichen Berufswahl erscheint jedoch erklärungsbedürftig. Mit dem klassischen Begriff der Berufswahlreife wurde das Entwicklungsgeschehen betont und nach relevanten Entwicklungsdomänen gesucht. Die Berufswahlbereitschaft und -fähigkeit war eine Frage des Alters. Der Reifebegriff diente – wie in anderen Bereichen der Humanentwicklung - als Motor der vorberuflichen Entwicklung. Die Koppelung an das chronologische Alter und die Vorstellung eines biologischen Entfaltungs- oder Differenzierungsprozesses wurden jedoch inzwischen aufgegeben. Sie werden weder dem Gegenstandsbereich gerecht noch entsprechen sie neueren Entwicklungskonzepten. Vorberufliche Entwicklung ist eine komplexe Person-Umwelt-Interaktion mit Einflussgrößen auf allen ökologischen Analyseebenen.

Diesen Zusammenhängen wird ein erweiterter Kompetenzbegriff besser gerecht, der neben kognitiven auch motivationale und volitionale Aspekte integriert. Kompetenz als Voraussetzung zur erfolgreichen Bewältigung komplexer Anforderungen erfordert motivationale, ethische, volitionale und soziale Komponenten, die zwar gelernt werden müssen, aber nicht direkt gelehrt werden können (Weinert 2001, 62). Sie sind – ebenso wie die Persönlichkeitsentwicklung – Ergebnis von Lebenserfahrungen und insbesondere von Erfahrungen bei der Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben.
Die Entwicklungsaufgabe Berufswahl hat eine lange biographische Vorgeschichte (Ratschinski 2013), die in diesem Sinne als Kompetenzentwicklung aufgefasst werden kann. Gefordert werden allgemein Anpassungen an Veränderungen, die mit veränderten Erwartungen oder veränderten Umweltbedingen und -anforderungen auf den Einzelnen zukommen. Tests und Inventare zur Berufswahlkompetenz stellen den Status der Entwicklung fest. Personen unterscheiden sich im Kompetenzniveau und im Entwicklungsstand. „Better outcome (adaption results) are achieved by individuals who are willing (adaptive readiness) and able (adaptability resources) to perform coping behavior that addresses changing conditions (adapting responses)” (Savickas 2013, 162).

Im hier vorgestellten Modell der Metakompetenz zur Berufswahl beschreibt die Teilkompetenz der beruflichen Identität die Berufswahlbereitschaft und die Teilkompetenzen der Adaptabilität und der Resilienz das Bewältigungsverhalten. Identität wirkt wie ein Navigator, der die Notwendigkeit oder das Bedürfnis von Anpassungen signalisiert und Adaptabilität und Resilienz bezeichnen die Ressourcen, die für die Anpassungen zur Verfügung stehen (Savickas 2011).
Die Career Construction Theory (Savickas 2013), an der sich das Modell orientiert, sieht keinen Erklärungsfaktor „Resilienz“ für das Berufswahlverhalten vor. Angesichts der Tatsache, dass der unmittelbare Einstieg in eine Ausbildung immer schwieriger wird, erschien jedoch ein Erklärungsfaktor angemessen, der - über normale Anpassungsleistungen hinaus - die Überwindung von Hindernissen und die Aufrechterhaltung positiver Erwartungshaltungen einschließt.

2 Berufliche Identität

Identität ist allgemein die Implementierung des Selbst in soziale Rollen (Savickas 2011). Je nach sozialer Rolle verfügen wir über verschiedene Identitäten, während das Selbst invariant bleibt und für ein Kontinuitätserleben sorgt. Definiert als Kompetenzerwerb ist Identitätsentwicklung eine aktive Konstruktionsleistung. Sie enthält Entscheidungen über den Beruf, die Geschlechtsrolle, politische Ideologien, religiöse Überzeugungen und Freizeitkulturen und führt zur „Entwicklung einer eigenständigen, selbstverantwortlichen und um einen Kern organisierten Person“ (Fend 2000, 402). Entscheidungen verlangen Auseinandersetzungen mit den möglichen Wahloptionen.

Berufliche Identität ist die Fähigkeit und Bereitschaft zur Integration (antizipierter) beruflicher Rollenmuster, Rollenskripte und Rollenerwartungen in das Selbst, sowie die Integration des Selbst in soziale (Berufs-) Rollen. Selbstkenntnis ist Voraussetzung personaler Identität. Je klarer und je stabiler die Vorstellungen von der beruflichen Zukunft sind, desto entwickelter und ausgeprägter ist die berufliche Identität (Holland 1997).

Aspekte der Identität sind Eigenverantwortung, Identifikation mit den identitätsstiftenden Merkmalen, subjektive Wichtigkeit dieser Merkmale, psychosoziale Reife und vor allem Festlegungen auf persönliche Ziele.
Orientiert daran definieren wir Identität als komplexe Merkmalskombination aus den vier Konzepten Eigenaktivität, Realismus, Entschiedenheit bzw. Entscheidungssicherheit und Berufsbindung bzw. Verbindlichkeit der Entscheidung. Jemand hat Identität erreicht, der sich selbstverantwortlich und selbständig (Eigenaktivität) auf einen Beruf festgelegt hat (Entschiedenheit), der realisierbar ist (Realismus) und der für ihn eine gewisse Verbindlichkeit erlangt hat (Berufsbindung).

Die Items der vier folgenden Skalen stammen aus dem Itempool des Fragebogens zu Einstellungen zur Berufswahl und beruflichen Arbeit in der Version für Hauptschüler (EBwA-HS) (Stangl/Seifert 1986), der deutschen Bearbeitung und Weiterentwicklung des Career Maturity Inventory (CMI) von Crites (1978). Das Verfahren beruht auf dem Berufswahl-Reifemodell von Donald Super (z. B. 1994) und bildet die Einstellungskomponente der Berufswahlreife ab.

Die Skalen wurden in Vorarbeiten nach Faktoranalysen neu zusammengestellt und auf 4-5 Items reduziert. Die Konsistenzwerte sollten .70 nicht unterschreiten, damit Veränderungen auf Gruppenebene noch hinreichend zuverlässig erfasst werden können (Kersting 2006). Alle der folgenden Skalen wurden positiv gepolt und die Antwortvorgaben einheitlich auf 0 bis 3 kodiert, damit auch unstandardisierte Werte sinnvoll interpretierbar sind. In den meisten Skalen steht – bezogen auf eine Aussage – 0 für „ich stimme nicht zu“ und 3 „ich stimme genau zu“.

2.1 Dimensionen beruflicher Identität

2.1.1 Entscheidungssicherheit

Die Frage nach der Entscheidungssicherheit für einen Beruf ist der einfachste und direkteste Weg, Hinweise auf den Status der Berufswahlkompetenz zu erlangen. Berufliche Entscheidungssicherheit oder -unsicherheit ist die Leitvariable beruflicher Identität. Sie korreliert mit anderen Identitätsskalen, ist eine wichtige Zielvariable für Interventionen und – auf kollektiver Ebene – Spiegel wirtschaftlicher Unsicherheit (Hofäcker/Buchholz/Blossfeld 2010). Es ist der wichtigste Einzelprädiktor der Berufsreife, korreliert deutlich mit klassischen Einstellungs-Maßen der Berufswahlreife und wurde als einzelner Indikator (Index) für Berufswahlbereitschaft herangezogen (Hirschi 2011).

Im Modell der Berufswahlkompetenz ist Entschiedenheit durch eine Kurzform der 12-Item-Skala Entschiedenheit/Sicherheit des EBwA-HS repräsentiert. Die Reduktion von 12 auf 5 Items führte zu keiner wesentlichen Verschlechterung der Skalenhomogenität. Der hohe Wert der 12-Item-Variante (α(1343) = 0,89) konnte auch in der 5-Item-Kurzform erhalten werden (α(1343) = 0,84).

In der Tabelle 1 sind (ebenso wie in den folgenden Tabellen) die Mittelwerte (M) und Standardabweichung (SD) der Likert-Skalen (kodiert von 0 bis 3) und die Item-Trennschärfen (rit-i) angegeben. In der letzten Zeile der Tabelle sind der Konsistenzwert α der Skala aufgeführt und die Skalenmittelwerte und Standardabweichungen der Skalen.

Die Item-Mittelwerte weisen zwar eine rechtsschiefe Verteilung mit hohen Zustimmungswerten auf, aber der Variationsbereich ist selbst bei den ältesten Schülern der Realschulen hinreichend groß. Deckeneffekte sind in keiner Subgruppe der Stichprobe zu verzeichnen. Die Itemtrennschärfen liegen mit über 0,60 alle im exzellenten Bereich. Die Skala ist sehr homogen. Dafür spricht auch der – angesichts der kurzen Skala – sehr gute  alpha-Wert von 0,84.

Tabelle 1:     Entscheidungssicherheit (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

Tabelle 1:     Entscheidungssicherheit (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

Alle Items in Tabelle 1 sind negativ formuliert, weil die positiv formulierten Item-Varianten teststatistischen Kriterien nicht genügten (Seifert/Stangl 1986). Für die weitere Auswertung wurden die Item-Werte positiv umgepolt. Hohe Werte sprechen für hohe Entscheidungssicherheit.

2.1.2 Realismus versus Wunschdenken

Zu einer erfolgreichen Berufswahl gehört nicht nur die Passung von Interessen und Fähigkeiten zu den Anforderungen des Berufes, sondern auch die angemessene Einschätzung der eigenen Chancen, mit den gegebenen persönlichen Voraussetzungen (Bildungsstand etc.), auf dem Ausbildungsmarkt erfolgreich zu sein. „Simply defined career maturity means readiness for making realistic career choices” (Crites/Savickas 1995, 59). Unrealistische Berufswahlen spiegeln Wunschdenken wider, einen fehlenden Bezug zu den eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten sowie  naive Vorstellungen von der Erreichbarkeit gewünschter Lebensziele.

Realistische Berufsvorstellungen werden durch Items erfasst, die ursprünglich – negativ gepolt – für berufliches Wunschdenken standen. Die entsprechende Skala wurde aus der EBwA-HS-Skala „Berufswahlengagement und berufliche Orientierung“ abgeleitet. In explorativen Faktorenanalysen der 15 Skalenitems wurden zwei Faktoren extrahiert: Neben „Wunschdenken“ auch der Faktor „Optionslogik“ (Ratschinski 2012), der im nächsten Kapitel vorgestellt wird.

Die 8-Item-Skala Wunschdenken erwies sich in der 3. Befragungswelle von n=1343 Haupt- und Realschülern als konsistent (α(1343) = 0,88). Die Reduktion auf eine Kurzversion von 5 Items senkt den Konsistenzwert nur unwesentlich (α(1343) = 0,83). Nach Umpolung aller fünf Items wurde die Skala zu Realismus umbenannt. Wie Tabelle 2 zeigt, hat sich auch diese Skala hervorragend bewährt.

Tabelle 2:     Realismus (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

Tabelle 2:     Realismus (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

2.1.3 Eigenaktivität versus Abhängigkeit

Eigeninitiative gilt als wichtiges Merkmal stabiler und nachhaltiger Berufsentscheidungen und als Zielgröße von Berufsorientierungsprogrammen und Berufsvorbereitungsprogrammen. Entwicklungs- und Biographie-orientierte Handreichungen für die Berufsorientierung, wie der Berufswahlpass oder der Profilpass, zielen neben der Anregung zur Selbstreflexion ausdrücklich auf die Stärkung der Eigeninitiative und der Eigenverantwortlichkeit (Lumpe 2002). Abhängigkeit in der beruflichen Entscheidungsfindung von anderen hat sich als wichtiger Vorläufer von Ausbildungsabbrüchen erwiesen.

Die 7-Item-Skala „Eigenaktivität und Selbständigkeit“ aus dem Fragebogen EBwA-HS, die im Kompetenzmodell Eigenaktivität repräsentieren soll, erfasst Unabhängigkeit von den Eltern (Stangl/Seifert 1986).

Eine auf sechs Items reduzierte Skala Abhängigkeit erwies sich als konsistent (α(1343) = 0,82). Die Reduktion um zwei weitere Items senkte den Konsistenzwert kaum (α(1343) = 0,81). Die Daten in Tabelle 3 sind so umgepolt, dass hohe Werte für stark ausgeprägte Eigenaktivität und Unabhängigkeit von den Eltern stehen. Die hohen Zustimmungswerte zu den umgepolten Elternabhängigkeiten bestätigen die bekannten Befunde, dass Berufswahlen selbst getroffen werden müssen. Auch diese Skala hat sich bewährt. Sie ist für Gruppenvergleiche ebenso einsetzbar wie für Maßnahmeneffekte auf Gruppenebene.

Tabelle 3:     Eigenaktivität (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

Tabelle 3:     Eigenaktivität (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

2.1.4 Berufsbindung versus Optionslogik

Die Verbindlichkeit der Entscheidung ist im klassischen Identitätsmodell von Marcia (1980) neben dem Grad der Exploration die zweite Dimension für die Definition von Identitätszuständen. Erst wenn nach gründlicher Exploration der gegebenen Optionen die Entscheidung verbindlich wird, kann von erarbeiteter Identität gesprochen werden. Bezogen auf die Berufswahldomäne steht die Bindung an den gewählten Beruf für diese Verbindlichkeit. Bei hohen Ausprägungen halten Jugendliche an der einmal getroffenen Entscheidung fest, auch wenn sich Alternativen bieten.

Die Skala „Berufsentscheidung nach einer Optionslogik“ wurde in explorativen Faktorenanalysen der 15-Item-Skala Berufswahlengagement des Berufswahlreifetests als zweite Dimension nach „Beruflichem Wunschdenken“ ermittelt. Sie enthält Items, die nach dem Modell von Heinz et al. (1985) eine Berufsfindung nach Optionslogik beschreiben. Jugendliche wählen das, was der Markt bietet. Sie passen ihre Wünsche den Gegebenheiten an.

Für das Screening-Verfahren wurden die Items umgepolt und die Skala in „Berufsbindung“ umbenannt. Die 4-Item-Skala Berufsbindung ist konsistent (α(1343) = 0,81), die Items weisen hohe Trennschärfen auf, niedrigere Mittelwerte und höhere Standardabweichungen als andere Skalen. Gemessen an der Chronologie des Berufswahlprozesses ist die Bindung an den Beruf den anderen Identitäts-Dimensionen zeitlich und logisch nachgeordnet.

Tabelle 4:     Berufsbindung (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

Tabelle 4:     Berufsbindung (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

2.2 Überprüfung des Teilmodells

Dass die vier Skalen zu einer Teilkompetenz Identität kombinierbar sind, wird mit konfirmatorischen Faktorenanalysen (CFA) belegt. CFA-Ergebnisse haben schon vorher im Rahmen der Modellüberprüfungen die Auswahl und Zusammenstellung der Skalen bestimmt.

2.2.1 Modellüberprüfung

Abbildung 1 zeigt die Ergebnisse. Manifeste Variablen sind nach üblichen Konventionen in Vierecken und latente Variablen in Ellipsen dargestellt. Die Fehlerterme wurden der Übersichtlichkeit halber nicht aufgeführt.

Die zum latenten Konstrukt „berufliche Identität“ zusammengestellten latenten Dimensionen Entschiedenheit, Realismus, Eigenaktivität und Berufsbindung tragen bedeutsam zur Varianz bei. Alle latenten Faktorladungen (2. Ordnung) liegen über der üblichen Akzeptanzgrenze von 0,50.

Auch die Operationalisierung der Identitätsdimensionen ist gut bis exzellent gelungen. Die standardisierten Faktorladungen erster Ordnung liegen im Bereich von 0,58 bis 0,85. Die Faktorladungen zweiter Ordnung liegen in ähnlichen Größenordnungen (von 0,54 bis 0,83).

Angesichts des großen Stichprobenumfanges ist die signifikante Chi-Quadratabweichung der theoretischen von der empirischen Kovarianzmatrix normal. Der um den Stichprobenumfang korrigierte Wert von Chi²/df mit 3,92 liegt deutlich unter der Toleranzgrenze von 5 (s. z.B. Hooper/Coughlan/Mullen 2008).

Aussagekräftiger sind RMSEA (Root Mean Square Error of Approximation) und SRMR (Standardized Root Mean Square Residual). Beide Werte liegen unter den von Hu/Bentler (1999, 27) vorgeschlagenen Grenzwerten von 0,8 für akzeptable bzw. 0,5 für gute Modellanpassungen. Auch der Comparative Fit-Index (CFI) spricht mit 0,96 für eine gelungene Modellanpassung.

Abbildung 1: Faktorenstruktur des Identitäts-Modells. Ergebnisse konfirmatorischer Faktorenanalysen.Abbildung 1: Faktorenstruktur des Identitäts-Modells. Ergebnisse konfirmatorischer Faktorenanalysen.

Berufliche Identität ist am prägnantesten durch realistische Berufsvorstellungen und Eigeninitiative bestimmt. Entschiedenheit und Verbindlichkeit tragen zwar auch substanziell aber nicht in gleichem Maße zur Identität bei.

2.2.2 Strukturelle Invarianz

Die Äquivalenz des Messmodells wurde für verschiedene Untergruppen der Stichprobe mit konfirmatorischen Mehrgruppen-Faktorenanalysen (MGFA) überprüft. Es wurden Modelle für Jungen und Mädchen, für die Schulformen (Haupt- und Realschule) und für jüngere (Klasse 7 und 8) und ältere Schüler (Klasse 9 und 10) berechnet.

Nach Empfehlungen von Brown (2006, 269) wurden im ersten Schritt für jede Gruppe getrennt konfirmatorische Faktoranalysen (CFA) durchgeführt (Tabelle 5a). Danach wurden im Step-up-Verfahren Modelle mit zunehmend restriktiven Annahmen verglichen (Tabelle 5b). Ausgangpunkt ist das konfigurale (Basis-)-Modell, das lediglich die Gleichheit der Modellstruktur für beide Vergleichsgruppen annimmt. Werden im zweiten Schritt die Faktorladungen der manifesten Variablen auf jede der vier latenten Faktoren (Identitätsdimensionen) für beide Gruppen gleichgesetzt, wird die metrische Messinvarianz überprüft. Die Gleichheit der Faktorladungen erster Ordnung ist in Tabelle 5b mit „metrisch-1“ bezeichnet. Im zweiten Schritt werden zur Bestimmung der skalaren Messinvarianz zusätzlich zur Gleichheit der Faktorladungen die Intercepts (Mittelwerte) der Indikatorvariablen für beide Gruppen gleichgesetzt. Im dritten Analyseschritt werden zusätzlich zu den Gleichsetzungen der vorherigen Schritte die latenten Faktorladungen der Identitätsdimensionen auf dem übergeordneten Faktor „Identität“ gleichgesetzt. In Tabelle 5b ist die Gleichheit der Faktorladungen zweiter Ordnung mit „metrisch-2“ bezeichnet. Zur Überprüfung der Modellgültigkeit wird die Differenz der Fit-Indizes gebildet. Sie ist mit dem in Tabelle 5b mit dem Symbol delta (∆) bezeichnet.

Tabelle 5a:    Überprüfung der Messinvarianz des Identitätsmodells: Schritt 1: Separate Modellberechnungen

Tabelle 5a:    Überprüfung der Messinvarianz des Identitätsmodells: Schritt 1: Separate Modellberechnungen

Die Fit-Indizes sollten sich in aufeinanderfolgenden Invarianz-Stufen um nicht mehr als 0,01 unterscheiden (s. z.B. Weiber/Mühlhaus 2014, 302). Tabelle 5b zeigt, dass dieses Kriterium für das Identitäts-Modell erfüllt ist.

Tabelle 5b:   Überprüfung der Messinvarianz des Identitätsmodells: Step-up-Ansatz

Tabelle 5b:   Überprüfung der Messinvarianz des Identitätsmodells: Step-up-Ansatz

Das Modell erweist sich damit als außerordentlich robust. Es hat für alle untersuchten Untergruppen die gleiche Bedeutung.

Welche Form der Messinvarianz für weitere Analysen notwendig ist, hängt von der Fragestellung ab. Der Nachweis der skalaren Messinvarianz z.B. ist zwingend erforderlich, wenn latente Mittelwerte zwischen den Gruppen überprüft werden sollen (vgl. Christ/Schlüter 2012, 61).

Die um Messfehler bereinigten latenten Mittelwertunterschiede für die vier Dimensionen der Identität sind in Tabelle 5c aufgeführt. Je größer die Unreliabilitäten ausfallen, desto deutlicher sind die Unterschiede zwischen den latenten Mittelwerten und den Mittelwerten aufsummierter Zahlenreihen. Der Unterschied in der Eigenaktivität z.B. hat bei Realschülern einen negativen Wert von -.05. Der Wert ist also niedriger als bei Hauptschülern. Gemessen an Mittelwerten manifester Punktsummen besteht mit .01 kein Unterschied.

Tabelle 5c:    Latente Mittwertunterschiede (Wertdifferenzen) der Identitäts-Dimensionen

Tabelle 5c:    Latente Mittwertunterschiede (Wertdifferenzen) der Identitäts-Dimensionen

Die Ergebnisse entsprechen den aus der Literatur bekannten Befunden und belegen die differentielle Validität der eingesetzten Skalen. Mädchen sind realistischer in ihren Berufsvorstellungen und zeigen mehr Eigeninitiative. Beides spricht für den bekannten psychosozialen Entwicklungsvorsprung und für höhere Berufswahlreife.

Ältere Schüler haben realistischere Berufsvorstellungen und zeigen eine stärkere Bindung an ihre Berufsentscheidung. Beides entspricht erwarteten und plausiblen Entwicklungsfortschritten.

Die Unterschiede zwischen Haupt- und Realschülern sind dagegen gering.

3 Adaptabilität

Adaptabilität ist eine allgemeine biografische Übergangskompetenz. Sie kommt bei Rollenübernahmen, Statuspassagen und Positionsveränderungen, aber auch bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen (wie Phasen der Arbeitslosigkeit) im gesamten Lebenslauf zum Tragen. Im beruflichen Kontext ist esdie Fähigkeit und Bereitschaft, sich an veränderte berufliche Rollenmuster anzupassen und Rollenerwartungen zu erfüllen. Zum Bedeutungsumfang gehören die Fähigkeit, sich auf beruflichen Veränderungen der Zukunft einzustellen und sie zu nutzen, die Zufriedenheit mit neuen Verantwortungsbereichen und die Fähigkeit aus Rückschlägen und Fehlern zu lernen.

Laufbahn-Adaptabilität ist die Anpassung des klassischen Konzepts der Berufswahlreife an Einstellungen und Kompetenzen Erwachsener in Berufsentscheidungsprozessen (Super/Knasel 1981) und an Veränderungen der Arbeitswelt (Savickas 1997). Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass Berufslaufbahnen nicht mehr linear und hierarchisch verlaufen, sondern vielschichtig, zyklisch und mehrere Übergänge im Lebenslauf enthalten. Adaptabilität erfasst Übergangskompetenzen in einem sich permanent verändernden Arbeitsmarkt. Abgebildet wird ein Kompetenz-Ensemble zum „Self directed career management“ (Hirschi 2012).

Savickas definiert Laufbahnadaptabilität motivational als Bereitschaft. Laufbahn-Adaptabilität ist die Bereitschaft, sich zwei Aufgaben zu stellen: der vorhersehbaren Aufgabe eine Berufsrolle zu übernehmen und der nicht vorhersehbaren Aufgabe, sich an Veränderungen der Arbeitswelt anzupassen (Savickas 1997, 254).

Das Vorläuferkonzept zu Adaptabilität Berufswahlreife umfasst nach Super vier Dimensionen: die Einstellungsdimensionen Planung und Exploration und die kognitiven Dimensionen des Berufs- und Entscheidungswissens (Savickas 1997, 250). In einer ersten Version operationalisiert Savickas Laufbahn-Adaptabilität nahezu identisch mit Planung, Exploration und Entscheidung (Savickas 1997, 255).

Für die Erfassung der Metakompetenz Adaptabilität wurden konventionelle und erprobte Skalen neu kombiniert. Concern wird durch eine Skala Ziele/Intentionen (Fouad/Smith/Enochs 1997) operationalisiert. Control wird durch (Laufbahn-) Planung (Seifert/Eder 1985) repräsentiert, curiosity durch Exploration (Kracke 1997) und confidence durch berufswahlbezogene Ergebniserwartung (Fouad et al. 1997).

3.1 Dimensionen der Adaptabilität

3.1.1 Concern: Ziele/Intentionen

Concern ist die Fähigkeit, das Thema Berufswahl zum persönlichen Anliegen zu machen. Sie entwickelt sich im Laufe der mittleren Adoleszenz, wenn die Berufswahl subjektive Bedeutung bekommt und zum wichtigen Thema gedanklicher Beschäftigung wird. Jugendliche entwickeln persönliche Zeitperspektiven und Zukunftsorientierungen. Ihnen wird bewusst, wie wichtig es ist, für morgen vorzusorgen, sich Ziele zu setzen und für die Zukunft zu planen. Als Ressource hilft concern vorauszuschauen und für die Zukunft zu planen. Gemeint ist Zukunftsorientierung, die durch Optimismus gefördert wird. Der Gegenpol zu concern ist Planlosigkeit und Zukunftspessimismus (Savickas/Porfeli 2011, 3).

Concern ist im Modell der Berufswahlkompetenz operationalisiert durch die Skala Ziele und Intentionen aus der Middle School Self-Efficiency-Scale (MSSESS) von Fouad und Kollegen. Sie enthält kurzfristige Vorhaben und Intentionen, die den Berufswahlprozess regulieren oder eher Entscheidungen beinhalten, die zukünftige Entwicklungen nicht be- oder verhindern (Fouad et al. 1997). Die Skala Ziele/Intentionen hat in der Originalform sechs Items und erreicht in dieser Form ein α(1343) von 0,828. Die auf 5 verkürzte Form büßt mit 0,825 kaum an Skalenkonsistenz ein. Die mittlere Ausprägung ist mit 1,99 gegenüber 1,92 etwas gestiegen.

Tabelle 6:     Ziele/Intention (Items aus: Fouad et al. 1997; Übers. G.R.)

Tabelle 6:     Ziele/Intention (Items aus: Fouad et al. 1997; Übers. G.R.)

3.1.2 Control: Planung

Der Adaptabilitätsfaktor Control meint Kontrolle über die eigene Zukunft, indem Verantwortung bei der Berufswahl übernommen wird. Er geht im Bedeutungsumfang über die Eigenaktivitäten der Identitäts-Kompetenz hinaus. Zu Control gehören Entscheidungsfindung, Selbstbehauptung, Kontrollüberzeugungen, Selbstbestimmung, Anstrengungs-Attribution, Handlungskontrolle und Autonomie (Savickas 2005).

Control wird im Modell durch die Subskala „Laufbahnplanung“ des Career Development Inventory (CDI) von Super und Mitarbeiter (Super/Thompson/Lindeman/Jordaan/Myers 1981) operationalisiert. Die deutsche Bearbeitung liegt unter dem Titel Fragebogen zur Laufbahnentwicklung (LBE) von Seifert/Eder (1985) vor.

Die LBE-Skala Laufbahnplanung enthält in Form A 11 Items zur Laufbahnplanung und in Form B 11 Items zu Laufbahnwissen, die den zeitlichen Aufwand für die gedankliche Auseinandersetzung mit der Planung der beruflichen Zukunft – im Vergleich zu den Klassenkameraden – erfassen, den Grad der durchgeführten Planungsaktivitäten und die Höhe des Wissens über den bevorzugten Beruf. Antwortvorgaben von 5 Kategorien, wobei höhere Werte für intensivere Planung stehen. Zur besseren Vergleichbarkeit wurden die Werte von 1 bis 5 auf den Bereich von 0-3 transformiert. Die mittlere Ausprägung der 11-Items-Skala lag so bei 1,79; die der reduzierten 5-Item-Version ist mit 1,83 etwas größer. Der alpha-Wert sinkt von 0,93 von 0,89 nur unwesentlich.

Tabelle 7:     Laufbahnplanung (mod. nach Seifert/Eder 1985)

Tabelle 7:     Laufbahnplanung (mod. nach Seifert/Eder 1985)

3.1.3 Curiosity-Neugier: Exploration

Die Ressource curiosity (Neugier) ermöglicht Nachdenken über Möglichkeiten der Passung zwischen dem Selbst und verschiedenen Umweltszenarien. Zum Bedeutungsumfang gehören Informationssuche, Exploration, Selbstwissen, Berufswissen, Realismus und Offenheit für neue Erfahrungen (Savickas 2005).

Exploration der Berufs- und Arbeitswelt gilt als die Schlüsselvariable der vorberuflichen Sozialisation (Porfeli/Hartung/Vondracek 2008). Sie signalisiert die Bereitschaft zur ernsthaften Auseinandersetzung mit der beruflichen Zukunft und deutet auf eine realistische Einstellung zur Berufswahl.

Die Entwicklung des Explorationsverhaltens verläuft nicht linear. Es wird intensiviert, wenn Übergänge anstehen und reduziert wenn der Übergang vollzogen ist (Kracke 2004). Thüringen Gymnasten der Klassen 7-8 und 9-10 zeigten wohl deshalb keine Veränderungen im Explorationsverhalten (Driesel-Lange 2011)

Ebenso wie in Thüringen wurde zur Konzepterfassung die Explorationsskala von Kracke (1997) eingesetzt. Die ursprüngliche Skala umfasst sechs Items und erreicht in der vorliegenden Stichprobe einen Konsistenzwert von α(1343) = 0,86. In der reduzierten Form bleibt der Wert mit 0,85 nahezu gleich. Auch die mittlere Ausprägung bleibt nahezu unverändert. Sie steigt von 1,97 auf 2,02.

Tabelle 8:     Exploration (Items aus: Kracke 1997; Übers. G.R.)

Tabelle 8:     Exploration (Items aus: Kracke 1997; Übers. G.R.)

Die Modellanpassung ist gut gelungen. Die Skalenkonsistenz ist mit α(1396)=0,85 besser als von der Autorin berichtet (α(236)=0,70) und die Itemtrennschärfen sind mit Werten über 0,62 sehr hoch.

3.1.4 Confidence: Erwartung

Mit confidence ist das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gemeint, Probleme zu lösen und Hindernisse zu überwinden, aber auch Vertrauen in die Verlässlichkeit der sozialen Umwelt. Es entspricht Ermutigung, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit (Savickas 2005).

Im Kontext der Berufswahlkompetenz wird confidence über das Konstrukt Ergebniserwartung erfasst. Ergebniserwartung gehört neben Selbstwirksamkeit zum personalen Überzeugungssystem der eigener Wirksamkeit (Fouad et al. 1997). Allgemein umfasst das Konzept die Anreize (Incentives), die ein Beruf bieten kann, wie Gehalt, Aufstiegsmöglichkeiten und Verantwortungsbereiche. In diesem speziellen Bereich der Berufsorientierung und -entscheidung werden damit die erwarteten Konsequenzen von berufswahlbezogenen Handlungen und Entscheidungen abgefragt. Das typische Aussage-Muster der Items ist: Wenn ich etwas tue, dann hat das die Konsequenzen.

Die im Modell eingesetzte Skala ist eine Übersetzung der Subskala „Outcome Expectations“ aus dem MSSE. Sie enthält 5 Items und erreicht an einer Stichprobe von 361 eher leistungsschwachen Schülern amerikanischer Middleschools der 7. und 8. Klassen eine Skalenkonsistenz von α=0,70 (Fouad et al. 1997, 23). Mit der deutschen Übersetzung haben wir bei Sekundarschülern der Klassen 7 bis 10 einen höheren Wert von α(1396)=0,86 ermittelt. Eine Reduktion dieser Skala war wegen ihrer Kürze nicht notwendig.

Tabelle 9:     Ergebnis-Erwartung (Fouad et al. 1997)

Tabelle 9:     Ergebnis-Erwartung (Fouad et al. 1997)

3.2 Überprüfung des Teilmodells

3.2.1 Modellstruktur

Gemessen an Hu/Bentlers (1999) Grenzwerten für Strukturgleichungsmodelle (χ²/df<5; CFI „close to“ 0,95, RMSEA<0,06, SRMR<0,08) ist das Adaptabilitäts-Modell bestätigt (vgl. auch Brown 2006, 87).

Abbildung 2: Faktorenstruktur des Adaptabilitäts-Modells. Ergebnisse konfirmatorischer Faktorenanalysen.Abbildung 2: Faktorenstruktur des Adaptabilitäts-Modells. Ergebnisse konfirmatorischer Faktorenanalysen.

3.2.2 Strukturelle Invarianz

Die Struktur und das Niveau der Teilkompetenz Adaptabilität erweisen sich im Gruppenvergleich als sehr robust. Tabelle 10a belegt, dass die Modelle für alle Gruppen in separaten Berechnungen gute Modellanpassungen erreichen.

Tabelle 10a:     Überprüfung der Messinvarianz des Adaptabilitäts-Modells: Schritt 1: Separate Modellberechnungen

Tabelle 10a:     Überprüfung der Messinvarianz des Adaptabilitäts-Modells: Schritt 1: Separate Modellberechnungen

Auch im simultanen Gruppenvergleich werden bei zunehmend strikteren Annahmen die Modellabweichungen nicht bedeutsam (Tabelle 10b). Metrische und skalare Modellinvarianz konnten für alle drei Gruppen nachgewiesen werden.

Tabelle 10b:    Überprüfung der Messinvarianz des Adaptabilitäts-Modells: Step-up-Ansatz

Tabelle 10b:    Überprüfung der Messinvarianz des Adaptabilitäts-Modells: Step-up-Ansatz

Der aufgrund der skalaren Modellinvarianz zulässige Vergleich der latenten Mittelwerte führte zu plausiblen Unterschieden.

Tabelle 10c:     Latente Mittwertunterschiede (Wertdifferenzen) der Adaptabilitäts-Dimensionen

Tabelle 10c:     Latente Mittwertunterschiede (Wertdifferenzen) der Adaptabilitäts-Dimensionen

Die Altersunterschiede der Klasse 7 und 8 gegenüber den Klassen 9 und 10 sind erwartungsgemäß gravierend. Insbesondere die Planungsaktivitäten nehmen deutlich zu. Aber auch die anderen Adaptabilitäts-Dimensionen zeigen deutliche Veränderungen. Das Zeitfenster notwendiger Berufsentscheidungen ist in Abschlussklassen erreicht.

4 Resilienz

Resilienz ist die psychische Widerstandskraft gegen belastende Lebensumstände. Das Konzept wurde im Kontext devianter Entwicklungen definiert. Wenn Kinder unter widrigen Lebensumständen groß werden und sich trotzdem klinisch unauffällig entwickeln, geht man  von hoher Resilienz aus. Die Kinder verfügen über Schutzfaktoren in der Person selbst oder im sozialen Umfeld, die negative Wirkungen von Lebensstress abpuffern. Die wichtigsten personalen Schutzfaktoren sind Selbstwirksamkeit und Selbstwertgefühl. Ihr Vorhandensein trägt stärker zu Resilienz bei als das Fehlen von Risikofaktoren wie Ängste und Depressionen (Lee et al. 2013).

Inzwischen wird Resilienz zur Lebensbewältigungskompetenz verallgemeinert. Es wird vor allem in biographischen Übergangssituationen als wichtiger (personaler) Erklärungsfaktor für erfolgreiche Bewältigungen angeführt. Der Einstieg in die Berufs- und Arbeitswelt ist die biographisch bedeutendste und folgenreichste Übergangssituation. Sie birgt besonders für Jugendliche mit schwachen Schulleistungen Risiken und führt zu ungewissen Ergebnissen. Resilienz kann in diesem Kontext eine wertvolle Ressource sein.

Im Modell der Berufswahlkompetenz ist Resilienz über Allgemeine Resilienz, Selbstwertschätzung und zwei Domänen der Selbstwirksamkeit definiert: die berufswahlbezogene Selbstwirksamkeit und berufliche Selbstwirksamkeit.

4.1 Dimensionen berufswahlbezogener Resilienz

4.1.1 Allgemeine Resilienz

Zur Erfassung der allgemeinen Resilienz wurde eine Kurzform der Resilienz-Skala RS-11 (Schumacher/Leppert/Gunzelmann/Strauß/Brähler 2005) eingesetzt, die Resilienz über zwei Dimensionen erfasst: über (1) persönliche Kompetenz: Selbstvertrauen, Unabhängigkeit, Beherrschung, Beweglichkeit und Ausdauer und (2) über Akzeptanz des Selbst und des Lebens: Anpassungsfähigkeit, Toleranz, flexible Sicht auf sich und den Lebensweg. Die hier verwendete Kurzform RS-5 enthält ausschließlich Items zur persönlichen Kompetenz. Die beiden Items zur Selbstakzeptanz der RS-11 sind zusammen mit 4 Kompetenzitems nicht berücksichtigt.

Die Gesamtskala RS-11 erreicht in der dritten Befragungswelle im Herbst 2011 einen Alpha-Wert von 0,90 und einen mittleren Ausprägungswert von 2,15. Die Skalenwerte der reduzierten Skala liegen im üblichen Akzeptanzbereich (Tabelle 11).

Tabelle 11:      Die reduzierte Resilienz-Skala RS-5 (nach Schumacher et al. 2005)

Tabelle 11:      Die reduzierte Resilienz-Skala RS-5 (nach Schumacher et al. 2005)

4.1.2 Selbstwertgefühl

Die explizite Erfassung des Selbstwertgefühls erfolgte mit der international weit verbreiteten Self-Esteem-Skala (SES) von Rosenberg (1965) in der deutschen Fassung von Collani und Herzberg (2003a). Die Skala enthält 10 kurze Selbstbeschreibungen, von denen fünf positiv und fünf negativ gepolt sind. Als Antwortvorgabe diente auch in der Originalversion eine vierstufige Skala mit den Polen „trifft gar nicht zu“ (0) bis „trifft voll und ganz zu“ (3).

Die hier eingesetzte Skala enthält die fünf positiv gepolten Items der SES-Skala. Wie Tabelle 12 zeigt, sind die Skalen-Kennwerte sehr gut.

Tabelle 12:      Die reduzierte Selbstwertgefühl-Skala (nach Collani/Herzberg 2003b)

Tabelle 12:      Die reduzierte Selbstwertgefühl-Skala (nach Collani/Herzberg 2003b)

4.1.3 Berufswahlbezogene Selbstwirksamkeit

Selbstwirksamkeit ist die Überzeugung, eine bestimmte Handlung oder eine Klasse von Handlungen erfolgreich ausführen zu können. Zwar gibt es Konzeptionen allgemeiner Selbstwirksamkeit, aber im Prinzip ist die Selbstwirksamkeitserwartung domänenspezifisch. Je nach Handlung oder Klasse von Handlungen sind spezifische Kompetenzerwartungen aktiv. Selbstwirksamkeit erweist sich in allen Etappen der beruflichen Entwicklung von zentraler Bedeutung: Berufswahl, Ausbildung, Berufseinstieg, Integration in berufliche Umfelder etc. werden entscheidend von Selbstwirksamkeit beeinflusst. So ist insbesondere die Abneigung junger Frauen gegenüber Mathematik und Naturwissenschaften nachweislich stärker von Selbstwirksamkeitserwartungen als von den tatsächlichen Fähigkeiten beeinflusst.

In diesem Kontext ist die Middle School Self-Efficency Scale (MSSE) zur Berufswahlorientierung von Schülern der Mittelstufe erstellt worden (Fouad et al. 1997), die wir in deutscher Übersetzung in verschiedenen Projekten genutzt haben. Die 12-Item-Skala erwies sich als hoch konsistent (α(1343) = .94) mit einer mittleren Ausprägung von 2,12. Die Reduktion auf die 5-Item-Kurzform senkt weder den Konsistenzwert bedeutsam (α(1343) = .91) noch die mittlere Ausprägung.

Tabelle 13:      Die reduzierte Skala zur berufswahlbezogenen Selbstwirksamkeit (Items aus: Fouad et al. 1997; Übers. G.R.)

Tabelle 13:      Die reduzierte Skala zur berufswahlbezogenen Selbstwirksamkeit (Items aus: Fouad et al. 1997; Übers. G.R.)

4.1.4 Berufliche Selbstwirksamkeit

Selbstwirksamkeit in Bezug auf die Anforderungen des angestrebten Berufes wird mit einem selbst entwickelten Fragebogen erfasst, nachdem sich etablierte Verfahren (Abele/Stief/Andrä 2000; Schyns/von Collani 2007) für unsere Zwecke und für unsere Zielgruppen als ungeeignet erwiesen hatten. Bei der Fragebogenerstellung wurden Empfehlung von Lent/Brown (2006) berücksichtigt.

Die Skala zu berufsbezogene Selbstwirksamkeit zeigte in der 11-Itemversion eine hohe Skalenkonsistenz von α=0,92 bei 1343 Schülern der 7. bis 10. Klasse. Die reduzierte Skala erreicht ebenfalls noch gute Werte (Tabelle 14).

Tabelle 14:      Berufliche Selbstwirksamkeit (Eigenentwicklung)

Tabelle 14:      Berufliche Selbstwirksamkeit (Eigenentwicklung)

4.2 Überprüfung des Teilmodells

4.2.1 Modellstruktur

Auch das Resilienzmodell entspricht den üblichen Gütekriterien für Strukturgleichungsmodelle (χ²/df<5; CFI ~ 0,95, RMSEA<0,06, SRMR<0,08).

Abbildung 3: Faktorenstruktur des Resilienz-Modells. Ergebnisse konfirmatorischer Faktorenanalysen.Abbildung 3: Faktorenstruktur des Resilienz-Modells. Ergebnisse konfirmatorischer Faktorenanalysen.

4.2.2 Strukturelle Invarianz

Tabelle 15a und 15b zeigen, dass die Konstrukte denselben Sachverhalt in allen drei Vergleichsgruppen messen. Sie haben ähnliche Pfadbeziehungen und ähnliche Achsenabschnitte (Intercepts). Ein Vergleich der Mittelwerte im Rahmen der Mehrgruppen-CFA ist zulässig.

Tabelle 15a:     Überprüfung der Messinvarianz des Resilienz-Modells: Schritt 1: Separate Modellberechnungen

Tabelle 15a:     Überprüfung der Messinvarianz des Resilienz-Modells: Schritt 1: Separate Modellberechnungen

Das Modell zeigt eine strikte faktorielle Invarianz für beide Geschlechter, für Haupt- und Realschüler und für jüngere und ältere Jugendliche. Die Reliabilität der Messmodelle ist für die untersuchten Gruppen gleich.

Tabelle 15b:    Überprüfung der Messinvarianz des Resilienz-Modells: Step-up-Ansatz

Tabelle 15b:    Überprüfung der Messinvarianz des Resilienz-Modells: Step-up-Ansatz

Tabelle 15c:     Latente Mittwertunterschiede (Wertdifferenzen) der Resilienz-Dimensionen

Tabelle 15c:     Latente Mittwertunterschiede (Wertdifferenzen) der Resilienz-Dimensionen

Die Ergebnisse zeigen die etwas geringere emotionale Belastbarkeit der Mädchen und allgemeine Resilienz-Fortschritte gegen Ende der Schulzeit.

5 Das Gesamtmodell

Die Komponenten des Modells sind in Abbildung 4 in Form einer CFA mit Item-Päckchen in Beziehung gesetzt. Die hohen Faktorladungen erster Ordnung rechtfertigen zwar eine Päckchenbildung (Little/Cunningham/Shahar/Widaman 2002), aber ein Vergleich der Faktoren zweiter Ordnung in den Abbildung 1 bis 3 und Abbildung 4 macht deutlich, welche Abweichungen bei Nichtberücksichtigung der Messfehler zu erwarten sind.

Dennoch sind die Ergebnisse sinnvoll interpretierbar. Die Positionsstabilität der Ladungen ist weitgehend erhalten. Das Analyse-Ergebnis (n=1343; χ²(50) = 448,91; χ²/df=8,98; CFI=.94; RMSEA=.077, SRMR=.055) spricht für eine noch akzeptable Datenanpassung.

Die Faktorladungen von .51 bis .84 sprechen gar für eine gute Datenanpassung. Lediglich die hohe Korrelation zwischen Adaptabilität und Resilienz deuten darauf hin, dass beide Konzepte große inhaltliche Überschneidungen aufweisen und zu wenig voneinander abgegrenzt sind.

Abbildung 4: Das vollständige Modell der BerufswahlkompetenzAbbildung 4: Das vollständige Modell der Berufswahlkompetenz

Ob aus den einzelnen Komponenten und Facetten ein Globalindex für Berufswahlkompetenz gebildet werden kann, wurde mit einer Hauptkomponentenanalyse überprüft. Eine hinreichend hohe Ladung des ersten Faktors spricht für das Vorliegen eines Generalfaktors, der nach den Kriterien der Konzeptkombinationen und Itemzusammenstellung als Berufswahlkompetenz interpretiert werden kann.

Tatsächlich ergibt die Hauptkomponentenanalyse eine zweifaktorielle Lösung mit 41,3% erklärter Varianz durch den ersten Faktor und 17,5% durch den zweiten Faktor. Eine Varimax-Rotation der Hauptachsen führt zu einem Faktor aus Adaptabilität und Resilienz und einem zweiten Faktor Identität. Wie durch die hohe Korrelation angedeutet, laden Adaptabilität und Resilienz auf dem gleichen Faktor.

6 Diskussion

Das angenommene Modell Berufswahlkompetenz über die drei Teilkompetenzen Identität, Adaptabilität und Resilienz zu definieren, konnte eindrucksvoll bestätigt werden. Alle Skalen erweisen sich als konsistent, die drei Teilkompetenzen konnten als latente Variablen modelliert werden und das Zusammenspiel der Teilkompetenzen zu dem Metakonstrukt Berufswahlkompetenz führte zu einem akzeptablen Modell. Gruppenunterschiede in den erfassten Dimensionen entsprechen den Erwartungen und sind plausibel interpretierbar. Lediglich die hohe Korrelation der latenten Konstrukte Adaptabilität und Resilienz bietet Ansatzpunkte für Modellveränderungen.

Offensichtlich sind sich Adaptabilität und Resilienz ähnlicher als erwartet. Obwohl Adaptabilität durch Aktivitäten definiert wurde und Resilienz durch Überzeugungen, treten beide Merkmalkomplexe überwiegend zusammen auf. Anpassungsvorgänge unter normalen Bedingungen und Anpassungsvorgänge unter widrigen Umständen sind empirisch weniger gut zu trennen als theoretisch angenommen.

Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass dieser Effekt auf die Stichprobe von Regelschülern zurückzuführen ist, die noch keine Hindernisse auf dem Weg in die Berufs- und Arbeitswelt überwinden mussten. Das könnte bei Teilnehmern von Berufsvorbereitungsmaßnahmen anders sein, die nach Abschluss der Regelschule keinen Ausbildungsplatz gefunden haben oder wegen mangelnder Ausbildungsreife von der Arbeitsverwaltung nicht vermittelt wurden. Eine Überprüfung des Modells an Teilnehmern von Berufsvorbereitungsmaßnahmen könnte Antworten liefern. Entsprechende Überprüfungen an Datensätzen des Hamburger AvDual-Projektes sind geplant.

Für Teilnehmer an Berufsorientierungsmaßnahmen in der Regelschulzeit können die Skalen zur beruflichen Identität und zur Adaptabilität ausreichen. Maßnahmeneffekte können auf Gruppenebene erfasst werden. Einer Individualdiagnostik genügen die Skalen-Kennwerte nicht. In welcher Größenordnung Korrekturen der Maßnahmen-Effekte bei Berücksichtigung der Messfehler zu erwarten sind, lässt sich aus dem Vergleich der latenten mit den manifesten Variablen ableiten.

Berufliche Identität ist operationalisiert über Skalen aus dem Itempool, der für die Erfassung der Einstellungskomponente der Berufswahlreife zusammengestellt wurde. Das Konzept entspricht der Berufswahlbereitschaft. Die 18 Items können als Kurzform der 45-Item-Version interpretiert werden. Die Akzente sind zwar anders gesetzt, aber beide Varianten können den gleichen Zweck erfüllen.

Adaptabilität deckt wichtige Kompetenzaspekte der Berufswahl ab. Beide Konzepte zusammen bilden die Bereitschaft und Fähigkeit die Entwicklungsaufgabe Berufswahl erfolgreich an Angriff zu nehmen. Vergleiche zu gängigen Konzepten beruflicher Handlungsfähigkeit sind naheliegend und gewollt. Berufswahlkompetenz ist eine wichtige Domäne beruflicher Handlungskompetenz.

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Fachprofile beruflicher (Un-)Sicherheit – Konsequenzen einer Prekarisierung des Arbeitsmarktes für die Berufsorientierung

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1 Einleitung

In der beruflichen Bildung stehen ca. 350 Ausbildungsberufe und ein Vielfaches an Erwerbsberufen zur Auswahl, was allein schon eine Herausforderung für sich orientierende Individuen darstellt. Junge Menschen sind dabei vielfältigen Einflüssen ausgesetzt, und nicht zuletzt bieten die eigenen Eltern eine Berufsbiografie an, welche zur Imitation oder eher zur Abkehr davon anregt. Häufig kommen aus dem familiären Umfeld aber auch Ratschläge, die zu einer zukunftsträchtigen oder zumindest krisensicheren Beschäftigung führen sollen. Die Beobachtung von Entwicklungen und Technologien zur Ableitung von Entfaltungsmöglichkeiten in Zukunftsbranchen (vgl. Merkl 1996) sowie neuen Qualifikations- und Beschäftigungsfeldern (vgl. Laszlo/Tessaring 1996) ist dabei eine Hilfestellung der Berufsorientierung. Demgegenüber werden seit zwei Jahrzehnten auch Untersuchungen zur beruflichen Eingliederung nach der Ausbildung durchgeführt, um Integrationsprozesse in den Beruf zu analysieren (vgl. Schöngen/Westhoff 1992; Schöngen 2003; Braun/Bremser/Schöngen/Weller 2012). Diese von außen an die Jugendlichen herangetragenen Informationen einerseits in Verbindung mit den volitionalen Statements nach eigenen Berufswünschen andererseits verbinden sich zu dem hier vertretenen Verständnis der Berufsorientierung, das objektive Gegebenheiten der Berufs- und Arbeitswelt mit individuellen Voraussetzungen und Entwicklungsprozessen verknüpft (vgl. Butz/Deeken 2014, 98).

Eine dieser objektiven Gegebenheiten ist die in den vergangenen Jahren stattgefundene Prekarisierung des deutschen Arbeitsmarktes. Als Konsequenz ist das Integrationspotenzial aus Erwerbstätigkeit deutlich eingeschränkt. Besonders sichtbar wird dies an der Entwicklung von prekären und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen im Vergleich zur Vollzeitbeschäftigung. Letztere ist in den vergangenen Jahren stark gesunken, sie erreichte 2007 nur noch 80% des Ausgangswertes von 1997. Teilzeitbeschäftigung hat sich dagegen über diesen Zeitraum beinahe verdoppelt (190%). Den deutlichsten Zuwachs verzeichnet aber die geringfügige Beschäftigung, die 2007 mit 240% beinahe das Zweieinhalbfache ihres Wertes von 1991 erreicht (vgl. Möller/Walwei 2009, 17). Die derart veränderte Arbeitsmarktstruktur zieht eine Umverteilung von Integrationschancen und Ausgrenzungsrisiken nach sich. Diese Ausgrenzungsrisiken sind nicht per se an bestimmten Merkmalen festzumachen. Ob von Prekarität betroffene Personen eine eigene gesellschaftliche Klasse bilden, wird z. B. von Castel (2009) oder Vogel (2008) als offene Frage diskutiert. Bourdieu (1998) hat es  so formuliert, dass: „Prekarität heutzutage allgegenwärtig ist, […] in den Industrieunternehmen, aber auch in den Einrichtungen der Produktion und Verbreitung von Kultur, dem Bildungswesen, dem Journalismus, den Medien usw.“ (ebd., 96f.).

Insbesondere junge Erwachsene, die ihre Position auf dem Arbeitsmarkt erst finden müssen, sind von den nicht eindeutig zu unterteilenden Verflechtungen sicherer und unsicherer Beschäftigung betroffen. Mit Blick auf diese veränderte Ausgangslage verfolgt der vorliegende Artikel das Erkenntnisinteresse herauszuarbeiten, ob bzw. welche Zusammenhänge zwischen sicheren und unsicheren Arbeitsmarktsegmenten und beruflichen Fachrichtungen bestehen. Zur Untersuchung dieser Frage wird die Erwerbssituation von 25- bis 34-jährigen (potenziell) Erwerbstätigen betrachtet, d.h. alle nicht mehr in Schule, Ausbildung oder Studium befindlichen Personen. Mit diesem Zugang erhält man „aus dem Blickwinkel der aktuellen Berufstätigkeit wichtige Hinweise auf die Beantwortung der Frage, welchen Wert die berufliche Ausbildung hinsichtlich ihrer Anwendungs- und Erweiterungsmöglichkeit sowie der materiellen Absicherung der Individuen […] darstellt“ (Schöngen/Westhoff 1992, 6f.).

Die Suche nach sicheren oder unsicheren Arbeitsmarktsegmenten wird dabei nicht allein an der Art der Erwerbstätigkeit ausgerichtet. Für einen weiter reichenden Blick auf sichere oder unsichere Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse dient das von Bandorski (2013) entwickelte Konzept beruflicher Lagen, die als Erwerbstätigkeits-Milieus verstanden werden können. Die beruflichen Lagen werden im Rahmen dieses Artikels dahingehend vertieft untersucht, durch welche beruflichen Fachrichtungen sie geprägt sind. Darüber können gezielte Aussagen getätigt werden, in welchem Verhältnis eingeschlagene Fachrichtungen zu den beruflichen und sozialen Chancen angehender und junger Erwerbstätiger stehen. Damit soll ein Beitrag geleistet werden, diese Ergebnisse bei der Berufsorientierung mit in den Blick nehmen zu können, um unter Einbeziehung aller relevanten Kriterien zu einer reflektierteren Berufswahl zu gelangen.

2 Methodisches Vorgehen zur Verschränkung fachlicher Erwerbstätigkeit und beruflicher Lagen

Wie eingangs formuliert wird Berufsorientierung als Lebenswegplanung verstanden, die berufliche und soziale Chancen eröffnet. Mit Konietzka (2010) können „für den Übergang in das Erwachsenenalter […] diverse Schlüsselereignisse [benannt werden], deren gemeinsamer Bezugspunkt bei der Gewinnung ökonomischer und sozialer Unabhängigkeit von den Eltern liegt“ (ebd., 115). Dazu gehört auf der einen Seite das Beenden der allgemeinbildenden Schule und der Übergang in Ausbildung oder Studium. Auf der anderen Seite geht es im privaten Bereich um das Eingehen einer Paarbeziehung im Sinne einer Heirat oder auch einer (nichtehelichen) Lebensgemeinschaft und die Familiengründung. Durch die oben knapp skizzierten Umwälzungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt wird jedoch durch Erwerbstätigkeit „nicht mehr in jedem Fall die soziale Integration des Einzelnen garantiert“ (Paugam 2007, 99). In diesem Zusammenhang betont Kraemer (2007) explizit die Rolle von Prekarität: „Die zentrale Frage, ob eine Person erwerbstätig ist oder nicht, wird durch die Problemstellung abgelöst, ob eine Erwerbsperson regulär oder prekär beschäftigt ist“ (ebd., 127).

Wie können also nun im Sinne einer Berufsorientierung die Weichen derart gestellt werden, dass ökonomische und soziale Eigenständigkeit erreicht werden kann? Und wie kann eine möglichst dauerhafte (Planungs-)Sicherheit erlangt werden? Im Hinblick auf Berufsorientierung soll in diesem Artikel untersucht werden, ob es spezifische berufliche Fachrichtungen gibt, die in einen gesicherten Erwerbstätigkeits-Kontext führen und somit eine eigenständige Lebensplanung ermöglichen oder ob vielmehr dieselben Fachrichtungen sowohl in sicheren als auch in unsicheren Kontexten vorkommen. Den Bezugspunkt bei der Suche nach sicheren oder unsicheren beruflichen Fachrichtungen stellen berufliche Lagen der 25- bis 34-Jährigen dar. In dieser Lebens- und erwerbsbiographischen Phase sind die o.g. Schlüsselereignisse weiter fortgeschritten, überwiegend alle Formen beruflicher Qualifikationen abgeschlossen und die für den Berufseinstieg typischen Phasen der Sucharbeitslosigkeit bzw. unsicherer Beschäftigung für einen großen Teil bereits überwunden (vgl. dazu Fuchs 2006; Rothe/Tinter 2007).

2.1 Berufliche Fachrichtungen

Der Terminus Berufliche Fachrichtung bezeichnet zumeist das Erstfach, das im Rahmen eines Studiums zum Lehramt an berufsbildenden Schulen (BBS) an Universitäten und Hochschulen zu belegen ist. Es deckt dabei ähnliche Berufe ab und steht in engem Zusammenhang mit den Berufsfeldern (vgl. Herkner 2012, 161). Die Definition der Berufsfelder vollzieht sich jedoch nicht anhand der in den BBS unterrichteten Ausbildungsberufe, sondern vielmehr auf Basis der Klassifikation der (Erwerbs-)Berufe des Statistischen Bundesamtes. Im Detail existieren insgesamt 54 Berufsfelder des BIBB, die durch eine Neugruppierung von Berufsordnungen zu Berufsfeldern entlang der Dimensionen Tätigkeits- und Branchenschwerpunkt gebildet wurden (vgl. Tiemann et. al. 2008, 27).

Laut KMK (2013, 4) werden für die beruflichen Schulen (Lehramtstyp 5) derzeit folgende 16 berufliche Fachrichtungen ausgewiesen:

  • Wirtschaft und Verwaltung,
  • Metalltechnik,
  • Elektrotechnik,
  • Bautechnik,
  • Holztechnik,
  • Textiltechnik und -gestaltung,
  • Labor/Prozesstechnik,
  • Medientechnik,
  • Farbtechnik, Raumgestaltung und Oberflächentechnik,
  • Gesundheit und Körperpflege,
  • Ernährung und Hauswirtschaft,
  • Agrarwirtschaft,
  • Sozialpädagogik,
  • Pflege,
  • Fahrzeugtechnik und

Davon besitzen 7 berufliche Fachrichtungen jeweils 2 Vertiefungsrichtungen, bspw. wird die Metalltechnik in die Fertigungs- und Produktionstechnik sowie die Heizungs- Klima- und Lüftungstechnik untergliedert. Die einschlägigen bzw. in Neuordnung begriffenen Ausbildungsberufe sind den jeweiligen beruflichen Fachrichtungen zumeist eindeutig zugeordnet. Daneben stellen einige Hochschulvertreter/-innen explizite Bezüge zwischen der von ihnen vertretenen beruflichen Fachrichtung und derKlassifikation der Berufe bzw. den Berufsfeldern her (vgl. u. a. Meyser 2010; vgl. Becker 2010; vgl. Grundmeier/Hayen 2010; vgl. Wulfhorst 2010).

Es wird ersichtlich, dass es sich bei den beruflichen Fachrichtungen um Konstrukte handelt, die von ordnungspolitischen und berufspädagogischen Strukturbestrebungen gekennzeichnet sind. Gleichwohl werden die beruflichen Fachrichtungen als Kategorie für das hier entfaltete Forschungsdesign gewählt, da sie zum einen die berufswissenschaftliche Dimension (Inhalte beruflicher Facharbeit, Kompetenzorientierung, Entwicklung von Curricula) berücksichtigen. Zum anderen bieten die beruflichen Fachrichtungen in ihrer überschaubaren Anzahl ein Gerüst, das sich mit den beruflichen Lagen im Hinblick auf fachliche Erwerbstätigkeit gut verbinden lässt. Allerdings kann nicht darüber hinweg gesehen werden, dass die Etablierung beruflicher Fachrichtungen gegenüber allgemeinbildenden Fächern in der Lehrerausbildung noch vergleichsweise jung ist. Zudem folgen Ausbildungs- und Erwerbsberufe einer je eigenen Genese und daher kann eine Vielzahl von Erwerbsberufen den beruflichen Fachrichtungen nicht ohne weiteres eindeutig zugeordnet werden.

2.2 Berufliche Lagen

Berufliche Lagen wurden in Anlehnung an das Konzept der sozialen Lagen (vgl. Hradil 2009) von Bandorski (2013) konzipiert als „typische Handlungskontexte beruflicher Integration und [sie] skizzieren über vorherrschende Merkmalskombinationen vergleichsweise gute oder schlechte Chancen auf eine gesellschaftliche Anbindung über Erwerbstätigkeit“ (ebd., 110).

Datengrundlage für die Ermittlung beruflicher Lagen war der Scientific Use File des Mikrozensus 2005. Sein inhaltlicher Schwerpunkt ist die Erwerbstätigkeit, die Arbeitskräftestichprobe der Europäischen Union ist in ihn integriert. Er bietet also die Möglichkeit einer differenzierten Abbildung der Bevölkerungs- und Arbeitsmarktstruktur. Die beruflichen Lagen wurden entlang folgender Merkmale gebildet (zu den genauen Ausprägungen vgl. Bandorski 2013, 113):

  • aktueller Erwerbstätigkeitsstatus,
  • Schul- und Berufsabschluss,
  • Alter,
  • Geschlecht,
  • Familienstand und Elternschaft,

Diese Merkmale wurden mittels einer Two-Step-Clusteranalyse zu Gruppen zusammengefasst, „die sich innerhalb eines Clusters ähnlich sind und in ihren Merkmalskombinationen Unterschiede zu Personen anderer Cluster aufweisen“ (Solga/Powell/Berger 2009, 39). Auf diese Weise wurden fünf berufliche Lagen gebildet, welche hinsichtlich Erwerbstätigkeit, Bildungsprofil und Personenspezifika klar voneinander unterschieden werden können.

Ein Schlüssel zum Verständnis der beruflichen Lagen ist der Erwerbstätigkeits-Status. Der verwendete Index wurde neu konzipiert mit einem Fokus darauf, die Spannweite von Beschäftigungsverhältnissen unter besonderer Berücksichtigung prekärer Beschäftigung abzubilden. Er orientiert sich an dem Zonenmodell nach Castel (2000) mit einer Zone der Integration, einer Zone der Entkoppelung und einer dazwischen liegenden Zone der Prekarität. So wird neben Erwerbslosen und Nichterwerbspersonen (Zone der Entkoppelung) noch zwischen regulärer (Zone der Integration) und unsicherer und prekärer Beschäftigung (Zone der Prekarität) unterschieden. Reguläre Beschäftigung liegt beim Ausüben einer qualifizierten Tätigkeit, unbefristet und in Vollzeit vor. Prekäre Beschäftigung liegt vor, wenn eine einfache Tätigkeit mit strukturellen Einschränkungen verbunden ist, z. B. Befristung oder Teilzeit. Unsichere Beschäftigung fasst alle dazwischenliegenden Beschäftigungsverhältnisse zusammen (zur genauen Konstruktion vgl. Bandorski 2013, 97ff.).

Tabelle 1:     Charakteristische Merkmalskombinationen in den beruflichen Lagen

Tabelle 1

In ihrer Gesamtheit geben die beruflichen Lagen eine Momentaufnahme der in der westdeutschen Gesellschaft vorzufindenden Struktur wieder, ihre volle Aussagekraft entfalten sie immer im Zusammenspiel. In Tabelle 1 sind aus diesem Grund alle beruflichen Lagen knapp skizziert. Der Fokus des vorliegenden Artikels liegt auf Erwerbstätigen und Arbeit suchenden Personen, die eine betriebliche oder schulische Berufsausbildung absolviert haben. Aus diesem Grund werden die letzten beiden beruflichen Lagen wegen des hohen Anteils von Akademiker/-inne/-n bei den „Hochqualifizierten“ und von Nichterwerbspersonen – also Personen, die nicht erwerbstätig sind und aktuell auch keine Erwerbstätigkeit suchen – bei den „Verheirateten mit Kindern“ hier nicht weiter verfolgt und an dieser Stelle nicht detailliert aufgeführt.

„Klassiker“, „Verunsicherte“ und „Gesicherte“ beschreiben berufliche Milieus von Personen, die das duale bzw. schulische Ausbildungssystem durchlaufen haben. (Die einzige Ausnahme ist ein Anteil von „Gesicherten“, der über einen Fachhochschulabschluss verfügt.) Sie bilden die Datenbasis dieses Artikels und umfassen zusammengenommen 50,2% aller 25- bis 34-jährigen (potenziell) Erwerbstätigen. Neben der Konzentration auf die Art der Berufsausbildung eint sie der Umstand, dass hier nahezu ausschließlich kinderlose Personen zusammengefasst sind. Neben diesen Gemeinsamkeiten weisen sie jedoch ein je eindeutiges Profil auf:

„Klassiker“ sind sehr gut in den Arbeitsmarkt integrierte Personen. Über zwei Drittel von ihnen sind regulär beschäftigt. Charakteristisch ist die Bildungslaufbahn Realschule – Lehre, das Geschlecht spielt keine Rolle. Personen mit einem Migrationshintergrund sind zwar unterdurchschnittlich, mit 6,7% jedoch deutlich vertreten (28,2% Migrationsanteil bei allen 25- bis 34-Jährigen).

Die Situation der „Verunsicherten“ reicht von einer unsicheren Anbindung an den Arbeitsmarkt über prekäre Beschäftigung bis hin zu durch Erwerbslosigkeit erfahrener Ausgrenzung. Charakteristisch für sie sind geringe oder auch gar nicht vorhandene Schul- bzw. Berufsabschlüsse. In einem solchen Erwerbstätigkeits-Milieu befinden sich mit zwei Dritteln Männer häufiger als Frauen. Der Migrationsanteil liegt deutlich über dem Durchschnitt dieser Altersgruppe.

Die „Gesicherten“ stellen als hochintegratives Segment der Gesellschaft quasi einen Gegenentwurf zu den „Verunsicherten“ dar. In diesem Erwerbstätigkeits-Milieu sind nahezu alle Personen regulär beschäftigt. Das Bildungsprofil ist im Gegensatz zu den „Klassikern“ vielfältig. Neben Hauptschulabsolvent/-inn/-en mit einer Lehre befinden sich in dieser beruflichen Lage Personen, die hochwertige Schulabschlüsse mit einer Lehre kombiniert haben. Das Geschlechterverhältnis ist leicht zu Gunsten der Männer verschoben, der Migrationsanteil mit 0,4% verschwindend gering.

„Klassiker“ und „Gesicherte“ werden im Folgenden als positive Zielpunkte einer beruflichen Orientierung betrachtet, wogegen die „Verunsicherten“ einen Kristallisationspunkt von Unsicherheit darstellen.

2.3 Forschungsdesign

Im Gegensatz zu den nach Bandorski (2013) bereits zur Verfügung stehenden beruflichen Lagen musste eine Einordnung von Erwerbstätigkeit in bzw. jenseits von beruflichen Fachrichtungen erst vorgenommen werden. Dies geschah entlang des aktuellen Erwerbsberufs, der im Mikrozensus 2005 als Klassifikation der Berufe 1992 zur Verfügung steht. In einem ersten Schritt wurden die angegebenen Berufe den bestehenden 16 beruflichen Fachrichtungen zugeordnet. Alle anderen Berufe, die keiner Fachrichtung zugeordnet werden konnten, wurden in einem zweiten Schritt nach inhaltlichen Gesichtspunkten zu Beschäftigungsbereichen jenseits beruflicher Fachrichtungen zusammengefasst. Diese lauten wie folgt:

  • Transport, Verkehr und Logistik,
  • Management,
  • IT-Berufe,
  • Sicherheitsberufe,
  • Gastwirtschaft,
  • Kunst und Musik,

Um mit dem Blick auf die „Verunsicherten“ auch aussagekräftige Ergebnisse zu dem Grenzbereich zwischen unsicherer Beschäftigung und Erwerbslosigkeit zu erhalten, wurde anschließend auch ein großer Teil der Erwerbslosen den o.g. beruflichen Fachrichtungen oder Beschäftigungsbereichen jenseits davon zugeordnet. Dazu konnte, so vorhanden, die Hauptfachrichtung des höchsten Berufsabschlusses verwendet werden, die ebenfalls im Mikrozensus enthalten ist.

Für den vorliegenden Artikel wurden Personen mit einem hochqualifizierenden Berufsabschluss bzw. Erwerbstätige in hochqualifizierten Beschäftigungsbereichen den sonstigen Beschäftigungsbereichen zugeordnet. Daneben fallen in dieses Kategorie diejenigen Erwerbstätigen, die nicht weiter zuordenbar sind. Erwerbslose ohne beruflichen Abschluss und Nichterwerbspersonen, die aktuell weder eine Erwerbstätigkeit ausüben noch suchen, können natürlich keiner beruflichen Fachrichtung oder einem Beschäftigungsbereich jenseits davon zugeordnet werden. Diese wurden zu einer weiteren, eigenständigen Gruppe zusammengefasst.

3 Ergebnisse

In Tabelle 2 ist die fachliche Erwerbstätigkeit in den beruflichen Lagen entlang der oben beschriebenen Kategorien abgebildet.

Tabelle 2:     Fachliche Erwerbstätigkeit in den beruflichen Lagen (Spaltenprozent)

Tabelle 2

Es zeichnen sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden integrativen beruflichen Lagen „Klassiker“ und „Gesicherte“ einerseits und den „Verunsicherten“ mit ihrem hohen Grad an Unsicherheit andererseits ab, die nachfolgend aus drei Perspektiven betrachtet werden.

3.1 Berufliche Fachlichkeit im Überblick

Zunächst kann festgehalten werden, dass die „Klassiker“ größtenteils einer bestehenden beruflichen Fachrichtung zugeordnet werden können. Dies ist für 79,8% von ihnen der Fall, bei den „Gesicherten“ sind es 65,9%. Die beruflichen Fachrichtungen scheinen also grob betrachtet in eine vergleichsweise sichere Zukunft zu führen.

Ebenso deutlich wie der positive Zusammenhang zwischen solider bis sicherer Erwerbstätigkeit und den beruflichen Fachrichtungen zeichnet sich für die „Verunsicherten“ das Gegenteilab. Mit 52,3% findet sich nur gut die Hälfte in den beruflichen Fachrichtungen wieder. Ein gutes Viertel von ihnen ist in Beschäftigungsbereichen jenseits beruflicher Fachrichtungen verortet, wozu mit 14,0% vor allem eine Tätigkeit im Bereich Transport, Verkehr und Logistik gehört. Für sie wird außerdem als einzige berufliche Lage die Kategorie der Erwerbslosen ohne Berufsabschluss relevant, die auf jede/-n zehnte/-n „Verunsicherte/-n“ zutrifft.

3.2 Fachlichkeits-Profile der beruflichen Lagen

Mit einem zweiten Blick wird geprüft, welche beruflichen Fachrichtungen bzw. Beschäftigungsbereiche jenseits davon in den beruflichen Lagen am häufigsten vorkommen. Welche Fachrichtungen machen also die „Gesicherten“ und „Klassiker“ zu integrativen Segmenten und wodurch zeichnet sich die Unsicherheit der „Verunsicherten“ aus?

In Abbildung 1 sind die je fünf häufigsten Beschäftigungsbereiche bzw. Erwerbstätigkeits-Status jenseits davon für „Klassiker“, „Verunsicherte“ und „Gesicherte“ dargestellt. Drei Dinge fallen dabei auf:

  1. „Klassiker“ und „Gesicherte“ sind vorwiegend durch die berufliche Fachrichtung Wirtschaft und Verwaltung gekennzeichnet. In beiden beruflichen Lagen macht diese einen deutlich größeren Anteil als alle anderen aus. Bei den „Verunsicherten“ gibt es dagegen keine derart deutliche Prägung. Für sie ist die Erwerbstätigkeit oder der Berufsabschluss in Wirtschaft und Verwaltung nur leicht markanter als der Beschäftigungsbereich Transport, Verkehr und Logistik.
  2. Die beruflichen Fachrichtungen Wirtschaft und Verwaltung (in Abbildung 1 schwarz umrahmt) und Metalltechnik (in Abbildung 1 weiß umrahmt) sind in allen drei beruflichen Lagen unter den fünf größten Anteilen. Im Falle von Wirtschaft und Verwaltung sind sie in den sicheren beruflichen Lagen jedoch deutlich größer als bei den „Verunsicherten“. Die Metalltechnik ist dagegen diejenige berufliche Fachrichtung, die in allen hier betrachteteten beruflichen Lagen einen vergleichbar großen Anteil ausmacht. Beiden beruflichen Fachrichtungen kommt damit eine Sonderstellung zu, die in Kapitel 4 noch weiter diskutiert wird.
  3. Neben der o. g. Gemeinsamkeit im Hinblick auf Wirtschaft und Verwaltung und Metalltechnik sind die beruflichen Lagen durch weitere berufliche Fachrichtungen oder auch Beschäftigungsbereiche jenseits davon gekennzeichnet. „Klassiker“ finden sich häufig in der Pflege oder in der Elektrotechnik, „Gesicherte“ agieren vorrangigim Management und in der Pflege. Bei den „Verunsicherten“ sind Erwerbstätige ohne Berufsabschluss und Nichterwerbspersonen überdurchschnittlich stark vertreten.

Abbildung 1: Häufigste Beschäftigungsbereiche innerhalb der beruflichen LagenAbbildung 1: Häufigste Beschäftigungsbereiche innerhalb der beruflichen Lagen

3.3 Vergleichender Blick auf berufliche Lagen

Mit einer abschließenden Perspektive werden die Anteile beruflicher Fachrichtungen bzw. von Beschäftigungsbereichen jenseits davon über die drei beruflichen Lagen hinweg verglichen. Dabei lässt sich feststellen, dass bei den „Verunsicherten“ bestimmte berufliche Fachrichtungen und Beschäftigungsbereiche jenseits davon besonders ausgeprägt sind. Sie verzeichnen jeweils deutlich höhere Anteile als bei den „Klassikern“ und „Gesicherten“. Dies sind: Bautechnik, Textiltechnik und -gestaltung, Labortechnik/Prozesstechnik, Ernährung und Hauswirtschaft, Agrarwirtschaft, Transport, Verkehr und Logistik, Gastwirtschaft und Hilfsarbeit. Eher unterrepräsentiert bei den „Verunsicherten“ sind hingegen Elektrotechnik, Pflege, Sozialpädagogik, Management und IT-Berufe.

4 Diskussion

Die oben dargelegten Ergebnisse werden nachfolgend hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Berufsorientierung diskutiert und interpretiert. Unter Berücksichtigung einer Prekarisierung des Arbeitsmarktes wurde eingangs die Fragestellung aufgeworfen, welche (Un-)Sicherheit Beschäftigungsverhältnisse entlang beruflicher Fachrichtungen bieten. Zu deren Beantwortung sollen dabei folgende Aspekte im Nachgang ausgeführt werden:

  • Fachprofil beruflicher Unsicherheit,
  • Fachprofil beruflicher Sicherheit,
  • Integrationspotenziale der beruflicher Fachrichtungen Wirtschaft und Verwaltung sowie Metalltechnik,
  • Zielgruppenspezifika

4.1 Fachprofil beruflicher Unsicherheit

Das Erwerbstätigkeits-Milieu der „Verunsicherten“ bringt als Kristallisationspunkt beruflicher Unsicherheit klare Einschränkungen im Hinblick auf ökonomische und soziale Autonomie mit sich. Mit den hohen Anteilen von prekär und häufig temporär Beschäftigten, Erwerbslosen, und Personen, die im Alter von 25 bis 34 Jahren noch ohne Berufsabschluss sind, ist Berufsorientierung für diese berufliche Lage auch aktuell virulent.

Im Hinblick auf das Fachprofil beruflicher Unsicherheit verwundert es nicht, dass die „Verunsicherten“ neben den in Abbildung 1 aufgeführten fünf häufigsten Beschäftigungsbereichen (die insgesamt 53,5% ausmachen) vorrangig in der Bautechnik, in der Ernährungs- und Hauswirtschaft, in der Textiltechnik und -gestaltung sowie in der Agrarwirtschaft beschäftigt sind. Hinzu kommen Beschäftigungsbereiche jenseits beruflicher Fachrichtungen in der Gastwirtschaft und sonstiger Hilfsarbeit. In der Summe stellen diese weitere 22,7% aller „Verunsicherten“ dar. Mit dem vergleichenden Blick auf „Klassiker“ und „Gesicherte“ sind es dagegen in der Elektrotechnik, Pflege, Sozialpädagogik, im Management, in IT- oder anderen hochqualifizierten Erwerbsberufen zusammengenommen gerade einmal 10,2%.

Die ohnehin recht heterogene berufliche Lage der „Verunsicherten“ mit ihrem sehr unterschiedlichen Bildungsprofil, ihren hohen Prozentzahlen an Personen mit einem Migrationshintergrund und unsicher bzw. prekär Beschäftigten, kann auch im Hinblick auf berufliche Fachlichkeit als stark zergliedert beschrieben werden. Belege dafür finden sich im Vergleich zu den „Klassikern“ und „Gesicherten“ anhand:

  • der geringsten Anteile in den beruflichen Fachrichtungen,
  • der höchsten Anteile in Beschäftigungsbereichen jenseits davon,
  • dem nicht zu vernachlässigendem Teil nicht zuordenbarer Beschäftigung (3,5%) und
  • der mit 10,6% überaus großen Gruppe von Erwerbslosen ohne Berufsabschluss.

Zudem sind die „Verunsicherten“ in den gesondert betrachteten beruflichen Fachrichtungen Wirtschaft und Verwaltung und Metalltechnik mit zusammengenommen 23,5% deutlich seltener vertreten als die „Klassiker“ mit 44,5% und die „Gesicherten“ mit 41,1%.

4.2 Fachprofil beruflicher Sicherheit

„Klassiker“ und „Gesicherte“ beschreiben zwei verschiedene Milieus einer beruflichen Sicherheit, welche eine gesellschaftliche Anbindung über Erwerbstätigkeit ermöglicht. Die Berufsorientierung kann für diese jungen Erwachsenen als in einem ersten Schritt durchaus abgeschlossen verstanden werden, da sie in sichere Positionen eingemündet sind. Aus diesen beiden beruflichen Lagen lassen sich zwei verschiedene Zugangswege zu beruflicher Sicherheit ablesen.

„Klassiker“ sind auch in ihrer Fachlichkeit als klassisch zu charakterisieren. Vier ihrer fünf häufigsten Beschäftigungsbereiche (bei ihnen zusammen bereits 66,8%) sind in beruflichen Fachrichtungen verortet. Als nächsthäufige Beschäftigungsbereiche kommt noch eine weitere berufliche Fachrichtung hinzu (Sozialpädagogik mit 4,0%) und mit Transport, Verkehr und Logistik (4,0%) und Sicherheitsberufen (3,5%) zwei Beschäftigungsbereiche jenseits davon. Erwerbstätigkeit im Management oder in IT-Berufen ist dagegen auch bei ihnen vergleichsweise unterrepräsentiert.

Das klassische Profil dieser beruflichen Lage mit seinem eindeutigen Bildungsprofil zeichnet sich auch fachlich ab durch:

  • den größten Anteil in den beruflichen Fachrichtungen,
  • den geringsten Anteil in den Beschäftigungsbereichen jenseits davon und
  • nur geringen Anteilen in sonstiger Erwerbstätigkeit oder in Nicht-Beschäftigung.

Wie bereits in 4.1 beschrieben haben die „Klassiker“ zudem mit 44,5% den höchsten Anteil von Personen in den Fachrichtungen Wirtschaft und Verwaltung und Metalltechnik.

„Gesicherte“ beschreiben dagegen einen anderen Weg in berufliche Sicherheit. Zu ihren fünf häufigsten Beschäftigungsbereichen (mit 66,9% genauso groß wie bei den „Klassikern“) zählen neben drei beruflichen Fachrichtungen Erwerbstätigkeiten im Management oder solche mit Hochqualifizierung. Ihre nächsthäufigen Kategorien sind mit Elektrotechnik eine weitere berufliche Fachrichtung und mit IT-Berufen ein Beschäftigungsbereich jenseits davon.

Charakteristisch für die „Gesicherten“ ist:

  • der höchste Anteil von Hochqualifizierten,
  • ein hoher Anteil in Beschäftigungsbereichen jenseits beruflicher Fachrichtungen
  • mit einer deutlichen Konzentration auf Management und IT-Berufe.

Wirtschaft und Verwaltung und Metalltechnik machen für sie zusammengenommen 41,1% aus und sind damit vergleichbar stark vertreten wie bei den „Klassikern“.

4.3 Integrationspotentiale der beruflichen Fachrichtungen Wirtschaft und Verwaltung sowie Metalltechnik

Die o.g. beruflichen Fachrichtungen haben sich aus den Ergebnissen als besonders bedeutsam herausgestellt. Wirtschaft und Verwaltung ist in allen drei beruflichen Lagen die anteilig häufigste berufliche Fachrichtung, Metalltechnik mit zwar deutlich kleineren Anteilen ebenso bei allen unter den fünf häufigsten. Diese Fachrichtungen spielen somit für sich orientierende junge Menschen eine große Rolle, geben dabei jedoch keine klare Richtung für die berufliche Zukunft vor. Wirtschaft und Verwaltung ist zumindest stärker in den integrativen Erwerbstätigkeits-Milieus vorzufinden, woraus sich eine Tendenz in Richtung sicherer Beschäftigung ablesen lässt. Bei der Metalltechnik sind die Anteile dagegen mit Werten zwischen 6,6% und 8,4% sehr eng beieinander.

Sowohl Wirtschaft und Verwaltung als auch Metalltechnik besitzen demnach ein hohes Potential für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt. Sie ermöglichen unter Umständen Personen, die eine Erwerbstätigkeit in diesen Beschäftigungsbereichen ausüben, perspektivisch den Übertritt aus einem unsicheren in ein sicheres Erwerbstätigkeits-Milieu. Dies kann bspw. durch die Übernahme verantwortungsvollerer Aufgaben im Unternehmen und einer damit einhergehenden unbefristeten Vertragsgestaltung gelingen. Eine solche Mobilität zeichnet sich für andere berufliche Fachrichtungen oder Beschäftigungsbereiche jenseits davon nicht ab. Insbesondere für die „Verunsicherten“ bestehen in Bezug auf fachliche Erwerbstätigkeit ansonsten keine Überschneidungen zu den beiden integrativen beruflichen Lagen.

4.4 Zielgruppenspezifika

Abschließend soll noch ein Blick auf Personenmerkmale gerichtet werden, die für konzeptionelle Überlegungen von Berufsorientierung relevant werden könnten.

Das Bildungsprofil, durch die Dreigliedrigkeit des Schulsystems gekennzeichnet, verweist deutlich auf einen Zusammenhang von fehlenden Berufsabschlüssen und einer Positionierung im Spannungsfeld zwischen unsicherer Beschäftigung und Erwerbslosigkeit. Es zeichnet sich aber auch ab, dass höhere Bildungsabschlüsse nicht eindeutig zu sicheren Beschäftigungsverhältnissen führen. So machen z. B. Hauptschüler/-innen mit abgeschlossener Lehre den größten Anteil sowohl der „Gesicherten“ als auch der „Verunsicherten“ aus.

Die deutliche Unterrepräsentanz von Personen mit einem Migrationshintergrund in den vertieft analysierten sicheren beruflichen Lagen der „Klassiker“ und „Gesicherten“ muss dadurch relativiert werden, dass diese bei den hier nicht berücksichtigten „Verheirateten mit Kindern“ überproportional vertreten sind. Die hier präsentierten Ergebnisse sind also erheblich durch die Lebensführung und Familienplanung moderiert. Ihr hoher Anteil bei den „Verunsicherten“ kann ebenfalls nicht derart gedeutet werden, dass berufliche Unsicherheit ein spezifisches Migrationsproblem wäre. Vielmehr beschreibt diese berufliche Lage eine Gruppe von Personen, die aufgrund ihrer persönlichen Merkmalsausstattung einer besonderen Berufsorientierung bedürfen. An dieser Stelle wird noch ein zusätzlicher Blick auf die Bildungsbiographie der „Verunsicherten“ mit einem Migrationshintergrund geworfen. Nach eigenen Berechnungen haben 68,2% von ihnen ihre (Aus-)Bildungslaufbahn in Deutschland beendet, 31,8% sind indessen erst nach deren Beendigung im Ausland nach Deutschland eingereist. Für sie setzt eine Berufsorientierung auf den deutschen Arbeitsmarkt demnach auch erst spät an. Somit besteht durchaus eine migrationsspezifische Besonderheit, denn für spät Zugewanderte ist keine durchgängige Berufsorientierung ab der Schule möglich.

Bezüglich des Geschlechts findet man in den sicheren beruflichen Lagen kaum Unterschiede. Gerade bei den „Klassikern“ ist das Geschlechterverhältnis ausgewogen und bei den „Gesicherten“ überwiegen die Männer nur leicht. Berufliche Unsicherheit von Frauen findet sich vornehmlich in der nicht weiter betrachteten Lage der „Verheirateten mit Kindern“, ist also familiär bedingt. Die berufliche Unsicherheit von Männern zeigt dagegen keinen Zusammenhang zu einer stattgefundenen Familiengründung, da die „Verunsicherten“ größtenteils kinderlos sind. Auch das ist für eine Berufsorientierung in dieser Lebensphase ein wichtiges Ergebnis, da gut qualifizierte Mütter im Gegensatz zu gering qualifizierten Männern durchaus bessere Chancen auf einen Wiedereinstieg in Erwerbstätigkeit haben.

Berufsorientierung benötigt nach Ansicht der Autoren kein in erster Linie an bestimmten Zielgruppen ausgerichtetes Konzept für die Einzelmerkmale Bildungsprofil, Migration und Geschlecht. Wodurch sich Berufsorientierung auszeichnen sollte, wird durch die Betrachtung spezifischer Erwerbstätigkeits-Milieus und deren Fachprofile aussagekräftiger und für mögliche Konzeptionsentwicklungen gut verwendbar erfasst.

5 Schlussfolgerungen

5.1 Berufsorientierung in verschiedenen Lebensphasen

Personen in der beruflichen Lage der „Verunsicherten“ bedürfen einer langfristigen Unterstützung bei der Berufsorientierung. Für Erwerbslose reicht sie von Angeboten der ersten Orientierung bis hin zur (Nach-)Qualifizierung. Aber auch für erwerbstätige Personen in dieser beruflichen Lage erscheint eine Berufsorientierung neben einer Beratung vor dem Berufseintritt durchaus sinnvoll, da eine (Um-)Orientierung beim Wiederfinden in einer unsicheren Erwerbstätigkeit durchausangezeigt ist. Es entsteht der Eindruck, dass viele dieser Arbeitsnehmer/-innen ihren Erwerb in solchen Tätigkeiten suchen und finden, die ihnen wenig Gewähr auf den Erhalt von dauerhafter Beschäftigungsfähigkeit bieten. Sie sind fachlich fast überall zu finden, nur nicht in den anspruchsvollen und prosperierenden Bereichen des Arbeitsmarktes oder den höheren Hierarchieebenen von Unternehmen.

Die berufliche Orientierung und auch die Berufseinstiegsbiographie der „Klassiker“ kann als die möglicherweise gradlinigste interpretiert werden. Auf eine bestimmte Bildungslaufbahn folgt die Orientierung an etablierten Berufen in beruflichen Fachrichtungen, die dann auch in eine sichere berufliche Zukunft führen. Für sie wären Berufsorientierungskonzepte vorstellbar, die am Ende der allgemeinbildenden Schule ansetzen und vorrangig den Übergang in die Ausbildung begleiten.

Die „Gesicherten“ sind dagegen wieder eine inhomogene Gruppe. Ihr Bildungsprofil weist keine klare Tendenz auf, sondern fasst vielmehr alle Personen jenseits des klassischen Wegs zusammen. In dieses Sammelbecken fallen sowohl Personen, die in berufliche Fachrichtungen eingemündet sind, daneben solche mit Erwerbsberufen, die einen (Fach-)Hochschulabschluss erfordern, oder im Management und in IT-Berufen. Entsprechende Berufsbiographien sind nach dem Ende der allgemeinbildenden Schule vermutlich weicher und wenig eindeutig vorgezeichnet. Ihre Berufsorientierung setzt somit zeitgleich mit der der „Klassiker“ an, dauert aber länger, denn ein Aufstieg in Führungspositionen ergibt sich erst im Laufe der Erwerbsbiographie. Noch dazu erfordern (Fach-)Hochschulstudiengänge eine Berufswahlentscheidung in der Regel während oder gegen Ende der Qualifikationsphase und nicht wie bei Ausbildungsberufen bereits mit deren Beginn. Durch das anzunehmende Anspruchsniveau der aufgeführten Tätigkeiten ist diese längere Form der Berufsorientierung jedoch eine völlig andere, als sie beispielsweise die „Verunsicherten“ bedürfen.

5.2 Fachlichkeit als ein Weg zu beruflicher Sicherheit

Es steht außer Zweifel, dass berufsfachlich Qualifizierte gegenüber An- und Ungelernten auf dem Arbeitsmarkt grundsätzlich im Vorteil sind. Die Diskussion der Ergebnisse hat darüber hinaus gezeigt, dass Entscheidungen für bestimmte fachliche Erwerbstätigkeiten zu Beschäftigungsverläufen mit unterschiedlichem (vorläufigen) Ausgang führen. Die beruflichen Fachrichtungen Wirtschaft und Verwaltung sowie Metalltechnik nehmen dabei eine besondere Rolle ein und wurden als Mobilität ermöglichende Beschäftigungsbereiche identifiziert.

Ob des sich abzeichnenden Zusammenhangs zwischen dem Erwerbstätigkeits-Milieu der „Verunsicherten“ und dem Beschäftigungsbereich Transport, Verkehr und Logistik ist zu fragen, wie sich diese fachliche Erwerbstätigkeit solider gestalten ließe. Ungeachtet der dafür vorgenommenen Einteilung der Facharbeit nach vermeintlich inhaltlichen Gesichtspunkten wie Güter-, Personen- und Datenströme wäre dieser Aufgabe sowohl gesellschaftspolitisch als auch berufswissenschaftlich nachzugehen.

Die Ausführungen stellen für alle in die Berufsorientierung involvierten Akteure relevante und wertvolle Informationen zur Verfügung. Junge Menschen werden in die Lage versetzt, ihre individuellen Potentiale mit den Optionen der jeweiligen Beschäftigungsbereiche zu verbinden. Für Beratende bieten die beruflichen Lagen mit ihrer je eigenen Fachlichkeit und möglichen (Un-)Sicherheitszuständen eine zusätzliche Hilfestellung, die sie im Dialog mit sich Orientierenden für Schwerpunktsetzungen nutzen können.

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Relevanz, Nutzungshäufigkeit und eingeschätzte Nützlichkeit unterschiedlicher Unterstützungsangebote aus Sicht von Jugendlichen während des Berufsorientierungsprozesses

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1 Einleitung

Der Übertritt von der Schule in den Beruf ist für einen Großteil der Jugendlichen in der Schweiz (vgl. Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation [SBFI] 2014) eine der wesentlichen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz. Die erfolgreiche Bewältigung des Übertritts in eine berufliche Ausbildung und deren erfolgreicher Abschluss sind wichtige Voraussetzungen, damit der Übertritt in den Arbeitsmarkt oder eine weiterführende Ausbildung gelingt und somit entscheidend für die längerfristige berufliche und gesellschaftliche Integration (vgl. Hirschi 2007, 30; Häfeli/Schellenberg 2009, 12; Hupka-Brunner/Wohlgemuth 2014, 105). Dem Prozess der Berufsorientierung kann daher essenzielle Bedeutung zugeschrieben werden. Die Verfügbarkeit von sozialer Unterstützung während der Berufsorientierung ist (neben persönlichen Ressourcen und gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einflussfaktoren) entscheidend für den Erfolg bei der Lehrstellensuche (vgl. Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006). Mit sozialer Unterstützung sind Formen der Unterstützung im persönlichen Umfeld der Jugendlichen (z. B. Elternunterstützung) sowie schulische, betriebliche und außerschulisch-institutionelle Unterstützungsangebote gemeint. Aus einer Angebot-Nutzungs-Perspektive kann davon ausgegangen werden, dass ein positiver Einfluss sozialer Unterstützung im Prozess der Berufsorientierung jedoch nicht nur von deren Verfügbarkeit abhängt, sondern auch davon, ob und wie diese von den Jugendlichen als relevant eingestuft, genutzt und als wie nützlich diese eingeschätzt wird.

In bisherigen Studien (vgl. Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006; Müller 2009; Neuenschwander et al. 2010) wurde die Nutzungshäufigkeit von Unterstützungsangeboten durch Jugendliche, die von ihnen eingeschätzte Nützlichkeit und deren Veränderung über die Zeit anhand von retrospektiv erfassten Daten untersucht. Was fehlt sind Studien, die die Nutzung und die eingeschätzte Nützlichkeit von Unterstützungsangeboten aus der Perspektive der Jugendlichen zeitnah, d. h. ohne zeitliche Distanz erfassen. Es ist nämlich davon auszugehen, dass retrospektive Befragungen mit Erinnerungslücken und Wahrnehmungsverzerrungen einhergehen, welche die Ergebnisse maßgeblich verfälschen können.

Diese Studie begegnet diesem Defizit, indem sie Daten von Jugendlichen verwendet, die am Ende des 8. Schuljahres und knapp ein Jahr später (d. h. gegen Ende des 9. Schuljahres) noch einmal befragt wurden. Ausgehend von einem Angebot-Nutzungs-Modell werden die Relevanz und die Nutzungshäufigkeit von Unterstützungsangeboten sowie deren eingeschätzte Nützlichkeit aus der Perspektive von Jugendlichen untersucht. Ferner wird in dieser Studie eruiert, wie sich die genannten Aspekte während des Berufsorientierungsprozesses verändern, und ob zwischen Jugendlichen mit und ohne Zusage für eine Lehrstelle gegen Ende des 9. Schuljahres Unterschiede hinsichtlich der genannten Aspekte bestehen.

Zur Untersuchung des skizzierten Erkenntnisinteresses wurden Daten aus dem Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Berufsorientierung und regionales Übergangsmanagement –  Chancen, Kompetenzen und Entwicklungspotenziale (BRÜCKE) genutzt, welches mit Mitteln der Internationalen Bodensee-Hochschule (IBH) gefördert wurde (vgl. Bahl et al. 2013; Rottmann et al. 2013).

2 Einbettung des Beitrags in Theorie und Forschung zur Berufsorientierung

2.1 Theoretisches Rahmenmodell

Der Berufsorientierungsprozess kann prinzipiell als langfristiger und sogar als lebenslanger Prozess betrachtet werden. Im Fokus des vorliegenden Beitrags steht jedoch ein Ausschnitt der Berufsorientierung, der sich auf Jugendliche vor und während des Übergangs von der obligatorischen Schule in die Berufsausbildung bezieht. Derart fokussiert kann die Berufsorientierung Jugendlicher verstanden werden als „aktive[r] und konstruktive[r] Prozess, der aus den Lernerfahrungen und Wahrnehmungen Jugendlicher hervorgeht und sich in einem unterschiedlich offenen Raum von Möglichkeiten abspielt“ (Müller 2009, 37f.). Diese Definition betont zum einen den Prozesscharakter der Berufsorientierung und hebt zum anderen hervor, dass die Interaktion zwischen der jugendlichen Person und der sie umgebenden Umwelt ein zentrales Element der Berufsorientierung darstellt. Das Ziel der beruflichen Orientierung eines Jugendlichen ist es zum einen, im Anschluss an die obligatorische Schule eine Lehrstelle zu finden und dabei zum anderen eine Berufswahl zu treffen, bei der eine möglichst große Passung zwischen den persönlichen Voraussetzungen (z. B. Fähigkeiten, Einstellungen, Interessen) und den Erfordernissen und Ansprüchen des gewählten Berufes erzielt wird. Das ist für das Erlernen und die Ausübung des jeweiligen Berufes unverzichtbar (vgl. Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006, 24; Müller 2009, 38; Egloff/Jungo 2009, 110). Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Jugendliche im Rahmen ihres Berufsorientierungsprozesses unter Einsatz ihrer persönlichen und unter Nutzung der sozialen, sie umgebenden Ressourcen eine Reihe von Entscheidungen treffen (vgl. Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006, 25f.).

Den skizzierten theoretischen Grundlagen folgend, wird ein personenzentriertes Prozessmodell der Berufsorientierung postuliert, in welchem der Berufsorientierungsprozess sowohl von persönlichen Faktoren der Jugendlichen als auch von Umweltfaktoren beeinflusst wird (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Prozessmodell der Berufsorientierung.Abbildung 1: Prozessmodell der Berufsorientierung.

In Anlehnung an Hirschi (2007, 31) sowie an Egloff/Jungo (2009, 110f.) werden im abgebildeten Modell grundlegend Faktoren der Person (persönliche Ressourcen) und Faktoren der Umwelt (soziale Ressourcen) als relevante Einflussfaktoren des Berufsorientierungsprozesses identifiziert und differenziert.

Hinsichtlich der Faktoren der Person werden stabile und variable Personenmerkmale voneinander unterschieden. Während stabile Personenmerkmale (z. B. Geschlecht, Ethnie, Dauer des Schulbesuchs) als nicht oder nahezu unveränderlich gelten, handelt es sich bei den variablen Personenmerkmalen um Faktoren, die sich während des Berufsorientierungsprozesses (und darüber hinaus) verändern bzw. entwickeln können (z. B. Kompetenzen, Berufswahlbereitschaft, Leistungsfähigkeit und -bereitschaft) (vgl. Hirschi 2007, 32ff.; Egloff/Jungo 2009, S. 111).

Bei den Faktoren der Umwelt wird zwischen fernen und unmittelbaren Umweltfaktoren unterschieden (vgl. Egloff/Jungo 2009, 111). Die fernen Umweltfaktoren – von Hirschi (2007) als „gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Kontext“ (31f.) bezeichnet – beeinflussen den Berufsorientierungsprozess, indem sie diesen rahmen. Sie bestimmen die beruflichen Entwicklungsaufgaben, die Personen zu bewältigen haben und schaffen Gegebenheiten, welche die beruflichen Übergänge erschweren respektive erleichtern (vgl. Hirschi/Läge 2006, 72). Zu diesen fernen Umweltfaktoren zählen beispielsweise die gegenwärtige Situation auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, die gesellschaftlichen Werthaltungen oder die Wirtschafts- und Infrastruktur der Wohngegend der Jugendlichen. Solche Umweltfaktoren können den Erfolg bei der Lehrstellensuche und Berufswahl stark beeinflussen, beispielsweise, wenn im Wunschberuf kaum Lehrstellen angeboten werden. Die unmittelbaren Umweltfaktoren – von Hirschi (2007) mit „soziale Unterstützung“ umschrieben (31f.) – spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle für den Berufsorientierungsprozess der Jugendlichen. Sie determinieren die Entwicklung und damit auch die berufliche Orientierung der Jugendlichen maßgeblich und können demzufolge die Bewältigung beruflicher Übertritte unterstützen oder erschweren (vgl. Hirschi/Läge 2006, 72) (vgl. Abschnitt 2.2). Zu den unmittelbaren Umweltfaktoren zählen nicht nur Personen, sondern ebenso andere potenzielle Informationsquellen wie das Internet, Berufsinformationszentren (BIZ) oder Informationsveranstaltungen. Auch sie können Jugendlichen im Prozess der Berufsorientierung als Unterstützung dienen. In diesem Beitrag stehen die unmittelbaren Umweltfaktoren – sprich die soziale Unterstützung und weitere Unterstützungs- bzw. Informationsquellen – und ihre Bedeutung für den Berufsorientierungsprozess im Mittelpunkt, weshalb sie nachfolgend detaillierter beschrieben werden. Wie in Abbildung 1 ersichtlich ist, werden in Bezug auf die unmittelbaren Umweltfaktoren unterschieden: das persönliche Umfeld der Jugendlichen (Eltern, Geschwister, Verwandte und Bekannte, Freunde/innen) sowie schulische (Lehrpersonen, Schulleitung, Schulsozialarbeit, Informationsveranstaltungen in Schulen), betriebliche (Betriebsmitarbeitende) und außerschulisch-institutionelle Einflüsse (Berufsberater/innen, Berufswahlcoaches, Casemanager/innen, Internetangebote, BIZ, Messen). Die Unterstützung kann dabei unterschiedliche Formen annehmen.

Eltern beispielsweise können ihre Kinder im Prozess der Berufsorientierung motivieren und emotional unterstützen, sie können direkte, sachbezogene Hilfe leisten (z. B. Unterstützung bei der Bewältigung schulischer Anforderungen, Hilfe bei der Informationssuche), sie können durch ihr eigenes Handeln Vorbild sein oderihre Kinder finanziell unterstützen (z. B. Bezahlen von Bewerbungsschreiben). Ähnliche Formen der Unterstützung können auch andere Personen aus dem persönlichen Umfeld der Jugendlichen leisten. Dabei hängt das Unterstützungspotential der Eltern und weiterer Bezugspersonen aus dem persönlichen Umfeld der Jugendlichen von deren eigenen Ressourcen (z. B. Bildungsniveau, Beherrschen der Sprache, Kenntnisse des Bildungssystems) ab (vgl. Bertossa/Haltinger/Meyer Schweizer 2008; Gaupp et al. 2008; Neuenschwander et al. 2010). Lehrpersonen und andere schulische Akteure können zwar ebenfalls emotionale und motivationale Unterstützung bieten, sie sind aber in erster Linie dafür verantwortlich, den Schüler/innen (im Berufswahlunterricht oder in Informationsveranstaltungen) grundlegende Informationen über Berufe und Ausbildungen zu vermitteln, Berufswahlprozesse zu initiieren und zu begleiten (vgl. Neuenschwander et al. 2010). Zudem können sie als Vermittler bei der Lehrstellensuche fungieren (vgl. Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006). Auch außerschulisch-institutionelle und betriebliche Beratungsangebote und ihre Akteure haben in erster Linie eine informative und beratende Funktion. Anders als mit Eltern und Bezugspersonen sowie Lehrpersonen und weiteren schulischen Akteuren kommen Jugendliche mit außerschulisch-institutioneller und betrieblicher Unterstützung aber nicht zwingend und/oder nur punktuell in Kontakt (vgl. Bertossa/Haltinger/Meyer Schweizer 2008).

Abbildung 1 zeigt ferner, dass im Rahmenmodell von einer Angebot-Nutzungs-Beziehung zwischen den Jugendlichen und den unmittelbaren Umwelteinflüssen ausgegangen wird. Dementsprechend wird angenommen, dass die unmittelbaren Umweltfaktoren den Jugendlichen während des Berufsorientierungsprozesses Unterstützung anbieten, welche von den Jugendlichen aufgenommen und/oder aktiv nachgefragt, also genutzt werden kann. DiePersonen und Informationsquellen, die den genannten vier Bereichen zugeordnet werden können, werden daher auch als Unterstützungsangebote bezeichnet. Sie stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags, indem ihre Relevanz, ihre Nutzungshäufigkeit und ihre Nützlichkeit aus Sicht der Jugendlichen in den Blick genommen werden.

2.2 Forschungsstand

Soziale Unterstützung erfahren Jugendliche im Prozess der Berufsorientierung im Wesentlichen von ihren Eltern (vgl. Gaupp et al. 2008; Neuenschwander et al. 2010; Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006; Bertossa/Haltinger/Meyer Schweizer 2008; Schönenberger/Thurnherr/Brühwiler 2013).

Gemäß einer die Jahre 1979, 1994 und 2003 umfassenden repräsentativen Schweizer Trendstudie (vgl. Bertossa/Haltinger/Meyer Schweizer 2008) hatten die Eltern bzw. Erziehenden nach Angaben von jungen Erwachsenen den stärksten Einfluss auf ihre Berufswahl. Lediglich zwischen 18 % und 21 % der Jugendlichen gaben an, in ihrer Berufswahl von den Eltern bzw. Erziehenden gar nicht beeinflusst worden zu sein. Die Bedeutung der Eltern bei der Berufswahl nahm über die Jahre sogar leicht zu. Über 80 % der Jugendlichen gaben 2003 an, ihre Eltern hätten sich so um ihre Berufswahl gekümmert, wie sie es sich gewünscht hätten, und sie hätten nicht versucht, mehr Einfluss auf sie zu nehmen, als ihnen recht war. 78 % der Jugendlichen gaben an, mit den Eltern oft über die Berufswahl gesprochen zu haben, und 70 % der Jugendlichen berichteten, ihre Eltern hätten ihnen geholfen, mehrere Berufsmöglichkeiten kennen zu lernen. Einen ebenfalls starken Einfluss auf die Berufswahl wiesen Kameraden/innen, Bücher oder Schriften und Lehrpersonen auf. Weniger als 50 % der befragten Jugendlichen gaben 2003 an, von diesen Personen oder Medien bei der Berufswahl gar nicht beeinflusst worden zu sein. Eine etwas geringere Bedeutung in Berufswahlfragen wiesen Verwandte oder Bekannte, Berufsberater/innen, Radio und Fernsehen und Geschwister auf. Sie hatten 2003 bei mehr als 50 % der Jugendlichen keinen Einfluss auf die Berufswahl.

Herzog/Neuenschwander/Wannack (2006) befragten rund 500 Schweizer Jugendliche am Ende der obligatorischen Schule (rückblickend auf das 8. und das 9. Schuljahr) zur Häufigkeit von Gesprächen mit verschiedenen Personen über ihre berufliche Zukunft und den eingeschätzten Nutzen dieser Gespräche. Es zeigte sich auch in dieser Studie, dass Jugendliche am häufigsten mit ihren Eltern sprachen, um sich über ihre berufliche Zukunft zu informieren, und dass diese Gespräche für sie am hilfreichsten waren. Andere Personen aus dem familiären Umfeld der Jugendlichen (Verwandte und Geschwister) nahmen eine deutlich weniger wichtige Rolle ein. Erstgeborene Jugendliche sprachen mit ihren Geschwistern signifikant weniger häufig über ihre berufliche Zukunft als Jugendliche mit älteren Geschwistern. Freunde/innen wurden nach den Eltern als zweithäufigste Gesprächspartner/innen genannt und die Gespräche mit ihnen wurden als eher hilfreich eingeschätzt. Als dritthäufigste Gesprächspartner/innen nannten die Jugendlichen Lehrpersonen. Sie schätzten den Nutzen dieser Gespräche ebenfalls als eher hilfreich ein. Vom 8. bis zum 9. Schuljahr nahm die Gesprächshäufigkeit über die Berufswahl mit allen Personen (außer mit Freunden/innen außerhalb der Schule) signifikant ab. Zudem zeigte sich eine signifikante Abnahme des eingeschätzten Nutzens der Gespräche mit Eltern, Verwandten und Lehrpersonen (bei den Geschwistern nahm der eingeschätzte Nutzen ebenfalls ab, das Resultat war jedoch nicht signifikant). Diese Ergebnisse können dahingehend interpretiert werden, dass die Berufswahl bereits im 8. Schuljahr konkretisiert wird, die Jugendlichen deshalb weniger häufig Gespräche über ihre berufliche Zukunft führen und die geführten Gespräche als weniger hilfreich beurteilen.

Neuenschwander et al. (2010) zeigten in einer Studie mit rund 700 Auszubildenden aus dem Kanton Zürich, dass die Jugendlichen die finanzielle Hilfe ihrer Eltern (z. B. Bezahlen von Bewerbungsschreiben) als am höchsten einstuften. Sie berichteten, dass die Eltern gut über ihre Bewerbungen informiert waren und ihnen Tipps für das Schreiben der Stellenbewerbungen gaben. Formen aktiver Unterstützung der Eltern (z. B. Bewerbungsmöglichkeiten vermitteln, Lehrstelleninserate suchen) kamen dahingegen weniger häufig vor. Weibliche Jugendliche fühlten sich durch ihre Eltern besser unterstützt als männliche Jugendliche. Die Mehrheit der Auszubildenden (74 %) gab zudem an, bei der Berufswahl im 9. Schuljahr Unterstützung von Lehrpersonen erhalten zu haben. Die Qualität der Unterstützung durch Lehrpersonen wurde als gut bis sehr gut bewertet. 62 % der befragten Lernenden ließen sich im 9. Schuljahr in einem BIZ persönlich beraten. Die Qualität dieses Unterstützungsangebots wurde als eher gut beurteilt. Auszubildende mit Migrationshintergrund bewerteten die Qualität der Beratung höher als Schweizer Jugendliche.

In einer Studie von Müller (2009) gaben 70.2 % von über 5000 befragten Jugendlichen an, ein BIZ besucht zu haben. Hauptgründe für die Nicht-Nutzung dieses Unterstützungsangebots waren, dass die Jugendlichen dessen Nützlichkeit als gering einstuften oder bereits eine Lehrstelle hatten. Die Nützlichkeit der Leistungen des BIZ wurde von den Jugendlichen retrospektiv als mittelmäßig eingestuft.

Schnupperlehren und Praktika hingegen nehmen im Prozess der Berufsorientierung einen hohen Stellenwert ein und werden von den Jugendlichen als sehr nützlich bewertet (vgl. Gaupp et al. 2008; Neuenschwander et al. 2010; Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006). Gemäß Neuenschwander et al. (2010) bieten Schnupperlehren oder Praktika Jugendlichen Möglichkeiten, Einblicke in Berufe zu erhalten und konkrete Erfahrungen zu sammeln. Herzog et al. (2006) zeigten, dass Schnupperlehren sowohl im 8. als auch im 9. Schuljahr die am häufigsten eingesetzte Informations- und Suchstrategie von Jugendlichen waren, deren Ziel es war, eine Berufslehre zu absolvieren, um sich über mögliche Berufe/Anschlusslösungen zu informieren (neben Lehrstelleninseraten, dem Internet, usw.).

Zusammenfassend sind aus Sicht der Jugendlichen also die Eltern das effektivste Unterstützungsangebot, was sich auch in der Nutzungshäufigkeit zeigt. Aber auch von Lehrpersonen, Freunden/innen sowie außerschulisch-institutionellen Angeboten und Schnupperlehren fühlen sich Jugendliche während des Berufsorientierungsprozesses unterstützt. Weitgehend ungeklärt bleibt jedoch die Frage, wie die verschiedenen Unterstützungsangebote und deren Nutzung mit dem erfolgreichen Übergang in eine berufliche Ausbildung tatsächlich zusammenhängen (unabhängig von der subjektiven Einschätzung der Jugendlichen).

3 Forschungsfragen

Ausgehend vom vorgestellten Rahmenmodell (vgl. Abschnitt 2.1) und dem skizzierten Forschungsstand (vgl. Abschnitt 2.2) beleuchtet der vorliegende Beitrag die Relevanz, Nutzungshäufigkeit und eingeschätzte Nützlichkeit diverser Unterstützungsangebote der Berufsorientierung aus der Perspektive von Jugendlichen sowie deren Zusammenhänge mit dem Erfolg bei der Lehrstellensuche. Konkreter gefasst liegen dem Aufsatz folgende Forschungsfragen zugrunde.

  1. An welchen Unterstützungsangeboten orientieren sich Jugendliche während des Berufsorientierungsprozesses und wie verändert sich die Relevanz der Unterstützungsangebote über die Zeit?
  2. Wie häufig nutzen Jugendliche verschiedene Unterstützungsangebote im Berufsorientierungsprozess und wie verändert sich die Nutzungshäufigkeit über die Zeit?
  3. Als wie hilfreich schätzen Jugendliche die genutzten Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses ein und wie verändert sich die eingeschätzte Nützlichkeit über die Zeit?
  4. Bestehen Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Zusage für eine Lehrstelle im Hinblick auf ihre Einschätzungen zur Relevanz, Nutzungshäufigkeit und Nützlichkeit von Unterstützungsangeboten?

4 Forschungsmethodologie

4.1 Forschungsdesign und Stichprobe

Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden 343 Jugendliche in der Deutschschweiz mittels Fragebogen befragt. Mit dem Ziel, dem Prozesscharakter der Berufsorientierung Rechnung zu tragen und Veränderungen hinsichtlich der interessierenden Aspekte der Berufsorientierung (Relevanz, Nutzungshäufigkeit, Nützlichkeit) zu erfassen, fanden die Datenerhebungen zu zwei Zeitpunkten statt. Die Jugendlichen wurden zum ersten Mal gegen Ende des 8. Schuljahres befragt (Sommer 2011). Zu diesem Zeitpunkt befanden sie sich inmitten des Berufsorientierungsprozesses. Die zweite Datenerhebung fand knapp ein Jahr später (Frühjahr 2012), d. h. gegen Ende des 9. Schuljahres und damit kurz vor Abschluss der obligatorischen Schulzeit statt. Die Schüler/innen befanden sich demgemäß zum zweiten Erhebungszeitpunkt in der Endphase der Berufsorientierung. Befragt wurden Real- und Sekundarschüler/innen (Sekundarstufe I) aus verschiedenen Schulen in den Kantonen St.Gallen, Thurgau und Zürich. Es wurden sowohl Schulen aus Stadtgebieten als auch Schulen aus ländlichen Regionen berücksichtigt. Bei der ersten Erhebung waren die Jugendlichen im Durchschnitt 15.05 Jahre alt (SD = 0.57). Beide Geschlechter sind in der Stichprobe nahezu gleich vertreten, da sie zu 51 % aus Schülerinnen und zu 49 % aus Schülern besteht.

4.2 Erhebungsinstrumente

Im Fragebogen wurden die Jugendlichen um Angaben zum aktuellen Stand ihrer Berufs-/Ausbildungswahl bzw. in Bezug auf alternative Anschlusslösungen gebeten. Des Weiteren umfasste der Fragebogen den Themenbereich „Unterstützungsangebote“. Die Fragen wurden den Jugendlichen zu beiden Erhebungszeitpunkten vorgelegt, so dass die betreffenden Informationen im Längsschnitt vorliegen.

Die Orientierung der Jugendlichen an diversen Unterstützungsangeboten bzw. die durch die Schüler/innen eingeschätzte Relevanz dieser wurde mit Hilfe des Items: „Auf folgende Personen höre ich, wenn es um meine Berufs-/Ausbildungswahl geht“ erhoben. Es wurden elf verschiedene Personen(gruppen) vorgegeben: Eltern/Erziehungsberechtigte, Lehrer/in, Mitarbeiter/in eines Betriebs, Berufsberater/in, Verwandte und Bekannte, Freunde/innen, Geschwister, Berufswahlcoach, Schulsozialarbeiter/in, Schulleiter/in, Casemanager/in. Die Probanden gaben den Grad ihrer Zustimmung jeweils auf einer vierstufigen Likert-Skala an (1 = stimmt überhaupt nicht, 2 = stimmt eher nicht, 3 = stimmt eher, 4 = stimmt völlig). Zudem bestand die Möglichkeit, die Option „kann ich nicht beantworten“ zu wählen.

Mit Hilfe des Items „Wie oft wurdest du bei der Berufs-/Ausbildungswahl schon unterstützt durch …?“ wurde die Nutzungshäufigkeit verschiedener Unterstützungsangebote eruiert. Einbezogen wurden diesbezüglich die gleichen elf Personen(gruppen) wie in der vorherigen Frage sowie zusätzlich Vertreter/innen einer weiterführenden Schule und vier weitere, nicht personenbezogene Unterstützungs- bzw. Informationsquellen (Informationsveranstaltungen in der Schule, BIZ, Messen und Internet). Die Nutzungshäufigkeit wurde von den Jugendlichen auf einer vierstufigen Ordinalskala (1 = nie, 2 = einmal, 3 = 2–3-mal, 4 = 4-mal oder mehr) eingeschätzt.

Sofern die Jugendlichen bei der vorherigen Frage angaben, ein Unterstützungsangebot mindestens einmal genutzt zu haben, wurden sie außerdem dazu aufgefordert, die Nützlichkeit des betreffenden Unterstützungsangebots zu bewerten. Die entsprechende Frage lautete: „Wie hilfreich war diese Unterstützung bei der Berufs-/Ausbildungswahl für dich?“ Die Einschätzung der Nützlichkeit wurde von den Jugendlichen erneut auf einer vierstufigen Likert-Skala (1 = überhaupt nicht hilfreich, 2 = ein wenig hilfreich, 3 = ziemlich hilfreich, 4 = sehr hilfreich) vorgenommen.

Zum zweiten Erhebungszeitpunkt wurde außerdem erfasst, ob die Schüler/innen bereits eine verbindliche Zusage (Vertragsabschluss) für eine Lehrstelle besitzen. Die entsprechende Frage war von den Jugendlichen mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten.

4.3 Datenauswertung

Um zu beschreiben, welche Relevanz Jugendliche verschiedenen Unterstützungsangeboten zuschreiben, wie häufig sie diese nutzen und inwiefern sie diese als hilfreich einstufen, wurden die Daten zu den entsprechenden Fragebogenitems (vgl. Abschnitt 4.2) deskriptiv ausgewertet.

In Bezug auf die Relevanz und die eingeschätzte Nützlichkeit der Unterstützungsangebote werden vor allem der Mittelwert (M) und – wo von Bedeutung – die Standardabweichung (SD) berichtet (vgl. Wirtz/Nachtigall 2008, 73; Brosius 2008, 357; Bühl 2006, 122; Bühner 2006, 79). Basierend auf den Mittelwerten wurde für beide Fragen jeweils eine Rangfolge der Unterstützungsangebote generiert. Dabei wurden die verschiedenen Alternativen gemäß der Ausprägung der Mittelwerte in eine Rangfolge gebracht (vgl. Diekmann 2007, 459ff.), wobei Rangplatz 1 jeweils für die Alternative mit dem höchsten Mittelwert vergeben wurde. Im Hinblick auf die Nutzungshäufigkeit der Unterstützungsangebote wird aufgrund der ordinalen Skalierung an Stelle von M und SD die Verteilung der prozentualen Häufigkeiten und wiederum eine Rangreihe (vgl. Diekmann 2007, 459ff., 669ff.) berichtet. Die Rangfolge ergab sich in diesem Zusammenhang auf Basis einer kumulierten Nutzungshäufigkeit, welche der Summe aller Schüler/innen entspricht, die das jeweilige Angebot mindestens einmal nutzten.

Um zu beurteilen, ob sich die Relevanz und die eingeschätzte Nützlichkeit über die Zeit signifikant verändern, wurden t-Tests für verbundene Stichproben durchgeführt (vgl. Brosius 2008, 474-477; Nachtigall/Wirtz 2009, 141ff.). Das Vorliegen von Differenzen in Bezug auf die ordinalskalierte Nutzungshäufigkeit der verschiedenen Unterstützungsangebote wurde mit Hilfe des Wilcoxcon-Tests untersucht (vgl. Bortz 2005, 153f.; Brosius 2008, 867ff.).

Mit dem Ziel, signifikante Differenzen zwischen Jugendlichen mit und ohne Zusage für eine Lehrstelle (gegen Ende des 9. Schuljahr) herauszuarbeiten, wurden in Bezug auf die Relevanz und die eingeschätzte Nützlichkeit t-Tests für unabhängige Stichproben (vgl. Brosius 2008; 468-474; Nachtigall/Wirtz 2009, 138-141) angewendet. Analog dazu wurden für die Aufdeckung von Unterschieden hinsichtlich der ordinalskalierten Nutzungshäufigkeit Mann-Whitney U-Tests verwendet (vgl. Bortz 2005, 150f.; Brosius 2008, 842).

5 Ergebnisbericht

5.1 Relevanz diverser Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses

5.1.1 Einschätzung der Relevanz diverser Unterstützungsangebote

Die Relevanz der Unterstützungsangebote zu beiden Erhebungszeitpunkten aus Sicht der Jugendlichen ist in Abbildung 2 dargestellt. Die Unterstützungsangebote sind dabei absteigend nach Größe des Mittelwerts zum Zeitpunkt t1 geordnet.

Abbildung 2: Eingeschätzte Relevanz von Unterstützungsangeboten zu zwei Erhebungszeitpunkten.

Anmerkungen: Signifikanzniveaus des t-Tests * p < .05, ** p < .01, *** p < .001;
t1 = Ende des 8. Schuljahres (Sommer 2011); t2 = gegen Ende des 9. Schuljahres (Frühjahr 2012)

Abbildung 2: Eingeschätzte Relevanz von Unterstützungsangeboten zu zwei Erhebungszeitpunkten.

Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Jugendlichen gegen Ende des 8. Schuljahres, sprich rund ein Jahr vor Abschluss der obligatorischen Schulzeit (Messzeitpunkt t1), hinsichtlich ihrer Berufs-/Ausbildungswahl primär an ihren Eltern orientieren. Unterstrichen wird das durch die Häufigkeitsverteilung, der zufolge 94 % der Schüler/innen eine zustimmende Antwortoption („stimmt eher“, „stimmt völlig“) bezüglich der betreffenden Frage wählen. Darüber hinaus, aber in deutlich geringerem Ausmaß, hören die Schüler/innen gemäß Rangfolge der Mittelwerte auch auf Lehrpersonen, Betriebsmitarbeitende, Berufsberater/innen sowie ferner Verwandte und Bekannte, Freunde/innen und Geschwister, wenn es um ihre Berufs-/Ausbildungswahl geht.

Auch knapp ein Jahr später, d. h. gegen Ende des 9. Schuljahres, ist für die Jugendlichen hinsichtlich der Berufsorientierung vor allem die Unterstützung der Eltern bedeutsam. Der hohe Mittelwert von 3.49 und die niedrige Standardabweichung von 0.66 belegen das, gleichermaßen wie die Tatsache, dass 94 % der Jugendlichen eine zustimmende Antwortalternative ankreuzen („stimmt eher“, „stimmt völlig“). Relevant für die Berufsorientierung sind ferner und in absteigender Reihenfolge Betriebsmitarbeitende, Berufsberater/innen sowie Personen aus dem persönlichen und schulischen Umfeld der Jugendlichen (Freunde/innen, Lehrpersonen, Geschwister, Verwandte und Bekannte).

Im Vergleich dazu besitzen weitere schulische Akteure (Schulsozialarbeiter/innen und Schulleitende) sowie Akteure außerschulisch-institutionalisierter Unterstützungsangebote (Berufswahlcoachs und Casemanager/innen) in Bezug auf die Berufsorientierung der Jugendlichen zu beiden Zeitpunkten vergleichsweise wenig Relevanz (M ≤ 2.21).

5.1.2 Veränderung der Relevanz diverser Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses

Bezogen auf die Entwicklung der Relevanz diverser Unterstützungsangebote fällt auf, dass der Einfluss von Personen aus dem persönlichen Umfeld, d. h. von Eltern, Geschwistern, Freunden/innen sowie Verwandten und Bekannten ohne Ausnahme steigt. Die Orientierung an den Geschwistern nimmt dabei während des Berufsorientierungsprozesses in signifikantem Ausmaß zu (t = -2.176; p < .05). Im Gegensatz dazu büßen ausnahmslos alle schulischen (Lehrpersonen, Schulleitende, Schulsozialarbeiter/innen), betrieblichen (Betriebsmitarbeitende) und außerschulisch-institutionalisierten (Berufsberater/innen, Berufswahlcoach, Casemanager/innen) Unterstützungsangebote über die Zeit an Bedeutung für die Berufsorientierung der Jugendlichen ein. Für die Lehrpersonen (t = 5.711; p < .001) und die Berufsberater/innen (t = 2.429; p < .05) ist dabei ein signifikanter Bedeutungsverlust zu verzeichnen.

Die Größe der Stichprobe (n) in den einzelnen t-Tests weicht teilweise stark (z. B. bezüglich Casemanager/in; siehe Abbildung 2) von der Anzahl der an den Fragebogenerhebungen teilnehmenden Schüler/innen (n = 343) ab. Das ist großteils darauf zurückzuführen, dass viele Jugendliche von der Antwortoption „kann ich nicht beantworten“ Gebrauch machen. Es ist zu vermuten, dass die Schüler/innen mit den betreffenden Unterstützungsangeboten nicht in Kontakt kommen.

5.2 Nutzungshäufigkeit diverser Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses

5.2.1 Nutzungshäufigkeit diverser Unterstützungsangebote

Wie häufig die verschiedenen Unterstützungsangebote inmitten und gegen Ende des Berufsorientierungsprozesses von den Jugendlichen genutzt werden, ist in Abbildung 3 graphisch dargestellt. Die Unterstützungsangebote sind in diesem Zusammenhang absteigend nach ihrer kumulativen Nutzungshäufigkeit zum Zeitpunkt t1 (vgl. Abschnitt 4.3) sortiert.

Abbildung 3: Nutzungshäufigkeit von Unterstützungsangeboten zu zwei Erhebungszeitpunkten.

Anmerkung: Signifikanzniveaus des Wilcoxon-Tests * p < .05, ** p < .01, *** p < .001;
t1 = Ende des 8. Schuljahres (Sommer 2011); t2 = gegen Ende des 9. Schuljahres (Frühjahr 2012)

Abbildung 3: Nutzungshäufigkeit von Unterstützungsangeboten zu zwei Erhebungszeitpunkten.

Die Schüler/innen geben rund ein Jahr vor Abschluss der obligatorischen Schulzeit (Erhebungszeitpunkt t1) fast ausnahmslos an, bei der Berufs-/Ausbildungswahl Unterstützung seitens der Eltern zu bezogen zu haben. Lediglich 1 % der befragten Jugendlichen bekundet, „nie“ von den Eltern unterstützt worden zu sein, während 67 % der Jugendlichen die Unterstützung der Eltern gar „4-mal oder mehr“ genutzt haben. Auf den Rangplätzen 2 und 3 folgen die Lehrpersonen und Internetangebote. Auch bezüglich dieser beiden Unterstützungsangebote ist der Anteil der Jugendlichen, die „nie“ von diesen Angeboten Gebrauch machten, mit 9 % und 8 % niedrig. Die Antwortoption „4-mal oder mehr“ wurde bei beiden Unterstützungsangeboten am häufigsten gewählt (je 37 %). In der Rangreihe folgen auf den weiteren Plätzen BIZ, Messen, Freunde/innen sowie Verwandte und Bekannte. Der Anteil der Jugendlichen, welche die genannten Unterstützungsangebote „nie“ nutzten, liegt jeweils bei rund einem Drittel (28 % bis 33 %). Am häufigsten wird bezüglich der Nutzungshäufigkeit dieser Angebote die Alternative „einmal“ gewählt.

Die „Spitzenposition“ der Eltern im Hinblick auf die Nutzungshäufigkeit bleibt auch zum zweiten Erhebungszeitpunkt, sprich gegen Ende des 9. Schuljahres, bestehen. Die Jugendlichen bekunden zu 79 % „4-mal oder mehr“ Elternunterstützung bezogen zu haben. Wiederum lediglich 1 % der Jugendlichen hat „nie“ die Unterstützung der Eltern bei der Berufs-/Ausbildungswahl beansprucht. Erneut folgen die Lehrpersonen auf Platz 2 der Rangreihe. Bezüglich dieses Unterstützungsangebots wurde die Antwort „nie“ am wenigsten (11 %) und die Antwort „2–3-mal“ am häufigsten (40 %) angekreuzt. Platz 3 belegen die Internetangebote. 42 % der Jugendlichen berichten, Angebote zur Berufsorientierung aus dem Internet „4-mal oder mehr“ genutzt zu haben, wohingegen 17 % der Jugendlichen „nie“ auf entsprechende Internetangebote zugriffen. In der weiteren Rangreihe folgen die Freunde/innen auf dem 4. Platz. Die Antwort „2–3-mal“ wird am häufigsten als zutreffende Nutzungshäufigkeit gewählt (32 %). Platz 5 und 6 nehmen Messen und BIZ ein, bei denen jeweils die Antwortkategorie „einmal“ überwiegt (41 % bzw. 35 %).

Hinsichtlich aller weiteren Unterstützungsangebote dominiert zu beiden Erhebungszeitpunkten die Antwortoption „nie“ (Verwandte und Bekannte [nur zu Zeitpunkt t2], Berufsberater/innen, Geschwister, Betriebsmitarbeitende, Informationsveranstaltungen in der Schule, Schulsozialarbeiter/innen, Schulleitende, Berufswahlcoachs, Vertreter/innen einer weiterführenden Schule und Casemanager/innen).

5.2.2 Veränderung der Nutzungshäufigkeit diverser Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses

Beim Vergleich der Nutzungshäufigkeiten zu beiden Erhebungszeitpunkten werden fünf signifikante Entwicklungen offensichtlich. Die Häufigkeit der Nutzung der Unterstützung durch Eltern (Z = -3.687; p < .001), Freunde/innen (Z = -2.307; p < .05) und Geschwister (Z = -2.537; p < .05) nimmt dabei in signifikantem Ausmaß zu. Alle drei Unterstützungsangebote sind dem persönlichen Umfeld zuzurechnen, so dass von einer Intensivierung der Nutzung der Unterstützung aus dem persönlichen Umfeld der Jugendlichen gesprochen werden kann. Des Weiteren nimmt auch die Nutzungshäufigkeit der Unterstützung durch Schulleitende (Z = -3.051; p < .01) signifikant zu, wohingegen eine signifikante Abnahme der Nutzungshäufigkeit von Informationsveranstaltungen der Schule (Z= -2.658; p < .01) zu verzeichnen ist.

5.3 Eingeschätzte Nützlichkeit diverser Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses

In die Auswertung dieser Frage wurden nur jene Schüler/innen einbezogen, welche bei der Frage zur Nutzungshäufigkeit angegeben hatten, das entsprechende Unterstützungsangebot mindestens einmal in Anspruch genommen zu haben. Infolge dessen ist der Stichprobenumfang bei einzelnen Unterstützungsangeboten deutlich geringer als die Anzahl der befragten Jugendlichen (Schulleiter/in [n = 17], Berufswahlcoach [n = 13], Vertreter/in einer weiterführenden Schule [n = 12], Schulsozialarbeiter/in [n = 16] und Casemanager/in [n = 1]). Das ist der Hauptgrund dafür, dass für die betreffenden Unterstützungsangebote die Stichprobengröße so gering ist (n < 30), dass der Vergleich der Mittelwerte nicht aussagekräftig ist. Deshalb werden die Resultate für diese Unterstützungsangebote aus dem nachfolgenden Ergebnisbericht in den Abschnitten 5.3.1 und 5.3.2 ausgeklammert.

5.3.1 Eingeschätzte Nützlichkeit diverser Unterstützungsangebote

Die von den Jugendlichen eingeschätzte Nützlichkeit der Unterstützungsangebote zu beiden Erhebungszeitpunkten wird in Abbildung 4 veranschaulicht. Die Unterstützungsangebote sind dabei absteigend nach Größe des Mittelwerts zum Zeitpunkt t1 angeordnet.

Abbildung 4: Eingeschätzte Nützlichkeit von Unterstützungsangeboten zu zwei Erhebungszeitpunkten.

Anmerkungen: Signifikanzniveaus des t-Tests * p < .05, ** p < .01, *** p < .001;
t1 = Ende des 8. Schuljahres (Sommer 2011); t2 = gegen Ende des 9. Schuljahres (Frühjahr 2012);

Schulleiter/in, Berufswahlcoach, Vertreter/in einer weiterführenden Schule, Schulsozialarbeiter/in und Casemanager/in werden aufgrund geringer Fallzahlen nicht dargestellt.

Abbildung 4: Eingeschätzte Nützlichkeit von Unterstützungsangeboten zu zwei Erhebungszeitpunkten.

Hinsichtlich der Bewertung der Nützlichkeit der zu Rate gezogenen Unterstützungsangebote rangieren am Ende des 8. Schuljahres die Eltern auf Platz 1. Überdies belegen die Lehrpersonen und das Internet die weiteren „Spitzenplätze. Die Jugendlichen deklarieren die Unterstützung durch Eltern, Lehrpersonen und das Internet während des Berufsorientierungsprozesses dabei im Durchschnitt als ziemlich hilfreich (3.04 ≤ M ≤ 3.39). Auch alle weiteren Unterstützungsangebote erweisen sich gemäß den schülerseitigen Einschätzungen im Mittel als ziemlich hilfreich (2.56 ≤ M ≤ 2.98). In absteigender Reihenfolge gilt das für Betriebsmitarbeitende, Berufsberater/innen, Geschwister, BIZ, Freunde/innen, Verwandte und Bekannte, Informationsveranstaltungen in der Schule und Messen.

Auch gegen Ende des 9. Schuljahres beschreiben die Jugendlichen die Unterstützung durch die Eltern als ziemlich bis sehr hilfreich (M = 3.49). Sie belegen weiterhin Platz 1 in der Rangliste der eingeschätzten Nützlichkeit. Darüber hinaus sind jedoch Veränderungen in der Rangfolge zu registrieren. So nimmt die Nützlichkeit von Internetangeboten und Geschwistern im Durchschnitt zu, was dazu führt, dass sie die nachfolgenden Plätze 2 und 3 belegen. Ihr Nutzen wird als ziemlich hilfreich bewertet (M = 3.22 bzw. M = 3.00). Gemäß den Mittelwerten klassieren die Jugendlichen darüber hinaus die Unterstützungsangebote in folgende weiterführende Rangordnung: Betriebsmitarbeitende, Lehrpersonen, Freunde/innen, Verwandte und Bekannte, Berufsberater/innen, Messen, Informationsveranstaltungen der Schule und BIZ. Wiederum gilt, dass sämtliche Unterstützungsangebote als ziemlich hilfreich beschrieben werden (2.51 ≤ M ≤ 2.97).

Die skizzierten Ergebnisse implizieren, dass ausnahmslos alle genutzten Unterstützungsangebote von den Jugendlichen in einem gewissen Maß als nützlich empfunden werden.

5.3.2 Veränderung der eingeschätzten Nützlichkeit diverser Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses

Die durchschnittliche Einschätzung der Nützlichkeit der verschiedenen Unterstützungsangebote durch die Jugendlichen verändert sich während des Berufsorientierungsprozesses deutlich. Zahlreiche signifikante Mittelwertunterschiede sind Indiz dafür. Die eingeschätzte Nützlichkeit nimmt für die Eltern (t = -2.190; p < .05), Freunde/innen (t = -2.843; p < .01), Verwandte und Bekannte (t = -2.065; p < .05) sowie für Internetangebote (t = -2.447; p < .05) signifikant zu. Im Gegensatz dazu sinkt die Nützlichkeitseinschätzung für Lehrpersonen (t = 2.630; p < .01) und BIZ (t = 3.325, p < .01) während des Berufsorientierungsprozesses in signifikantem Ausmaß. Ferner verändert sich auch die relative Bedeutung dieser beiden Unterstützungsangebote, da die Lehrpersonen vom ersten zum zweiten Erhebungszeitpunkt in der Rangreihe von Platz 2 auf Platz 5 und die BIZ von Platz 7 auf Platz 11 fallen.

5.4 Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Zusage für eine Lehrstelle hinsichtlich der Einschätzungen zur Relevanz, Nutzungshäufigkeit und Nützlichkeit diverser Unterstützungsangebote

In Bezug auf die Relevanz, die Nutzungshäufigkeit und die eingeschätzte Nützlichkeit der Unterstützungsangebote ist von Interesse, ob und inwiefern sich die Einschätzungen zwischen Jugendlichen mit und ohne Zusage für eine Lehrstelle gegen Ende des 9. Schuljahres unterscheiden. Das Herausarbeiten dieser Unterschiede ist bedeutsam, weil hierdurch möglicherweise Zusammenhänge zwischen der Nutzung und Einschätzung von Unterstützungsangeboten und dem Erfolg bei der Lehrstellensuche entdeckt werden können. Erfolg bei der Lehrstellensuche bedeutet im Rahmen dieses Beitrags, dass die Jugendlichen, welche den Wunsch äußern, eine Berufsausbildung zu absolvieren, zum Zeitpunkt der zweiten Datenerhebung über eine verbindliche Zusage (Abschluss eines Lehrvertrags) verfügen. Dieser Konvention entsprechend gelten 222 Jugendliche als erfolgreich und 24 Jugendliche als nicht erfolgreich. Während 13 Jugendliche aufgrund fehlender Angaben nicht kategorisiert werden können, werden die Angaben weiterer 84 Schüler/innen nicht in die entsprechenden Datenauswertungen einbezogen, da sie nicht den Wunsch nach einer Lehrstelle äußern und stattdessen andere Ziele verfolgen (z. B. den Besuch einer weiterführenden Schule).

5.4.1 Unterschiede bezüglich der eingeschätzten Relevanz von Unterstützungsangeboten

Der Vergleich zeigt, dass sich Schüler/innen, welche gegen Ende des 9. Schuljahres über eine verbindliche Zusage für eine Lehrstelle verfügen, zum Ende des 8. Schuljahres – d. h. zum Erhebungszeitpunkt t1 – signifikant (t = -2.578; p < .05) stärker an den Eltern orientierten (M = 3.56; SD = 0.61) als Jugendliche ohne Zusage für eine Lehrstelle (M = 3.22; SD = 0.60). Ferner besteht ein signifikanter Unterschied (t = 2.510; p < .05) hinsichtlich der eingeschätzten Relevanz der Berufsberater/innen. Jugendliche ohne Lehrvertrag zum Ende des 9. Schuljahres (M = 3.15; SD = 0.88) bewerteten die Relevanz der Berufsberater/innen im 9. Schuljahr höher als Jugendliche mit Lehrvertrag (M = 2.55; SD = 1.04).

Anders formuliert bedeuten diese Ergebnisse, dass Jugendliche ohne „Lehrstellenerfolg“ bezüglich ihrer Berufs-/Ausbildungswahl im 8. Schuljahr weniger auf die Eltern und im 9. Schuljahr mehr auf Berufsberater/innen hören als Jugendliche mit „Lehrstellenerfolg“.

5.4.2 Unterschiede bezüglich der Nutzungshäufigkeit von Unterstützungsangeboten

Schüler/innen mit Zusage für eine Lehrstelle gegen Ende des 9. Schuljahres nutzen die Elternunterstützung signifikant häufiger als Jugendliche, welche zum Zeitpunkt der zweiten Erhebung keine Zusage für eine Lehrstelle besitzen. Das gilt sowohl für den ersten (Z = -3.869; p < .001) als auch für den zweiten Erhebungszeitpunkt t2 (Z = -2.007; p < .05). Darüber hinaus ergibt der Vergleich, dass im Hinblick auf den zweiten Erhebungszeitpunkt Jugendliche ohne „Lehrstellenerfolg“ Berufsberater/innen (Z = -2.299; p < .05) und Vertreter/innen weiterführender Schulen (Z = -2.827; p < .01) signifikant häufiger nutzen als Schüler/innen mit „Lehrstellenerfolg“.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Jugendliche ohne „Lehrstellenerfolg“ die Elternunterstützung im 8. und im 9. Schuljahr weniger häufig, die Unterstützung durch Berufsberater/innen und Vertreter/innen weiterführender Schulen im 9. Schuljahr aber häufiger nutzen als Jugendliche mit „Lehrstellenerfolg“.

5.4.3 Unterschiede bezüglich der eingeschätzten Nützlichkeit von Unterstützungsangeboten

Hinsichtlich der eingeschätzten Nützlichkeit der verschiedenen Unterstützungsangebote ist ein signifikanter Unterschied zu verzeichnen. Diesem zufolge schätzen Jugendliche, die gegen Ende des 9. Schuljahres eine verbindliche Zusage für eine Lehrstelle besitzen, die Unterstützung durch die Eltern zum Zeitpunkt t1 signifikant (t = -3.175; p < .01) nützlicher ein (M = 3.47; SD = 0.64) als Schüler/innen, welche am Ende des 9. Schuljahres keinen Lehrvertrag besitzen (M = 3.00; SD = 0.91).

6 Diskussion der Ergebnisse und abschließendes Fazit

Der vorliegende Beitrag untersucht aus der Perspektive der Jugendlichen, welche Unterstützungsangebote für sie während der Berufsorientierung relevant sind, von ihnen in Anspruch genommen werden, und als wie nützlich sie diese Angebote bewerten. Die Daten wurden im Rahmen einer längsschnittlichen Untersuchungsanlage nicht retrospektiv, sondern direkt während des Berufsorientierungsprozesses im 8. und 9. Schuljahr erhoben. Es liegen folglich auch Daten zu den Unterstützungsangeboten vor, die zu einem Zeitpunkt erfasst wurden, zu dem bei den meisten Jugendlichen die Entscheidung über den Anschluss an die obligatorische Schulzeit noch nicht gefallen war.

Die Analysen zeigen, dass aus Sicht der Jugendlichen die Eltern im Prozess der Berufsorientierung eine überaus wichtige Rolle spielen. Mehr als 95 % der Jugendlichen geben an, bei der Berufsorientierung mehrmals von den Eltern unterstützt worden zu sein. Außerdem schätzen die Jugendlichen deren Unterstützung nicht nur als hilfreich ein, sondern hören auch auf ihre Eltern in Bezug auf ihre Berufs- oder Ausbildungswahl. Die Lehrpersonen sind aus Sicht der Jugendlichen die zweitwichtigste Ressource bei der Berufsorientierung. Sie liegen deutlich vor anderen schulischen Unterstützungsangeboten. Das ist insofern nachvollziehbar, weil in der Schweiz der Berufsorientierungsunterricht in der Regel von der Klassenlehrperson durchgeführt wird. Das Internet spielt als Informationsmedium ebenfalls eine wichtige Rolle. Etwa zwei Drittel aller Jugendlichen geben an, das Internet im Zusammenhang mit der Berufsorientierung mehrmals genutzt zu haben.

Die Unterstützung durch Lehrpersonen und Internetangebote wurde von den Jugendlichen als hilfreich eingeschätzt. Als noch hilfreicher wurde aber die elterliche Unterstützung bewertet, sowohl während als auch gegen Ende der beruflichen Orientierung. Insgesamt ergeben sich zwischen den beiden Messzeitpunkten kaum nennenswerte Verschiebungen in der Nutzungshäufigkeit der Unterstützungsangebote. Dies weist darauf hin, dass der Berufsorientierungsprozess in der zweiten Hälfte des 8. Schuljahres bereits deutlich fortgeschritten ist. Bezüglich der Nützlichkeitseinschätzung fällt auf, dass Personen aus dem persönlichen Umfeld (z.B. Eltern oder Freunde/innen) eher an Bedeutung gewinnen, während andere Angebote (z. B. Lehrpersonen, BIZ) im 9. Schuljahr als weniger nützlich eingestuft werden. Vermutlich wird das dadurch bedingt, dass es in dieser Phase der Berufsorientierung weniger darum geht, sich grundsätzlich mit der Berufswahl vertraut zu machen. Vielmehr geht es konkret darum, sich auf Lehrstellen zu bewerben. Die Jugendlichen scheinen daher im 9. Schuljahr im besonderen Maße die emotionale Unterstützung durch Bezugspersonen zu benötigen.

Der Vergleich der beiden Zeitpunkt zeigt, dass sich die skizzierten Gegebenheiten im Verlauf der Zeit verstärken, sprich die Jugendlichen sowohl die Relevanz (geringfügig) als auch in signifikantem Ausmaß die Nutzungshäufigkeit und Nützlichkeit der Elternunterstützung im 9. Schuljahr höher einschätzen als im 8. Schuljahr. Das steht im Widerspruch zu den Resultaten, die Herzog et al. (2006) berichten (vgl. Abschnitt 2.2).

Für die Berufsorientierung als ähnlich hilfreich wie die Lehrpersonen werden Betriebsmitarbeitende, Geschwister und (insbesondere im 8. Schuljahr) die Berufsberatung wahrgenommen. Diese Unterstützungsangebote werden aber deutlich seltener in Anspruch genommen. Etwa ähnlich oft wird auf Freunde/innen, Verwandte und Bekannte oder auf das BIZ als Unterstützungsressource zurückgegriffen. Diese werden aber als etwas weniger nützlich erlebt als Betriebsmitarbeitende, Geschwister oder die Berufsberatung.

Die übrigen erfragten Unterstützungsangebote (z. B. Schulsozialarbeiter/in oder Berufswahlcoachs) spielen eine untergeordnete Rolle und werden nur als durchschnittlich hilfreich eingeschätzt. Nichtsdestotrotz können sie in Einzelfällen, wo andere Unterstützungsangebote nicht verfügbar sind oder wenn es sich um schwer zu vermittelnde Jugendliche handelt, eine wichtige unterstützende Funktion im Berufsorientierungsprozess übernehmen.

Von besonderem Interesse ist die Frage, ob sich ein Zusammenhang zwischen der Nutzung und Bewertung von Unterstützungsangeboten und dem Erfolg bei der Lehrstellensuche finden lässt. Auch hier zeigt sich die herausragende Bedeutung der Eltern: Jugendliche, denen am Ende des 9. Schuljahrs eine Zusage für eine Lehrstelle vorlag, hatten schon ein Jahr zuvor angegeben, häufiger Unterstützung von den Eltern zu erhalten und sie schätzen die Elternunterstützung auch als hilfreicher ein als jene, die bei der Lehrstellensuche erfolglos blieben. Wer keine Lehrstelle gefunden hat, suchte häufiger Unterstützung bei der Berufsberatung oder bei Vertretern weiterführender Schulen. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass bei fehlender familiärer Unterstützung oder bei absehbaren Schwierigkeiten im Berufsorientierungsprozess – beispielsweise bei schwierig zu vermittelnden Schülerinnen und Schülern – institutionelle Unterstützungsangebote an Bedeutung gewinnen. Insofern ist es wenig erstaunlich, dass die Nützlichkeit institutioneller Angebote als geringer wahrgenommen wird als die Nützlichkeit der familiären Unterstützung. Da institutionelle Unterstützungsangebote häufiger bei Problemen beigezogen werden, werden sie bei fehlendem Erfolg bei der Suche nach einer passenden Anschlusslösung auch nicht als besonders wirksam wahrgenommen.

Die hohe Bedeutung der Eltern im Berufsorientierungsprozess mag vordergründig erstaunen, da sich Jugendliche in der Entwicklungsphase der Adoleszenz gerne von den Eltern abgrenzen wollen (z. B. Fend 2003). Offensichtlich unterscheiden aber die Jugendlichen sehr wohl zwischen verschiedenen Lebensbereichen und wählen gezielt aus, wessen Meinung ihnen jeweils wichtig ist. Für die zentrale Entwicklungsaufgabe der Berufswahl übernehmen die Eltern jedenfalls eine entscheidende Funktion – und die Jugendlichen hören auch auf sie.

Die hohe Bedeutung der Eltern bei der Berufsorientierung kann aber aus verschiedenen Gründen problematisch sein. So hängt das Unterstützungspotential der Eltern von ihren eigenen Ressourcen ab (z. B. Kenntnisse des Bildungssystems). Eltern sind nicht immer verfügbar oder können bei Schwierigkeiten im Berufsorientierungsprozess an ihre Grenzen stoßen. Aber auch ganz generell kann eine zu starke Einflussnahme problematisch sein, weil Eltern in der Regel nicht den Überblick über das ganze berufliche Spektrum und die heutigen Anforderungen und Ausbildungsmöglichkeiten aufweisen. Zudem dürften auch die eigenen beruflichen Erfahrungen den Unterstützungsprozess stark prägen. Dadurch kann der Blick auf mögliche berufliche Tätigkeiten verengt sein, was auch ein Grund dafür sein dürfte, weshalb Kinder häufiger denselben Beruf ergreifen oder zumindest in ähnlichen Berufsfeldern tätig sind, wie ihre Eltern (vgl. Neuenschwander et al. 2012; Luttenberger et al. 2014). Noch problematischer ist es, wenn dadurch Aufstiegsmöglichkeiten ungenutzt bleiben und dadurch soziale Ungleichheiten tradiert werden (vgl. Neuenschwander et al. 2012, 129).

Die berichteten Ergebnisse bestätigen die in verschiedenen Studien (z. B. Beinke 2006; Herzog et al. 2006; Müller 2009; Neuenschwander et al. 2010) gefundene große Bedeutung der Eltern. Dies ist nicht nur inhaltlich, sondern auch aus methodischer Sicht bedeutungsvoll, weil die Nutzungshäufigkeit und die selbsteingeschätzte Nützlichkeit der Unterstützungsangebote, anders als in ähnlichen Studien, auf einer längsschnittlichen Studienanlage beruhen und nicht retrospektiv am Ende des Berufsorientierungsprozesses erfasst wurden. So erfolgten die Angaben zu den Unterstützungsangeboten erstmals im 8. Schuljahr, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Jugendlichen noch nicht wussten, ob die Lehrstellensuche erfolgreich sein wird. Bei retrospektiven Befragungen besteht hingegen die Gefahr, dass Erinnerungslücken oder Wahrnehmungsverzerrungen die Ergebnisse verfälschen können. Insbesondere dürften die genutzten Unterstützungsangebote unterschiedlich bewertet werden, je nachdem ob die Lehrstellensuche erfolgreich war oder scheiterte.

Obschon die Daten in einer längsschnittlichen Untersuchungsanlage erhoben wurden, und die Ergebnisse wesentliche Befunde anderer Studien bestätigen – insofern also als valide einzustufen sind – gibt es aus methodischer Sicht einige kritische Anmerkungen, die für die Interpretation der Ergebnisse von Belang sind.

(1) So beruhen die Ergebnisse nicht auf der Grundlage einer repräsentativen Stichprobe, sondern es wurden in einem zweistufigen Verfahren zunächst Schulen und dann Klassen ausgewählt. Innerhalb der gewählten Klassen wurden aber alle Schüler/innen befragt. Dies hat den Vorteil, dass in der Stichprobe die ganze Bandbreite der künftigen Berufsfelder abgebildet ist. Es sind aber keine differenzierten Aussagen zu einzelnen Berufsfeldern möglich.

(2) Bei beiden Messzeitpunkten wurde die Frage zur Nutzungshäufigkeit identisch formuliert, nämlich „Wie oft wurdest du bei der Berufs-/Ausbildungswahl schon unterstützt durch ...?“. Aufgrund dieser Formulierung dürften zum zweiten Messzeitpunkt im 9. Schuljahr keine niedrigeren Werte vorkommen als im 8. Schuljahr. Um die Nutzungshäufigkeit von Unterstützungsangeboten während des 9. Schuljahrs zu erfassen, wäre besser danach gefragt worden, wie oft die Jugendlichen im letzten Jahr unterstützt wurden. Die Ergebnisse zur längsschnittlichen Betrachtung aus Abschnitt 5.2 sind daher mit der gebotenen Vorsicht zu interpretieren.

(3) Aus den Daten lässt sich nicht feststellen, ob bestimmte Unterstützungsangebote für die Jugendlichen gar nicht verfügbar gewesen waren und deshalb nicht genutzt werden konnten, oder ob ein Angebot nicht genutzt wurde, obwohl es prinzipiell vorhanden gewesen wäre.

(4) Während in Bezug auf die Fragen nach der Nutzungshäufigkeit und der Nützlichkeit sowohl Personen(gruppen) als auch nicht personenbezogene Unterstützungs- und Informationsquellen einbezogen wurden, fokussierte die Frage zur Orientierung an Unterstützungsangeboten ausschließlich auf Personen. In weiterführenden Studien wäre auch hinsichtlich der Orientierung an Unterstützungsangeboten die Relevanz nicht personenbezogener Unterstützungs- und Informationsquellen zu beleuchten.

In der vorliegenden Studie wurden wesentliche Befunde aus der Forschung zur Berufsorientierung bestätigt und vertieft. Insbesondere die Bedeutung der Eltern für eine gelingende Berufsorientierung konnte anhand der Längsschnittdaten erhärtet werden. Daraus ergeben sich wichtige Anschlussfragen, die noch nicht oder erst unzureichend geklärt sind:

Das Gelingen der Berufsorientierung wird im empirischen Teil dieses Beitrags mit dem Erfolg bei der Lehrstellensuche (verbindliche Zusage für eine Lehrstelle gegen Ende des 9. Schuljahres) assoziiert. In Abschnitt 2.1 wurde zudem die adäquate Berufswahl, bei der eine möglichst große Passung zwischen persönlichen Voraussetzungen und Berufserfordernissen angestrebt ist, angesprochen und als Ziel der Berufsorientierung ausgegeben. Inwiefern diese Passung bei den Jugendlichen mit Lehrstellenerfolg gegeben ist, d. h. inwiefern die gefundene Lehrstelle auch der Berufswahl oder gar dem Traumberuf der Jugendlichen entspricht, bleibt offen und wäre in weiterführenden Studien zu beleuchten.

Berufsorientierung kann im weiten Sinne als langfristiger und gar lebenslanger Prozess verstanden werden. Dementsprechend sind Unterstützungsangebote nicht nur beim Übergang von der obligatorischen Schule in die Berufsausbildung wichtig, sondern auch während und nach der beruflichen Ausbildung. Um mehr dazu zu erfahren, müsste beispielsweise die bisherige Datenbasis um weitere Messzeitpunkte während der Ausbildung und eventuell sogar nach dem Übertritt in den Beruf ergänzt werden. Gekoppelt mit der Erfassung des Ausbildungserfolgs oder der Entwicklung berufsrelevanter Kompetenzen ließen sich auch Hinweise zur längerfristigen Wirkung der Unterstützungsangebote gewinnen. Umgekehrt wäre es für eine wirksame Begleitung von Jugendlichen wichtig zu wissen, welche Unterstützungsangebote bereits vor dem 8. Schuljahr zu einer gelingenden Berufsorientierung beitragen. In den vorliegenden Analysen noch nicht ausgewertet wurden spezifische Informationen der Jugendlichen zu Schnupperlehren und Praktika.

Von Interesse wäre schließlich eine differenziertere Erfassung der Unterstützungsangebote und deren Nutzung, damit Erkenntnisse darüber gewonnen würden, welche Personen bzw. Angebote an welcher Stelle im Berufswahlprozess genutzt werden und um welche Formen der Unterstützung es sich handelt (z. B. emotionale, informationsbezogene oder prozessbezogene Unterstützung). Um exemplarisch das Zusammenspiel verschiedener Einflüsse aufzuzeigen, wären neben einer differenzierteren Erfassung der Unterstützungsangebote mittels Fragebogen auch Ergänzungen mit qualitativen Methoden im Sinne eines mixed-method-Designs hilfreich.

Auch wenn in den letzten Jahren die empirisch gesicherten Erkenntnisse zur Nutzung und zu den Wirkungen von Unterstützungsangeboten im Berufsorientierungsprozess zugenommen hat, so ist eine weitere Beschäftigung mit dieser Thematik nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht, sondern vor allem auch mit Blick auf die Optimierung des existierenden Unterstützungssystems in der Praxis von großer Bedeutung.

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Berufsorientierung als kontinuierliche Entwicklungsaufgabe – Eine empirische Studie über den Zusammenhang von Arbeitsbedingungen, Berufsbiographien und Berufsorientierung

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1 Berufsorientierung zwischen Arbeitsmarktflexibilisierung und Prekarität

Ökonomische Flexibilitätsbestrebungen, Konkurrenzdruck und Profitmaximierung forcieren Organisationsformen, die durch hohe Flexibilität, kostenbezogene Steuerung, ein marktbezogenes Leistungsprofil, Dezentralisierung, flache Hierarchien und anpassungsfähige Arbeitszeiten gekennzeichnet sind. (vgl. Baethge und Baethge-Kinsky 1998, 464f.) Die gewerbsmäßige Überlassung von Arbeitnehmern (Zeitarbeit) ist ein solches Beschäftigungsverhältnis, welches der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse Rechnung trägt. (vgl. Brinkmann et al. 2006, 8f.) Seit etwa fünf Jahrzehnten werden in Deutschland Arbeitnehmer zeitweise an andere Unternehmen überlassen, damit sie dort bspw. Auftragsspitzen oder Krankheitsausfälle abdecken.

In der Soziologie ist dahingehend von der „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ (vgl. u. a. Bosch 2001a/Hoffmann und Walwei 2000a/Hoffmann und Walwei 2000b/Mückenberger 2007/Kress 1998/Zachert 1988a/Dombois 1999) die Rede. Aus dem Blickwinkel der Berufs- und Wirtschaftspädagogik bieten sich hier Anknüpfungspunkte bspw. an die Diskussionen um die „Erosion des Berufsprinzips“. Die für das Berufskonzept typischen Merkmale der Kontinuität, Dauerhaftigkeit und Vorhersehbarkeit der Berufslaufbahn, aus einer konkreten Aufgabe abgeleitete Spezialqualifikationen und ein über den Beruf transportiertes soziales und berufliches Ansehen (vgl. Schreiber 2014, 41ff./Dostal et al. 1998, 440/Lempert 2006, 116/Stratmann 1975, 314) sind überholt, wenn Mitarbeiter, wie im Rahmen der Zeitarbeit, häufig Tätigkeitsfelder bzw. Berufe und Betriebe wechseln müssen. Qualifikationsanforderungen werden zunehmend unschärfer und eine abgeschlossene Berufsausbildung ist kein Garant für eine qualifikationsadäquate Berufsausübung. (vgl. Severing 2001, 8ff.) In der Soziologie sind dies gleichsam Merkmale, die eng an den Prekaritätsbegriff gebunden sind. (vgl. Brinkmann et al. 2006, 14f./Pietrzyk 2002, 151f./Rodgers 1989, 3/Mayer-Ahuja 2003, 15)

Darin kann sogleich die Kehrseite der Medaille gesehen werden. „Die Politik der Flexibilisierung und Prekarisierung von Erwerbsarbeit ist [damit] nichts anderes, als dem Faktor Arbeit das Prinzip der Liquidität aufzuzwingen. [...] Unternehmensleitungen geben Marktrisiken mehr und mehr an ihre Belegschaften weiter“. (Brinkmann et al. 2006, 23) Die Arbeitskraft muss in der Lage sein, zeitlich und örtlich dort zu arbeiten, wo gerade Bedarf entsteht, sich erforderliches fachliches Know-How, Qualifikationen und Kompetenzen eigenständig anzueignen und über regionale und soziale Mobilitätsbereitschaft verfügen. Nicht zuletzt führen die Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort sowie die daraus resultierende Notwendigkeit, neues Fachwissen erlernen zu müssen, zu verstärkten Diskontinuitäten von Erwerbsbiografien, zu Brüchen und Zäsuren. (vgl. König 1993/Hall et al. 2004/Behringer et al. 2004)

Das sich hieraus Konsequenzen für die Berufsorientierung ergeben, ist unschwer zu erkennen. Insbesondere häufig wechselnde Einsätze in qualifikations-/berufsfremden Tätigkeitsfeldern können dazu führen, dass eine in der Jugend getroffene Berufswahl permanent in Frage gestellt werden muss. Zeitarbeiter werden gezwungen, sich immer wieder neu beruflich zu orientieren. Berufsorientierung wird unter diesen Bedingungen zu einer immer wiederkehrenden, lebenslangen Entwicklungsaufgabe.

Dieser in Abbildung 1 dargestellte Entwicklungsprozess spannt den Rahmen für das zentrale Forschungsanliegen des vorliegenden Aufsatzes. Auf Basis einer Fragebogenerhebung innerhalb der Zeitarbeit soll der Frage nachgegangen werden, ob und wenn ja wie sich Flexibilität/Prekarität und Berufsorientierung wechselseitig bedingen.

Abbildung 1: Einordnung der ForschungsfrageAbbildung 1: Einordnung der Forschungsfrage

Diese Fragestellung spiegelt einen Teilbereich der Dissertation von Schreiber (vgl. Schreiber 2014) wider, in welcher die Zusammenhänge zwischen der Prekarität von Arbeitsverhältnissen und der beruflichen Identität untersucht wurden.Berufsorientierung wurde hier im Sinne einer Berufssicherheit konzipiert und innerhalb der Zeitarbeiterbranche erhoben. Im vorliegenden Aufsatz werden auf die o. g. Fragestellung ausgerichtete Ergebnisse dieser Untersuchung dargestellt.

2 Zeitarbeit als Synonym für Prekarität

Um untersuchen zu können, welche Zusammenhänge zwischen prekären Arbeitsbedingungen und Berufsorientierung bestehen, muss zunächst das Konstrukt der Prekarität operationalisiert werden. Aus dem lateinischen abgeleitet, steht Prekarität für:

precarius = „bedenklich, peinlich, unangenehm, unsicher, heikel, schwierig“ und

precere = „um etwas bitten müssen, etwas durch Bitten erlangen“ (Duden 2001, 1177)

Diese Zitate umfassen auch die von Bourdieu herausgearbeiteten Wirkungsmechanismen von Prekarität, die mit den Begriffen „Unsicherheit“ und „Machtlosigkeit“ umschrieben werden können und auf die subjektive Einschätzung des Individuums verweisen. Wenn von „Unsicherheit“ die Rede ist, verweist Bourdieu auf die zunehmende Instabilität von Arbeitsverhältnissen (Arbeit auf Abruf, instabile Temporärarbeit) und eine damit einhergehende Arbeitsplatzunsicherheit. Diese Ungewissheit über den Fortbestand des Beschäftigungsverhältnisses gilt als eines der wesentlichen Kriterien von Prekarität (vgl. Rodgers 1989, 3). An den stets und überall drohenden Verlust des Arbeitsplatzes sind wiederum ökonomisch-materielle Sicherheitsbedingungen wie regelmäßige Einkünfte, gebunden, die es dem Individuum durch den alltäglichen Kampf um die Existenz (vgl. Bourdieu 2000, 109) unmöglich machen, sich mit längerfristigen Lebensentwürfen auseinander zu setzen und einen kohärenten und systematischen Zukunftsplan zu entwerfen. (vgl. Bultemeier et al. 2008, 246f./Bourdieu 2004, 108f.) In der „Machtlosigkeit“ spiegeln sich u. a. die Restriktionen des Arbeitsmarktes wider, welche die Konkurrenz um eine Arbeitsstelle zur zentralen und alltäglichen Form des Kampfes um das Überleben erheben. (vgl. Hauer 2005, 2/Bourdieu 1987, 65)

Prekarität wird in diesem Aufsatz anhand der Abweichung von sozialpolitisch geforderten und gesellschaftlich etablierten Standards von Lohn-/Erwerbsarbeit definiert. Als Referenzstandard fungiert das Normalarbeitsverhältnis. (vgl. Mayer-Ahuja 2003/Keller und Seifert 2007/Kraemer und Speidel 2004/Rodgers 1989). In diesem Sinne wird Prekarität als mehrdimensionales Phänomen gefasst, welches die Ausprägung der objektiven Tätigkeitsmerkmale und deren subjektive Einschätzung beinhaltet. Die subjektive Dimension ergibt sich mit Rückgriff auf die eingangs erörterte semantische Ableitung schon alleine daraus, dass mit dem Begriff „prekär“ all diejenigen Arbeitsverhältnisse angesprochen sind, die von den Betroffenen u. U. unfreiwillig eingegangen werden müssen bzw. deren Ausgestaltung als problematisch wahrgenommen wird. (vgl. Wimmer und Neuberger 1998, 280ff.)

Schreiber (2014) hat mit Hilfe einer umfangreichen Analyse des Forschungsstandes aus dem Bereich der Prekaritätsforschung theoretischen Dimensionen von Prekarität operationalisiert und in Fragebogenitems sowie geeignete Skalen überführt. Dieser Fragebogen wurde im Rahmen einer Erhebung innerhalb der Zeitarbeitsbranche eingesetzt. Auf Basis von 153 auswertbaren Datensätzen wurden die theoretischen Dimensionen einer Faktorenanalyse unterzogen, empirisch bestätigt und in die in Abbildung 2 dargestellten Faktoren überführt. (vgl. ausführlich Schreiber 2014, 316ff.)

Abbildung 2: Faktoren der PrekaritätAbbildung 2: Faktoren der Prekarität

Neben der objektiven Einkommensprekarität in Form eines u. U. nicht existenzsichernden Bruttoeinkommens spiegeln sich in der subjektiven Einschätzung eine Zufriedenheit, eine empfundene Einkommensgerechtigkeit im Vergleich zu festangestellten Kollegen und eine Sicherheit z. B. im Fall von Arbeitslosigkeit oder zukünftigen Rentenansprüchen wider. Im Rahmen der sozialen Unsicherheit werden Einschätzungen hinsichtlich einer sozial-rechtlichen Absicherung der Zeitarbeiter in Bezug auf Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Unfall erfragt. Bei der Prekarität in der Interessenvertretung ist von Belang, ob eine zeitarbeitsspezifische Interessenvertretung existiert und wie zufrieden der Zeitarbeiter mit dieser ist. Objektiv diskontinuierlich ist eine Erwerbsbiografie u. a. dann, wenn sie durch häufige Berufs-, Betriebs- und Tätigkeitswechsel sowie qualifikationsfremde Einsätze gekennzeichnet ist. Die subjektive Komponente erfasst, inwieweit diese Bedingungen individuell positiv gedeutet werden, indem sie z. B. Möglichkeiten zur beruflichen Weiterentwicklung bieten. Ebenso erfasst werden Unsicherheits- und Existenzängste, ein mehr oder weniger stark ausgeprägter Wunsch nach einer klassischen Festanstellung mit der Orientierung am Beruf sowie die berufliche Zukunftsperspektive, die sich zwischen Hoffnung auf Veränderung und Resignation bewegen kann. Bei der Dimension der Arbeitssituation erfolgen eine qualitative Einschätzung der auszuführenden Tätigkeiten sowie die Bewertung der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz.

3 Berufsorientierung als Berufssicherheit

3.1 Berufsorientierung als Bestandteil und Ausdruck einer beruflichen Identität

Berufsorientierung wird in der vorliegenden Untersuchung als Bestandteil einer beruflichen Identität konzipiert. Ausgangspunkte für die Entwicklung einer strukturell/inhaltlichen beruflichen Identität sind die Aufnahme, Verarbeitung und Integration neuer, identitätsrelevanter Informationen durch Selbstreflexion des Individuums im beruflich/sozialen Kontext. Sie konstituiert sich durch die Aufnahme von Wissen über sich selbst, z. B. über berufliche Zukunftspläne, Fähigkeiten etc. (Innenperspektive) sowie von Wissen über die Anforderungen der Umwelt, z. B. über Karrieremöglichkeiten, Qualifikationsanforderungen etc. und Wissen über soziale/gesellschaftliche Erwartungshaltungen (Außenperspektive) und deren kognitive Verarbeitung in neue Identitätsmuster als subjektiv zufriedenstellende Balance zwischen Innen- und Außenanspruch. (vgl. Frey und Haußer 1987, 16/Keupp 1999a, 9/Nunner-Winkler 1985, 466/Krappmann 1987, 78ff.)

Ein wesentliches Strukturmerkmal von beruflicher Identität ist das berufliche Selbstkonzept. (vgl. u. a. Haeberlin und Niklas 1978/Mead 1968/James 1890) Das Selbstkonzept als „die Gesamtheit (das Ganze, die Summe, der Inbegriff usw.) der kognitiven Repräsentation der Einstellungen zur eigenen Person“ (Mummendey 2006, 38) ist sowohl beschreibender als auch bewertender Natur und speist sich aus den Erfahrungen der Lebensgeschichte. (vgl. Mummendey 1990, 79/Zoglowek 1995, 24/Straub 1991, 56f.) In ihm werden die generalisierten Erfahrungen von Fähigkeiten, Kompetenzen, Interessen und Zukunftsplänen abgespeichert. (vgl. Haußer 1995/Keupp 1999a) Betrachtet man diese inhaltlichen Komponenten des Selbstkonzeptes wird deutlich, das mit den beruflichen Interessen/Fähigkeiten und potenziellen Zukunftsplänen genau das angesprochen wird, was, wie im folgenden Kapitel noch gezeigt wird, auch Bestandteil einer Berufsorientierung ist. Diese Vorstellungen vom beruflichen Selbst können jedoch mit den aktuellen, situationsspezifischen Anforderungen in Widerspruch geraten, so dass ein Konflikt entsteht, der im Sinne einer gelungenen Identität/Berufsorientierung ausbalanciert werden muss. Bezogen auf die Zeitarbeiter kann dies z. B. der Fall sein, wenn Qualifikationsanforderungen des Arbeitsplatzes nicht den eigenen Fähigkeiten entsprechen oder ein Beruf ausgeübt wird, der nicht mit den eigenen beruflichen Interessen konform geht. Eine zufriedenstellende Balance kann dann nur gesichert werden, wenn auch die Struktur der personalen Identität flexibel gestaltet ist, der Mitarbeiter dementsprechend über flexible Zukunftspläne, Fähigkeitszuschreibungen und berufliche Interessen verfügt.

Zwei weitere, generalisierte Bestandteile von Identität sind die Selbstwirksamkeit und die Kontrollüberzeugung. Im Zusammenhang mit der Kontrollüberzeugung führt Haußer eine motivationale Komponente ein. Dabei betont er, dass insbesondere den Selbstansprüchen in Bezug auf individuelle Interessen eine besondere Bedeutung beigemessen wird, da zwischen ihnen und Identität ein enges Wechselwirkungsverhältnis besteht. (vgl. Haußer 1995, 52f.) Interessen, verstanden als subjektive Überzeugungen einer erstrebenswerten Realität, treffen auf ein gegebenes Feld gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten (vgl. Haußer 1995, 34), deren Beschaffenheit wiederum Auswirkungen auf die Kontrollüberzeugungund Selbstwirksamkeit nach sich ziehen.

Berufsorientierung ist auf Basis dieser theoretischen Überlegungen Bestandteil eines beruflichen Selbstkonzeptes (Interessen/Fähigkeiten). Selbstwirksamkeit und Kontrollüberzeugungen sind maßgeblich dafür verantwortlich, wie intensiv an der Umsetzung festgelegter Zukunftspläne gearbeitet wird. (vgl. Haußer 1995, 54ff.)

3.2 Theoretische Fundierung von Berufsorientierung als Berufssicherheit

Den theoretischen Anknüpfungspunkt zur Operationalisierung der Berufsorientierung als Berufssicherheit bietet die BerufsinteressentheorievonHolland, die wichtige Schnittstellen zu Haußer´s Theorie der Identität aufweist. Holland geht wie bereits Haußer davon aus, dass berufliche Interessen eine wichtige Äußerungsform der Persönlichkeit darstellen. (vgl. Weinrauch und Srebalus 1994, 46) Dabei wird angenommen, dass sich aus der Interessiertheit eines Menschen an bestimmten Gegenständen und Umwelten im Verlauf der Entwicklung zum Erwachsenen ein stabiles Interesse entwickelt, das in Kombination mit beruflichen Präferenzen, Werten, Motiven und Fähigkeiten das Selbst (die Identität) einer Person gestaltet. Nach Holland streben Menschen von sich aus danach, in beruflichen Umwelten tätig werden zu können, die mit ihren individuellen Interessenschwerpunkten und Fähigkeiten (Person-Umwelt-Kongruenz) übereinstimmen. (vgl. Holland 1997, 2ff. /Joerin Fux 2005, 72)

Zur detaillierteren Beschreibung von Persönlichkeitstyp und Umwelt führt Holland die Begriffe Konsistenz, Differenziertheit, Identität und Kongruenz ein. Ein konsistenter Persönlichkeitstyp besitzt ein klares Selbstkonzept und Lebensziel, welche ihm eine positive Karriere erleichtert. „Personen mit konsistenten Orientierungen [haben] klarere Interessen und stabilere persönliche Ziele [...], und [...] ihre (beruflichen) Präferenzen [können] besser vorhergesagt werden“ (Bergmann und Eder 2005, 16) Die Differenziertheit beschreibt den Grad der Eindeutigkeit des Interessenprofils im Vergleich zu dem anderer Personen. Sind Person und Umwelt nicht kongruent (Umwelt und Fähigkeiten/Interessen stimmen nicht überein), ist die Person bestrebt, die unpassende Umwelt zu verlassen (Holland 1997, 5). Die Identität beschreibt in diesem Zusammenhang den Grad der Eindeutigkeit eines Persönlichkeitsprofils im Hinblick auf Konsistenz und Differenziertheit. Berufliche Identität definiert Holland als „die Klarheit und Stabilität der Vorstellungen einer Person über ihre eigenen Interessen und Fähigkeiten, Werte und Ziele. [...]“. (Joerin Fux 2005, 154) Personen mit hoher Identität wissen, wer sie sind und was sie wollen, können sich mit Blick auf berufliche Ziele treffsicher entscheiden, zeigen stabile Berufswahlentscheidungen und eine höhere Arbeitszufriedenheit. (vgl. Joerin Fux 2005, 79)

Im Gegensatz dazu betrachtet Super (vgl. Super 1957) die Berufswahl- und Karriereentwicklung eines Menschen als lebenslangen, dynamischen Prozess in wechselseitiger Beeinflussung von affektiver, intellektueller und sozialer Entwicklung. (vgl. Kahl 1981, 105) Er geht davon aus, dass sich durch die Interaktion von Person und Umwelt und den daraus resultierenden Lernprozessen das Selbstkonzept entwickelt. Dieses beeinflusst als „Bild von sich selbst“ die Bildung von Berufspräferenzen, die Wahl des Berufes und der beruflichen Laufbahn sowie die spätere Berufszufriedenheit. Zentrale Bestandteile sind die Interessen, Fähigkeiten, Werte und Ziele einer Person. (vgl. Bergmann 2004, 366) In diesem Sinne sind berufliche Interessen, wie im vorangegangenen Kapitel angenommen, Ausdruck des Selbstkonzepts. (vgl. Rolfs 2001, 18) Personen streben daher zum Zweck der Selbstverwirklichung Berufsfelder an, die ihrem Selbstkonzept entsprechen. (vgl. Mayrhofer et al. 2002, 404) Je treffsicherer diese Entscheidungen getroffen werden, d. h. je klarer sich die Person über ihre Berufsmerkmale (z. B. Interessen, Fähigkeiten etc.) und die Anforderungen der Arbeitsumgebung ist, umso eher liegt eine Berufswahlreife vor (vgl. Seifert 2000, 185), die immer dann gegeben ist, „[…] wenn dem Alter angemessene, selbstkonzeptgemäße und realistische Berufswahl- und Laufbahnentscheidungen getroffen werden.“ (Seifert 1984, 188) Neben der planvollen Vorbereitung auf Laufbahnentscheidungen durch Selbstabklärung und Nutzung von Informationsquellen bildet also die Entschiedenheit/Sicherheit über Laufbahnziele eine wesentliche Komponente der Berufswahlreife. (vgl. Seifert 1996, 446) Lang von Wins und Triebel bezeichnen dies als Berufswahlkompetenz und ergänzen selbige um ein Ensemble von Fähigkeiten die helfen, mit aktuellen und neuen Situationen und bisher unbekannten Handlungsanforderungen zurecht zu kommen, Aufgaben auch in Zukunft gut meistern zu können und sich dafür zuständig zu erklären. (vgl. Lang-von Wins und Triebel 2006) Hier werden Parallelen zu den bereits dargestellten Identitätskomponenten der Selbstwirksamkeit und der Kontrollüberzeugung deutlich.

Letztlich handelt es sich bei diesen Konstrukten allerdings um idealtypische Muster beruflicher Entwicklung, die eng an die berufliche „Normalbiografie“ geknüpft sind. Dass dies für die hier betrachtete Gruppe der Zeitarbeiter nicht zwangsläufig Gültigkeit besitzt, wurde im Rahmen der Ausführungen zur Prekarität ausführlich erläutert. Typisch für Zeitarbeiter sind personell oder situativ bedingte Diskontinuitäten. Sie äußern sich u. U. durch eine notwendige Mobilität, welche die Ausführung verschiedener Tätigkeiten bei unterschiedlichen Institutionen an wechselnden Standorten nach sich zieht. So folgen Zeitarbeiterbiografien u. U. instabilen Laufbahnmustern, die nicht zwangsläufig mit einem im Sinne des Entwicklungsbegriffs intendierten beruflichen Aufstieg verbunden sind, sondern auch berufliche Abstiege mit sich bringen können. Mit Blick auf diese Flexibilisierungsbedingungen sind häufige berufliche Umorientierungen vonnöten, so dass fraglich ist, welche Auswirkungen dies auf eine Berufsorientierung hat. (vgl. Wiswede 2007, 191)

Zusätzlich betont Super den Einfluss von Kontextvariablen wie der sozialen Umwelt sowie Arbeitsbedingungen auf die Entstehung des Selbstkonzeptes. Besonders bedeutsam ist die Verfügbarkeit adäquater Anwendungsmöglichkeiten von Interessen, Fähigkeiten und Werten. (vgl. Sterns und Subich 2002) Mit Blick auf die u. U. prekären Arbeitsbedingungen von Zeitarbeitern stellt sich dann jedoch die Frage, was mit Menschen passiert, die zwar stabile und konsistente Interessen haben, die reale berufliche und wirtschaftliche Umwelt dafür aber keine Verwendung hat? Wenn also Menschen gesucht werden, die häufig aufgrund wechselnder „Jobs“ in der Lage sind, sich immer wieder auf neue Tätigkeitsfelder einzustellen und bei Bedarf schnell Neues zu lernen.

Im Folgenden wird daher insbesondere davon ausgegangen, dass vor allem eine prekäre Arbeitssituation und eine ausgeprägte Diskontinuität Auswirkungen auf die Berufssicherheit haben.

3.3 Dimensionen und Faktoren der Berufssicherheit

Aus den theoretischen Annahmen der vorgestellten Modelle wurde die in Abbildung 3 dargestellte Dimension der Berufssicherheit konstruiert. Die Idee, an dieser Stelle eine explizite Sicherheitsdimension einzufügen, speist sich auch aus den oftmals mit Prekarität in Verbindung gebrachten Unsicherheitsgefühlen. D. h. von besonderem Interesse ist die Frage, inwieweit sich dieses Unsicherheitsgefühl dahingehend zeigt, dass von einer Unsicherheit in der beruflichen Zukunftsplanung und einer nicht existenten Möglichkeit der aktiven Einflussnahme auf die eigene Berufsbiografie ausgegangen wird.

Abbildung 3: Untersuchungsdimensionen/Faktoren der BerufssicherheitAbbildung 3: Untersuchungsdimensionen/Faktoren der Berufssicherheit

In Anlehnung an Holland und Super wurde die Skala zur Interessenklarheit konstruiert. Hier wird zum einen deutlich, wie sicher der Zeitarbeiter einschätzen kann, welche Tätigkeiten und Aufgaben er beruflich ausüben möchte, um eine Tätigkeit gemäß der eigenen Interessenlage zu ergreifen. Zusätzlich erhoben wurde eine entsprechend flexible Haltung. Der Mitarbeiter ist bspw. in der Lage, in einer Situation, in welcher der Arbeitsmarkt restriktiv wirkt und nur bestimmte Einsatzmöglichkeiten bietet, dennoch gezielt auszuwählen, welche der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten seinem Interessen- und Fähigkeitsselbstbild am nächsten kommt. Diese Fähigkeit galt zum einen als wesentliche Komponente der Berufsreife und entspricht in dieser flexiblen Form wiederum den besonderen Bedingungen der Zeitarbeit.

Berufliche Identität respektive Berufssicherheit impliziert weiterhin eine klare und bewusste Einschätzung eigener beruflicher Fähigkeiten sowohl im Hinblick auf die konkreten Anforderungen eines Tätigkeitsfeldes als auch im Hinblick auf die Fähigkeit, die eigenen Interessen sowie berufliche Ziele und Pläne gegen äußere Hemmnisse und Widerstände durchzusetzen. Da Berufswahl wie oben gezeigt wurde keine einmalige, konstante Größe, sondern von zyklischer Natur ist, müssen Berufswahlentscheidungen immer wieder neu getroffen bzw. berufliche Übergänge bewältigt werden. Seifert verweist darauf, dass sich Berufswahlreife auch darauf bezieht, sich für eigene Entscheidungen zuständig zu fühlen und die notwendigen Informationen daher aus endogenen Faktoren und nicht aus dem Einfluss von Dritten oder situativen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu beziehen. (vgl. Seifert 1988, 195) Selbstwirksamkeit und Kontrollüberzeugung konnten somit als weitere Subdimensionen der Berufssicherheit expliziert werden. Beide Konstrukte bilden mit Rückbezug auf das Identitätsmodell von Haußer die handlungsbezogene Komponente von Identität.

Im Rahmen einer faktoranalytischen Überprüfung konnte die theoretisch hergeleitete Dimension (Berufliche Interessen) bestätigt werden (Faktor Interessenklarheit). Die Aussagen zu den Dimensionen Selbstwirksamkeit und Kontrollüberzeugungluden hingegen nicht auf jeweils einen Faktor. Die inhaltliche Gemeinsamkeit der Aussagen zum 2. Faktor beschreiben, inwieweit der Zeitarbeiter glaubt, beeinflussen zu können, ob er im gewünschten Beruf oder Tätigkeitsfeld beschäftigt wird oder aber der externe Markt vorgibt, welche Beschäftigungen/Tätigkeiten auszuüben sind. Daher wurde dieser Faktor zwar im Sinne der Kontrollüberzeugung gefasst jedoch als Tätigkeitskontrolle bezeichnet.

Faktor 3 erfasst den Glauben daran, inwieweit Zielvorstellungen über die berufliche Entwicklung (Wo will ich hin? Was will ich erreichen?) verwirklicht werden können. Das entspricht eher dem Konstrukt der Selbstwirksamkeit. Hohe Selbstwirksamkeit äußert sich darin, dass sich die Person für sich Karriereentscheidungen getroffen und berufliche Ziele entwickelt hat und daran glaubt, die Fähigkeit zu besitzen, diese verwirklichen zu können. Dieser Faktor wurde im Sinne der Selbstwirksamkeit mit dem Begriff Selbstüberzeugung umschrieben.

4 Zum Wechselwirkungsverhältnis von Berufssicherheit und Prekarität

4.1 Forschungsdesign und Berechnungsgrundlage

Fasst man die bisherigen Ausführungen zusammen, kann im Rahmen der Fragebogenstudie das in Abbildung 4 dargestellte Wechselwirkungsverhältnis von Prekarität und Berufssicherheit untersucht werden.


Abbildung 4: Forschungsleitende Indikatoren für das Wechselwirkungsverhältnis von Prekarität und BerufssicherheitAbbildung 4: Forschungsleitende Indikatoren für das Wechselwirkungsverhältnis von Prekarität und Berufssicherheit

Auf Basis motivationstheoretischer Annahmen wird zusätzlich davon ausgegangen, dass sich Erwerbstätige hinsichtlich unterschiedlicher Ausprägungsvarianten der arbeitsorientierten Motivation (materiell/extrinsisch vs. immateriell/intrinsisch) unterscheiden lassen. Der Motivtyp mit den Ausprägungen „niedrig“ und „hoch“ wurde auf Basis empirischer Arbeiten aus dem Bereich der Werteforschung definiert als eine Kombination aus inversem Alter sowie dem Ausbildungsniveau (Abstufungen: keine Ausbildung, Berufsausbildung, Fachschule o. ä., Fachhochschule, Hochschule) und dem Tätigkeitsniveau (Abstufungen: ungelernter Arbeiter, Arbeiter mit einfacher Tätigkeit, Fachkraft mit Spezialkenntnissen, qualifizierte Tätigkeit, leitende/hochqualifizierte Tätigkeit). (vgl. Hauff 2008/Heidenreich 1996/Baethge 1994) Hohe Motivtypen sind daher durch ein geringes Alter sowie ein hohes Ausbildungs- und Tätigkeitsniveau gekennzeichnet. Geringe Motivtypen haben die gegenteiligen Ausprägungen. Motivationstheoretische Annahmen (vgl. Heckhausen 2006/Schneider und Schmalt 2001/Maslow 1954/Herzberg et al. 2008) weisen darauf hin, dass zwischen dem Motivtyp und dem Prekaritätspotenzial ein negativer Zusammenhang besteht. Dies konnte im Rahmen der durchgeführten Studie durchgängig bestätigt werden (vgl. Schreiber 2014). Je höher die Ausprägung der Motivtypmerkmale sind, umso geringer ist die Prekarität des Arbeitsverhältnisses.

Daraus wurden zur Untersuchung des Wechselwirkungsverhältnisses von Prekarität und Berufssicherheit Hypothesen formuliert (vgl. Schreiber 2014, S. 289ff.) und korrelativ überprüft. Neben der Berechnung des Korrelationswertes wurden t-Tests angewandt, um zu überprüfen, ob es sich um signifikante Zusammenhänge handelt. Für die eigene Untersuchung wurde für ein Signifikanzniveau von 5 % (zweiseitig) bei n=150 ein kritischer Korrelationskoeffizient von r_{c}=0.158 (gute Korrelation) errechnet. Für ein Signifikanzniveau von 1% (zweiseitig) ist ein korrelierter Zusammenhang ab r_{c}>0.258 (sehr gute Korrelation) anzunehmen. (vgl. Schreiber 2014, 297ff.)

4.2 Berufssicherheit und Prekarität

Das Ergebnis der Korrelationsanalyse in Abbildung 5 zeigt, dass zwischen der Berufssicherheit und der Prekarität ein signifikant negativer Zusammenhang besteht.

Betrachtet man die Berufssicherheit detaillierter, indem man auf ihre Subdimensionen eingeht (siehe Abbildung 6) wird deutlich, dass sich die Zusammenhänge hauptsächlich auf die Faktoren Selbstüberzeugung und Tätigkeitskontrolle beziehen. Zwischen den Prekaritätsvariablen und der Interessenklarheit bestehen kaum signifikante Zusammenhänge.

Die subjektive Diskontinuität steht in signifikant negativem Zusammenhang zur Tätigkeitskontrolle und Selbstüberzeugung. In der Interpretation bedeutet dies: Glaubt der Zeitarbeiter, auf die Art seiner Beschäftigung und die auszuübende Tätigkeit selbst Einfluss nehmen zu können (hohe Tätigkeitskontrolle), dann wird objektive Diskontinuität in der subjektiven Wahrnehmung eher als Ausdruck von Selbstverwirklichung, individueller Freiheit und Souveränität bewertet, durch welche aktive, zukunftsorientierte Karriereziele realisiert werden können. Die Angst vor Arbeitslosigkeit und Existenzängste sind gering (geringe subjektive Diskontinuität). Personen mit gegenteiliger Ausprägung (geringe Tätigkeitskontrolle) neigen hingegen zu Anspruchsreduktion, der Aufgabe von Zielen sowie zu Resignation. Sie reagieren auf die wahrgenommenen Arbeitsmarktrestriktionen mit großen Existenzängsten und Unsicherheitsgefühlen (hohe subjektive Diskontinuität).

Abbildung 5: Korrelation zwischen Prekarität und BerufssicherheitAbbildung 5: Korrelation zwischen Prekarität und Berufssicherheit

 

Abbildung 6: Korrelationsmatrix Prekaritätsfaktoren und BerufssicherheitAbbildung 6: Korrelationsmatrix Prekaritätsfaktoren und Berufssicherheit

Hat der Zeitarbeiter für sich Karriereentscheidungen getroffen, berufliche Ziele entwickelt und glaubt daran, diese verwirklichen zu können (hohe Selbstüberzeugung), dann hat er ebenfalls geringe Existenzängste und glaubt, dass Zeitarbeit eine Übergangssituation darstellt. Es besteht noch Hoffnung auf eine wie auch immer gestaltete berufliche Veränderung. Zeitarbeit ist nicht das Ende der beruflichen Karriere (geringesubjektive Diskontinuität). Eine geringe Selbstüberzeugung bewirkt das Gegenteil. In dieser Interpretationsrichtung beeinflusst die Berufssicherheit die subjektive Diskontinuität. Genauso kann jedoch diese Einstellungs- und Verarbeitungsstrategie (subjektive Diskontinuität) die Berufssicherheit (Tätigkeitskontrolle/Selbstüberzeugung) beeinflussen.

Ebenso verhält es sich mit der objektiven Diskontinuität in Form der Häufigkeit von Berufs-/Tätigkeits-/Arbeitgeberwechseln etc. Entweder hat eine hohe Diskontinuität einen negativen Einfluss auf Tätigkeitskontrolle und Selbstüberzeugung oder aber die negative Ausprägung dieser Faktoren ist dafür verantwortlich, dass der Zeitarbeiter eher von diskontinuierlichen Arbeitsbedingungen betroffen ist.

Auch die Vermutung, dass Zusammenhänge zwischen inhaltlicher Prekarität der Arbeitssituation und den Ausprägungen von Selbstüberzeugung und Tätigkeitskontrolle bestehen, bestätigt sich. Arbeitsbedingungen, die durch abwechslungsreiche Tätigkeiten gekennzeichnet sind, die ein breitgefächertes Kompetenzrepertoire erfordern, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten bieten und durch Autonomie und Entscheidungsfreiräume gekennzeichnet sind (geringe Prekarität der inhaltlichen Arbeitssituation) gehen mit einer signifikant höheren Tätigkeitskontrolle einher. Die gleichen Auswirkungen haben eine fachliche Anerkennung und Wertschätzung sowie eine gute Integration in die Arbeitsteams (geringe Prekarität der sozialen Arbeitssituation). Auch hier kann jedoch die Tätigkeitskontrolle im Umkehrschluss dazu führen, dass die Arbeitssituation positiver bewertet wird.

Als weiteres Ergebnis kann zusammenfassend festgehalten werden, dass auch negative, Unsicherheit erzeugende Arbeitserfahrungen, wie z. B. ein prekäres Einkommen oder eine hohe soziale Unsicherheit (z. B. Arbeitsplatzunsicherheit) negativ mit der Tätigkeitskontrolle korrelieren. Selbstüberzeugung und Einkommensprekarität beeinflussen sich jedoch nicht.

4.3 Motivtyp und Berufssicherheit

Zwischen dem Motivtyp und den drei Faktoren der Berufssicherheit bestehen signifikant positive Zusammenhänge (Abbildung 7).

Je höher der Motivtyp ist, umso höher ist auch die Interessenklarheit. Das heißt, je geringer das Alter und je höher Ausbildungs- und Tätigkeitsnivau, umso konkreter sind die Vorstellung darüber, wie eine gewünschte berufliche Tätigkeit ausgestaltet sein muss, um den eigenen Fähigkeiten und Interessen zu entsprechen und umso mehr ist der Mitarbeiter in der Lage, in einer Situation, in der nur bestimmte Einsatzmöglichkeiten gegeben sind, dennoch gezielt auszuwählen, welche der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten seinem Interessen- und Fähigkeitsselbstbild am nächsten kommt (hohe Interessenklarheit). Der Zeitarbeiter verfügt also über eine entsprechend flexible Berufswahlreife. (vgl. Seifert 1983, 188)

Abbildung 7: Korrelationsmatrix Motivtyp und BerufssicherheitAbbildung 7: Korrelationsmatrix Motivtyp und Berufssicherheit

Zeitarbeiter auf höheren Ausbildungs- und Tätigkeitsebenen glauben zudem eher daran, dass sie selbst dafür verantwortlich sind und entscheidend dazu beitragen können, welche Tätigkeiten sie im Rahmen der Zeitarbeit ausüben (hohe Tätigkeitskontrolle). Zeitarbeiter mit geringeren Ausbildungs- und Tätigkeitsebenen gehen hingegen eher davon aus, dass sie kaum Möglichkeiten haben, über die Art ihrer Beschäftigung entscheidend mit zu bestimmen (geringe Tätigkeitskontrolle). Das Alter ist jedoch mir r=-0.11 kleiner als der kritische r von 0.158 und damit nicht signifikant.

Ebenso verhält es sich mit der Selbstüberzeugung. Auch hier glauben insbesondere Zeitarbeiter auf einem höheren Tätigkeitsniveau (r=0.21), dass sie ihre Berufsbiografie selbst gestalten, Karriereentscheidungen selbst treffen bzw. selbst gesteckte berufliche Ziele/Pläne eigenverantwortlich verfolgen und verwirklichen zu können. Sinkt das Tätigkeitsniveau, wird die aktuelle und zukünftige berufliche Situation eher als nicht beeinflussbar und nicht veränderbar erlebt.

Höhere Motivtypen weisen also eine insgesamt höhere Berufssicherheit auf.

5 Wirtschaftspädagogische Implikationen

Zusammenfassend zeigt sich, dass Prekarität und Berufssicherheit in einem negativen Wechselwirkungsverhältnis stehen. In einer ersten Interpretationsrichtung erschwert oder behindert demnach Prekarität die Entwicklung bzw. Aufrechterhaltung einer sicheren beruflichen Orientierung. Im Umkehrschluss kann eine geringe Berufssicherheit bzw. Berufsorientierung mit höherer Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass der Mitarbeiter eher mit objektiv bzw. subjektiv prekären Arbeitsbedingungen konfrontiert wird.

Beide Ergebnisse sind unter wirtschaftspädagogischen Gesichtspunkten relevant. Fall eins bestätigt die Aussage, dass ohne stabile Kulturform des Berufes keine berufliche Identität (vgl. u. a. Dostal et al. 1998, 440/Heinz 1995, 22) und als Teilbestandteil dieser auch keine klare Berufsorientierung entstehen kann. Für Zeitarbeiter kann also der Beruf, wenn er denn prekäre Bestandteile enthält, zur „durchaus problematischen, ambivalenten - Basis sozialer Identität und Selbstidentifizierung“ (Beck et al. 1994, 232) werden.

Auf die prekären Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt kann nur wenig Einfluss genommen werden. Politisch sind Entwicklungen, welche die Prekarität und die Erosion des Berufes fördern, entsprechend abzulehnen.

Damit ist dem Individuum allerdings nur wenig geholfen. Zentraler Ansatzpunkt für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist demnach die Förderung der Berufsorientierung:

  • Derartige Maßnahmen müssen darauf abzielen, dass der Mitarbeiter eine klare Vorstellung über die eigenen beruflichen Fähigkeiten, Interessen und Zukunftspläne entwickelt. Dabei müssen aktuelle und zukünftige, durch den Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellte Möglichkeiten mit berücksichtigt werden. Neben einer klaren Vorstellung über die gewünschte berufliche Karriereentwicklung können so auch alternative und u. U. realistischere Vorstellungen über den Verlauf der eigenen Berufsbiografie in Betracht gezogen werden (Interessenklarheit).
  • Zusätzlich geht es im Sinne der Tätigkeitskontrolle darum, trotz einer eventuell wahrgenommenen Abhängigkeit von den Bedingungen des Arbeitsmarktes und einer empfundenen Handlungsohnmacht das Vertrauen dahingehend zu stärken, dass zur Verfügung stehende berufliche Einsatzfelder und Tätigkeiten nicht wahllos und unreflektiert akzeptiert und wahrgenommen werden müssen. Das Ziel muss darin bestehen, dass Vertrauen des Arbeitnehmers dahingehend zu stärken, dass auf die Verwirklichung eigener beruflicher Ziele auch dann Einfluss genommen werden kann, wenn äußere Faktoren (z. B. eine schlechte Arbeitsmarktlage) dagegen sprechen. Wenn das der Fall ist, d. h. wenn der Mitarbeiter selbst entscheiden möchte, welche Beschäftigungen/Tätigkeiten ausgeübt werden, kann er den Arbeitsmarkt gezielt nach aktuell zur Verfügung stehenden Stellen durchsuchen, die seinem Interessen-/Fähigkeitsprofil am ehesten entsprechen und lässt sich dies nicht vom Markt diktieren.
  • Ähnlich verhält es sich mit der Selbstüberzeugung. Hier geht es darum, den Mitarbeiter dabei zu unterstützen, sich anspruchsvolle und dem eigenen Kompetenzprofil entsprechende berufliche Ziele zu setzen und sich wiederum auch bei auftretenden Schwierigkeiten dafür zu engagieren, diese zu verwirklichen. Bspw. kann der Mitarbeiter dazu befähigt werden, auch bei auf den ersten Blick ungewünschten Arbeitseinsätzen (bei Brüchen in der Erwerbsbiografie) dennoch zu reflektieren, inwieweit sich hier Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Wie kann bspw. ein momentanes Abweichen im Karriereverlauf dabei helfen, ein berufliches Ziel dennoch zu erreichen? Welche positiven Erfahrungen können auch in dieser ungewünschten Situation gesammelt, welche wichtigen Fähigkeiten weiterentwickelt werden?

Geht man davon aus, dass sich durch entsprechende Schulungsmaßnahmen im Rahmen der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung im lern- bzw. entwicklungstheoretischen Sinn etwas positiv verändert, der Mitarbeiter sich seiner beruflichen Interessen und Ziele bewusster wird und sich auch mit Nachdruck für eine Veränderung seiner beruflichen Situation engagiert, könnte dies wiederum im zeitlichen Verlauf dazu führen, dass er eine subjektiv bzw. objektiv bessere Arbeitstätigkeit erhält und sich in Richtung einer geringeren Prekarität bewegt. In der umgekehrten Interpretationsrichtung kann so das Risiko minimiert werden, mit prekären Arbeitsbedingungen konfrontiert zu werden.

Obgleich die Berufs- und Wirtschaftspädagogik auf den ersten Blick an den prekaritätsfördernden Bedingungen des Arbeitsmarktes nichts ändern kann, kann das Risiko, von prekären Arbeitsverhältnissen betroffen zu sein, über den Hebel einer gestärkten Berufsorientierung in der Aus-, Fort- und Weiterbildung minimiert werden.

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Berufsorientierung, Lebenslanges Lernen und dritter Bildungsweg – Zur Entwicklung beruflicher Orientierung im Lebenslauf anhand zweier Fallstudien

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1 Einleitung

Ein Ziel der europäischen Bildungs- und Beschäftigungspolitik ist es, die beruflichen Wahlmöglichkeiten zu erweitern. Im OECD-Bericht „Bildungs- und Berufsberatung: Bessere Verzahnung mit der öffentlichen Politik“ (2004) wird darauf hingewiesen, dass die Beratungsangebote zur Berufsorientierung auf die Erfordernisse von lebenslangen Lernprozessen anzupassen sind. Darüber hinaus sollen zunehmend persönliche und studienbezogene Orientierungshilfen in die Beratung einbezogen werden. Die Angebote der beruflichen Orientierung sollen deshalb in der Zukunft so ausgestaltet werden „[…] dass sie ebenso auf die Entwicklung von Kompetenzen zur Berufswegplanung wie auf die Bereitstellung von Informationen und die direkte Entscheidungsfindung abzielen, und sie allen Bürgern in allen Lebensphasen zu öffnen [sind] – und zwar unter Bedingungen, an Orten und zu Zeitpunkten, die den diversifizierten Bedürfnissen der Nutzer dieser Dienste gerecht werden“ (OECD 2004, 3).

Mit dieser bereits vor zehn Jahren formulierten europäischen Forderung wird auch in der politischen Programmatik das Konzept der Berufsorientierung mehr und mehr zu einer Lebenslauforientierung ausgeweitet. Durch die weiter voranschreitende Dynamik und Komplexität von Bildungs- und Beschäftigungssystemen werden Berufsbiographien weiter entstandardisiert, so dass die Individuen nicht mehr ausschließlich ihre berufliche Karriere als linearen Prozess verstehen, sondern immer öfter vor der Möglichkeit aber auch Anforderung stehen, sich beruflich neu- bzw. umzuorientieren (vgl. Eckert/Heisler 2014). Dieser Aspekt bewirkt, dass die Berufsorientierung zunehmend im Kontext des Lebenslangen Lernens diskutiert wird und sich nicht mehr nur auf die Prozesse an der ersten Schwelle fokussiert.

In der Begriffsbestimmung wird Berufsorientierung im herkömmlichen Sinne noch als ein einmaliger Entscheidungsprozess gefasst, der es Schülerinnen und Schülern ermöglicht, „(…) eine rationale, d.h. zwischen subjektiven Interessen und Voraussetzungen sowie objektiven aktuellen und – soweit vorhersehbar – zukünftigen Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarktbedingungen vermittelnde Entscheidung für einen ‚Start-‚ bzw. ‚Erstberuf‘ zu treffen“ (Schudy 2002, 9). In einer erweiterten Definition wird berufliche Orientierung als ein lebenslanger Lernprozess bezeichnet, der aus einer Reihe von Bildungs-, Ausbildungs-, Weiterbildungs-, Berufs- und Arbeitsplatzentscheidungen besteht und in dem die Individuen zu einer permanenten Erweiterung und Vertiefung von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen befähigt werden sollen (vgl. Famulla et al. 2003, 5). Auch in der aktuellen Literatur zur Berufsorientierung wird zwar auf einen lebenslangen Lernprozess verwiesen (vgl. Kracke 2014; Büchter/Christe 2014), Forschungsarbeiten beziehen sich jedoch überwiegend auf den Übergang von der Schule in das Ausbildungssystem (vgl. u.a. Brüggemann/Rahn 2013; Beinke 2012; Walter 2010). Seltener wird im Rahmen von Berufsorientierung auch die Studienorientierung thematisiert (vgl. u.a. Lohmann/Stooss 2012; Schmidt-Koddenberg/Zorn 2012) bzw. die Berufsorientierung als ein biographischer Entscheidungsprozess im Sinne einer „lebensgeschichtlichen Gelenkstelle“ gefasst (Oram 2007, 241).

Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Berufsorientierung stärker in den Kontext des Lebenslangen Lernens einzubinden. Dafür soll anhand von zwei Fallbeispielen aus dem Forschungsprojekt „Lernbiographien von Studierenden des dritten Bildungsweges“ aufgezeigt werden, welche Bedeutung der primären Berufswahl im Lebenslauf zukommt und wie sich eine berufliche Orientierung im Lebenslauf entwickelt und von den Individuen umgesetzt wird. Der so genanntedritte Bildungsweg „[…] bezeichnet inzwischen – als Sammelbegriff – alle Wege, die ohne zusätzlichen Schulbesuch über eine berufliche Ausbildung und Tätigkeit zur Hochschule führen“ (Wolter 1994, 9), er schließt also Personen ein, die sich nach einer Berufsausbildung und einer Zeit der Berufstätigkeit dafür entscheiden, ein Studium aufzunehmen. Sie liefern damit ein exemplarisches Beispiel dafür, dass Berufsorientierung einen (Lern-)Prozess darstellt, der sich über mehrere Phasen der Bildungsbiographie erstreckt. Während an der ersten Schwelle noch diverse Personen und etablierte Institutionen beteiligt sind, um Jugendliche in diesem komplexen Prozess zu unterstützen, sind Berufstätige bei ihrer Karriereentwicklung meist auf sich gestellt. Weitet man den Blick auf berufliche Orientierung in einer Lebenslaufperspektive, so müssen die Berufsorientierungsangebote verstärkt das handelnde Subjekt in den Mittelpunkt einer biographisch orientierten Laufbahnentwicklung stellen, um den Herausforderungen im Zuge des Lebenslangen Lernens gerecht zu werden.

Der vorliegende Beitrag stellt zunächst das Forschungsprojekt, aus dem die empirischen Daten für diesen Beitrag entlehnt wurden, vor. Anschließend erfolgt eine Einordnung des Themenkomplexes in den Kontext von Berufswahltheorien. Anhand von zwei Fallbeispielen wird darauf hin der Zusammenhang zwischen Berufswahl, Berufsverlauf und Berufsorientierungen nachgezeichnet und abschließend diskutiert.

2 Projektdesign

Die zugrundeliegenden qualitativen Daten stammen aus dem Forschungsprojekt „Lernbiographien von Studierenden des dritten Bildungsweges“ und wurden im Kontext der bildungspolitischen Forderung nach einer weiteren Öffnung der Hochschulen für Studierende des dritten Bildungsweges erhoben. Aufgrund des nach wie vor niedrigen Anteils von Hochschulabsolventen in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Industrieländern (vgl. OECD 2013, 26), wird das bildungspolitische Ziel verfolgt, eine höhere Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung zu erreichen, bzw. Hochschulen für neue Zielgruppen weiter zu öffnen. Der Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) von 2009 erleichterte den Weg an die Hochschulen über eine berufliche Qualifizierung zuletzt entscheidend und wurde in den Folgejahren in unterschiedlicher Ausgestaltung von den Bundesländern in das jeweilige Landesrecht übernommen.Seit dem KMK-Beschluss von 2009 können Absolvent/inn/en von Aufstiegsfortbildungen (z. B. Meister, Techniker, Fachwirte etc.) einen Hochschulzugang für alle Studiengänge an Fachhochschulen und Universitäten erhalten, ohne dass dieser länger an die Frage der Affinität geknüpft ist. Ausbildungsabsolvent/inn/en können außerdem heute nach erfolgreicher Eignungsfeststellung in einem affinen Fach auch an Universitäten studieren, nachdem dies zuvor in den meisten Bundesländern nur an Fachhochschulen möglich war (Freitag 2012, 90f.).Trotz zahlreicher Versuche, beruflich Qualifizierte stärker an der Hochschulbildung zu beteiligen, verbleibt der Anteil von Studienanfänger/inne/n auf dem dritten Bildungsweg auch im Jahr 2011 mit 2,9% weiterhin auf einem niedrigen Niveau(vgl. Dahm/Kerst 2013, 35). Erkenntnisse über die Personen, die den so genannten dritten Bildungsweg tatsächlich gehen, existieren bislang kaum. So konstatiert auch Freitag in ihrer Expertise zum Forschungsstand des zweiten und dritten Bildungsweges, dass es an qualitativer Forschung im Bereich der Studierendenforschung fehle (vgl. Freitag 2012, 111).

Originäres Ziel des Forschungsprojektes ist, die bisher weitgehend unbekannte Gruppe beruflich qualifizierter Studierender näher zu charakterisieren. In der Untersuchung wird die Bedeutung der zentralen biographischen Lernerfahrungen in unterschiedlichen Lernumgebungen herausgearbeitet, die für die Studienentscheidung und die erfolgreiche Bewältigung des Übergangs vom Beruf in die Hochschule relevant sind (vgl. Heibült/Anslinger 2012). Dafür wurden 38 qualitative Interviews mit beruflich qualifizierten Studierenden aus unterschiedlichen Fachrichtungen zu Beginn ihres Erststudiums (Vollzeit- und Präsenzstudium) an deutschen Universitäten durchgeführt Das Projekt ist am Zentrum für Arbeit und Politik der Universität Bremen angesiedelt und wurde mit einer Laufzeit von Januar 2013 bis Dezember 2014 von der Hans-Böckler-Stiftung finanziert.

In der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material wurde ein enger Zusammenhang zwischen Lernerfahrungen und beruflicher Orientierung identifiziert. Biographische Aussagen zum schulischen und beruflichen Werdegang können des Weiteren sowohl in den Kontext des Lebenslangen Lernens als auch in das Themenfeld der Berufsorientierung eingeordnet werden. Anhand qualitativer Interviews beruflich qualifizierter Studierender auf dem dritten Bildungsweg kann u.E. eindrucksvoll gezeigt werden, inwieweit Berufsorientierung im Kontext des Lebenslangen Lernens eine zentrale Rolle einnimmt.

3 Theoretische Rahmung

In der Berufsbildungsforschung bestehen unterschiedliche Begrifflichkeiten und Verständnisse zum Themenkomplex Berufsorientierung, die in unterschiedliche Modelle von Berufswahltheorien sowie in verschiedene Disziplinen eingeordnet werden können. Dabei wird Berufsorientierung erstens als ein Allokationsprozess gesehen, in dem sich das Individuum an seine Umwelt anpasst. Berufswahltheorien, die das Individuum verstärkt in den Blick nehmen, bezeichnen Berufsorientierung zweitens als Matching- oder Entscheidungsprozesse. Fokussiert eine Theorie hingegen auf die Interaktion zwischen Umwelt und Individuum kann Berufsorientierung drittens als ein Entwicklungs- oder Lernprozess interpretiert werden (vgl. Porath 2013, 37).

Berufswahltheorien, die lediglich einzelne Bedingungsfaktoren von beruflicher Orientierung fokussieren, tragen nicht hinreichend der Komplexität moderner Berufslaufbahnen Rechnung. Wir verstehen angelehnt an Hirschi (2013) berufliche Orientierung als einen lebenslangen Lernprozess, der verschiedene berufliche Entscheidungen beinhaltet. Die Laufbahnentwicklungstheorie nach Donald Super (vgl. Super 1990) sowie die darauf aufbauenden sozial-kognitiven Theorien, eignen sich u.E. insbesondere dafür, Berufsorientierung in den lebenslangen Lernkontext zu stellen. Wir gehen davon aus, dass die berufliche Orientierung einen den Lebenslauf begleitenden Prozess darstellt, der von den Individuen Orientierungs- und Entscheidungsleistungen abverlangt, die in die persönliche Lebensgeschichte integriert werden müssen. Dabei kommt der Berufsentscheidung an der ersten Schwelle (primäre Berufswahl) eine entscheidende Rolle zu, da an dieser Stelle die Weichen für die spätere Laufbahnentwicklung gestellt werden. Allerdings ist auch festzustellen, dass Entscheidungen zu späteren Zeitpunkten nicht nur revidierbar sind, sondern an unterschiedlichen Stationen in einer Berufslaufbahn zahlreiche Optionen bestehen, zukünftig alternative berufliche Wege einzuschlagen (vgl. Oram 2007).

Um Berufsorientierung in den Kontext des Lebenslangen Lernens einzubetten ist die sozial-kognitive Theorie nach Lent, Brown und Hackett das zurzeit einflussreichste Konzept (vgl. Hirschi 2013). Es basiert auf dem psychologischen Konstrukt der Selbstwirksamkeit: „Selbstwirksamkeit beschreibt die Einschätzungen von Personen über ihre Fähigkeiten, bestimmte Handlungen zur Erreichung von bestimmten Leistungen ausführen zu können“ (ebd., 29). Interessen von Individuen entwickeln sich aufgrund bestimmter Selbstwirksamkeitserwartungen, die sich dann auf eine bestimmte Berufswahl auswirken können. Darüber hinaus führen sämtliche Lernerfahrungen „ihrerseits zur Entwicklung von Selbstwirksamkeitserwartungen“ (ebd.). Das Konzept der Selbstwirksamkeit geht auf die Theorie des sozialen Lernens von Bandura zurück. Selbstwirksamkeit wird demnach aus vier Quellen entwickelt: „aus der eigenen Erfahrung, durch Beobachtung, durch Argumentationen anderer und durch körperliche Rückmeldungen“ (Bandura 1997 zit. n. Ratschinski 2013, 245). Die Komponenten sind hierarchisch geordnet, die wichtigste Komponente ist dabei die eigene Erfahrung. Insgesamt gehen Personen mit einer hohen Selbstwirksamkeit schwierige Aufgaben eher an und verfolgen ihre Ziele mit größerer Ausdauer.

Die sozial-kognitive Theorie kann aus einer subjektiven Perspektive Interpretationen und Bedeutungszuschreibungen von Berufswahl und Laufbahnentwicklung aufzeigen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Berufslaufbahn das Ergebnis einer aktiven Auseinandersetzung mit persönlichen Entwicklungen und Lernerfahrungen ist, die im Abgleich mit der äußeren Umwelt von den Akteuren gelenkt wird. In einer retrospektiven Sicht auf die eigene Berufsorientierung und Berufslaufbahn werden von den Individuen häufig Zufälle oder Gelegenheiten identifiziert, die entscheidend für den weiteren Verlauf ihrer Karriere waren (vgl. Hirschi 2013).

Der Zusammenhang von Selbstwirksamkeitserwartungen, Lernerfahrungen, äußeren Einflüssen sowie zufälligen Gelegenheiten in der Berufsorientierung wird in der „social learning theory of career decision making“ (SLTCDM) von Krumboltz (vgl. Mitchell/Krumboltz 1990) in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses gestellt. Sie fasst das Erleben und die kognitive Analyse von positiv und negativ verstärkten Ereignissen als ein Produkt vielfältiger Lernerfahrungen, welche sowohl durch geplante aber auch durch ungeplante Situationen hervorgerufen werden. Krumboltz identifiziert vier zentrale Faktoren, die die berufliche Entscheidung von Individuen beeinflussen:

  1. Genetische Ausstattung und besondere Begabungen sind beispielsweise ethnische und soziale Herkunft, Geschlecht oder spezielle Fähigkeiten.
  2. Umweltbedingungen und -ereignisse sind beispielsweise die Art der angebotenen Ausbildungsplätze oder soziale Regeln und Verfahren bei der Auswahl von Auszubildenden.
  3. Lernerfahrungen sind individuelle und komplexe Geschichten, die zur Wahl eines bestimmten Berufsweges führen und in denen die anderen benannten Faktoren als Vorstufen gesehen werden können.
  4. Aufgaben- und Problemlösefähigkeiten entstehen aus dem Zusammenspiel von Lernerfahrungen, genetischen Merkmalen, speziellen Begabungen und Umwelteinflüssen.

Das komplexe Zusammenspiel der vier Einflussfaktoren kann vom Individuum auf vielfältige Weise interpretiert werden. Um die Komplexität individueller Lernerfahrungen zu reduzieren, nutzt das Individuum Mechanismen zur Verallgemeinerung, durch die es seine Überzeugungen zum Ausdruck bringen kann. Diese als generalisierte Selbstbeobachtungen und generalisierte Weltanschauungen bezeichneten Fähigkeiten stellt das Individuum in einen Gesamtzusammenhang bzw. inneren Sinnzusammenhang. Krumboltz betont, dass sich die dargestellten Verhaltensweisen und Entscheidungen der Berufsplanung über das ganze Leben erstrecken. Erfolgreich dabei ist der- oder diejenige, bei dem/ der dieser Weg zu einer individuellen Zufriedenheit führt (vgl. Mitchell/Krumboltz 1990, 162ff.).

Besonders relevant erscheint in dem hier dargelegten Zusammenhang, dass die genannten Theorien gleichsam die gesamte Biographie als auch die gesamten Lernerfahrungen einer Person einbeziehen. Krumboltz bezieht zusätzlich die Rolle der Umwelteinflüsse, die auf das Individuum von außen wirken, wie beispielsweise soziale, gesellschaftliche oder politische Aspekte im Lebensumfeld, mit ein. Die Konzepte verdeutlichen darüber hinaus die Komplexität beruflicher Orientierung: Mit jedem Zugewinn an Lernerfahrungen verändern sich Präferenzen, Sichtweisen und Einstellungen (generalisierte Selbstbeobachtungen und - Weltanschauungen), die wiederum den Blick erweitern oder die momentane berufliche Situation beeinflussen. So ist die Wahrnehmung jeder Lernerfahrung auch immer das Ergebnis einer früheren Lernerfahrung. Jede Lernerfahrung wird von den Individuen aufgrund der eigenen Selbstwirksamkeitserwartung neu bewertet und ggf. verändert und wirkt damit auf die berufliche Orientierung (vgl. Mitchell/Krumboltz 1990, 170).

Die Analyse der Interviews mit beruflich Qualifizierten auf dem dritten Bildungsweg zeigt, dass alle erläuterten Lernerfahrungen und Ereignisse von den Befragten in einen inneren Sinnzusammenhang gestellt werden, sich also trotz beruflicher Veränderungen für die Befragten ein roter Faden in der beruflichen Laufbahn ergibt, der bei dieser ausgewählten Zielgruppe in einem Studium gipfelt. Im Folgenden werden anhand von zwei Fallbeispielen diese umfassenden subjektiven Lernerfahrungen nachgezeichnet und aufgezeigt, welche Rolle die Berufsorientierung im Hinblick auf die Berufslaufbahn einnimmt. Ausgehend von den vier Einflussfaktoren nach Krumboltz, werden aus dem Material zentrale Einflussfaktoren herausgearbeitet, die auf die Selbstwirksamkeit und damit auch auf die Berufsorientierung einwirken.

4 Fallbeispiele[1]

4.1 Frau Berger: „Das war immer der Plan“

Frau Berger ist zum Zeitpunkt des Interviews 31 Jahre alt, gelernte Erzieherin und studiert im zweiten Fachsemester Erziehungswissenschaften.

Frau Berger besucht nach der Grundschule auf Anraten der Lehrerin die Realschule: „[…] und von daher haben dann meine Eltern gesagt, bevor ich dann überfordert bin, versuchen wir es erst mal, Abi kann ich später dann immer noch nachholen.“ (Z. 210-112) Die weichenstellende Schulwahlentscheidung kommt Frau Berger am Übergang zur Realschule entgegen, denn dadurch bleibt sie mit ihren Klassenkameraden und Freunden zusammen, die für sie eine zentrale Rolle im Leben einnehmen. Sie ist eine eher mittelmäßige Schülerin und betont mehrfach die für sie geringe Bedeutung abstrakter schulischer Lernformen: „Ich bin halt eher so ein praktischer Mensch, ich muss es dann auch machen. Und dieses schulische Lernen hat mir da nicht viel gebracht.“(Z. 264-265) Frau Berger bezeichnet sich generell als in ihrer Freizeit sehr aktive Person, was sich auch im Interesse für den Kanusport äußert, der für sie während der Schulzeit eine entscheidende Bedeutung einnimmt und über alle anderen Aktivitäten – insbesondere über das schulische Lernen – gestellt wird.

Beruflich orientiert sie sich äußerst selbstbestimmt bereits zur Realschulzeit in die soziale Richtung: „Weiß ich nicht, für mich gab es irgendwie keine Alternative. Also ich habe überhaupt nicht über irgendwas anderes nachgedacht.“ (Z. 403-404) Sie möchte eine Ausbildung zur Erzieherin mit Schwerpunkt auf den Heim- und Jugendbereich beginnen und führt diesen Entschluss auf frühe positive (berufliche) Erfahrungen als Babysitterin sowie auf das generell gute Zurechtkommen mit Kindern und Jugendlichen zurück. Sie wechselt direkt nach dem Realschulabschluss auf ein Berufskolleg mit dem Schwerpunkt frühkindliche Bildung und absolviert das dazugehörige Pflichtpraktikum in einem Kindergarten. Die Entscheidung für diesen Ausbildungsgang, der zunächst in einem anderen Schwerpunkt verortet ist, rechtfertigt sie mit ihrem Alter: „Aber da war ich, glaube ich, selber noch zu jung, um zu sagen, ich gehe in ein Jugendzentrum, weil ich wäre ja dann nicht wirklich älter gewesen als die. […] Hätte ich komisch gefunden. Von daher war ich auch noch eher so in Richtung Kindergarten, machst du jetzt erst mal […] ich habe da schon gewusst, das wird mich nicht fördern und fordern.“ (Z. 412-421) Das favorisierte Interessengebiet, die Jugendarbeit, stellt sie als Arbeitsgebiet zunächst zurück, weil sie aufgrund ihres Alters noch nicht genügend Erfahrungen und damit Selbstbewusstsein entwickelt hat, um sich den Herausforderungen in der Jugendhilfe zu stellen. Auf dem Berufskolleg bietet sich wiederum die Möglichkeit den weiteren Weg mit einigen Mitschüler/inne/n aus der allgemeinbildenden Schule zu gehen. Im zweiten Ausbildungsjahr wechselt sie dann allerdings in einen Ausbildungsgang mit dem Schwerpunkt Jugend und Freizeit. Einschlägige Erfahrungen bei einem Auslandspraktikum bestärken sie in dieser Entscheidung und in ihrem Professionsverständnis sowie in der „richtigen“ Berufswahl.

Insgesamt bewertet sie ihre Ausbildung zur Erzieherin überaus positiv und verbindet das Lernen an der Erzieherschule mit großem Spaß. Die an der Handlungsorientierung ausgerichteten Lernsettings eröffnen ihr einen neuen Zugang zum schulischen Lernen: „Also man hat ganz oft irgendwas draußen gemacht und die Sportangebote waren so ausgerichtet, dass man da irgendwie selber Spaß dran hat und nicht irgendwie ‚Ringelpiez mit Anfassen‘ macht oder ‚Teddy Bär dreh dich um‘. Das war schon eine andere Qualität, wo man selber Spaß dran hatte. So ein bisschen erlebnispädagogisch auch angehaucht alles.“(Z. 529-533)Zentral in diesem Lernprozess ist auch, dass sie ihre privaten und beruflichen Interessen verknüpfen kann. Dadurch hat sie die Möglichkeit, ihre professionelle Identität für sich optimal weiterzuentwickeln. Dieser Lernprozess bestärkt sie darin, die für sich richtige berufliche Entscheidung getroffen zu haben und am Ende der Ausbildung bei ihrem Wunschberuf, nämlich in der Jugendhilfe, angekommen zu sein. Hier wird deutlich, dass eine aktive Auseinandersetzung mit Lernerfahrungen und der persönlichen Entwicklung im Abgleich mit den äußeren Rahmenbedingungen konstituierend für die Berufslaufbahn sind.

Das Anerkennungsjahr absolviert sie im Jugendhilfezentrum ihres Heimatorts in einer Wohngruppe für Jungen im Alter von zehn bis 16 Jahren. Zur Orientierung in dem neuen Arbeitsumfeld erhält sie eine längere Eingewöhnungszeit. Für Frau Berger ist dabei von besonderer Bedeutung, dass sie von den Jugendlichen akzeptiert wird. Ihre Kolleg/inn/en unterstützen sie und geben ihr positives Feedback. Aus heutiger Sicht bezeichnet sie das Anerkennungsjahr als bewältigbar und blickt positiv auf diese Zeit zurück. Doch sie betont auch, dass sie zu Beginn überfordert war mit dem geringen Altersunterschied zu den Jugendlichen und sie sich als Neue erstmal „durchkämpfen musste“ (Z. 698): „ich hatte schon häufiger Angst oder Respekt, weil ich nicht wusste, was passiert. Gerade wenn man noch so jung ist und die ja auch teilweise dann so groß sind wie einer selbst. War halt immer so ein bisschen: ‚uh, was passiert jetzt heute Abend, wenn ich alleine bin?‘ Es ist aber nie groß was vorgefallen.“ (Z. 618-621) Derschwierige und durch Unsicherheiten geprägte Berufsstart wird durch positive Erfahrungen in der praktischen Arbeit und durch die positiven Rückmeldungen durch die Kollegen und Vorgesetzten retrospektiv als gelungen bewertet. Die Bewältigung der anfangs als schwierig empfunden Aufgaben stärken einerseits die Selbstwirksamkeitserwartung von Frau Berger, anderseits werden im Prozess der Arbeit Kompetenzen erlernt, die im Sinne von Persönlichkeitsentwicklung auch zu einer Erweiterung der beruflichen Handlungskompetenzen beitragen.

Nach dem Anerkennungsjahr wird sie übernommen und ist fast zehn weitere Jahre im Jugendhilfezentrum tätig. Während ihrer Zeit im Haus verändert sich ihr Erzieherstatus, auch aufgrund des wachsenden Altersunterschieds zu den Jugendlichen. Darüber hinaus erlangt sie ein höheres Selbstverständnis im beruflichen Alltag. Um den beruflichen Herausforderungen gerecht zu werden, absolviert sie Fortbildungen zu u.a. nonverbaler Kommunikation und aggressionsfreier Konfliktlösung, die ihr wiederum Sicherheit in der Arbeit geben. Sie machtaußerdem berufsbegleitend eine Ausbildung zur Erlebnispädagogin.Diese beschreibt sie als sehr wertvoll, da das Gelernte direkt in der Praxis umgesetzt werden kann. Hier zeigt sich erneut die Affinität zum aktiven Arbeiten draußen und dem praktischem Lernen. Nach circa sechs Jahren erhält sie das Angebot, eine Gruppe von gewalttätigen Jungen bis 14 Jahren zu übernehmen. Sie ist sich zwar unsicher, ob sie mit den Intensivtätern umgehen kann, sagt aber dennoch sofort zu, denn es ist „nochmal ein ganz anderer Rahmen und ganz andere Regeln, eine ganz andere Struktur. Und wo ich in der vorherigen Gruppe schon an einem Punkt war, an dem alles so gut lief und mir das nicht mehr reichte, habe ich mich gefragt, was danach kommt. Von daher kam dieses Jobangebot ganz passend eigentlich, weil ich glaube, ich hätte dann vielleicht noch ein Jahr da durchgezogen, aber dann hätte ich mir auch etwas anderes gesucht. […] Ich habe mich dann dafür entschieden, weil ich gedacht habe, okay, das muss man einfach auch mal ausprobieren.“ (Z. 725-736) Mit der entwickelten Sicherheit in ihrer Berufserfahrungen und der Erkenntnis, dass sie ihre Weiterbildungen sinnvoll in den beruflichen Alltag einbringen kann, fasst sie den Mut und das Selbstbewusstsein neue Herausforderungen einzugehen. Die vertikale berufliche Mobilität ermöglicht es Frau Berger, ihre beruflichen und persönlichen Kompetenzen weiter zu entwickeln und Anschlussfähigkeit an ihre Interessen und an ihr berufliches Selbstverständnis herzustellen.

Trotz der bewussten Entscheidung diese neue berufliche Gelegenheit wahrzunehmen, beschreibt sie wiederum einen schwierigen Start und einige herausfordernde Situationen in der neuen Tätigkeit: „da war ich dann wieder die Neue unter den Jungs, die in der Gruppe waren. Das heißt, der Kampf fing schon wieder von vorne an.“ (Z. 740-741)Sie bleibt trotz dieser Startschwierigkeiten vier Jahre in der Gruppe, wendet ihr professionelles Wissen an und verknüpft dieses mit persönlichen Präferenzen: Mit der Gruppe ist sie einen Großteil des Jahres draußen unterwegs, wobei sich ihre erlebnispädagogische Ausbildung als sehr nützlich erweist. Sie absolviert darüber hinaus mehrere kleinere Weiterbildungen. Zudem macht sie über zwei Jahre eine Fortbildung zu pädagogischer Arbeit mit Tätern und Opfern von Gewalterfahrungen. Auch diese Inhalte kann sie in ihren Arbeitsalltag gut integrieren: „für mich war das eine total wertvolle Fortbildung, die ich da gemacht habe. Und die jetzt auch, glaube ich, meinen Lebensweg beeinflusst hat.“(Z. 780-781) Wieder stärkt sie durch gezielte Fortbildung nicht nur ihr professionelles Handeln im Alltag, sondern erlangt persönliche Stabilität und gewinnt an Selbstbewusstsein.

Während der Beschreibung ihrer beruflichen Laufbahn wird zunehmend deutlich, dass sie den Erzieherinnenberuf sehr schätzt und hart an sich arbeitet, um ihre berufliche Identität weiterzuentwickeln. Gleichzeitig wird ihr mit der Zeit klar, dass der Berufsalltag mit seiner hohen Verantwortung sehr viel Kraft kostet und ihre innere Zufriedenheit aus dem Gleichgewicht gerät. Daher entscheidet sie im Verlauf der Berufstätigkeit, dass sie ihren Wunschberuf nicht bis zur Rente ausüben kann und setzt sich – gemeinsam mit einem Kollegen – eine Frist von zehn Jahren. Besonders bei der der Tätergruppe stößt sie bei ihrer Arbeit „mehrfach da auch vom Thema her, und von den Jungs her, an meine Grenzen […], aber nicht so, dass ich gesagt hätte, ich schaffe es nicht, ich will jetzt was anderes machen. Ich hatte natürlich auch den Ehrgeiz, die zehn Jahre voll zu machen.“ (Z. 744-747) Ein extremer Vorfall in der Gruppe kurz vor Ende der selbst gesteckten Zehn-Jahresfrist bringt sie endgültig an ihre beruflichen und persönlichen Grenzen. Den spontanen Impuls sofort zu kündigen überdenkt sie. Sie hat an sich den professionellen Anspruch die Arbeit mit den Jugendlichen gut zu Ende zu bringen und erarbeitet gemeinsam mit dem Team ein neues Konzept, um die Gruppe aufzufangen.

Nach einem halben Jahr ist die Gruppe durch die konzeptionelle Umstellung wieder gefestigt, so dass sie beschließt, die Kündigung einzureichen, um zu studieren. „Ich wechsle ja nicht von Heim ins Heim, das war für mich klar, dass das quatsch ist. Und dann habe ich überlegt: ‚was könntest du denn machen? ‘ Und da ich ja immer schon viele Fortbildungen und so gemacht habe und das auch immer toll fand, habe ich gedacht, ja, kann man mal studieren.“ (Z. 1000-1003) Frau Berger hat eine stark entwickelte professionelle Identität und die Sicherheit, dass sie auch schwere Situationen bewältigen kann. Dennoch stößt sie an ihre persönlichen Grenzen, was dazu führt, dass sie die praxisorientierte Arbeit als Erzieherin nicht mehr länger ausüben möchte. Vor allem durch die positiv besetzten Weiterbildungen traut sie sich ein Studium zu und hat konkrete Vorstellungen über ihre berufliche Zukunft nach dem Studium entwickelt. „Ja, das war immer der Plan dann, wenn ich aufhöre, dann möchte ich auch noch was dazu lernen. […] Ich gehe schon dann auch gerne zur Schule und setze mich da hin und lerne was.“ (Z. 972-976) Sie informiert sich ausschließlich via Internet über ihre Studienmöglichkeiten. Dabei denkt sie darüber nach, ob es sinnvoll wäre, soziale Arbeit zu studieren und bespricht ihre Studienfachwahl mit vielen Bekannten, die sie in eine andere Richtung leiten. Im Nachhinein ist sie froh, sich für den eher theoretisch ausgerichteten Studiengang Erziehungswissenschaften entschieden zu haben. So kann sie in ihrem angestammten Berufsfeld bleiben, nach dem Studium in die Präventivarbeit gehen und so an ihre Erfahrungen mit Intensivtätern anknüpfen. Trotz dieser Umorientierung hin zu einem Studium kann Frau Berger ihre Interessen und Kompetenzen aus dem beruflichen Zusammenhang weiterentwickeln und damit retrospektiv den roten Faden in ihrer beruflichen Biographie weiter spannen.

Anhand der vier Faktoren der beruflichen Entscheidung von Krumboltz lässt sich nachvollziehen, dass die genetische Ausstattung und besondere Begabungen sowie die Umweltbedingungen, vielfältige Lernerfahrungen sowie Aufgaben- und Problemlösefähigkeiten entscheidend die berufliche Orientierung beeinflussen: Frau Berger hat ihre Berufswahl aus der Überzeugung getroffen, dass die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ihr nicht nur Spaß macht, sondern auch ihren besonderen Begabungen entspricht. Eine explizite, institutionalisierte Berufsorientierung erfolgt zwar nicht, sie hat jedoch durch frühe praktische Lernerfahrungen in diesem Bereich ein starkes Interesse für diese Arbeit entwickelt, die durch Praktika und durch einen Auslandsaufenthalt bestätigt werden. Das hohe Weiterbildungsbestreben und die Suche nach neuen Herausforderungen sind ein Ausdruck für die Entwicklung einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung über das berufliche Handeln. Durch eine bewusste Veränderung ihrer Umweltbedingungen, über den Wechsel in eine neue Gruppe, kann sie sich neuen Inhalten zuwenden. Trotz einiger Startschwierigkeiten findet sie sich in dem neuen Feld gut zurecht und bindet ihre Lernerfahrungen aus den beruflichen Weiterbildungen aktiv in ihr berufliches Handeln ein. Tätigkeiten im Berufsfeld aber auch in der Freizeit stärken ihre Selbstwirksamkeit und werden zu einem inneren Sinnzusammenhang zusammen geführt. Der einschneidende Vorfall in der Gruppe stellt für sie eine Veränderung ihrer Umweltbedingungen dar, so dass sie ihrem professionellen Anspruch etwas zu verändern in der praktischen Arbeit nicht mehr hinreichend gerecht werden kann. Sie nimmt für sich folgerichtig eine berufliche Veränderung vor, und greift damit auf ihre Aufgaben- und Problemlösefähigkeit zurück. Daraus erwächst der Berufswunsch in den Präventivbereich zu wechseln sowie die praktischen Erfahrungen durch theoretisches Wissen anzureichern. Sie orientiert sich in Richtung eines Studiums, das sie sich durch die überaus positiven Lernerfahrungen aus der Weiterbildung zutraut. Frau Berger zeichnet sich insgesamt durch eine starke berufliche Identifikation und Professionalität aus. Dabei steht eine stringente Auseinandersetzung mit dem Berufswunsch, der beruflichen Praxis und der subjektiven Zufriedenheit im Vordergrund.

4.2 Herr Kubel: „Also ich bin Spätentwickler“

Herr Kubel ist zum Zeitpunkt des Interviews 53 Jahre alt, gelernter Koch und durch eine zweite Ausbildung auch Standesbeamter und studiert heute im 11. Semester Geschichte.

Herr Kubel wächst gemeinsam mit seiner älteren Schwester auf dem Dorf bei seiner Mutter auf. Die Eltern sind getrennt, die Mutter berufstätig. Die Kinder sind meist sich selbst überlassen. In der Grundschule kommt er zunächst gut zurecht, obwohl er sich nicht besonders anstrengt. Nach dem Wechsel auf die Realschule fangen die schulischen Probleme an: „Ich habe gesehen, Mathe, Physik war schlecht. Und dann habe ich eigentlich gar nichts mehr gemacht. Dann hatte ich fünf Fünfen und bin damit sitzen geblieben logischerweise. War mir aber auch egal, weil ich habe mich da eh nicht wohl gefühlt.“ (Z. 710-713) Die mangelhaften schulischen Leistungen führt er rückblickend auf Faulheit und mangelnde Unterstützung der Eltern zurück: „[…] weil von zu Hause eigentlich überhaupt nix kam […] Keine Unterstützung.“ (Z. 378-379) In der neuen Klasse sind seine Noten zwar in Ordnung, er strengt sich jedoch weiterhin nicht besonders an, so dass sich seine Leistungen kaum verbessern. Durch seine damalige Partnerin und deren Freunde, die das Gymnasium besuchen, wird ihm der Wert einer höheren Schulausbildung vorgelebt. Dies reflektiert Herr Kubel jedoch erst im Verlauf von Ausbildung und Berufstätigkeit. Eine Fortsetzung des Schulbesuchs nach dem Realschulabschluss zieht er aufgrund seiner Noten und der mangelnden Unterstützung durch sein Elternhaus für sich nicht in Erwägung.

Mit 16 Jahren besucht er die Berufsberatung des damaligen Arbeitsamtes, der Sachbearbeiter schlägt ihm angesichts seiner Noten handwerkliche Berufe wie beispielsweise Werkzeugmacher vor. Er möchte keine „Schmiere“ an den Fingern, nicht mit Metall arbeiten oder im Blaumann rumlaufen, sondern ins Büro. Doch der Berufsberater rät davon ab: „nee, mit dem Zeugnis sowieso nicht. Und dann […] Koch habe ich da noch. Und dann meine Mutter: ‚ach, was für ein schöner Beruf!‘“ (Z. 879-881) Er stellt sich bei der vom Arbeitsamt vorgeschlagenen Stelle als Koch vor, die auch seine Mutter für geeignet hält und wird genommen. Allerdings hadert er mit seiner Entscheidung: „naja, jetzt habe ich nur mittlere Reife und mache so eine popelige Ausbildung, die ich gar nicht will. […]Und da habe ich dann so mir gedacht, naja gut, von zu Hause kam ja auch nix […] ja, was willst denn machen? Ja. Bist mit der Schule fertig, jetzt musst du eine Lehre machen […] ja gut, dann mache ich eine Lehre. Ich war einfach zu blöd auch noch, um das überhaupt zu begreifen, dass man eine vernünftige […] Schulbildung haben muss, um später auch etwas Vernünftiges [zu lernen; Anm. d. Ver.].“ (Z. 550-558) Vor allem in Bezug auf seine schulische Leistungsfähigkeit hat er eine eher geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung ausgebildet. Nach der Schule in eine Berufsausbildung zu gehen ist für ihn daher der nächste logische und naheliegende Schritt. Die berufliche Orientierung sowie die Berufsentscheidung werden durch die Berufsberatung und durch seine Mutter dominiert. Er glaubt, seinen Berufswunsch – eine kaufmännische Tätigkeit im Büro – aufgrund seiner Schulleistungen nicht realisieren zu können, so dass er die Empfehlungen der Berufsberatung sowie seiner Mutter an der ersten Schwelle zunächst unreflektiert übernimmt.

Die Ausbildung ist rückblickend in Ordnung.Er findet sich damit ab, als Koch sein Geld zu verdienen. Es gibt jedoch keine Tätigkeiten in diesem Berufsfeld, die er besonders gerne macht, es muss schließlich alles gemacht werden. Das Kochen macht ihm Spaß, aber „als Beruf, nee! Niemals! Niemals!“ (Z. 966) Er realisiert, dass der Beruf unterbezahlt ist und man ungünstige Arbeitszeiten hat, was sich nicht mit seinen persönlichen Präferenzen und Zielen vereinbaren lässt. Für die Schule engagiert er sich ähnlich wenig wie in der Realschule, da auf „Hauptschulniveau“ unterrichtet wird. Er erarbeitet sich gemeinsam mit einem anderen Auszubildenden die Perspektive, nach der Ausbildung etwas „Vernünftiges“ zu machen und besucht im Anschluss an die Ausbildung für ein Jahr die Fachoberschule für Ernährung. „Ich dachte, […] ich muss wieder irgendwas Vernünftiges lernen, das geht nicht mehr so weiter!“ (Z. 993-994)Sein Ziel ist es Ernährungswissenschaften zu studieren. Er hat jedoch Probleme in den naturwissenschaftlichen Fächern: in Mathe bekommt er eine sechs, in Chemie ist er ebenfalls schlecht. Er bricht die Schule vor der Fachabiturprüfung ab, in dem Glauben, den Abschluss sowieso nicht zu schaffen, was er allerdings rückblickend bereut. Die schulischen Misserfolge und der damit verbundene geringe Glaube an die eigene (schulische) Leistungsfähigkeit führen zu einer niedrigen Selbstwirksamkeitserwartungen in Bezug auf seine Bildungsaspirationen. Er reagiert zunächst mit Resignation.

Nach einem halben Jahr der Arbeitslosigkeit findet er eine Stelle als Küchenleiter in einem öffentlichen Kindertagesheim. Trotz seines noch jungen Alters wird ihm Verantwortung übertragen, die sein Selbstbewusstsein stärkt: „Ich war auch erst 21 und hatte irgendwie schon einen Job, wo man eigentlich normalerweise ein paar Jahre für braucht. Das fand ich toll, dass man dann auch schon gleich als Küchenchef anerkannt wird. Ganz toll.“ (Z. 1308-1310) Die Stelle, angesiedelt im öffentlichen Dienst, erscheint ihm von Anfang an als gute Option, von der aus man sich weiter in Richtung öffentliche Verwaltung umorientieren kann. Er hofft, seinen ursprünglichen Berufswunsch, die „Arbeit im Büro“ über diesen Umweg realisieren zu können und beobachtet die Ausschreibungen für diverse Stellen im öffentlichen Dienst. Nach acht Jahren als Küchenchef bewirbt er sich schließlich auf eine Stelle als Hilfssachbearbeiter im Standesamt, die er trotz erheblicher finanzieller Einbußen auch kurze Zeit später antritt. Herr Kubel ergreift eine ihm sich bietende Gelegenheit und hofft, dass die berufliche Veränderung ihn zu einer inneren Zufriedenheit führt. Darüber hinaus zieht er mit seiner heutigen Ehefrau in eine erste gemeinsame Wohnung und verlässt damit den starken Einflussbereich seiner Mutter. Das Zusammenleben mit seiner Partnerin bestärkt ihn darin, über mögliche Alternativen zu seinem Beruf als Koch nachzudenken.

Rückblickend bewertet Herr Kubel die Entscheidung als gelungen. Aufgrund von Personalknappheit im Standesamt qualifiziert er sich, ohne eine explizite Weiterbildung, durch die Bearbeitung höherqualifizierter Aufgaben schnell weiter, wobei er von seinen Kolleg/inn/en und dem Chef unterstützt wird. Herr Kubel wird in das (neue) Kollegium schnell integriert, was sich auch im beruflichen Aufstieg ausdrückt: Bereits nach einem Jahr wird er drei Stufen höher eingruppiert, gleichzeitig beginnt er eine berufsbegleitende Verwaltungsausbildung für den mittleren Dienst. Im Anschluss daran durchläuft er den gleichen Prozess noch einmal für den gehobenen Dienst: „Dann habe ich irgendwann gesagt, okay, mal gucken, wo die nächste Grenze ist. […] Und ging auch alles ganz easy (lacht). […] Also ich bin Spätentwickler.“(Z. 1620-1623)Seine Leistungen in den Fortbildungen sind gut, BWL bereitet ihm als einziges Fach Probleme, insgesamt schneidet er mit einer drei ab. Seiner Meinung nach macht er jetzt im Grunde das, was er mit 16 Jahren schon hätte machen sollen. Die Arbeit auf einer Behörde fand er schon immer interessant, er fühlt sich dort wohl und die Bearbeitung der Aufgaben fällt ihm leicht. Durch die Weiterqualifizierung verändern sich nochmals seine Aufgaben – er ist jetzt Standesbeamter. Nach zehn Jahren als Standesbeamter erfährt er zufällig von einer Bekannten, dass er durch seine Berufserfahrung und Weiterqualifizierungen die Möglichkeit hat, auch ohne Abitur an der Universität ein Studium zu beginnen. In seinen Weiterbildungen sammelt er viele positive Lernerfahrungen und lernt dabei das Fach Politikgeschichte kennen und schätzen. Er informiert sich im Internet sowie bei der Studienberatung über die Studiermöglichkeiten, bewirbt sich und beginnt kurze Zeit später mit dem Studium der Geschichte: „Das fand ich unheimlich spannend. Und dann kam also nichts anderes für mich infrage als Geschichte zu studieren. Als ich wusste, dass das geht, ich hab's ja erst spät erfahren, dass man das überhaupt studieren kann […]. Sonst hätte ich wahrscheinlich schon eher angefangen. Ich könnte mir auch vorstellen, sonst hätte ich schon direkt nach dem gehobenen Dienst damit angefangen, wenn ich's gewusst hätte.“ (Z. 2104-2109) Die uneingeschränkte Unterstützung seiner Partnerin sowie zwischenmenschliche Probleme im Standesamt bestärken ihn in seiner Entscheidung. Zudem hat er in den Weiterbildungen die Erkenntnis erlangt, dass ihm Lerninhalte, die seinen Neigungen entsprechen, leicht fallen. Ihm wird bewusst, dass ihm trotz fehlender Abschlüsse der Zugang zu akademischem Wissen nicht verschlossen bleiben muss.

Die negativen Lernerfahrungen aus der Schule kann er nun endlich überwinden. Er bezeichnet sich durch die positiven Lernerfahrungen sogar mittlerweile als „Bildungsjunkie“ (Z. 2455). Nach dem Abschluss des Bachelorstudiums entscheidet er noch den Master zu absolvieren. Beruflich hat er verschiedene Ziele. Reizen würde ihn die Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter, aber seiner Einschätzung nach kann er sich auf eine solche Position nicht bewerben, da ihm dazu das nötige Wissen und die entsprechende Berufserfahrung fehlt. Realistischer findet er seine Idee, wiederum über den öffentlichen Dienst in einem Museum oder bei der Landesarchäologie zu arbeiten. Alternativ spielt er mit dem Gedanken sich selbstständig zu machen, beispielsweise mit Dienstleistungen wie z. B. familienbezogenen Recherchen.

Legt man die vier Faktoren der beruflichen Entscheidung von Krumboltz zugrunde wird in Herrn Kubels Biographie deutlich, dass die primäre Berufswahl maßgeblich durch Umweltfaktoren beeinflusst wird und seine berufliche Orientierung überlagert. Er hat an der ersten Schwelle zwar konkrete berufliche Vorstellungen, kann diese aber nicht gegenüber Dritten durchsetzen. Gründe hierfür sind die mangelnde Unterstützung aus dem Elternhaus sowie die Lernprobleme in der Schule, die eine große Unsicherheit in Bezug auf die Ausbildungswahl bedingen. Herr Kubel nimmt die Herausforderungen in seinem Erstberuf an und entwickelt mit der beruflichen Tätigkeit als Küchenchef sogar die Gewissheit, dass selbständiges Arbeiten und eine verantwortliche Tätigkeit seinen Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Daraus reift das Selbstbewusstsein nicht aufzugeben und das Ziel im Büro zu arbeiten weiter zu verfolgen, d.h. den zunächst eingeschlagenen Berufsweg irgendwann zu verlassen. Auch der Auszug aus seinem Elternhaus ermöglicht ihm seine Denk- und Handlungsweisen neu zu entfalten. Eine entscheidende Rolle nehmen dabei veränderte Umweltbedingungen ein: sein soziales Umfeld bestärkt ihn darin, sich neu zu orientieren. Letztlich findet er über die Bewerbungsstrategie im öffentlichen Dienst eine Möglichkeit, sich beruflich zu verändern, ohne zunächst weitere Lernanstrengungen im institutionalisierten Bildungssystem wahrzunehmen. Mit der Tätigkeit im Standesamt beginnt für ihn eine neue Phase der Berufstätigkeit: die Aufgaben fallen ihm leicht und er erhält uneingeschränkte Unterstützung durch die Kollegen und Vorgesetzten, die ihn in seiner Selbstwirksamkeitserwartung weiter bestärken. Motiviert durch Beförderungen stellt er sich neuen Lernsituationen und qualifiziert sich bis zum Standesbeamten. Die Option ein Studium aufzunehmen eröffnet für ihn zufällig erneut eine Möglichkeit, die er aufgrund seiner Schulbildung nie geglaubt hatte erreichen zu können. Insgesamt ist Herr Kubel an seinen Lernerfahrungen gewachsen und entwickelt über die positiven beruflichen Tätigkeiten und Weiterbildungen die Selbstwirksamkeit, die ihn zu einem geisteswissenschaftlichen Studium führt. Am Ende zeigt sich jedoch, dass die Suchbewegung von Herrn Kubel noch nicht abgeschlossen ist: er traut es sich aufgrund mangelnder Erfahrungen nicht zu, seinen eigentlichen Wunschberuf – den des wissenschaftlichen Mitarbeiters – einzuschlagen.

5 Diskussion

Die Fallbeispiele zeigen, dass der Berufsorientierung an der ersten Schwelle eine zentrale Bedeutung zukommt und die Berufswahl langfristig auf das berufliche Handeln aber auch auf die Selbstwirksamkeitserwartungen von Individuen wirkt. Durch vielfältige Lernerfahrungen in Ausbildung und Beruf konkretisieren sich Wünsche und Zielvorstellungen der Personen. Gelingt es den Individuen, aus Lernerfahrungen eine hohe Selbstwirksamkeit zu entwickeln, werden berufliche Optionen zielstrebig verfolgt oder ggf. Entscheidungen revidiert (vgl. Mitchell/Krumboltz 1990, 170). Es ist darauf zu verweisen, dass durch die Entstandardisierung der Berufswelt die Berufswahl auch zu einem späteren Zeitpunkt überdacht werden kann und Neujustierungen ermöglicht. Dies ist zunächst als eine Chance zu begreifen, erfordert aber auch von den Einzelnen erhebliche Anstrengungen, ihre individuellen Präferenzen und Möglichkeiten herauszuarbeiten. Unterstützung erfahren die in den beiden Fallbeispielen vorgestellten Personen dabei insbesondere durch das persönliche Umfeld, aber auch im beruflichen Alltag durch Kolleg/inn/en und Arbeitgeber. Dadurch werden sie darin bestärkt, die individuelle berufliche Biographie aktiv zu gestalten. Darüber hinaus sind vor allem die Weiterbildungen als eine zentrale Instanz zu identifizieren, die einerseits den beruflichen Alltag in einem positiven Sinne prägen, aber auch die persönliche Weiterentwicklung bestärken. Die darin entwickelte Selbstwirksamkeit eröffnet berufliche Orientierungen nicht nur in einer vertikalen Richtung, sondern auch auf horizontaler Ebene in Richtung einer Karriereentwicklung über ein Studium.

Im Kontext des Lebenslangen Lernens kann die Bedeutung der Berufsorientierung an der ersten Schwelle dahingehend entlastet werden, dass sich für die Individuen auf ihrem späteren Lebensweg durch zahlreiche Lernerfahrungen Gelegenheiten ergeben, sich beruflich weiter zu entwickeln. Dabei ist das Konstrukt der Selbstwirksamkeit als ein Prozess zu begreifen, der sich über berufliches Handeln weiter entwickelt. Die qualitativen Daten aus dem Forschungsprojekt „Lernbiographien beruflich Qualifizierter“ verweisen darauf, dass vielfältige Lernerfahrungen im schulischen und später im beruflichen Alltag einer Person, aber auch Einflüsse aus der Umwelt, wie Familie oder Kolleg/inn/en Perspektiven eröffnen, die in berufliches Handeln umgesetzt werden können. Die Gruppe der beruflich Qualifizierten auf dem dritten Bildungsweg zeigt damit exemplarisch die Bedeutung von Berufsorientierung im Kontext des Lebenslangen Lernens auf. Die Fallbeispiele verdeutlichen, dass es Individuen sowohl an der ersten Schwelle als auch im weiteren Lebenslauf gelingen kann, Wünsche, Fähigkeiten und Neigungen in berufliches Handeln zu überführen, um zukünftigen beruflichen Herausforderungen angemessen begegnen zu können. Zur Unterstützung von beruflicher Orientierung im Kontext des Lebenslangen Lernens steht die Etablierung von Beratungs- und Unterstützungsstrukturen sowie weitere biographieorientierte Forschung allerdings noch aus.

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[1]Alle Namen und Ortsbezeichnungen wurden anonymisiert.

Berufsorientierung im Kontext des Lebenslangen Lernens – berufspädagogische Annäherungen an eine Leerstelle der Disziplin

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1 Berufsorientierung – ein Desiderat im berufspädagogischen Diskurs

Es steht außer Frage, dass gerade Jugendliche – vor allem diejenigen, die aus so genannten bildungsfernen Milieus kommen – Unterstützung in der Berufsorientierung und der Berufswahl benötigen. Die soziale Ungleichheit, die im Schulsystem schon angelegt ist, setzt sich in der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung fort (vgl. Gillen et al. 2010). Diesen Jugendlichen muss eine besondere Förderung zuteilwerden, die ihre spezifische Situation (Alter, Herkunft, Lernerfahrungen u. Ä.) berücksichtigt. In Deutschland, und auch in anderen deutschsprachigen Ländern, hat die Erkenntnis der Bedeutung dieses spezifischen Förderbedarfs zu der Etablierung von Parallelstrukturen im Bildungssystem geführt – dem so genannten Übergangssystem. Diese poltisch-strukturellen Maßnahmen haben zwar bereits erste Erfolge gezeigt, gelöst ist das Problem der Integration benachteiligter Jugendlicher in das Bildungssystem jedoch nicht. Dies ist auch ein Grund dafür, dass sich die berufliche Förderpädagogik als Teildisziplin der Berufspädagogik akademisch ausdifferenziert. Insofern kann konstatiert werden: über die Orientierungs- und Berufswahlprobleme an der ersten Schwelle, im Übergang von der Schule zum Beruf, ist die Disziplin Berufs- und Wirtschaftspädagogik insbesondere für die Gruppe der Benachteiligten zumindest grob orientiert.

Was aber passiert nach dieser ersten Berufswahlphase? Die berufliche Orientierung muss im Kontext des Lebenslangen Lernens kontinuierlich im Lebenslauf erfolgen. Die zu erbringenden Orientierungsleistungen richten sich zum einen auf das Ausloten der individuellen Interessen und Ansprüche sowie die Zufriedenheit in und mit der Arbeit. Zum anderen sind faktisch Anpassungsleistungen an die Veränderungen der Arbeitswelt und die betrieblichen Organisationsprozesse zu erbringen. Die strukturellen und institutionellen Veränderungen führen zu Pluralisierung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen (Trinczek 2011), die letztlich für den einzelnen Arbeitnehmer in ihrer Komplexität unübersichtlich sind. Diese Orientierungsleistungen, die angesichts einer zunehmenden Flexibilisierung, Entgrenzung, Intensivierung und Subjektivierung von Arbeit jenseits der ersten Schwelle des Übergangs von der Schule in den Beruf  zu erbringen sind, werden im berufspädagogischen Diskurs kaum diskutiert.

Es wird zwar in den Veröffentlichungen zur Berufsorientierung ausdrücklich betont, dass diese im Kontext des gesamten Erwerbslebens eine große Bedeutung hat (vgl. Maier/Vogel 2013;  u. a. 2014; BIBB 2014; Brüggemann/Rahn 2013), die Frage nach den biographischen Gestaltungskompetenzen, die dazu notwendig sind, schlägt sich jedoch bisher im berufspädagogischen Diskurs nur ansatzweise nieder (vgl. zusammenfassend Kaufhold 2009). Dies verweist zum einen darauf, dass der inhaltliche Fokus der Berufs- und Wirtschaftspädagogik nach wie vor auf die Kontexte Berufsschule und Erstausbildung gerichtet ist. Zum anderen ist zu vermuten, dass dies auch einem Mangel an theoretischen Zugängen und dem Fehlen empirisch gesicherter Erkenntnisse geschuldet ist.

Gegenüber der berufspädagogischen Verkürzung auf die „Übergangsproblematik“ werden in der Psychologie berufsbezogene Entwicklungsprozesse im Kontext des Lebenslaufes betrachtet. Dabei wird davon ausgegangen, dass Menschen sich in einem sozialen Raum lebenslang weiter entwickeln, wobei sowohl die Gelegenheitsstrukturen und Möglichkeiten des sozialen und kulturellen Umfeldes als auch die persönlichen Eigenschaften determinierende Merkmale der beruflichen Orientierung sind. Im Sinne von „Karrierekonstruktionen“ wird angenommen, dass berufliche Entwicklungsprozesse einer Sinnhaftigkeit und Zielgerichtetheit folgen (vgl. Kracke 2014, 17). Positive Emotionen und internale Kontrollüberzeugungen werden als wichtigste Faktoren für die Karrierekonstruktion benannt.

Der entwicklungspsychologische Diskurs um Berufsorientierung speist sich theoretisch im Wesentlichen aus dem amerikanischen Konzept der career construction. In dieser Theorie der Laufbahnkonstruktion, die mit dem Karrierebegriff auch zugleich beruflichen Erfolg unterstellt, wird ein grundlegender Zusammenhang der individuellen Berufsorientierung und der Veränderbarkeit im Verlauf der beruflichen Sozialisation herausgestellt.  Ratschinski (2013) beschreibt die Eckpunkte einer amerikanischen Theorie der Laufbahnkonstruktion nach Mark Savickas (2002). Demnach gibt es vier Entwicklungslinien, die vier „c“: concern (Beschäftigung mit der Zukunft), Control (Entwicklung von Gefühl und Autonomie), curiosity (Erkundung und Exploration der Berufswelt) sowie confidence (Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit). Das ABC der Laufbahnkonstruktion wird in diesem Konzept als ein Zusammenwirken von attitudes (Einstellungen/Haltungen), beliefs (Überzeugungen/Meinungen) und competencies (Fähigkeit/Können) beschrieben.

Allerdings implizieren die beschriebenen Zugänge in der Regel eine enge Orientierung an den Anforderungen des Arbeitsmarktes. Diese engführende Perspektive ist aus berufspädagogischer Sicht zu überwinden und durch eine subjektorientierte Dimension zu erweitern. Büchter und Christe (2014) plädieren vor diesem Hintergrund für eine „bildungsbezogene Berufsorientierung“, in der neben den Machtverhältnissen und Interessen auch soziale und ökonomische Aspekte und eine humane Gestaltung der Arbeits- und Berufswelt eine Rolle spielen. In berufspädagogischer Perspektive ist also das Thema Berufsorientierung im Kontext der institutionellen und der bildungspolitischen Voraussetzungen als organisationale Rahmung konsequent vom Subjekt her zu denken.

Hier werden theoretische Vorüberlegungen für die Thematisierung von Orientierungsleistungen in beruflichen Kontexten zur Diskussion gestellt. Dabei geht es einerseits darum, eine subjektorientierte Perspektive einzunehmen und danach zu fragen, in welchen Situationen bzw. an welchen Übergängen besondere Orientierungsleistungen erforderlich sind. Zum anderen ist danach zu fragen, wie Orientierungsprozesse im Kontext von Beruflichkeit auf der institutionell-strukturellen Ebene des Bildungssystems im Sinne von Beratung und Begleitung (guidance) unterstützt werden können.

2 Empirische Perspektive: Orientierungsleistungen in Übergängen – Befunde und theoretische Annäherungen

Die Orientierungsleistungen, die an dem Übergang der ersten Schwelle erbracht werden müssen, sind ohne jeden Zweifel entscheidend für den weiteren Verlauf der beruflichen Entwicklung und Karriere (vgl. Gillen et al. 2010). Aber selbst wenn diese Schwelle ohne größere Probleme bewältigt wurde, steht der Einzelne in unterschiedlichen Lebensphasen weiterhin vor der Herausforderung, Orientierungsleistungen zu erbringen. Dies gilt auch im Erwerbsleben, wenn es um das Ausloten der Balance zwischen Arbeiten, Lernen und Leben geht (vgl. Meyer/Müller 2013).

Orientierungsleistungen müssen erbracht werden, um grundlegende Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Nach einem von Harvinghurst Anfang der 1980er Jahre entwickelten Modell werden an Individuen in verschiedenen Lebensphasen unterschiedliche gesellschaftliche und kulturelle Anforderungen herangetragen (vgl. Shell 2010): die Qualifikation, Ablösung und Bindung, Regeneration und auch Partizipation. Alle Aufgaben treten ein Leben lang auf – nicht zuletzt, weil z.B. Ablösung und Bindung auch den Umgang im Privaten einschließt (Umgang mit Trennungen, Tod).

Hier wird nachfolgend zunächst danach gefragt, welche empirischen Erkenntnisse über die beruflichen Orientierungen, Einstellungen und Werthaltungen und den Prozess der Berufswahlentscheidung bereits vorliegen.

Die jüngste Auszubildendenstudie legt nahe, dass diejenigen, die nicht zu der Gruppe mit besonderem Förderbedarf gehören, relativ klare Orientierungen haben (McDonald’s 2013). Hurrelmann et al. – die Autoren, die auch die letzte Shell Studie verfasst haben – haben im Auftrag von McDonald’s Jugendliche und Auszubildende zu ihren beruflichen Orientierungen befragt. Die qualitative Untersuchung umfasst ein Sample von 3.068 Schülern, Auszubildenden und jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Alter von 15 bis 25 Jahren. Auch diese Studie zeigt die bekannten Probleme bei der Berufsorientierung von so genannten „benachteiligten“ Jugendlichen: während diejenigen aus den oberen und mittleren Schichten ganz bewusst nach höheren Bildungsabschlüssen streben, weil sie damit eine realistische Chance für eine erfolgreiche berufliche Entwicklung verbinden, fühlen sich die Jugendlichen aus unteren sozialen Milieus – wie auch schon die Shell Jugendstudie von 2010 dokumentiert – „als sozial Abgehängte“ (7). Die deutliche Mehrheit der Befragten (71%) sieht jedoch die Zukunft durchaus optimistisch. Hier bestätigt sich, dass die jungen Menschen eher ein hohes Vertrauen in die eigene Leistung haben und damit über eine hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung verfügen, die grundlegend für die berufliche Orientierung ist: Selbstwirksamkeit ist das zentrale Erklärungskonzept für die Genese von Berufsinteressen, Berufswahlentscheidungen und auch von beruflichen Leistungen (vgl. Ratschinski 2013, 32).

Orientierung im Hinblick auf ihre berufliche Entwicklung haben sich die jungen Auszubildenden und ArbeitnehmerInnen im Wesentlichen über Gespräche mit den Eltern und Freunden sowie über Internetrecherche verschafft. Aus berufspädagogischer Sicht ist hier interessant, dass die „offiziellen“ Unterstützungsangebote, z. B. die Berufsberatung der Arbeitsagentur oder Jobmessen, eine untergeordnete Rolle spielten. Sie wurden nur von einem Drittel der Befragten genutzt. Betriebliche Erfahrungen im Rahmen von Praktika hat nur rund die Hälfte der Jugendlichen gemacht (McDonald’s 2013, 47). Das leitende Motiv und insofern ausschlaggebend für die Wahl eines Ausbildungsbetriebes war ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis: 73% der Auszubildenden gaben an, dass sie ihre Chancen, nach der Ausbildung übernommen zu werden, positiv einschätzen (61). Hier zeigt sich dass die Jugendlichen durchaus bewusst Strategien entwickeln, um Unsicherheiten im Anschluss an die Berufsausbildung zu vermeiden. Insgesamt haben die Auszubildenden und Berufstätigen mit 67% eine positive Einschätzung ihrer beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten (88). Dass sie trotz dieser optimistischen Perspektive lebenslang und berufsbegleitend Orientierungsleistungen erbringen werden, wird daran deutlich, dass zum Zeitpunkt der Befragung nur jeweils 36% der Auszubildenden und jungen Berufstätigen konkrete Pläne für ihre berufliche Entwicklung haben. Gut die Hälfte der jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer „lassen das eher auf sich zukommen“ (86).

Schon die Shell Studie 2010 hat gezeigt, dass Jugendliche aus gehobenen Milieus mit guten Qualifikationsvoraussetzungen und stabilen Elternhäusern zuversichtlich in die Zukunft blicken. Grundsätzlich können die Jugendlichen ihrer eigenen Einschätzung nach auch mit Druck gut umgehen (Shell 2010, 33). In berufspädagogischer Perspektive ist allerdings interessant, dass der größte Druck, den die befragten Jugendlichen empfinden, tatsächlich auf das Qualifizierungssystem zurückzuführen ist. Sie nehmen offensichtlich schon zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn wahr, dass die Wege in das Erwerbssystem über die formale Qualifizierung vorstrukturiert werden.

Diese Befunde können durch aktuelle arbeitssoziologische Untersuchungen gestützt werden: Ebner (2014) hat im Rahmen einer umfassenden Auswertung der 8. Erhebungsetappe des nationalen Bildungspanels (NEPS) nachgewiesen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen dem erlernten Beruf und dem Weiterbildungsverhalten besteht. Beruf – so der Schluss der Untersuchung – gibt damit eine grundlegende Orientierung für die weitere Berufslaufbahn. Dies gilt nach diesen Daten allerdings in höherem Maße für Tätigkeiten in Dienstleistungen als im herstellenden Gewerbe. Dass der erlernte Beruf den Berufserfolg und den Laufbahnerfolg entscheidend prägt, ist auch das Ergebnis einer Untersuchung des BIBB, in der duale und schulische Ausbildungswege verglichen wurden (Hall/Krekel 2014). Aus diesen Ergebnissen kann geschlossen werden, dass das Konzept der Beruflichkeit die Optionenvielfalt im positiven Sinn reduziert und diese reduzierte Komplexität die berufliche Orientierung wiederum erleichtert, indem sie spezifische Anschlüsse nahelegt.

Dies galt auch für eine große Gruppe Berufstätiger im Zuge der Wiedervereinigung. Empirische Untersuchungen zeigen hier ebenfalls, dass die Herstellung von berufsbiografischer Kontinuität in der extremen Situation beruflicher Um- bzw. Neuorientierung auf der Basis von Wissen über die Arbeitsmarktlage und der jeweiligen Ausdeutung der Informationen erfolgte (Struck-Möbbeck o. J). Die Bewältigungsstrategien richteten sich auch hier in erster Linie auf die Herstellung beruflicher Sicherheit und Stabilität, wobei explizit die Ressource des Berufs dafür verantwortlich gemacht wird, dass der Zugang zu schutz- und stabilitätsgenerierenden Beschäftigungssegmenten erfolgen konnte (81f.). Auch mit dieser Untersuchung, die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 186 „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ an der Universität Bremen durchgeführt wurde, konnte empirisch bestätigt werden, dass Personen mit einer instabilen beruflichen Karriere ein geringes internales Kontrollbewusstsein und eine mangelnde Selbstwirksamkeit aufweisen.

Die empirischen Daten zeigen, dass das Berufskonzept seinerseits berufliche Orientierungen im Lebenslauf liefern kann und dass darüber gerade bei den jungen Menschen ein hohes Bewusstsein besteht.

Dies gilt auch für Jugendliche, die sich nach dem Abitur für einen akademischen Bildungsweg entscheiden: Im Rahmen der HIS-Studierendenbefragung wurden explizit empirische Befunde zum Entscheidungs- und Informationsverhalten bei Studierenden erhoben. Auch für die Wahl eines Studiums gilt, dass das Wissen um die wegweisende Bedeutung und die langfristigen Auswirkungen von Bildungsentscheidungen verunsichernd wirken (Spangenberg/Willich 2013). Die Berufs- bzw. hier Studienorientierung erfolgt entlang eines Sechs-Phasen-Models: Nach einer Anregungsphase, i.d.R. im Schulsystem, folgt in der Suchphase die Informationsbeschaffung zumeist über das Internet (77%). Im Gegensatz zu den beruflichen Orientierungsprozessen bei Auszubildenden spielen die Eltern hier eine untergeordnete Rolle (44%). Dieser Suchprozess scheint eine entscheidende Phase in der Orientierung zu sein: „Vor allem beim Eintritt in die Suchphase fühlen sich die Studienberechtigten mit Sorgen belastet, die mit der Komplexität der Entscheidungssituation in direktem Zusammenhang stehen.“ (5) Eine Überforderung entsteht vor allem aufgrund der Vielzahl der alternativen Bildungsangebote und der Unsicherheit bezogen auf die eigenen Interessen. Die Suchphase umfasst faktisch noch die Auswahl- und Optimierungsphase und die Realisationsphase (auch wenn aus Gründen der Operationalisierung der Daten diese Phase in der Untersuchung getrennt ausgewiesen wird). Die Autoren weisen explizit darauf hin, dass „die Suchphase einer bestimmten Dauer bedarf und nicht (wesentlich) durch besonders effiziente Entscheidungen abgekürzt werden kann“ (7). Mit Blick auf die Kontrollphase zeigt sich, dass die Entschlossenheit, mit der die Wahl für ein bestimmtes Studium getroffen wurde auch mit der Nachhaltigkeit der Entscheidung korreliert. Auch in der letzten ausgewerteten Phase, in der eine Selbstreflexion erfolgt, zeigte sich: „Je fester der Entschluss für ein bestimmtes Studium bereits früh getroffen wurde, desto höher ist die Zufriedenheit mit diesem Schritt.“ (8)

Bestätigt werden diese Befunde auch für die Gruppe derjenigen, die über den 3. Bildungsweg, also ohne Abitur, über die Anerkennung der beruflichen Erfahrungen, an die Hochschulen kommen. Dabei handelt es sich um Personen, die bereits eine Berufsausbildung und in der Regel auch eine Fortbildung absolviert haben und sich aus einer bestehenden Berufstätigkeit heraus neu orientieren. Für diese Studierenden ist ebenfalls die Suchphase entscheidend: auch hier erweist sich die Aufbereitung der Daten als intransparent, die Internetrecherchen als „mühsam und unübersichtlich“ (Heilbült/Müller 2014), wobei die Uninformiertheit über Zulassungskriterien und Verfahren am meisten zu der empfundenen Unsicherheit in der Such- und Auswahlphase beiträgt. Spezifisch an der Situation der beruflich Erfahrenen ist, dass sie sich nicht nur für einen hochschulischen Bildungsweg entscheiden, sondern dass damit in den meisten Fällen auch die negative Entscheidung gegenüber dem bestehenden Beschäftigungsverhältnis und dem beruflichen Bildungsweg (i.S. von beruflichen Weiterbildungen) einhergeht. Berufsorientierung jenseits der ersten Berufswahl schließt insofern selbst bei der Wahl fachaffiner Studiengänge immer auch eine Entscheidung gegen eine bisher mehr oder weniger erfolgreich vollzogene Laufbahn mit ein. Diese so genannten Bildungsaufsteiger müssen sich für ihre Entscheidung sowohl gegenüber ihrem beruflich geprägten Herkunftsmilieu verantworten, als auch  dem für sie neuen akademischen Milieu anpassen und damit nicht nur strukturelle, sondern auch habituelle und soziale Hürden überwinden (vgl. El Mafaalani 2012). Dennoch zeigen Studien, dass diese beruflich erfahrenen Studierenden ein höheres Engagement und eine höhere Leistungsbereitschaft aufweisen, die letztlich zum Erfolg des Studiums beitragen (vgl. Zinn 2012; Heilbült/Müller 2014). Die Daten zur Entscheidungssicherheit im Hinblick auf die Berufsorientierung und die Nachhaltigkeit der Entscheidung aus der HIS-Studie werden also auch hier bestätigt und liefern Ansatzpunkte zu einer subjektbezogenen und berufsorientierenden (Studien-)Beratung für traditionelle und nicht-traditionelle Studierende.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass ein früher Informationsbeginn, ein hoher Informationsstand und die Sicherheit über die Bildungsabsichten in Beruf und Studium sich nachhaltig positiv als tragfähig für Bildungsentscheidungen auswirken. Einmal orientiert, fällt die Berufsorientierung im Lebensverlauf leichter. Spangenberg und Willig (2013) führen das darauf zurück, dass die Berufsorientierung ein „anspruchsvoller und selbstreflexiver Prozess“ ist, in dem die jungen Menschen sich selbst kennenlernen und „das Wissen über sich und mögliche Bildungs-, Berufs- und Lebensperspektiven in einem Destillat zusammenführen.“ (9) Hier wird zum einen deutlich, wie wichtig eine transparente Informationsaufbereitung und Darstellung unterschiedlicher  Qualifizierungsangebote und Studienformate (z.B. im Internet) ist. Zum anderen zeigt sich die hohe Bedeutung einer frühen Begleitung vor allem in der Phase des Suchprozesses der Berufsorientierung. Daraus wiederum lässt sich der hohe Stellenwert ableiten, den die Kompetenzen der Berater und Begleiter im Hinblick auf die Anleitung der Reflexion haben müssen.

Zu fragen ist, mit welchen Konzepten berufliche Orientierungsprozesse einerseits theoretisch gerahmt werden können und wie sie andererseits auf der institutionellen Ebene gestaltet sein müssen, damit eine subjektorientierte, individuelle Unterstützung ermöglicht wird.

3 Theoretische Perspektive: Beruflichkeit und Zeitstrukturen als Rahmung der beruflichen Orientierung

In der Auseinandersetzung mit dem Thema der beruflichen Orientierung muss zunächst einmal geklärt werden, was genau mit dem Begriff der Orientierung gekennzeichnet wird. Hier bieten philosophische Theorien Ansätze zur Definition. Grundlegend kennzeichnet Seibt (2005) Orientierung in subjektiver Perspektive als „Beziehung einer indexikalischen Größe (mein Standpunkt, was ich gerade erlebe, meine Sicht der Dinge, die heutige Zeit, seine Sicht, unser Standpunkt etc.) zu einem umgebenden System (räumlicher, zeitlicher, logischer, normativer Beziehungen)“ (208).

Entscheidend ist nicht die Zielorientierung, sondern das Vorliegen spezifischer handlungsleitender Überzeugungen. Es geht um kognitive Orientierungen, denen immer eine Interpretationsleistung vorausgeht. Diese Interpretationsaktivitäten wiederum lassen sich jeweils durch drei Auswertungsperspektiven charakterisieren, in denen danach gefragt wird, was die Situation ist, was diese für den Einzelnen bedeutet und was daraus für Handlungen abgeleitet werden können (215).

Üblicherweise geben gesellschaftliche Ordnungen wie Wissenschaft, Recht, Moral und  Religion Orientierung – aber genau diese Instanzen erzeugen auch Kontingenz und produzieren Unsicherheit: „Orientierung ist notwendig unter Ungewissheit. Sie hilft mit ihr umzugehen, hebt sie jedoch nicht auf. Und sie muss in jeder neuen Situation wieder unter neuer Ungewissheit zustande kommen“ (Stegmaier 2005, 15).

Der Orientierungsprozess, den das Individuum selbst leisten muss, vollzieht sich in einzelnen Schritten: „Man ‚sichtet‘ die Situation im Doppelsinn, fasst (a) ins Auge, woran man sich halten kann, und mustert (b) aus, was man vorläufig beiseitelassen kann. Man behält, was man beiseitelässt, jedoch weiterhin im Auge, es könnte später noch von Belang sein und dann berücksichtigt werden müssen.“ (ebd., 28) Entwicklungsziele, die in der beruflichen Orientierung anvisiert werden, müssen demnach offen sein und sich unterwegs verändern dürfen und können. Damit ist jede Orientierung eine Orientierung auf Zeit und eine zum jeweiligen Zeitpunkt provisorische Dauerleistung im Kontext des Lebenslangen Lernens.

Für die systematische Auseinandersetzung mit Prozessen der beruflichen Orientierung bietet sich die von Luckner (2005) entfalte Logik an: „Jemand [Orientierungssubjekt] (1) orientiert sich an etwas [Orientierungsprozess] (2) oder jemandem [Orientierungsinstanz] (3), in Bezug auf etwas [Orientierungsbereich] (4) mit Hilfe von jemandem oder etwas [Orientierungsmittel] (5) vermöge von etwas [Orientierungsfähigkeiten] (6).“ (226)

Mit Blick auf die berufliche Orientierung steht der Mensch, der sich beruflich verändern möchte oder auch verändern muss, als Orientierungssubjekt im Mittelpunkt. Leitend für den Orientierungsprozess können zum einen betriebliche Veränderungen oder Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sein, die neue Anforderungen an die Kompetenzen stellen. Zum anderen kann der Orientierungsprozess auch von individuellen Bedürfnissen nach Persönlichkeitsentwicklung bzw. Veränderung angestoßen sein – möglicherweise auch als Überwindung von im Beruf wahrgenommenen Begrenzungen. Die Orientierungsinstanzen können Kollegen oder Vorgesetzte sein, wobei gerade im Feld der Berufsarbeit die communities of practice eine rahmende Orientierungsinstanz bilden können – das gilt auch hier  im positiven wie im negativen Sinn.

Den Orientierungsbereich bildet das Feld beruflicher Tätigkeiten bzw. die Berufe und Qualifizierungsangebote, die einen optionalen Horizont der Möglichkeiten bieten. Im Kontext beruflicher Orientierung können die geordneten Berufsbilder als Orientierungsmodelle dienen. Sie strukturieren einerseits den Arbeits- und Beschäftigungsmarkt und damit die Praxis von Arbeit und Beruf. Sie können wie das klassische Orientierungsmittel einer Landkarte funktionieren: „Sie gibt Übersicht über Ziele und Wege und alle bedeutsamen Anhaltspunkte in einem Gebiet, reduziert die Kontingenzen des Suchens und Findens, versetzt Sie in die Lage, sich informiert zu orientieren.“ (Stegmaier 2005, 7) Aber die Berufsbilder selbst sind auch nur theoretische Modellvorstellungen einer Orientierung. Dies gilt insbesondere aufgrund des zeitlichen Auseinanderfallens der Veränderungen der Arbeit und der Ordnung der Berufe. Als Orientierungsmittel bzw. –medium dienen vor allem das Internet sowie nach wie vor auch die Instanzen der Berufs- und Laufbahnberatung. Die Orientierungsfähigkeiten beschreiben das Vermögen des Einzelnen, Orientierungsleistungen zu erbringen – in diesem Sinne sind dies die dem Individuum zur Verfügung stehenden Handlungskompetenzen.

Hier wird das Problem offensichtlich, dass mit jeder Aufforderung zu und dem Versuch der Orientierung auch das Risiko der Desorientierung steigt, denn um sich neu orientieren zu können, muss man jeweils auch schon orientiert sein. Daraus folgt, dass der Einzelne sich jeweils auf seine Weise orientieren muss und dass er sich stets in den Spielräumen seiner Orientierungsmöglichkeiten bewegt. Insbesondere die berufliche Orientierung kann somit als anspruchsvoll und voraussetzungsreich gelten. Vor diesem Hintergrund ist ein gezieltes Oszillieren zwischen Analyse und Orientierung gefordert:  „Denken im Sinn logischer Analyse einer vorausgehenden Orientierung und diese Orientierung wieder der Analysen bedarf…“ (ebd. 11) Das heißt, dass im Prozess der Orientierung kognitive Leistungen zu erbringen sind, die wiederum spezifisches Orientierungs- und Verfügungswissen (i. S. des Wissens um Wirkungszusammenhänge) voraussetzen. Berufliche Orientierung geht indes immer einher mit einer Fülle an Wahlmöglichkeiten, die Entscheidungszwang und damit auch Nachdenklichkeit erzeugen (Winkler 1999, 277). In pädagogischer Perspektive muss es also in der Entwicklung von Konzepten der Berufsorientierung vor allem darum gehen, die Fähigkeit zur Reflexion anzuleiten.

3.1 Beruflichkeit als theoretischer und bildungspolitischer Bezugspunkt

Der erlernte Beruf gilt in Deutschland als das Scharnier für die Zuweisung von Erwerbs- und auch Lebenschancen. Konietzka (1999) hat in seinen Kohorten-Untersuchungen gezeigt, dass Individuen in erster Linie über ihre beruflichen Ausbildungen in den Arbeitsmarkt integriert werden. Auf diese Weise werden sie „in spezifisch verberuflichte Erwerbslaufbahnen geschickt“ (334). Diese verberuflichten Erwerbslaufbahnen vermitteln damit auch unter schwierigen Rahmenbedingungen einer großen Mehrheit der (potenziell) Erwerbstätigen eine relative Statussicherheit im Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Es steht insofern außer Frage, dass gerade die Disziplin Berufs- und Wirtschaftspädagogik den Diskurs um berufliche Orientierung im Kontext einer – gegenüber der traditionellen Form des Berufs – erweiterten Beruflichkeit führen muss. Inwieweit weitere theoretische Konstrukte – wie z.B. die Zeit (und in diesem Zusammenhang auch der Lebenslauf) oder auch Raum – leitend sein können, müsste für die Disziplin perspektivisch hinterfragt werden.

Es ist aufgrund dieser engen Koppelung von Berufsausbildung und einer relativ kontinuierlichen Erwerbstätigkeit naheliegend, dass im berufspädagogischen Diskurs Fragen der Berufsorientierung vor allem an der ersten Schwelle des Übergangs in die berufliche Erstausbildung thematisiert werden. Das Konzept der Beruflichkeit hat damit eine nachhaltige Orientierungsfunktion womit wiederum die Notwendigkeit zur permanenten Orientierung im Sinne einer Anpassung und Neuausrichtung im Konzept der Beruflichkeit angelegt ist.

Gegenüber der traditionellen Form des Berufs, die als Lebensberuf eine relative Konstanz aufwies, ist für das Konzept einer modernen Beruflichkeit eine permanente Orientierungsnotwendigkeit als Strukturmerkmal geradezu kennzeichnend (vgl. Meyer 2006). Dies gilt insbesondere, wenn das Berufskonzept im Sinne einer erweiterten Beruflichkeit gedacht wird und die duale, schulische und hochschulische Bildung im Sinne der Durchlässigkeit des Bildungssystems als ein Gesamtkonzept verstanden wird (Wissenschaftlicher Beraterkreis 2014). Damit eröffnen sich einerseits neue Optionen zur Gestaltung von beruflichen Laufbahnen, andererseits ergeben sich für das Bildungssystem (gemeint sind hier die allgemeine und die berufliche Bildung) auch neue Herausforderungen.

Begrenzungen, die für die traditionelle Berufsform kennzeichnend sind, werden in dem Konzept einer modernen Beruflichkeit zum Teil aufgehoben: als Ausdruck dafür kann z.B. die – zumindest in formaler Hinsicht durch den KMK-Beschluss realisierte wenn auch faktisch noch nicht vollzogene – Öffnung der Hochschule für Berufstätige gewertet werden. Allerdings produzieren moderne Formen der Beruflichkeit ihrerseits auch diskontinuierliche Erwerbsverläufe, die wiederum hohe Orientierungsleistungen erfordern. Aufgrund der unbestimmten Qualifikationsanforderungen muss sich Beruflichkeit als eine reflexive Beruflichkeit auf der individuellen Ebene permanent selbst wieder herstellen (vgl. Kreutzer 1999). Die Verantwortung für die Reproduktion der Beruflichkeit wird dabei bio­graphisiert und auf das Individuum verlagert. Die Fähigkeit zur Orientierung setzt jedoch wie oben schon angedeutet Kompetenzen zur Selbststeuerung voraus, die zunächst im Bildungs- und Erwerbssystem erworben und weiterentwickelt werden müssen. Die Ursachen und Folgen dieser Entwicklung sind im Kontext der Arbeitsgruppe „Diskontinuierliche Erwerbsbiographien“ ausführlich beschrieben (vgl. Behringer et al. 2004; vgl. auch Bolder/Dobischat 2009; Bolder et al. 2012).

Grundsätzlich gilt, dass im Rahmen verberuflichter Arbeit immer auch Rationalisierungspotenziale liegen (vgl. Hesse 1972), die ihrerseits Orientierungsleistungen erfordern (biographisch, fachlich oder auch arbeitsmarktpolitisch). Dies zeigt sich in individueller, wie in betrieblicher und gesell­schaftlicher Perspektive: Auf der Mikroebene geht es um Strategien der Individuen zur Sicherung des Arbeitskraftverwertungsinteresses und um Routinisierung. Dazu gehört es auch, Strategien im Umgang mit ständig neuen Zumutungen und Arbeitsbelastungen zu entwickeln. Für den Einzelnen beinhaltet diese Rationalisierung gerade vor dem Hintergrund der Erosion von „Normalerwerbsbiographien“ sinnvolle Entscheidungen zur Berufswahl und -ausbildung, zum Berufswechsel sowie zur Weiterbildung zu treffen. Auf der Mesoebene der betrieblichen Arbeit spielt die effiziente Gestaltung der Geschäfts- und Arbeitsprozesse eine entscheidende Rolle. Auf der Makroebene der gesellschaftlichen Subsysteme  geht es um die arbeitsmarkt-, bildungs- und sozialpolitische Gestaltung der ordnungspolitischen Rahmen­bedingungen im Sinne einer Verrechtlichung und um die Durchsetzung politischer Interessen. Hier sind grundlegende politische Orientierungs- und auch Informationsleistungen der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände als Sozialpartner gefordert, die die Berufsbildungspolitik  maßgeblich mitgestalten.

Insofern kann konstatiert werden, dass die berufsförmige Organisation von Erwerbsarbeit, im Unterschied zu nicht-beruflich organisierter Arbeit, immer auch die Gestaltung zentraler sozialer Chancen (wie z. B. horizontale und vertikale Mobilität und die Ermöglichung von Entwicklungs- und Karrierewegen) zumindest ermöglicht. Dies gilt aber nur unter der Voraussetzung, dass die entsprechenden Orientierungsleistungen auch erbracht werden. Damit ist die Fähigkeit zur beruflichen Orientierung auch als prinzipielle Chance zur sozialen Gestaltbarkeit von Arbeit zu verstehen. Die berufspädagogische Herausforderung besteht darin, berufliche Orientierungsprozesse im Kontext der Beruflichkeit auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene zu thematisieren. Zu fragen ist, welche theoretischen Konzepte sich über die einschlägigen berufswissenschaftlichen und professionstheoretischen Zugänge hinaus eignen, um eine berufs- und zugleich subjektorientierte Überlegungen zu fundieren.

3.2 Zeitstrukturen und Lebenslauf als Rahmen für berufliche Orientierung?

Veränderte Zeitstrukturen, die auch in Arbeits- und Berufskontexten wirksam werden, stellen den Einzelnen vor die Herausforderung, mit der Beschleunigung Schritt zu halten. Die weitestreichende Konsequenz einer komplexen Entwicklung der sozialen Beschleunigung ist nach Rosa (2005) das Auseinandertreten von Erfahrungsraum (was aus der Vergangenheit bekannt ist) und Erwartungshorizont (was von der Zukunft erwartet wird). Wenn das Tempo der Veränderung steigt, dann treten die Zeithorizonte auseinander und das eigene Leben wird in neuen, nicht über­schau­baren Strukturen „verzeitlicht“. In der Konsequenz bleiben z.B. Familien- und Beschäftigungs­verhältnisse nicht mehr über ein Leben stabil.  An die Stelle der Familie treten dann so genannte Patch-Work-Lebensformen und eine serielle Folge von Jobs oder unbezahlter Praktika drohen das Konzept eines identitätsstiftenden Berufs abzulösen. Damit verändern sich auch die Autonomiespielräume für die Subjekte, wobei nach Rosa das neue Zeiterleben die Fortschrittsidee des autonomen Subjekts der Moderne geradezu konterkariert. Die Idee, dass die Subjekte Verantwortung für die Gestaltung ihres Lebens übernehmen könnten, ist – so Rosa – dem neuen Zeitregime diametral entgegengesetzt. Faktisch komme es zu einem Autonomieverlust, „der sich im Schwinden von Steuerungspotenzialen und in der Erosion von Gestaltungschancen manifestiert“ (452). Im Gegensatz zur planbaren Gestaltung zwinge die Beschleunigung die Subjekte und Organisationen zu einer reaktiven Situativität und damit permanente Orientierungsleistungen zu erbringen.

Die Diagnose des Autonomie- und Steuerungsverlustes ist angesichts grundsätzlich schwindendender Planbarkeit in modernen Arbeitsprozessen kritisch zu hinterfragen. Faktisch erhöhen sich die Steuerungsbedarfe im Modus der Planung des Unplanbaren. Es lässt sich in der Realität von Arbeit und Beruf auch empirisch nicht bestätigen: Gerade in den innovationsgetriebenen Branchen, die in hohem Maß einer Beschleunigung unterliegen, lassen sich in der Selbstwahrnehmung sowohl der Beschäftigten als auch der Organisationen durchaus hohe individuelle und organisationale Gestaltungsspielräume verzeichnen (vgl. Antoni et al. 2013).[1]

Dass in der beschleunigten Moderne autonome Entscheidungen im Privatleben wie auch im Berufsleben kaum möglich sind, liegt nach Rosa daran, dass eine selbstbestimmte Gestaltung individuellen wie auch kollektiven Lebens einen Optionszeitraum voraussetzt, der über einen bestimmten Zeitraum hin stabil bleibt – denn begründete Entscheidungen ergeben sich durch die Abwägung von Nutzen, (Opportunitäts-)Kosten und Folgewirkungen, die sich auf der Basis einer minimalen Zeitstabilität nicht erfassen lassen. Die Handlungsbedingungen müssten zur Gewährleistung von Autonomie so dauerhaft sein, dass sich Veränderungsprozesse verstehen und kontrollieren lassen „und schließlich dass ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um durch die planmäßige Einwirkung auf den Handlungsraum Leben und Gesellschaft tatsächlich zu gestalten“ (454). Selbstbestimmung setzt voraus, dass Individuen und Organisationen zeitresistente Präferenzen und Zielvorstellungen ausbilden können. Faktisch wird aber nach Rosa das „Offenhalten von Optionen und Anschlussmöglichkeiten zu einem kategorischen Imperativ […], der sich gegenüber substanziellen Bindungen immer mehr durchsetzt“ (ebd.).

Mit Blick auf berufliche Orientierungsnotwendigkeiten lässt sich vor diesem Hintergrund kons­tatieren, dass die beschriebenen Merkmale auf der einen Seite konstitutiv für eine biographisierte Beruflichkeit sind. Autonomie und die Fähigkeit zum Umgang mit Unsicherheit sind damit die Voraussetzungen für die Planung und Gestaltung individueller Entwicklungswege. Andererseits muss aber zu dieser Sichtweise kritisch angemerkt werden, dass die betriebliche und die gesellschaftliche Dimension der Organisation von Arbeit und Beruf hier vernachlässigt werden. Die Verantwortung für die soziale Gestaltung von Beruflichkeit wird allein dem Individuum übertragen.

Zu prüfen wäre, ob und inwieweit Theorien des Zeitregimes für die Berufsorientierung Anknüpfungspunkte bieten. Im Kontext des Lebenslangen Lernens könnte auch das Lebenslaufregime als strukturierendes Element von Orientierungsleistungen dienen. Im Verlauf eines Erwerbslebens sind im Kontext der Beruflichkeit zahlreiche arbeitsbezogene Übergänge in horizontaler (Aufgaben- und Positionswechsel innerhalb von Unternehmen, Wechsel von Unternehmen, Lernprozesse in der Arbeit) und in vertikaler Hinsicht (Aufstieg und Karriere, Weiterbildungen, Studium) zu vollziehen, die Orientierungsleistungen erfordern. Aber auch in privater Hinsicht stellen sich im Lebenslauf und abhängig von Lebensalter und Lebensphase spezifische Herausforderungen, die eine Ausbalancierung der Work-Learn-Life-Balance erfordern (Antoni et al. 2014).

Insofern bietet sich mit Blick auf Berufsorientierung im Kontext des Lebenslangen Lernens auch Kohlis (1985) Lebenslaufstrukturmodell als eine Interpretationsfolie für Transformationsprozesse als strukturelle Übergänge im Lebenslaufregime an: Kohli zeigt in historischer Perspektive, dass es zu einer Verzeitlichung (1) komme und da diese an einem chronologischen Lebensalter orientiert sei, habe sich im Zuge der Chronologisierung (2) ein Normallebenslauf ergeben. Die Freisetzung des Einzelnen aus lokalen und ständischen Bindungen führe zur Individualisierung (3) und – diese These ist in berufspädagogischer Perspektive am interessantesten, weil hier die Übergänge zu verorten sind, an denen Orientierungsleistungen zu erbringen sind – der Lebenslauf ist aus Kohlis Perspektive mit der Dreiteilung von Vorbereitungs-, Aktivitäts- und Ruhephase (d.h. Kindheit bzw. Jugend/aktives Erwachsenenalter/Alter) um das Erwerbssystem herum organisiert (4).

Das lebenszeitliche Regelsystem, so Kohlis These, lasse sich auf zwei unterschiedlichen Realitätsebenen aufsuchen, zum einen im Sinn von Positionssequenzen (z. B. Karrieren) und zum anderen in der Strukturierung der „lebensweltlichen Horizonte bzw. Wissensbestände, innerhalb derer die Individuen sich orientieren und ihre Handlungen planen.“ (ebd.)

Kritisch anzumerken ist hier jedoch, dass dieses Modell längst erodiert ist. Faktisch ist eher eine Ent-Chronologisierung bzw. eine Ent-Standardisierung des Lebenslaufes zu verzeichnen. Die gesellschaftliche Bedeutung des Lebenslaufregimes, die Kohli unterstellt, ist damit infrage zu stellen. Kohli selbst räumt allerdings auch ein, dass der Prozess der Chronologisierung des Lebenslaufs bereits zu einem Stillstand gekommen sei und dass stattdessen Befunde auf eine Destandardisierung des Lebenslaufs hinweisen. Dennoch ist der theoretische Gehalt der Theorie des Lebenslaufregimes im Hinblick auf die beruflichen Orientierungsleistungen, die im Lebenslauf erbracht werden müssen, zu prüfen. 

Aus berufspädagogischer Perspektive könnten darüber hinaus auch arbeitssoziologische Theorien, die sich mit dem organisationalen Arbeitsvermögen befassen¸ theoretisch grundlegend sein (vgl. Pfeiffer/Schütt/Ritter 2012). Arbeitsvermögen wird in diesem Konzept verstanden als eine subjektgebundene Kompetenz, die in jeweils unterschiedlichen Aneignungskontexten offensichtlich und erfahrbar wird. Es handelt sich um das „Vermögen, sich in spezifische (Arbeits-)Kontexte und lebensweltliche Settings im umfassenden Sinne einzufügen (z. B. als habituelle Passung, als Ressource, um die eigene Beschäftigungsfähigkeit im Subjekt ‘herzustellen‘, und schließlich, um biographische Einschnitte zu bewältigen und/oder biografische Kontinuitäten bzw. gewollte Brüche/Neuorientierungen zu generieren).“ (3) Für die berufspädagogische Rezeption ist dieses Konzept aufgrund der ihm zugrundeliegenden Verknüpfung von individuellem Vermögen und Kompetenzen mit betrieblichen Organisationsprozessen besonders fruchtbar. Diese gilt insbesondere weil die Autoren diesen Zusammenhang auch explizit für arbeitsmarktpolitische Desiderata, die auch das Beratungsgeschäft der Arbeitsagenturen tangieren, herausarbeiten.

4 Institutionelle Perspektive: Organisation und Professionalisierung der Berufsorientierung im Ländervergleich Deutschland-Schweiz

In Deutschland ist Berufsorientierung bzw. die Berufsberatung im Vergleich zu anderen Ländern (z. B. Schweiz und USA) auf bestimmte, krisenbehaftete Lebensabschnitte beschränkt (z.B. Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit) und nur ansatzweise institutionalisiert und professionalisiert. Zwar ist die Berufsorientierung formal gesetzlich für die Sekundarstufe in den Ländergesetzen verankert, systematische staatlich organisierte Angebote gibt es jedoch kaum.

Berufsberatung findet in Deutschland punktuell an spezifischen Übergängen und für ausgewählte Zielgruppen unter der eindeutigen Prämisse der Arbeitsmarktintegration statt. Einen umfassenden Überblick über die Beratungslandschaft in Deutschland im Kontext der beruflichen Orientierung liefern die Untersuchungen des Nationalen Forums für Beratung (nfb) (vgl. Jenschke/Schober/Fürbing 2011): neben öffentlichen Beratungsanboten (von Schulen, Hochschulen und der Agentur für Arbeit) wird die Berufs- und Laufbahnberatung überwiegend von privaten Anbietern geleistet. Die Agentur für Arbeit beschränkt ihr Beratungsangebot auf Personen, die arbeitslos sind oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Festzustellen ist allerdings, dass im Rahmen von Bundes- und Länderprogrammen die Förderung von regionalen Netzwerken auch zum Ausbau von Beratungsleistungen unterstützt wird.[2]

Da Bildung in der Verantwortung der Länder liegt, unterliegt auch die Bildungs- und Berufsberatung einer Vielzahl unterschiedlicher Ländergesetze, wobei das Sozialgesetz einen Großteil der Gesetzgebung in Deutschland ausmacht. Daran zeigt sich, dass Bildungs- und Berufsberatung ein Instrument unterschiedlicher sozial- und arbeitsmarktpolitischer Ziele darstellt. Der Großteil der gesetzlichen Vorschriften in Deutschland legt die Beratungspflicht von unterschiedlichen Einrichtungen fest, sodass Beratung in unterschiedliche institutionelle Kontexte eingebettet ist. Neben den gesetzlich vorgeschriebenen Beratungspflichten im Rahmen des SGB III durch die Bundesagentur für Arbeit (BA) findet Beratung in nicht gesetzlich geregelten Kontexten, wie bspw. im privatwirtschaftlichen Bereich, statt. Der institutionelle Kontext, in welchem die Beratung jeweils in Deutschland eingebettet ist, prägt dementsprechend auch das Angebot hinsichtlich seiner Zugänglichkeit und Ausrichtung. Öffentliche und wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen sind bei ihrem Angebot durch die Sozialgesetzgebung bestimmt oder den Zielen der Einrichtung verpflichtet. Im privatwirtschaftlichen Kontext werden die Beratungsdienstleistungen angeboten, die sich am besten vermarkten lassen und es haben nur Personen zu der Dienstleistung Zugang, die es sich finanziell leisten können.

Im Gegensatz zu Deutschland verfügt die Schweiz über einheitliche und staatlich anerkannte Qualifikationswege und Ordnungsmittel für die Laufbahnberatung sowie über einen Berufsschutz durch die Einführung von Berufstiteln. Die gesetzliche Grundlage für die Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung bildet das Berufsbildungsgesetz der Schweiz (BBG). Der Bund (das Staatsekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, SBFI) ist für die Regelung der Zuständigkeit (BBG Art. 51), für die Formulierung der Grundsätze der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung (BBG Art. 49) sowie für die Formulierung der Qualifikationsstandards in der Ausbildung der Beraterinnen und Berater zuständig. Die Mindestanforderungen an Bildungsgänge für Beraterinnen und Berater und auch die Inhalte der Qualifizierungen sind in der Berufsbildungsverordnung (Art. 56/57) geregelt.[3]

Die Kantone sind wiederum für die Durchführung der Maßnahmen verantwortlich und haben sogenannte „Zentralstellen für Berufs-, Studien- und Laufberatung“[4] installiert. Die Beratungsleistung, die diese Stellen erbringen, ist  unentgeltlich und richtet sich an alle Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichen Erwerbs- und Lebensphasen. Damit hat die Schweiz im Vergleich zu Deutschland die Vision eines flächendeckenden Beratungsangebots, das für alle zugänglich ist und von professionellen Beratungspersonen durchgeführt wird, nahezu erreicht und eine Inklusion aller Bürger gesichert.

Festzustellen ist, dass sich Deutschland und die Schweiz grundlegend in Bezug auf ihre Zielorientierung unterscheiden. Durch die starke Positionierung der Arbeitsagentur in der deutschen Beratungslandschaft ist die Berufsberatung stark an den Zielen des Arbeitsmarktes orientiert. Im Falle der BA ist die Berufsberatung nicht institutionell von der Stellenvermittlung getrennt. Beratungspersonen in der Arbeitsagentur übernehmen Verwaltungstätigkeiten des Staates zur Umsetzung der Arbeitsförderung und Wiedereingliederung nach dem SGB II und SGB III. Dadurch ist das Beratungssetting durch gesetzliche Erwartungen mitgeprägt, denen sich weder die Beratungsperson noch der Ratsuchende entziehen können.

Aufgrund der Qualifizierungsstandards kann mit Blick auf die Systematisierung des Wissens in der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung das Schweizer System als deutlich höher professionalisiert gelten als die Bildungs- und Berufsberatung in Deutschland. Nach Kurtz und Stichweh ist es die Monopolstellung, die eine professionell handelnde Berufsgruppe erst zu einer Profession macht (vgl. Stichweh 1992, 34ff.; Kurtz 1998, 105ff.). Grundsätzlich ist in beiden Ländern die Bildungs- und Berufsberatung ähnlich wie die Sozialarbeit an den Schnittstellen von mehreren Funktionssystemen angesiedelt. Ziel ist es, eine bessere Passung zwischen Subjekt, Bildungssystem und Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Schon dadurch gestaltet sich die Ausbildung einer Profession im Sinne des Einnehmens einer Monopolstellung innerhalb eines Funktionssystems schwierig.

Während in Deutschland die Gruppe der Berufsberater nicht durch eindeutige Qualifizierungswege zu kennzeichnen ist, kommt in der Schweiz den Psychologen als Berufsgruppe eine dominierende Stellung zu: sie sind es, die zum großen Teil das für die Ausübung der Beratung konstitutive Wissen zur Verfügung stellen und weiterentwickeln. Dies zeigt sich daran, dass die Berufs-, Studien und Laufbahnberatung als Teilbereich der Psychologie etabliert ist und den Psychologen diese dominierende Stellung durch entsprechende Berufstitel zuerkannt wird. Demgegenüber hat sich in Deutschland  aufgrund des mangelnden Berufsschutzes keine entsprechend dominante Berufsgruppe herausgebildet.

Nicht zuletzt weil es in Deutschland für die Berufsberatung keinerlei Zulassungsregelungen gibt, stehen hier vielfältige Qualifikationswege und auch Berufsbezeichnungen unsystematisch und uneinheitlich nebeneinander. Dies gilt auch für die Berater, die bei der Agentur für Arbeit tätig sind. Allerdings gibt es einen Verband für Bildungs- und Berufsberatung e.V. (dvb), der sich für die Qualitätssicherung und die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Grundlagen in der Beratung einsetzt. Auch der Schutz der Ratsuchenden vor unqualifizierten Beraterinnen und Beratern ist ein Anliegen des dvb – daher stellt er auf seiner Homepage auch Leitfäden zur Bewertung von Berufsberatungsleistungen zur Verfügung. Besonders hervorzuheben sind die Qualitätsstandards des dvb für die Berufsorientierung.[5] Darüber hinaus gibt es in Deutschland eine Deutsche Gesellschaft für Karriereberatung (DGfK)[6] und den Dachverband Deutsche Gesellschaft für Beratung e.V. (DGfB)[7], der über 30.000 Mitglieder organisiert. Ob die Einflussnahme dieser Verbände im Feld der Berufsberatung und Berufsorientierung zu einer Professionalisierung „von unten“ führen wird, bleibt abzuwarten. Eine explizit berufspädagogische Fundierung ist in den Papieren der Verbände jedenfalls nicht zu verzeichnen.

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen in der Schweiz regeln politische Zuständigkeiten, Finanzierung der kantonalen Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung sowie Berufstitel, Mindestanforderungen, Zulassungsbeschränkungen und ethische Verhaltensrichtlinien. Das Prinzip der Subjektorientierung wird in den Schweizer Konzepten der Berufsorientierung u. a durch den staatlich festgelegten und durch den Berufsverband ergänzten Berufskodex gewährleistet. Im Gegensatz zu Deutschland sind die Stellenvermittlungund die kantonalen Beratungsstellen in der Schweiz institutionell klar voneinander getrennt. Damit wird die Beratungsleistung als eine professionelle Dienstleistung anerkannt, in der die komplexen Belange von Einzelpersonen in direkter Interaktion mit professionell Handelnden bearbeitet werden.

Die Unterschiede in der Zielorientierung der Bildungs- und Berufsberatung in den beiden Ländern sind jeweils in den historischen Kontexten nachzuvollziehen: Die Ursprünge der schweizerischen Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung gehen auf die Lehrlingspatronate in der Zeit der Industriellen Revolution zurück. Die Berufswahlfreiheit überforderte die Jugendlichen (die traditionell den Beruf des Vaters erlernten), was wiederum dazu führte, dass das Problem der sinnvollen Integration der Jugend in die Arbeitswelt vermehrt diskutiert wurde (vgl. Heiniger 2003, 7ff.). In der Folge entstanden mit den Lehrlingspatronaten gemeinnützige Vereinigungen, die Fürsorge-, Vermittlungs- und Informationsfunktionen übernahmen (vgl. ebd.). Die Subjektorientierung ist also durch ihre Entstehungsgeschichte schon von Anfang an in der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung angelegt.

Die deutliche Arbeitsmarktorientierung der Arbeitsagentur in Deutschland wird ebenfalls durch ihr historisches Entstehen nachvollziehbar. Die Anfänge der Arbeitsagentur gehen auf die Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zurück (vgl. OECD 2002, 2684). Diese Zeit war geprägt von einer wachsenden Rationalisierung von Arbeitsplätzen, hohe Anforderungen an Qualifikationen und dem Ausloten von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen. Das deutsche Berufsprinzip war in dieser Zeit vor allem in seiner Allokationsfunktion funktional: die Arbeitgeber konnten angesichts der mangelnden Prognostizierbarkeit von Qualifikationsanforderungen anhand der berufsfachlichen Bezeichnung erkennen, über welche Qualifikation ein Arbeitnehmer verfügte. Die Stellenvermittlung der damaligen Arbeitsämter konnte sich bei relativ klaren Ordnungsverhältnissen in der Berufswelt als Maklerin, die die Passung zwischen beruflich Qualifizierten und beruflich definierten Stellen gewährleistet, profilieren (vgl. dvb 2011, 2). Die Nähe der Berufsberatung zur Stellenvermittlung ist auf die Vorstellungen des Berufsprinzips aus dieser Zeit zurückzuführen.

Aufgrund der kulturellen Pfadabhängigkeit der Entwicklung von (Berufs-)Bildungssystemen ist nicht davon auszugehen, dass sich Systeme anderer Länder ohne weiteres übertragen lassen. Dies zeigen auch Forschungen im Feld des policy-transfers im Feld der Berufsbildung (vgl. Bohlinger 2008). Deutschland ist zudem als Mitglied der EU den Zielen der Europäischen Bildungspolitik verpflichtet, die mit der Orientierung an der so genannten „aktiven Arbeitsmarktpolitik“ ökonomischen Prämissen unterliegt. In diesem Kontext stehen daher auch die europäischen Netzwerkaktivitäten zur Beratung und Begleitung: Das Konzept career guidance zielt auf die die Vermittlung zwischen den Systemen Bildungs- und Beschäftigungssystem, wobei die OECD berufliche Orientierung ausdrücklich als einen lebensbegleitenden Prozess versteht, der auch Weiterbildung, berufliche Umorientierungen und Wiedereingliederung nach Erwerbslosigkeit einbezieht (Niemeyer 2013, 85).

Euroguidance ist z. B. ein europäisches Bildungs- und Berufsberatungsnetzwerk, das über die Europäische Kommission im Rahmen des Programms Lebenslanges Lernen finanziell unterstützt wird. Über 30 Informationszentren in ganz Europa bieten Beratungsleistungen für Einzelpersonen und Beratungsfachkräfte an.[8] Darüber hinaus ist Deutschland mit dem Nationalen Forum in Bildung, Beruf und Beschäftigung auch an dem Europäischen Netzwerk für eine Politik lebensbegleitender Beratung (ELGPN) beteiligt. Dieses Netzwerk wiederum repräsentiert die Interessen der EU-Mitgliedsstaaten  bei der Entwicklung von Programmen und Systemen lebensbegleitender Beratung. Das ELGPN fördert die Kooperation der EU Mitgliedstaaten und der europäische Kommission mit dem Ziel, die Zusammenarbeit und die Entwicklung von Systemen auf Ebene der Mitgliedsstaaten für die Umsetzung der Prioritäten im Rahmen der Offenen Koordinierung mit Blick auf die EU Ratsempfehlungen zu lebensbegleitender Beratung  zu unterstützen.[9] Deutschland ist mit einer Delegation aus Vertreterinnen und Vertretern des BMBF, der KMK, der Bundesagentur für Arbeit und des Nationalen Forum Beratung (nfb) im ELGPN vertreten. Nationaler Ansprechpartner ist das BMBF. Da eine bildungs- berufsbiographiebegleitende Unterstützung in Deutschland institutionell nicht verankert ist, hat sich das nfb zum Ziel gesetzt, öffentliche und unentgeltliche Strukturen einer Berufs(laufbahn-)entwicklung für Erwachsene aufzubauen. Das Schweizer Modell dürfte dabei grundlegend sein.

Allerdings wird trotz der formalen, institutionalisierten Strukturen auch im Schweizer Berufsbildungsdiskurs ein Professionalisierungsbedarf für das Personal im Feld der beruflichen Orientierungen konstatiert: es müssten „transdisziplinäre Theorie- und Methodenansätze“ entwickelt werden, die „Reflexion des Handelns in komplexen Situationen ermöglichen und das Handeln unterstützen“ (Schaffner/Ryter 2013, 364). Dies zeigt, dass jenseits bildungspolitischer Fragen auch inhaltliche, didaktische und methodische Probleme der Berufsorientierung verstärkt thematisiert werden müssen. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine aktuelle Untersuchung des Bundesinstituts für Berufsbildung: Bylinski (2014) hat in einer Befragung von 57 Bildungsverantwortlichen aus Schule und Betrieb die Anforderungen, die sich für das Personal im Hinblick auf die Gestaltung der Übergänge und die Herstellung von Bildungsketten ergeben, beschrieben. Neben den Dimensionen Wissen und Können ist es insbesondere die Fähigkeit zu (Selbst-)Reflexion, die eine bedeutende Dimension der Professionalität des Personals darstellt. Neben der individuellen Begleitung und Beratung stellt die Autorin die Vernetzung, d.h. die multiprofessionelle Zusammenarbeit mit Verbänden und Institutionen heraus (253).

Aufgrund der mangelnden Qualifizierungsangebote in Deutschland müssen auch die Berater ihre eigene Kompetenzentwicklung reflexiv gestalten, d. h. ihre Professionalisierung individuell oder  im Rahmen einer kollegialen Supervision gemeinsam mit anderen vorantreiben. Dieser Anforderung stehen bekanntlich häufig die strukturellen Rahmenbedingungen der Organisation gegenüber. Aufgrund eines hohen Maßes an bürokratischer Organisationsstruktur und einer ausgeprägten institutionellen Beharrungskultur dürfte dies in besonderer Weise für die Agenturen für Arbeit gelten (vgl. Hiestand et al. 2011). Eine Professionalisierung von Beratung in diesem Sinne kann nur gelingen, wenn für die Berater und Vermittler in den Agenturen lernförderliche Arbeitsbedingungen bestehen bzw. dauerhaft hergestellt werden. Dieser Aspekt wäre auch als qualitätssicherndes Merkmal in Beratungskonzeptionen der BA zu formulieren (vgl. Rübner 2009).

5 Fazit und Ausblick

Berufsorientierung ist ein konstruktivistischer Prozess, in dem weniger objektive Daten (wie z. B. gemessene Interessen und Fähigkeiten) relevant sind, sondern vielmehr die subjektive Interpretation und Bedeutungszuschreibung. Insofern sollten Personen darin unterstützt werden, „Klarheit über eigene Werte und Ziele zu erreichen und diese als Leitlinie für ihre persönliche und völlig individuelle Laufbahn- und Lebensgestaltung zu nehmen, die sich nicht nach den Vorgaben von Unternehmen richtet.“ (Hirschi 2013, 35)

Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist gefordert, auch jenseits der Übergänge von Schule und Beruf Theorien und Konzepte zu entwickeln, die eine berufliche Orientierung im Kontext des lebenslangen Lernens ermöglichen. Dabei geht es zum einen um die Beschreibung und Analyse der bildungspolitischen Strukturen, in denen spezifische Interessen und Machtverhältnisse wirksam werden. Zum anderen geht es aber auch um die Begleitung der Professionalisierung des Personals in Schule und Betrieb in spezifisch berufspädagogischer Perspektive. Auch im traditionellen „Kerngeschäft“ der Berufspädagogik – der beruflich-betrieblichen Aus- und Weiterbildung – kommt Berufsorientierung in dem oben beschriebenen Sinn eine immer größere Bedeutung zu: Berufliche Orientierungskompetenz muss in der beruflichen Erstausbildung erworben werden und es braucht berufswissenschaftliche Forschung, deren Erkenntnisse dann in die Curriculumkonstruktion eingehen und in die Aus- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer an berufsbildenden Schulen implementiert werden.

Alle Institutionen der allgemeinen und beruflichen Bildung sind gefordert, in diesem Prozess Unterstützungsleistungen zu erbringen. Dies gilt nicht nur  im Rahmen von Beratung und Begleitung, vielmehr muss die grundlegende Kompetenz zur beruflichen Orientierung erworben werden. Die große Herausforderung für die Lehrerbildung liegt darin, dass Lehrer diese Leistung ihrerseits kaum selbst vollbringen müssen, weil sie zu den Berufsgruppen gehören, die i.d.R. ihren Beruf ein Leben lang ausüben. Damit ist für ihre Beruflichkeit ein hohes Maß an Kontinuität nach wie vor gegeben. Zu fragen ist, wie Lehrer ihre Schüler auf etwa vorbereiten können, was sie selbst nicht erfahren haben.

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[1] Vgl. dazu zwei interdisziplinäre Forschungsprojekte (BWL, Organisationspsychologie und  Berufspädagogik) an der Universität Trier: 1. Das von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierte Projekt  „Kompetenz- und Organisationsentwicklung als Faktoren erfolgreicher Wissensarbeit“ 2. „ALLWISS – ARBEITEN – LERNEN – LEBEN IN DER WISSENSARBEIT“. Forschungs- und Entwicklungsvorhabens im Bereich „Förderung der Innovationsfähigkeit durch das Prinzip der Work-Life-Balance“ der BMBF- Initiative „Balance von Flexibilität und Stabilität in einer sich wandelnden Arbeitswelt“ www.allwiss.de

[2] Vgl. die Programmreichen “Lernende Region – Förderung von Netzwerken” 2001-2007 und das Anschlussprogramm “Lernen vor Ort”

[3] http://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20031709/index.html#a56 

[4] http://www.berufsberatung.ch/

[5] http://www.dvb-fachverband.de/fileadmin/medien/grundsatzpapiere_dvb/Qualitaetsstandards_Orientierung_2009.pdf , (8.08.2014)

[6] http://www.dgfk.org

[7] http://www.dachverband-beratung.de

[8] http://www.arbeitsagentur.de/web/content/DE/service/Ueberuns/WeitereDienststellen/ZentraleAuslandsundFachvermittlung/Ueberuns/Euroguidance/index.htm – (29.7.2014)

[9] http://www.forum-beratung.de/cms/europaeisches-netzwerk-fr-beratung-elgpn/index.html - (29.7.2014)

Berufsorientierung als CASTING? Bericht und Reflexion zu einer subjektbezogenen Konzeption

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1 Einleitung

Die Berufsbildungsberichte der Bundesregierung gehen in den letzten Jahren immer wieder auf das Problem einer Verbesserung der Vernetzung der Schulen mit den Betrieben ein. So gilt den Berufsbildungsexperten die Berufsorientierung von Jugendlichen an den Schulen als unzureichend. Die Befunde zeigen, dass die Berufswahl häufig wenig fundiert und von falschen Erwartungen geprägt ist. Auch fehlt es an realistischen Eindrücken über Anforderungen und Perspektiven der Arbeitswelt und Berufspraxis – so der allgemeine Tenor. Einer der prägnantesten und empirisch gesicherten Befunde für diese Auffassung ist der Ausbildungsabbruch. Im Schnitt wird etwa jeder vierte neu abgeschlossene Ausbildungsvertrag während der Ausbildung wieder gelöst(vgl. Bundesinstitut für Berufsbildung 2014, 9).

Fragt man nach den tieferliegenden Gründen für das „ungelöste Problem Berufsorientierung“, dann stößt man auf vier Begründungszusammenhänge:

  1. Die Ansprüche an Berufsorientierung und -beratung sind transformationsbedingt angestiegen, und zwar als Folge des (insbesondere technisch-ökonomischen) Strukturwandels sowie der damit einher gehenden, veränderten Anforderungen an berufliche Qualifikationen und Kompetenzen. Neue Produktions- und Dienstleistungsstrukturen zeichnen sich vor allem durch einen höheren Grad an Komplexität aus und zugleich durch einen höheren Grad an Rationalität. Oehme beschreibt die Konsequenzen dieser dynamischen Entwicklungen auf Prozesse der Berufsorientierung als 'Desintegrations- bzw. Orientierungsdilemma' (vgl. Oehme 2013, 637).

    "Das Orientierungsdilemma besteht aus dieser Perspektive in der Dynamik, die quasi Orientierung auf einer Bühne erfordert, auf der ständig die Kulissen verschoben werden. Der Mensch in der modernen Arbeitswelt, so könnte man formulieren, steht immer wieder vor der Herausforderung zur Um- und Neuorientierung, um im ständigen Strom sich entsprechend weiter zu entwickeln, um dem verlagerten Werk nachzuziehen, sich neue Betätigungsfelder zu erschliessen - d.h. um immer wieder berufliche Integrationschancen zu suchen und zu nutzen." (Oehme 2013, 637)

    Das Desintegrations- bzw. Orientierungsdilemma hat zur Konsequenz, dass im Rahmen von Berufsorientierungsprozessen auch immer die Expertise im Bezug auf die Produktionsprozesse der entsprechenden Berufsfelder mit einbezogen werden müssen. Konkret erforderlich sind dementsprechend  einerseits eine systematische Rezeption aktueller Erkenntnisse der Arbeitsprozessforschung seitens der beteiligten pädagogischen Akteure und andererseits das Einbeziehen der Arbeitgeberperspektive in die operativen Berufsorientierungsprozesse.

  2. Es sind viele verschiedene Institutionen (Eltern, Schulen, Berufsinformationszentren, Unternehmen durch betriebliche Praktika, Jugendhilfe, etc.) an formalen und informellen Prozessen der Berufsberatung beteiligt. Diese Institutionen verfolgen jedoch jeweils auch eigene Perspektiven und Interessen, was der Tendenz nach eher nicht zu einer kohärenten Berufsorientierung der Subjekte beitragen kann, da die Jugendlichen mit der Integration der verschiedenen Beratungen in eine auf individuelle Potentiale fokussierte Gesamtperspektive allein gelassen werden. Oehme (vgl. Oehme 2013, 641ff.) bezeichnet diese Tatsache als 'Institutionalisierungsdilemma'. Gemeint ist eine nicht abgestimmte Informationsflut, welche die Jugendlichen zur Verarbeitung auffordert, ohne diese Verarbeitungsaufforderung unterstützend zu moderieren.

  3. Es kann gezeigt werden, dass die Prozesse der Berufsorientierung von der sozialen Herkunft der jungen Menschen beeinflusst wird. Eltern sind z.T. kaum mehr in der Lage, die neuen zeitgemäßen Wissensbestände mit ihren Kindern zu erörtern, geschweige zu tradieren. Zu sehr sind die Eltern in der Demobilisierung ihrer alten Wissensbestände gefangen. So fallen die natürlichen Quellen der Orientierung zunehmend weg, wie auch Neuenschwander im Hinblick auf 'Elternarbeit in der Berufsorientierungsphase' feststellt.

    "(...) Eltern [können, ED] überfordert sein, ihre Kinder angemessen im Berufsorientierungsprozess anzuleiten. Insbesondere Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus Nichtakademiker-Familien müssen weitgehend selbstständig die Studienwahl treffen. Viele Eltern sind auch beim Übergang in die Berufsausbildung mit der Beratung überfordert und müssen sich Informationen über Ausbildungsgänge und Berufsfelder selbst beschaffen bzw. sind auf Hilfe durch kompetente Übergangsfachleute angewiesen." (vgl. zu diesem Zusammenhang z. B. (Neuenschwander 2013))

    Diese Entwicklung legt es nahe davon auszugehen, dass es eines neuen professionellen und institutionalisierten Settings für Prozesse der Berufsorientierung bedarf, welches das im Rahmen der primären Sozialisation transformationsbedingt entstandene Informationsdefizit auszugleichen vermag.

  4. Die empirischen Untersuchungen zeigen eine deutliche Zunahme der Pluralisierung von Familien- und anderen Lebensformen. Die private Betreuungs- und Bildungssituation von Kindern wird in erheblichem Maße durch die Zunahme Alleinerziehender, das Sinken der durchschnittlichen Geschwisterzahl, das steigende Alter bei der Erstelternschaft sowie durch die abnehmende Stabilität von Familienstrukturen beeinflusst. Ein signifikanter Hinweis darauf ist die wachsende Zahl von Ehescheidungen, die sich zwischen 1990 und 2013 von jährlich 273,8 auf 357,1 pro 1.000 Einwohner erhöht hat [Summe der ehedauerspezifischen Scheidungsziffern, die sich als geschiedene Ehen eines Eheschließungsjahrgangs je 1 000 geschlossene Ehen desselben Jahrgangs ergeben, für die Ehedauer von 0 bis 25 Jahren. (vgl. Statistisches Bundesamt 22.7.2014)]. Zugenommen hat damit auch der Anteil der Kinder, die bei einem geschiedenen Elternteil leben.

Diese Entwicklungen markieren insgesamt eine deutlich veränderte Ausgangslage, die auch das Verhältnis von Familie und Schule berührt und in vielen Fällen die Unterstützungsmöglichkeiten von Kindern bei der Bewältigung schulischer Anforderungen beschränkt und Schulen zugleich eine lebensweltsensiblere Berücksichtigung veränderter Familienbeziehungen abverlangt. Die Rahmenbedingungen bewirken zugleich auch eine veränderte „Binnenperspektive“  der jungen  Menschen. Die veränderte Binnenperspektive bewirkt möglicherweise allerdings eine Affinität Jugendlicher zu potentialorientierten Ansätzen von Berufsorientierungprozessen abseits ausgetretener Pfade wie standardisierter Bewerbungstrainings, etc. Der folgende Exkurs soll vor diesem Hintergrund in theoretisch rückvermittelnder Weise Aufschluss darüber geben, warum Berufsorientierung im Medium von Casting-Verfahren helfen könnte, sowohl die Explikation des Humanpotentials Jugendlicher als auch die entsprechende Passungsfindung zu Berufs- bzw. Tätigkeitsfeldern lebensweltsensibel zu moderieren.

1.1 Jugendliche Binnenperspektive: Narzissmus und Ichideal

Zima analysiert die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen vor dem Hintergrund aktueller Sozialisationsbedingungen(vgl. zu diesem Abschnitt Zima 2009) und greift dabei die oben bereits skizzierten Aspekte des strukturellen Wandels auf. Insbesondere fokussiert er den Narzissmus als ambivalenten Charakterbestandteil, der einerseits die produktive Kraft, Großzügigkeit, Bejahung des Anderen und der Alterität beschreibt, andererseits aber auch die destruktive Kraft, den Neid und die Verneinung des Anderen und der Alterität. Er konstatiert in einer Kernthese, dass

"(...) der Narzissmus integraler und unverzichtbarer Impuls einer sich dialogisch entwickelnden individuellen Subjektivität ist, die von Kritik und Zustimmung der anderen abhängt, dass er aber jederzeit in eine monologische Negation des anderen umschlagen kann, wenn der Andere dem Subjekt als Vorwand oder als Hindernis erscheint oder selbst diese Rolle spielt." (Zima 2009, 88)

Eine instrumentelle Einstellung zu anderen Menschen - die als Vorwand oder Hindernis aufgefasst werden - kann sowohl in der primären als auch in der sekundären Sozialisationsphase entstehen. Solche Entwicklungen können beispielsweise durch zerfallende Familien mangels idealisierter Elternbilder oder durch elterlichen Ehrgeiz, welcher von Herrschaftsverhältnissen, Hierarchien und Marktmechanismen geprägt ist, entstehen. Im Zuge von institutionalisierten (Aus-)Bildungsprozessen kann es dazu kommen, dass die anderen Kinder/Jugendlichen durch Konkurrenzdruck als Hindernis erkannt werden, so kann der gesunde vom malignen Narzissmus im Laufe der Zeit verdrängt werden - in praxi greifen die Mechanismen ineinander und die Dominanz einer über die andere Form entwickelt sich im Laufe der Sozialisation. Will das narzisstische Individuum durch einen anderen Menschen ein Ziel erreichen, so ist die Rede vom anderen nicht als Dialogpartner sondern als Vorwand (via Instrumentalisierung, Vereinnahmung, Reduktion).

Die Gründe für die Entwicklung sind offensichtlich in der gesellschaftlichen Transformation zu suchen. Erstens wird der Rückgang des liberalen Unternehmertums in Verbindung mit der Schwächung des Berufsethos als Begründungszusammenhang in Betracht gezogen. Demzufolge bildet der Einzelne statt eines beruflichen Ichideals ein freizeitbezogenes Idealich aus. Ichideale von Religion, Beruf und Familie lösen sich durch die Erosion von beruflichen Identitäten und tradierten Berufsbildern auf, welche durch 'Jobs' und 'Projekte' abgelöst werden. Der Beruf wird begrenzt auf einen Job, eine Geldquelle, also auf seinen marktbezogenen Tauschwert. Die Reaktion des Individuums bezieht sich auf den verbleibenden Spielraum: die Freizeitwelt - Konsum, infantile Größenfantasien, Imaginäres, die profane Welt der freizeitbezogenen, leistungsorientierten Selbstverwirklichung, soziale Zuflucht in kommerziell organisierte und infantile Regression der Freizeitindustrie. Das Idealich wird von Werbung und Wirtschaft adressiert und unterliegt permanent der Gefahr manipuliert zu werden.

Der zweite Grund liegt für Zima im gesellschaftlichen Wertezerfall. Das Ichideal wird durch zunehmende gesellschaftliche Differenzierung und ideologische Zersplitterung der Gesellschaft geschwächt. Traditionen sowie religiöse oder künstlerische Ideale verlieren an Wert und Verbindlichkeit bzw. gelten nur noch in spezifischen (Freizeit-) Sphären. Dies führt zur Flucht ins imaginäre Idealich als Reaktion auf Sinn- und Legitimitätsverlust. Durch den erodierenden Wert des Berufs und die rein funktionale Betrachtung als Job wird der Narzissmus als Idealich möglicherweise in der Freizeit befriedigt. Es koexistieren gleichzeitig multiple Wertesysteme, die sich z.T. auch noch widersprechen. An die Stelle religiöser, kultureller und sozialer Werte tritt der Tauschwert als einziger von Allen gleichermaßen anerkannter Wert.

"Alles was über den Bereich individueller Subjektivität hinausgeht, wird abgewertet oder vernachlässigt. Überindividuelle, kollektive Werte, die Individuen miteinander verbinden, solidarisieren, treten in den Hintergrund und werden durch Vorstellungen ersetzt, die dem Bereich des Idealichs angehören. In diesem Bereich erscheint der andere vorwiegend als Vorwand oder gar als zu meidendes oder zu beseitigendes Hindernis - nicht als Vertreter einer Wertgemeinschaft, als Ko-Subjekt." (Zima 2009, 130)

Ein dritter Grund für die sich verändernden Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung der heranwachsenden Generationen scheint im Wandel der traditionellen Familie zu liegen. Die Familie als kleinste Wertegemeinschaft und spezifische Form symbolischer Ordnung der Gesellschaft zerfällt, die (nicht zuletzt über die berufliche Position vermittelte) Stellung des Vaters wird im Zuge von Arbeitsteilung und ansteigender Fragmentierung der Arbeit zusätzlich geschwächt. Ein weiterer Trend besteht in der Trennung des Vaters von der Familie, sei sie temporal, räumlich, emotional oder juristisch-dauerhaft. Hiermit gehen die Abkehr von väterlichen Ichidealen und die Hinwendung zu mütterlich-imaginärem Idealich einher. Der Narzissmus eines imaginären Idealichs wird zum sozialen Erbe innerhalb der Familie, mütterliches Streben nach Symbiose und Harmonie mit dem narzisstisch geliebten Kind ist monologisch und führt zum Narzissmus der jungen Generation die nach Geborgenheit und Allmacht strebt, wie aktuelle Studien der Jugendforschung (vgl. Rheingold Institut 09.09.2010) und Demokratieforschung (vgl. Decker 2014; Heitmeyer 2011) belegen können.

Der aktuelle Trend zur medialen Forcierung des Idealichs stützt Zimas These weiter. Durch die tendenzielle Aufhebung des Realitätsprinzips forcieren die Medien die Entfaltung des Idealichs, Wunschvorstellungen und Selbstprojektionen werden bestätigt und durch Identifikationsangebote gestützt, dialogische Beziehungen werden durch monologisch-narzisstische Projektionen von Idealich-Vorstellungen ersetzt. Gleichzeitig zerfällt der familiäre Kommunikationszusammenhang, da jeder in der Medienwelt ein anderes Idealich verfolgt. Das medial vermittelte Idealich bleibt allerdings durch ein hohes Tempo der Veränderungen labil und ohne stabilisierenden Wert.

"Obwohl die Starkarriere im Fernsehprogramm als 'gesellschaftliches Ideal präsentiert' wird, lässt die Kurzlebigkeit der jugendlichen Laufbahnen vermuten, dass es im Wesentlichen um die Befriedigung eines infantilen Narzissmus geht, der primär auf das Idealich als 'grandioses Selbst' ausgerichtet ist und dem die Verwirklichung gesellschaftlicher, künstlerischer Normen und Werte nicht gilt - zumal in den Augen vieler Teilnehmer die 'Körperinszenierungen der Stars' im Mittelpunkt stehen." (Zima 2009, 142)

Casting-Programme[1] oder virtuelle Welten wie ‚Second Life‘ und 'Facebook'(vgl. Turkle 2012) dienen als digitale Inszenierung des Imaginären der Flucht ins mütterlich-imaginäre (in Kohuts 'infantiles Größenselbst,) und schaffen so eine neue Dimension für das Idealich, in welcher sich die Jugendlichen ganz offensichtlich heimisch fühlen, wie aktuelle Jugendstudien bestätigen (vgl. z. B. Maschke et al. 2013, 85ff.).

1.2 Hypothesen

Folgende Hypothesen werden unter Rückgriff auf die Erkenntnisse der Studie von Zima formuliert:

  1. Zima zu Folge kann davon ausgegangen werden, dass Jugendliche, welche zur Zielgruppe von Berufsorientierungsprozessen gehören, ein ausgeprägtes „Ich“ aufweisen können, das sich nur zum Teil an der sozialen Realität, viel häufiger aber an individuellen und an den peer group Maßstäben orientiert. Die Quellen für diese Selbstbilder stammen aus „Wunschbildern“ und Peergroup-Rückmeldungen, die tendenziell eher eine kompensatorische Realitätsflucht darstellen. Das „Ich“ wird also weniger von tatsächlichen, am Real-Selbst orientierten Erfahrungen gebildet, sondern es dominieren Aspekte des Ideal-Selbst. Der dritte Selbstaspekt, das Moral-Selbst,konkretisiert sich im „Ich“ ebenfalls nur in ausschnitthaften Facetten – sofern sie zur Peergroup Norm und zum eigenen Wunschbild passen.
  2. Die Motivation des sozialen Handelns wird durch Machtmotivation dominiert (vgl. Rheinberg 2004, 100ff.), wobei hier das Ziel in der Erlangung von Anerkennung und Beachtung durch andere Personen liegt. Diese sog. personalisierte Macht – im Kontrast zur sog. sozialisierten Macht kennzeichnet ein Streben nach Dominanz und/oder Aufstieg in der Gruppenhierarchie, wobei auch hier die Bezugsgruppe vornehmlich in der Peergroup zu sehen ist. Außerhalb dieses Kontextes bestehen kaum Chancen, die Anerkennung zu verwirklichen.
  3. Die entweder unrealistisch hohe oder zu niedrige Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten führt zu unangemessenen Aufgaben- oder Berufswahlen. So driften in einem „Teufelskreis“ von Aufgabenwahlen und Selbsteinschätzungen die Selbstbilder immer weiter von der individuellen Realität ab. Durch „erschwindelte“ Leistungen in der Schule genauso wie durch aktive Leistungsverweigerung können kaum echte Erfolgserlebnisse, die durch Emotionsverläufe von Freude, Stolz und Selbstvertrauen gekennzeichnet sind, entstehen. Ein in vielen Fällen grundsätzlich vorhandenes Leistungsmotiv (vgl. Rheinberg 2004, 59ff.) der Jugendlichen kann sich unter diesen Bedingungen nicht entfalten.
  4. Die Tatsache, dass Jugendliche Lebenswelten offensichtlich zumindest zum Teil durch eine medial gestützte Realitätsflucht geprägt sind, darf nicht ignoriert werden. Nimmt man das Postulat Klafkis hinsichtlich der Gegenwartsbedeutung und der Zugänglichkeit von Stoffen ernst, so kommt man nicht umhin sich mit dem Casting-Format als didaktischem Verfahrenselement, auch für Berufsorientierungsprozesse zu befassen. Charakteristisch für dieses Verfahren ist die Notwendigkeit für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich Gedanken darüber zu machen, wie Kompetenzen in performativen Praxen sichtbar gemacht werden können. Es ist essentiell in diesem Verfahren eine Form der 'Inszenierung' der eigenen Kompetenzen zu wählen, welche ein Fachpublikum überzeugen kann. Die so entstehende Performanz gegenüber einer Gruppe von Experten greift aus subjektbezogen-motivationstheoretischer Perspektive auf Zimas Erkenntnis bzgl. des Trends zum inszenierten Ausleben von Potentialen auf. Auf diese Art und Weise kann die konstatierte Veränderung der Binnenperspektive Jugendlicher unter spezifischen Bedingungen konstruktiv im Sinne der Berufs(wahl)orientierung als Zugang zu Humanpotentialen gewendet werden. Die spezifischen Bedingungen resultieren aus der Kritik an gängigen Casting-Formaten bzgl. der Realitätsentkopplung von Zielperspektiven (kurzlebige 'Superstar-Karrieren'). Dementsprechend gilt es ein didaktisch reflektiertes Casting-Verfahren zu generieren und auf sein Potential im Rahmen von Berufsorientierungsprozessen zu überprüfen. Eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe kommt in diesem Setting insbesondere der Jury zu, welche eine realistische, nicht interessengesteuerte Einschätzung objektivierter, individueller Potentiale und Kompetenzen zu leisten im Stande sein muss.

Insgesamt führt diese subjektbezoge-motivationstheoretische Sicht zu der Einsicht, dass Berufsorientierung stärker an realistischen Bezugsnormen und echten Erfolgserlebnissen zu orientieren ist, gleichzeitig aber mit Blick auf die Verfahren lebensweltliche Bezüge nicht außer Acht lassen darf. Zu den gesicherten Kenntnissen gehört, dass eine fundierte, systematische und strukturierte sowie kontinuierliche Berufsorientierung und Berufsberatung nur dann wirksam und wirtschaftlich ist, wenn die Akteure zur Kooperation bereit sind (vgl. hierzu auch (Eckert 2006; Kampmeier 2006; Obolenski 2006; Schreier 2006). Da Lehrkräfte in allgemein bildenden Schulen die Aufgabe der Berufsorientierung nicht alleine bewältigen können, wird in den Berufsbildungsberichten ein abgestimmtes Zusammenwirken der allgemein und berufsbildenden Schulen und der Berufsberatung der Bundesagentur für Arbeit für erforderlich gehalten. In diesem Zusammenhang werden die folgenden vier Ansatzpunkte für eine Verbesserung der Situation genannt:

  • systematisierte Beratungs- und Orientierungsangebote der Bundesagentur für Arbeit zur Berufsorientierung für Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer und Eltern,
  • Schülerbetriebspraktika in den Sekundarstufen I und II,
  • Partnerschaften auf Vertragsbasis zwischen Schulen und Betrieben/Verwaltungen,
  • die Einführung arbeitsweltbezogener Inhalte im Unterricht ab der 8. Klasse.

Diese Perspektiven - gebündelt im Kooperationspostulat (a) und in der subjektbezogen-motivationstheoretisch Legitimation für das Casting-Verfahren (b) - fließen in einen sozialräumlich orientierten Ansatz von Berufsorientierung ein.

2 Sozialräumlich orientierte Berufsorientierung

  1. Die Perspektive des Kooperationspostulats wird durch die Grundstruktur der Konzeption aufgegriffen. In ihrer Grundstruktur folgt die hier vorgestellte Konzeption von Berufsorientierung dem Sozialraumansatz (vgl. Deinet 2012), wie er auch schon von Buchmann und Huisinga im Rahmen eines Projekts zur Alphabetisierung erprobt wurde (vgl. Buchmann/Huisinga 2011). Insgesamt geht es um ein neues Zusammenwirken durch die Vernetzung der Akteure vor Ort, in diesem Fall insbesondere der Vernetzung von Jugendlichen, Schulen und der Arbeitgeberseite. Zu den zu beteiligenden Akteuren gehören weiterhin Eltern, Ausbildungsinitiativen und weitere Koordinierungsstellen in kommunaler oder freier Trägerschaft, auf welche in diesem Beitrag allerdings aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden kann. Die Vernetzung muss das oben entfaltete Bedingungsgefüge hinsichtlich jugendlicher Lebenswelten und Persönlichkeitsentwicklung systematisch berücksichtigen.
  2. Die subjektbezogen-motivationstheoretische Perspektive, wie sie in Kapitel 1 entfaltet wurde, legitimiert die Entscheidung für ein Casting-bezogenes Verfahren, welches sich in fünf Schritte gliedert und die Aspekte der veränderten Binnenperspektive und des Identitätsmodell aufgreift. Nach einem Vorlauf, der 'Coaching' für die pädagogischen Akteure und 'Briefing' für die Arbeitgebervertreter beinhaltet, werden die eigentlichen Workshops durchgeführt. In der ersten Potentialrunde werden - unterstützend moderiert durch entsprechend gecoachte Pädagoginnen und Pädagogen - von den Jugendlichen 'Self-Descriptions' bezogen auf ihr Kompetenzspektrum angefertigt. Diese Selbstbeschreibungen werden in der zweite Potentialrunde im Rahmen eines 'Peer-Reviews' rückgekoppelt und in der dritten Potentialrunde exemplarisch im Sinne der Performanz objektiviert. Der abschließende, fünfte Schritt besteht im eigentlichen Casting, also der Präsentation der Potentiale gegenüber einer Jury, konstitutiert aus Experten des Arbeitsmarktes. Die Details der einzelnen Schritte werden in Kapitel 2.2 ausführlich referiert.

Grundsätzlich folgt die Konzeption der Auffassung, dass die

  • Berufsorientierung Teil der schulischen Allgemeinbildung ist;
  • Berufsorientierung ein wesentliches Bindeglied zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem darstellt;
  • Berufsorientierung eine Kern- und Querschnittsaufgabe für alle Lehrkräfte ist und fachübergreifend wahrgenommen werden sollte;
  • Berufsorientierung weiterer Partner, insbesondere aus der Wirtschaft, der Arbeitsverwaltung, Kammern, Innungen, Verbänden sowie Bildungsträgern bedarf;
  • Berufsorientierung auch auf die Eltern verwiesen ist.

Der Sinn und der Nutzen der geforderten Kooperation liegt darin, dass

  • Schulen und Betriebe die Möglichkeit erhalten , ein gemeinsames Verständnis von Ausbildungsreife und Berufsorientierung zu entwickeln und umzusetzen;
  • Berufsvorbereitungsunterricht für die Schülerinnen und Schüler greifbarer und nachvollziehbarer wird, weil Aspekte der Arbeitswelt einbezogen werden;
  • Schulen durch die Kooperationen zusätzliches Potenzial erhalten, ihren Bildungsauftrag zu erfüllen;
  • Schülerinnen und Schülern arbeitsweltbezogene Entscheidungen angemessener treffen können und motivierter ihre Vorstellungen vortragen können;
  • Unternehmen als Lernpartner künftige Auszubildende werben und sich als attraktiver Arbeitgeber präsentieren können;
  • betriebliche Ausbilder und schulische Lehrkräfte neue Kooperationsbeziehungen eingehen, welche die Personalentwicklung stärken;
  • Schulen und Betriebe ihr Ansehen in der Öffentlichkeit verbessern, wenn sie gemeinsam gesellschaftliche Verantwortung für die nachwachsende Generation in ihrer Region wahrnehmen.

2.1 Äußere und innere Organisationsstruktur

Im Hinblick auf die äußere Organisationsstruktur des sozialen Netzes soll auf einige notwendige Bedingungen hingewiesen werden. In der Praxis zeigt sich, dass es für die Netzwerkbildung in aller Regel eine Basis gibt. Wichtig im Feld der Berufsorientierung sind seit Jahren die Bundes- und Landesarbeitsgemeinschaften Schule-Wirtschaft mit ihren bundesweit über 400 regionalen Arbeitskreisen. Aber auch die Projekte und Initiativen der Industrie- und Handelskammern sowie der Handwerkskammern bieten vielfältige Anknüpfungspunkte. Diese Institutionen können helfen, erste oder weitere geeignete Partner zu gewinnen. In manchen Regionen gibt es bereits regionale Bildungsnetzwerke, in denen sich viele Partner vor Ort entsprechend der konkret vorhandenen Bedürfnisse engagieren. Auch die Vereine, die Arbeitsagenturen, die Schulverwaltungen und die Kommunen mit ihren Jugendhilfeeinrichtungen können einbezogen werden. Die Rahmenvereinbarung von Kultusministerkonferenz und Bundesagentur für Arbeit zur Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung sowie die entsprechenden Vereinbarungen auf Landes- und auf lokaler Ebene, wie etwa die „Beiräte Schule Beruf“ in Nordrhein-Westfalen, bieten einen weiteren Anknüpfungspunkt für gemeinsame Initiativen. Im Rahmen solcher Initiativen und Netzwerke lässt sich eine Akteursvernetzung - insbesondere zwischen Schulen und Arbeitgebervertretern - für die sozialräumlich orientierte Konzeption von Berufsorientierung generieren.

Innerhalb der an der Konzeption beteiligten Schulen sollten die Kolleginnen und Kollegen fächerübergreifend beteiligt werden. Eine Berufsorientierung, welche sich dem Gedanken des Arbeitslehre-Unterrichts folgend nur auf ein Schulfach bezieht, erscheint vor dem Hintergrund der weiter oben entfalteten Argumentation hinsichtlich des gesteigerten Komplexitätsgrades von Produktionsprozessen und die damit verbundenen Kompetenzerfordernisse wenig erfolgsversprechend. Die Konzeption basiert auf der Annahme, dass zum Aufspüren, Entwickeln und Entfalten von jugendlichen Humanpotentialen alle (Fach-)Disziplinen beteiligt werden müssen. Die Konzeption geht nicht davon aus, dass sich diese Humanpotentiale allein in Medium berufsfeldbezogener Lernsituationen als Arbeitskraftpotentiale entwickelt werden können. Das Gegenteil ist der Fall - je mehr Fachdisziplinen am Prozess der Berufsorientierung unbeteiligt bleiben, umso größer wird die Gefahr 'blinde Flecken' zu provozieren. Dementsprechend sollte im Rahmen der Durchführung der einzelnen Phasen der Konzeption (siehe Kap. 2) Wert darauf gelegt werden, die Berufsorientierung als Kern- und Querschnittsaufgabe für alle Lehrkräfte fächerübergreifend zu organisieren. Diese Fokussierung trägt auch der Tatsache Rechnung, dass technisch-ökonomischer und sozialer Wandel eine Flexibilität seitens der Jugendlichen als 'permanente Orientierungsfähigkeit' erfordern. Sowohl die Primäraufgabe der Berufsorientierung als auch die weiterführende Entwicklung und Entfaltung der transparent gemachten Kompetenzen bedürfen des Rückgriffs auf allgemeine Bildungsgehalte (Gesetzmäßigkeiten, Relationsgefüge, Codierungs- und Decodierungsmuster, Grammatiken, etc.), welche den Jugendlichen quasi als 'Handwerkszeug' die lebenslange, berufliche und private Orientierung unter Bedingungen gesellschaftlicher Transformation ermöglichen können. Ohne klare Kommunikations- und Kooperationsstrukturen kann kein Projekt gelingen. Erfolgsfaktoren für eine solche Kooperation sind Systematik, Kontinuität, Kommunikation und Verantwortungsbewusstsein. Die Festlegung einer geeigneten Organisations- und Kooperationsstruktur beginnt daher bereits mit einer Zielformulierung bzw. Zielvereinbarung. Eindeutige Zielvorgaben, die möglichst in kleinen Schritten, also realistisch formuliert sind, wirken sich positiv auf die Motivation aller Beteiligten aus. Für alle Beteiligten und Interessierten an den laufenden oder geplanten Initiativen und Projekten ist stets zu gewährleisten, dass sie freien Zugang zu den relevanten Informationen haben. Ein kontinuierlicher Informationsaustausch sichert die Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Hierbei können regelmäßige Treffen oder Sitzungen eine gute Orientierungshilfe darstellen. Praktisch und hilfreich ist es in diesem Zusammenhang auch, feste Ansprechpartner in den beteiligten Institutionen zu benennen. In einer Dokumentation, die für alle an der Initiative Beteiligten zugänglich ist, stehen Namen, Anschriften, Telefonnummern und E-Mail-Adressen und gegebenenfalls auch feste Sprechzeiten und Vertretungen. Weiterhin erleichtern eine Liste vorhandener und notwendiger materieller und finanzieller Ressourcen sowie eine klare Zuordnung von Aufgaben, die auf Dauer angelegte Kooperationsbeziehung durchzuführen und laufend zu evaluieren. Um die vorhandenen Angaben übersichtlich zusammenzustellen, sind ein Projektstrukturplan und ein Projektablaufplan hilfreiche Instrumente. Umfang und Struktur dieser Pläne sind da-

bei abhängig von den geplanten Maßnahmen zur Berufsorientierung und Berufswahlvorbereitung. Eine Übersicht in Form einer Checkliste kann – in Verbindung mit Zeitvorgaben und der Benennung der zuständigen Personen – eine gute Informationsgrundlage für alle Beteiligten liefern. Bei aller erforderlicher Strukturplanung ist es aber auch wichtig, nicht zu stark zu formalisieren.

2.2 Konzeption

Entscheidend für einen berufsorientierenden Erfolg ist ein Gesamtkonzept, in dem die einzelnen Bestandteile aufeinander abgestimmt sind und sich funktional ergänzen. Berufsorientierung und Berufswahlvorbereitung müssen als Auftrag der ganzen Schule in der Konzeption und Umsetzung kontinuierlich mit den Rahmenbedingungen abgeglichen werden. Folglich kann die Konzeptentwicklung – in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft – nicht endgültig abgeschlossen und die Qualität eines Berufsorientierungskonzepts nicht allgemein gültig festgelegt werden.

Die Konzeption wurde im Rahmen einer Kooperation der AG Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Universität Siegen entwickelt und zusammen mit der 'Oberbergischen Koordinierungsstelle Ausbildung' und Schülerinnen und Schülern einer neunten Gesamtschulklasse als Pilotprojekt erprobt, so wie es im folgenden Text beschrieben wird. Abgesehen von diesem Pilot-Durchgang richtet sich die Konzeption an Schülerinnen und Schüler aller Schulformen der (vornehmlich neunten und zehnten Jahrgangsstufen in der) Sekundarstufe I, sowie an Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Maßnahmen und Bildungsgängen im Übergang Schule - Beruf.

2.2.1 Grundlagen der Workshops

Das Workshop-Konzept an Schulen zur Berufsorientierung setzt an den folgenden wissenschaftsrückbezogenen Erkenntnissen an:

  • Jugendliche Schülerinnen und Schüler leben zumeist in ihrer Lebenswelt (vgl. 'Jugendliche Binnenperspektiven'), die sich in vielen Punkten zu den betrieblichen Systemwelten in einer Differenz befindet. Die Lebenswelt-Systemwelt-Differenz gilt es im Hinblick auf die Berufsorientierung zu schließen. Aus diesem Grunde setzt das Konzept weder an schulischen Unterrichtsstoffen an noch an betrieblichen Logiken der Ausbildung. Die Lebenswelt-Systemweltdifferenz legt vielmehr nahe, die den Schülerinnen und Schülern nahen Lebenswelten zum Ausgangspunkt der Berufsorientierung zu machen und von diesen her einen Entwicklungsprozess anzustoßen.
  • Berufsorientierung bedarf einer Vorstellung von Personalentwicklung. Der Workshop greift deshalb auf ein Identitätsmodell zurück. Die hinter dem Identitätskonzept liegende Frage lautet: „Wie organisieren Subjekte ihre Kohärenzerfahrung angesichts der Vielfalt lebensweltlicher Selbsterfahrungen und der Abnahme der gesellschaftlichen Kohärenzmodelle (z. B. Berufsbildung)? Keupp (vgl. zu diesem Abschnitt Keupp 2008) zu Folge besitzt Identität einen Doppelcharakter als selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren Welt – determiniert durch Eigensinn, Sinnbestimmung, individuellen Bedürfnisse und Autonomiebestreben - und der äußeren Welt, die durch soziale Akzeptanz, Rollenerwartungen und Unterwerfung unter bestimmte Aspekte von Welt geprägt ist. Keupp analysiert insbesondere die Transformationsprozesse in spätmodernen Gesellschaften und deren Auswirkungen auf Prozesse der Identitätsbildung in den Blick – sei Sie denn individuell oder kollektiv - als Umbruchserfahrungen. Von besonderer Relevanz ist die Erfassung der Mechanismen "alltäglicher Identitätsarbeit" unter den Bedingungen der Spätmoderne, also die Beantwortung der Frage nach "konkreten Gestaltungsformen von Kohärenz, Kontinuität und Autonomie im Rahmen besonderer soziokultureller Anforderungen und Vorgaben." (Keupp 2008, 31) Es lassen sich demzufolge vier maßgebliche Kriterien hinsichtlich der Prozesse kohärenter Identitätsbildung differenzieren:
    1. Das Gefühl von und Wissen um Handlungsfähigkeit, wirkt sich als Kohärenzgefühl in der flexiblen Auswahl von Bewältigungsstrategien aus.
    2. Aufmerksamkeit von Anderen, positive Bewertung durch Andere und Selbstanerkennung als Identitätsstiftende und -stützende Anerkennung muss mittels kommunikativer Kompetenzen dialogisch ausgehandelt werden und führt zu gutem Selbst- und Kohärenzgefühl.
    3. Authentizität schließt die Idee der Autonomie ein (nicht umgekehrt) und gilt vor dem Hintergrund weniger vorgegebener und erprobter Identitäten, zunehmender Optionalität und der Notwendigkeit eines kreativeren, innovativeren und experimentelleren Umgangs mit den Chancen und Risiken der Lebensgestaltung als wichtiges Kriterium für eine gelungene Identität.
    4. Individuell-subjektive, soziale, materielle und kulturelle Ressourcen schließlich bestimmen über die Qualität der erreichbaren Handlungsfähigkeit im Hinblick auf Identitätsarbeit.

Darüber hinaus handelt es sich bei Berufswahlentscheidungen heute um einen biogra-phisch nicht abschließbaren Prozess (lebenslanges Lernen). Auf diesen gesellschaftlichen Umstand muss ein Identitätsmodell Rücksicht nehmen, weshalb es prozessual anzulegen ist.

  • Das vorliegende Konzept nutzt ferner das Instrument der „self-description“, in Anlehnung an Cohn (Cohn 2013). Als eine Schlüsselgröße fungiert die Bereitschaft in den Prozess der Personal- bzw. Identitätsentwicklung einzutreten. Im konkreten Workshop werden die Potentiale der Personalentwicklung im Rahmen einer Werkstattarbeit auf der Basis der “self-descriptions” erarbeitet. Hervorzuheben ist, dass für die heranwachsende Generation eine gesellschaftliche Situation entstanden ist, in der junge Menschen eher durch Defizite gemessen an vermeintlichen Standards charakterisiert werden, statt sie in ihren Potentialen zu begreifen. Die „Self-Descriptions“ sollen in Zusammenhang mit dem Identitätsmodell einen adäquaten Weg eröffnen, zuvorderst die Potentiale der jungen Menschen offen zu legen.
  • Berufsorientierung, die auch der Lebens- und Identitätsplanung Sinn geben soll, bedarf einer Darlegung, die es ermöglicht, den aktuellen und den künftig zu erwartenden Wandel in der Arbeitswelt zu erkennen und auf die eigene Situation zu beziehen. Aus diesem Grunde greift das Konzept auf die wissenschaftliche Expertise zurück. Weder Lehrerinnen noch Lehrer oder betriebliche Ausbilderinnen und Ausbilder erklären, wie sich Berufsorientierung im gesellschaftlichen Strukturwandel vollzieht. Die Instanz, die die gesellschaftliche Logik selbst verändern kann, nämlich das wissenschaftliche Wissen, wird im Konzept der Berufsorientierung selbst herangezogen. Ausdiesem Grundesind auch regelmäßige wissenschaftlich orientierte Vorträge und Weiterbildungen für die Akteure über den Strukturwandel und das Berufsbildungssystem Teil der Konzeption.
  • Den Besonderheiten der Individualisierung, der Pluralisierung und der Dezentrierung des Selbst sind im Konzept Rechnung zu tragen. Die Verantwortlichen für ein solches Konzept der Berufsorientierung stellt eine solche Entwicklung vor das Problem, mögliche Selbstverzerrungen, Fehlsichten auf sich selbst und systematischen Fehlidealisierungen entgegenzuwirken. Im Rahmen der vorliegenden Konzeption geschieht dies auf doppelte Weise. Dort, wo es um die situationale Selbstthematisierung mit Hilfe des Instrumentes der „Self-Descriptions“ geht, spiegeln die Peers die Glaubwürdigkeit der Selbstaussagen, und zwar ohne dass der Betroffene die Möglichkeit hätte, dazu Stellung zu nehmen (Interaktionselement „Heißer Stuhl“). Die Selbstcharakterisierung bzw. die Selbsteinschätzung der eigenen Potentialewirdnebendem „Peer-Review“ ferner durch deren Objektivierung überprüft. D.h., die Schülerinnen und Schüler müssen auch unter Beweis stellen, dass sie über diese Potentiale, von denen sie annehmen, dass sie „arbeitsmarktfähig“ sind, wirklich verfügen. Sie unterliegen damit der „Veröffentlichungspflicht“. Theoretisch handelt es sich bei diesem Vorgehen um die Nutzung dessen, was als „locus of control“ bezeichnet wird. Dessen Nutzung wird dadurch verstärkt, dass das Konzept selbst in ein Medium eingebettet wird, welches die Jugendlichen u.a. aus dem Fernsehen zur Genüge kennen: Castings. Die öffentliche Darbietung der eigenen Leistung und deren Unterwerfung unter ein Fremdurteil einer kompetenten Jury, bietet eine gute Gewähr für die Beurteilung der gezeigten Potentiale, respektive der Kompetenzen. Die Jury, die gebildet wird, besteht wiederum ausschließlich aus Arbeitgebern, um die arbeitsmarkt- und berufsrelevante Positionierung der gezeigten Potentiale zu beurteilen. Dieses spezifische Verfahren der vorliegenden Konzeption trägt dem oben als Hypothese postulierten Lebensweltbezug bzw. Realitätsbezug des Ansatzes in besonderer Weise Rechnung.
  • Der Prozess, in den sich die Jugendlichen konkret hineinbegeben, birgt immer auch das Risiko des Scheiterns. Im Casting kann eine Jury zu der Auffassung gelangen, dass die „offerierten“ bzw. im Projekt dargelegten Kompetenzen für eine Berufsausbildung als nicht ausreichend einzustufen sind. Dieses Risiko müssen die Schülerinnen und Schüler dann selbsttragen und selbst verantworten. Aus einer pädagogischen Perspektive muss diese Verantwortungsübernahme allerdings unbedingt moderiert werden. Deshalb enthält das Identitätsmodell einen Moratoriumsteil. Das Moratorium ist dann durch Entwicklungsaufgaben im Sinne Havighursts (vgl. Havighurst 1976) gekennzeichnet. Eine Entwicklungsaufgabe umfasst die Seite der objektiv gestellten Lernanforderungen, die Qualifikationsstruktur, die, curricular umgesetzt, das Lernen der Schüler anleitet. Und sie umfasst die Seite der subjektiv formulierten Lernansprüche der Schülerinnen und Schüler.
2.2.2 Didaktische Gestaltung

Den qualitativen Ausführungen entspricht die folgende didaktische Umsetzung. Dabei geht das angegebene Setting von ca. 12 Schülerinnen und Schülern sowie einer Aufteilung in drei Gruppen aus.

2.2.2.1 Vorlauf: 'Coaching' und 'Briefing'

Die innovative Charakter und die wissenschaftlichen Rückbezüge der Konzeption erfordern einen Vorlauf, der einerseits in Form von mittelfristigen Schulungen oder Coachings mit den beteiligten pädagogischen Akteure durchgeführt werden sollte. In den Coachings der Lehrkräfte sollten insbesondere die Themenkomplexe Potentialorientierung, Kompetenzbegriff (Roth), Identitätstheorie (Keupp), Themenzentrierte Interaktion (Cohn) sowie aktuelle Erkenntnisse der Jugend- und Arbeitsmarktforschung bearbeitet werden. Für die Vorbereitung der Arbeitgebervertreter in der Jury können u. Ust. eher kurzfristig angelegte Briefings in Workshop- bzw. Vortragsform ausreichend sein, in denen der Fokus insbesondere auf Aspekte der Potentialorientierung gelegt werden sollte.

2.2.2.2 Erste Potentialrunde - Self-Description:

Die Potentialrunde setzt an der Erkenntnis des Passungsproblems an und fordert die Schülerinnen und Schüler auf, sich zu fragen, über welche Potentiale sie verfügen, dieses Passungsproblem zu reduzieren. Die Potentiale werden in Form von Kompetenzen (vgl. Lisop/Huisinga 2004, 38 ff.) beschrieben. Sie entstammen dem berufs- und wirtschaftspädagogischen Feld. Die Schülerinnen und Schüler beschreiben ihre eigenen Potentiale in den Dimensionen Selbstkompetenz, Sozialkompetenz, Fach-/Sachkompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Handlungsfähigkeit', Gestaltungsfähigkeit, Urteilsfähigkeit und/oder Reflexionsfähigkeit. Da diese Form der Erfassung von Kompetenzen noch relativ „abstrakt“ ist und die Schülerinnen und Schüler wahrscheinlich eher nicht gewohnt sind, sich selbst in dieser Weise zu thematisieren, wird in einem zweiten Schritt eine Konkretisierung im Medium einer Objektivation vorgenommen. Diese Objektivationen werden in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Lehrerinnen und Lehrern erstellt. Die Objektivationen orientieren sich an der nichtschulischen Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Die Schülerinnen und Schüler erhalten eine Matrix (Abbildung 1: Potentialmatrix) als „Vehikel“ zur transparenten Sicherung und Auswertung der Potentialanalyse. Da nicht davon ausgegangen werden darf, dass den Schülerinnen und Schülern die Dimensionen der Matrix sofort geläufig sind, bedarf es einer einführenden Erläuterung. Die Erläuterung der Matrix wird durch die Lehrenden vorgenommen, welche hierfür wiederum auf didaktisch für die jeweilige Zielgruppe aufbereitete Anlagen zu den einzelnen Medien zurückgreifen können. Die ausgefüllten Matrizen erhalten die Jury-Mitglieder als Orientierung.

Abbildung 1: PotentialmatrixAbbildung 1: Potentialmatrix

In den einzelnen Feldern stellen die Schülerinnen und Schüler ihre konkreten Kompetenzen und Fähigkeiten dar. Ordnet man die diese Felder in einem Potential-Portfolio an, dann ergibt sich die relative Anordnung dieser Potentiale nach dem Grad ihrer „Ausprägung“.

Abbildung 2: Ausprägung von PotentialenAbbildung 2: Ausprägung von Potentialen

Das Portfolio (Abbildung 2: Ausprägung von Potentialen) zeigt beispielhaft, wie sich die Elemente aus der Potentialmatrix gruppieren lassen. So kann man auf einen Überblick erfassen, wie sich der einzelne Jugendliche selbst sieht und seine Potentiale verortet. Niedrig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass nur wenige Nennungen in der entsprechenden Spalten zu finden sind. Hoch bedeutet, dass vor allem die Anzahl der Kompetenzen und Fähigkeiten breit ausgeprägt erscheinen.

Abbildung 3: Mögliche Konkretionen von Medien der LebensweltAbbildung 3: Mögliche Konkretionen von Medien der Lebenswelt

Da anzunehmen ist, dass sich Jugendliche in dieser Art der systematischen und wissenschaftsorientierten Arbeit nicht so schnell zurechtfinden, wurde eine Liste von möglichen Konkretionen für die linke Spalte der „Medien der Lebenswelt“ realisiert. Die Tabelle (Abbildung 3: Mögliche Konkretionen von Medien der Lebenswelt) enthält mögliche Konkretionen, die aus der Lebenwelt der Schülerinnen und Schüler stammen könnten.

Um die Bedeutung dieser Konkretionen der lebensweltlichen Bezüge der Schülerinnen und Schüler für die Identitätsentwicklung, den Bildungsprozess sowie die Potentialanalyse herauszustellen, sei an einem Beispiel die Kette der Zusammenhänge (Abbildung 4: Beispiel der Zusammenhangskette Potentiale - Identität) dargestellt:

Abbildung 4: Beispiel der Zusammenhangskette Potentiale – IdentitätAbbildung 4: Beispiel der Zusammenhangskette Potentiale – Identität

Wir unterstellen, dass sich Schüler mit Rap beschäftigen, und dies nicht nur sporadisch. In der Potentialrunde benennen Sie dies und können auch entsprechende RAP-Texte einbringen. Diese Texte können die Grundlage einer differenzierteren Potentialanalyse sein.

2.2.2.3 Zweite Potentialrunde -Peer-Review:

Das Peer-Review-Verfahren ist sozial- bzw. entwicklungspsychologisch begründet (vgl. z. B. Fend 2005, 168 ff. und 304ff. oder Ecarius 2011, 105ff.). In dieser Alterskohorte spielt das Urteil der Mitschülerinnen und Mitschüler eine weitaus größere Rolle als das Urteil von Lehrerinnen und Lehrern oder gar Eltern. Dies gilt in besonderem Maße auch dann, wenn sich die Kritik am Verhalten an der Defizitlinie orientiert. Die Akzeptanz von Kritik, welche von den Peers geäußert wird, ist daher viel nachhaltiger als die Akzeptanz von Urteilen, welche im Rahmen anderer Verfahren getroffen werden.

In der Peer-Review-Phase werden die einzelnen ausgefüllten und zu erklärenden Potentialmatritzen unter dem Gesichtspunkt Wahrheitsgehalt und Realitätsnähe durch die Peers, also durch die Mitschüler geprüft. Damit diese Runde wunschgemäß umgesetzt werden kann, ist es von Vorteil, wenn sich diejenigen Schülerinnen und Schüler, die gegenseitig Rückschau halten, bereits vorher kennen. Jeder einzelne Schüler trägt also seine Ergebnisse vor. Die Mitschülerinnen und Mitschüler fertigen ein Protokoll dieser Aussagen an. Dann beraten sie sich unter Ausschluss des Betroffenen. Anschließend findet die  jeweilige Feed-Back-Runde statt. Sie ist als "heißer Stuhl" organisiert, d.h. der Betroffene sitzt im Kreis auf einem Stuhl und muss sich das Feed-Back der Peers kommentarlos anhören, lediglich Verstehensfragen sind erlaubt. Organisatorisch ist für diese Runde ausreichend Zeit einzuplanen.

Abbildung 5: VerhaltenskodexAbbildung 5: Verhaltenskodex

Für die Zeit der Arbeit im Workshop gibt es einen Verhaltenskodex[2] (Abbildung 5: Verhaltenskodex). Er ist einfach  gehalten und  stellt vor allem wegen der Bedeutung der „self-descriptions“ auf eine innere Klarheit und Verantwortung ab.

Nachdem die Schülerinnen und Schüler per "self-description" und "peer-review" zu einer realistischen Einschätzung ihres "Potential-Pools" gelangt sind, ist es nun Aufgabe der Schülerinnen und Schüler in der ein-dreiwöchigen Pause zwischen den Workshop-Terminen Projekte herauszuarbeiten, die zweifelsfrei ihre Potentiale in den unterschiedlichen Medien belegen. Hausaufgabe für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Soweit Schülerinnen und Schüler Hilfen benötigen, müssen diese besprochen werden.

2.2.2.4 Dritte Potentialrunde - Objektivierung der Potentialmatrizen

Die dritte Potentialrunde dient der Objektivierung der Potentialmatrizen durch Belege/Beweise. Es werden die Hausaufgaben "sprachlich" vorgestellt und mit der Workshop-Leitung sowie den Peers besprochen. Auch werden mögliche Hinweise auf Realisation und die Verbesserung gegeben. Schülerinnen und Schüler können sich in dieser Phase des Workshops auch noch umorientieren, soweit die Potentialmatrizen dies nahelegen. Die Objektivierung in Form von konkreten Präsentationsangeboten oder Projekten können in den unterschiedlichsten Formen erbracht werden: Zeugnisse/Noten/Bewertungen/Praktikumsberichte/Selbst produzierte & ggf. bereits bewertete Produkte. Wesentlich ist, dass sie als Beweismaterial für die Potentiale herhalten können. Allerdings ist zu empfehlen, dass ein hoher Grad an Visualisierung und Wahrnehmbarkeit vorherrschen sollte. Die Potentiale müssen nachweisbar sein und für potentielle Arbeitgeber transparent gemacht werden können. Auch die Fähigkeit zur Präsentation und damit der Objektivierung der einzelnen Potentiale muss als denselben immanent betrachtet werden. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass bei einer mangelhaften Präsentation das Vorhandensein der entsprechenden Potentiale zumindest in Frage gestellt werden darf.

2.2.2.5 Präsentation der Potentiale am „Arbeitsmarkt“

Den Schülern wird jeweils eine kurze Vorbereitungsphase zur Vorbereitung ihrer Potentialpräsentation gewährt. Während dieser Zeit können sich die Schülerinnen und Schüler überlegen, auf welche(s) Potential(e) sie den Schwerpunkt während ihrer anschließenden Präsentation legen (prinzipiell muss diese Auswahl schon vorab getroffen worden sein, hier sind nur noch  kleinere „Nachjustierungen“ möglich) und wie sie die Präsentation gestalten.

Vor einer „Jury“ aus Arbeitgeber-Vertretern präsentieren die Schüler einzeln in einer festgelegten Zeit (5-10 Min.) ihre vorbereiteten Präsentationen. Der Jury liegen die Potential-Matrizen vor. Anschließend an den Vortrag können die Mitglieder der Jury auf den übrigen Inhalt der Matrizen eingehen und ggf. weitere Objektivierungen einfordern.

Da die Jury über fundiertes Hintergrundwissen aus der Arbeitspraxis verfügt, sollte ihre Hauptaufgabe darin bestehen, den Schülern Feedback zu ihren dargestellten Potentialen zu geben. Hierbei ist besonders darauf zu achten, dass die Mitglieder der „Jury“, sprich die Personalverantwortlichen offen mit der experimentellen und innovativen Ausrichtung der Workshops umgehen und sich auf die entsprechenden Konventionen einlassen. Weiterhin wäre es sinnvoll, wenn der berufsfachliche Hintergrund der „Jury“ breit gestreut wäre. Handwerk, Industrie, Gesundheits- und Sozialbereich sowie Wirtschaft und Verwaltung sollten vertreten sein.

Zwei Hauptformen des Feed-Backs sind hier zu denkbar:

  1. Affirmativ - objektbezogen: "Mit diesen Potentialen können Sie folgende Tätigkeiten in folgendem Bereich ausführen...."
  2. Affirmativ - subjektorientiert: "Um zukünftig folgende Tätigkeit X in folgendem Bereich Y ausführen zu können, müssen Sie Ihr Potential Z wie folgt verändern / variieren, etc...."

Zwischenformen oder Kombinationen der beiden Typen dürften den Alltag der Casting - Feedbackrunden bestimmen. Die Präsentationen der Schülerinnen und Schüler werden per Video aufgezeichnet. Sie erhalten nach einer angemessenen Zeit eine Aufnahme ihrer Präsentation für die eigene weitere Profilierung. Auch hier muss wieder der Paradigmenwechsel weg von der Orientierung an Defiziten hin zur Ausrichtung an Potentialen erkennbar sein.

2.2.2.6 Nachbereitung der Castings

Für die Workshopleitung besteht die Aufgabe, die Videos aufzubereiten und gemäß der Konzeption Entwicklungsaufgaben für die Schülerinnen und Schüler zu finden sowie zu formulieren. Diese Entwicklungsaufgaben sind in Einzelgesprächen zu besprechen. Sie können jedoch auch in den Unterricht integriert werden. Jugendliche, die nach dem Potentialworkshop einen weiteren Klärungsbedarf anmelden, erhalten die Möglichkeit, den Berufswunsch differenzierter zu steuern. Eine Reihe klassischer Maßnahmen kommen hier in Betracht, wie Bewerbungstrainings, Betriebspraktika, Herstellen von Kontakten zu Ausbildungsbetrieben oder Datenbank- und Informationsangebote. Alle diese Angebote können helfen, einen realistischen und chancenreichen Berufswunsch zu entwickeln. Auch die individuelle Einzelberatung von Eltern und ihren Kindern rund um das Thema Berufswahl kann die Maßnahmen weiter sinnvoll ergänzen. Dabei kann es z. B. um die Entwicklung eines realistischen und auf den Interessen beruhenden Berufswunsches gehen, oder es geht um konkrete Hilfe bei der Praktikums- oder Ausbildungsplatzsuche.

3 Reflexion und Fazit

Es sei an dieser Stelle zunächst zu betonen, dass das Projekt bisher keiner wissenschaftlich-systematischen Evaluation unterzogen wurde, da lediglich ein Pilot-Durchgang realisiert und dokumentiert werden konnte. Allerdings lassen sich trotz dieser explorativen Datenbasis bereits Erkenntnisse über Optimierungsbedarfe der Konzeption ableiten. Aus der Dokumentation des Pilotdurchgangs werden im Folgenden die Matrizen, Objektivierungen und Präsentationen zweier Schüler (S1 und S2) inklusive einer Beschreibung der Feedbacks durch die Jury aufgegriffen, anhand derer eine erste Einschätzung getroffen werden soll.

S1 - Die Orchesterprobe

Abbildung 6: Potentialmatrix von S1Abbildung 6: Potentialmatrix von S1

Der Schüler S1 arbeitete im Rahmen der ersten beiden Potentialrunden ('self-description' und 'peer-review') heraus, dass seine Potentiale sich insbesondere in den Dimensionen Handlungsfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit lokalisieren ließen, die Medien, die S1 dafür schwerpunktmäßig nutzte, ordnete er in der Potentialmatrix szenischem Ausdruck, Dramaturgie und Konfliktlösung zu (Abbildung 6: Potentialmatrix von S1). 

Im Rahmen der dritten Potentialrunde (Objektivierung) entschied sich S1 dafür, die Simulation einer Orchesterprobe auszuarbeiten und der Jury zu präsentieren. Die Präsentation verlief wie geplant, S1 erklärte der Jury zunächst den Aufbau des Orchesters und seinen einzelnen Teilen, erläuterte Details einer Partitur und stellte dar, zu welchen Handlungen, Aufgaben, Flexibilitätsspielräumen und Interpretationen die Partitur aus sowohl aus Perspektive des Dirigenten als auch aus Perspektive einzelner Orchestermitglieder habe.

S2 - Der Scooter

Der Schüler S2 arbeitete im Rahmen der ersten beiden Potentialrunden heraus, dass seine Potentiale sich insbesondere in den Dimensionen Fachkompetenz, Sozialkompetenz und Handlungsfähigkeit lokalisieren ließen, das Medium der Wahl benannte S2 mit Gestaltungsfähigkeit (Abbildung 7: Potentialmatrix von S2). 

Abbildung 7: Potentialmatrix von S2Abbildung 7: Potentialmatrix von S2

Im Rahmen der dritten Potentialrunde wählte S2 eine Präsentation zum Thema 'Rund ums das Zweirad' aus. In der Präsentation führte S2 der Jury ausführlich seinen Motorroller ('Scooter') vor, indem er die verschiedenen Baugruppen und Anbauteile zeigte, diese fachterminologisch benannte und auch indem er rudimentär auf deren Zusammenhang im Funktionsgefüge einging. Nachfragen seitens der Jury hinsichtlich der differenzierten Funktionsweise des Kfz konnte der Kandidat allerdings nicht zufriedenstellend beantworten.

Eine professionelle Einschätzung der dargebotenen Castingbeiträge ist auf systematische, wissenschaftliche Rückversicherung angewiesen. Es bedarf notwendigerweise Referenzbezügen, auf deren Basis begründet Performanz hinsichtlich der dahinter liegenden Kompetenz decodiert werden kann. Hilfreich erscheint in diesem Zusammenhang die Differenzierung unterschiedlicher Wissens- und Erkenntnisformen (vgl. Lisop/Huisinga 2004, 249), wie sie auch im bildungstheoretisch zur Begründung curricularer Codierungen genutzt wird (Abbildung 9: Formen und Funktionen von Wissen und Erkenntnis).

Abbildung 8: Formen und Funktionen von Wissen und Erkenntnis, Quelle: (Lisop/Huisinga 2004, 249)Abbildung 8: Formen und Funktionen von Wissen und Erkenntnis, Quelle: (Lisop/Huisinga 2004, 249)

Mit Hilfe dieser Differenzierung lassen sich nun die einzelnen, performativen Castingbeiträge systematisch auf Kompetenzen und deren 'Arbeitsmarktpotential' hin analysieren.

Der Kandidat S1 scheint durchaus dazu in der Lage zu sein, auf der Basis von Denominationen und operativen Wissens Zusammenhänge, Wirkungsweisen und Normengefüge analytisch zu durchdringen und so begründet autonome Entscheidungen zu treffen. Die Funktion entsprechender Kompetenzen in Arbeitsprozessen reichen von effizienten Routinevollzügen über Qualitätssicherung bis hin zu autonomen Entscheidungsprozessen. Die Präsentation von S2 offenbarte demgegenüber insbesondere die Fähigkeit mit denominativem Wissen erkennend und zuordnend umzugehen. Gemessen an seiner Präsentation erscheint der Kandidat S2 der Tendenz nach kaum in der Lage zu sein, mit operativem ~, Zusammenhangs-, Wirkungs- oder Normenwissen auch reflektierend oder gar analytisch-synthetisierend umzugehen. Die Arbeitsmarktpotentiale von S2 beschränken sich dementsprechend zum Erhebungszeitpunkt im günstigsten Fall auf einfache Routinevollzüge, entsprechende Entwicklungsaufgaben wären zu formulieren und ggf. pädagogisch moderierend in spezifisch zugeschnittenen Lernfeldern zu begleiten.

Die Feedbacks der Jury zu den beiden Kandidaten fielen ebenfalls unterschiedlich aus, allerdings diametral zur wissenschaftsrückbezogenen Einschätzung. Die Arbeitgebervertreter artikulierten bezogen auf die Performanz von S1 (Simulation einer Orchesterprobe) insbesondere Entwicklungsbedarfe des Kandidaten hinsichtlich der Überlegung, wie denn die dargebotenen Potentiale in den jeweiligen Berufsbezügen eingebracht werden könnten und beurteilten die Darbietung daher eher skeptisch. Die Performanz von S2 (Rund um das Zweirad) schätzte die Jury sehr positiv ein, der Berufsbezug und die Eignung für mechatronische Berufe sei ohne Weiteres erkennbar und bereits relativ differenziert entfaltet.

In der Diskrepanz der wissenschaftlich rückvermittelten Beurteilung der Castings und den Urteilen der Jury zeigt sich eine strukturelle Problematik der Konzeption, welche vor zukünftige Durchführungsrunden gelöst werden muss. Es kann offensichtlich nicht davon ausgegangen werden, dass Arbeitgebervertreter allein auf der Basis umfangreichen, beruflichen Erfahrungswissens in den entsprechenden Feldern dazu in der Lage sind, unterschiedliche Performanzen im Hinblick auf die dahinter liegenden Kompetenzen zu decodieren.

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[1] In Deutschland gibt es aktuell fast unzählige TV-Casting-Formate von ‚Deutschland sucht den Superstar‘ über ‚Das Supertalent‘, ‚The voice of Germany‘, ‚Unser Star für Baku‘ oder ‚Das perfekte Model‘, um nur einige wenige zu nennen.

[2] Der Verhaltenskodex orientiert sich insbesondere an den Axiomen der 'Themenzentrierten Interaktion', (vgl. Cohn 2013, 120ff.).

„Like a Boss!“ – Eine subjektzentrierte Perspektive auf verzögerte Übergänge bei Jugendlichen im Berufsgrundbildungsjahr

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1 Einleitung

Das Interesse am Übergangsgeschehen an der ersten Schwelle und die Zahl einschlägiger Publikationen ist seit der ersten Problematisierung der hohen Zuwachsraten des Übergangsbereiches im Bildungsbericht 2006 (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006) stark gewachsen. Dies ist auf eine Reihe miteinander interagierender gesellschaftlicher Trends zurückzuführen:

  • Die mit dem Projekt der Moderne einhergehende Freisetzung aus tradierten Entscheidungsräumen ist begleitet von einer sukzessiven Pädagogisierung der Biographie inkl. Lebens- und Berufsplanung. Die entsprechenden Prozesse unterliegen einer sukzessiven Akademisierung und Professionalisierung, z. B. im Bereich vertiefter schulischer Berufsorientierung.
  • Die Veränderung der Arbeitsbezüge in Richtung einer zunehmenden Subjektivierung von Arbeit hat zu einem erweiterten Interesse daran geführt, wie die betroffenen Subjekte mit den entstandenen biografischen und beruflichen Gestaltungs-Spielräumen, aber auch -Zumutungen umgehen.
  • Prognosen eines vermeintlichen Fachkräftemangels haben zu der Einschätzung geführt, dass die Einbindung der jeweils ganzen nächsten Generation in wirtschaftliche Wertschöpfungsprozesse notwendig ist, um den gesellschaftlichen Wohlstand zu sichern. Gescheiterte Wege in Ausbildung und Beruf gelten humankapitaltheoretisch als Verschwendung von Ressourcen. Hieraus hat sich ein stärkerer wissenschaftlicher und bildungspolitischer Fokus auf brachliegende Potenziale in vermeintlichen „Randzonen“ der Leistungsgesellschaft ergeben.
  • Politik, die in Zeiten rascher Veränderungen verstärkt Steuerungswissen nachfragt, hat ein Interesse an empirischer Forschung, die politische Richtungsentscheidungen in der Bildungslandschaft legitimieren hilft. Insbesondere vor dem Hintergrund neuerer bildungspolitischer Formeln wie „kein Kind zurücklassen“ in Nordrhein-Westfalen (http://www.kein-kind-zuruecklassen.de) wird der Blick seit einigen Jahren stärker auf sog. „Bildungsverlierer“ (Hurrelmann/Quenzel 2010) gerichtet.
  • Auch die Individuen fragen in Zeiten erlebter Selbst-Rationalisierungsansprüche Orientierungshilfen in Form von Beratungsangeboten, Lebensplanungsmodellen u. Ä. nach. Vermittelt z. B. über den Markt schulischer Berufsorientierung und andere Maßnahmen zur Arbeitsförderung, besteht ein Bedarf an Orientierungsangeboten zu beruflicher Entwicklung aus der Beratungswirtschaft, die ihrerseits Professionalisierungs- und Akademisierungszwängen unterliegt (vgl. z. B. die „Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung (AZAV)“, http://www.bmas.de/DE/Themen/Arbeitsmarkt/Arbeitsfoerderung/akkreditierung.html).

Eine bedeutsame Rolle bei der systematischen Erforschung des Übergangsgeschehens an der sog. ersten und zweiten Schwelle spielen insbesondere die großen Panelstudien des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) und des Deutschen Jugendinstituts (DJI), die in den vergangenen Jahren mit einer Vielzahl an Einzelerkenntnissen zur Aufhellung des Forschungsfeldes beitragen konnten. In diesem Bereich sind es insbesondere quantitative Analysen der (Berufs-)Bildungsverläufe großer Gruppen, die eine Vielzahl von Diagnosen insbesondere merkmalsspezifischer Chancenstrukturen und Gefährdungen ermöglicht haben (vgl. Braun/Geier 2013; Gaupp/Lex/Mahl 2013; Buchholz/Straßer 2007; Granato2013). Auch abgesehen von diesen Studien wird das Feld der Forschung zum Übergangsgeschehen dominiert von quantitativen und systemanalytischen Zugängen, während qualitative, subjektbasierte Forschung bislang die Ausnahme ist. Die vielfältigen Analysen zur Effektivität und Effizienz des Übergangsbereiches basieren vorwiegend auf der Auswertung von Vermittlungsquoten und der Verbleibdauer in diesem Segment (vgl. Braun/Geier 2013; Nickolaus 2012). Demnach gibt es eine konstant hohe Zahl an Jugendlichen und jungen Erwachsenen, denen es nicht gelingt, die Angebote des beruflichen Bildungssystems zu nutzen, um ihre Berufsaussichten zu verbessern. Besonders allochthone Jugendliche sehen sich zahlreichen biografischen Gefährdungen ausgesetzt, die eine berufliche Qualifizierung verhindern, zumindest aber erschweren bzw. verzögern. Dem Übergangsbereich, ursprünglich als Instrument zur Chancenverbesserung und Abfederung von Nachfrageschwankungen auf dem Ausbildungsmarkt eingeführt, wurde die Qualität eines „Systems“ mangels innerer und äußerer Kohärenz aberkannt (vgl. z. B. Bojanowski 2014, 162; Balz/Nüsken 2010, 183). Die unter diesem Begriff zusammengefassten Maßnahmen stehen in einer Gesamtwahrnehmung der Vergeblichkeit (Giese/Wittpoth 2009), die Teilnehmenden werden als Gescheiterte im Bemühen um eine Ausbildungsstelle und als Opfer dieses Bereiches beschrieben. Er gilt als „Warteschleife“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 82), als erste Stufe des bildungsbiografischen Abstiegs (vgl. Giese 2012, 290), als „Krisensymptom“ (Schmidt 2012), der konstant hohe Anteil des Übergangssystems an Neuzugängen im beruflichen Bildungssystems gilt als Indikator für Passungsprobleme an der Schwelle zwischen allgemeinbildenden Schulen und beruflicher Ausbildung (Kutscha 2010, 314). Die Teilnehmenden der entsprechenden Angebote gelten als Teil einer „»Bugwelle« unbefriedigter Nachfrage“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 82), die Teilnahme an einem Angebot des Übergangsbereiches mithin als Indikator biografischer Gefährdung.

Wenig bekannt  ist  über die subjektiven Gründe für die Teilnahme an Angeboten des Übergangsbereiches. Es wird angenommen, dass der Hauptgrund für ein Einmünden in ein Angebot des Übergangsbereiches im Scheitern der Bemühungen um eine Ausbildungsstelle besteht (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2014, 100). Die implizite Unterstellung, dass Jugendliche im Übergangsbereich sich in erster Linie einen reibungslosen Übergang in qualifizierte Erwerbsarbeit wünschen, verkennt die Befunde des DJI-Panels, nach denen es vielen Hauptschulabsolvent/inn/en nicht primär um einen schnellen Eintritt in Ausbildung und Erwerbstätigkeit geht (vgl. Braun/Geier 2013, 29f), sondern der weitere Schulbesuch unterhalb dualer oder vollschulischer Ausbildung als erste Wahl unabhängig von Erfolg oder Misserfolg der Bemühungen um einen Ausbildungsplatz unterstellt werden muss. Zu diesen Befunden trägt insbesondere die in Hauptschulen stark vertretene Gruppe Jugendlicher mit Migrationshintergrund bei, bei denen der erweiterte Schulabschluss und eine Hochschulzugangsberechtigung als besonders erstrebenswert gelten (vgl. Becker 2010, 16). Als Hauptgrund für ein Einmünden in den Übergangsbereich muss eher als das vielfach angenommene Scheitern der Lehrstellensuche eine Form von „Selbstselektion“ (Granato/Münk/Weiß 2011, 22) unterstellt werden. Empirische Forschung zur Selbstwahrnehmung von Hauptschüler/inne/n hat gezeigt, dass das gesellschaftliche Bild der Hauptschule ein starkes Erleben von leistungsbezogener Wertlosigkeit, eine Art „Hauptschul-Stigma“ bedingt (vgl. Wellgraf 2012). Jugendliche mit Hauptschulabschluss münden demnach auch deswegen in Angebote des Übergangsbereiches ein, um zunächst eine Form der Selbstbeziehung aufzubauen, die einen Eintritt in den Beruf erst richtig und legitim erscheinen lässt. Rahn (2005) verweist zudem darauf, dass eine Teilnahme an sog. berufsvorbereitenden Maßnahmen eine psychosoziale Entlastungsfunktion haben kann und folgert, „dass für die Bewertung des BVJ [...] nicht nur strukturelle Kategorien berücksichtigt werden können, sondern bei der Reflexion über die Maßnahme der Subjektebene ein Stellenwert eingeräumt werden muss." (Rahn 2005, 24).

Zur Klärung des Zusammenhangs zwischen dem Erleben leistungsbezogener Entwertung qua Bildungsinstitution und beruflichen Selbstselektionsprozessen werden im Folgenden Zwischenergebnisse einer Studie zu Bildungs- und Berufsorientierung bei Jugendlichen im Berufsgrundbildungsjahr zusammengefasst und als Grundlage einer anerkennungstheoretischen Theorie der Selbstselektion im Übergang Schule-Beruf angelegt.

Zunächst erfolgt eine Zusammenfassung der für diese Untersuchung bedeutsamen anerkennungstheoretischen Aspekte, insbesondere ihre Relevanz für Berufsbildungsprozesse (2). Danach erfolgt eine anerkennungstheoretische Analyse des Zusammenhanges von Anerkennungserleben und Selbstselektion anhand ausgewählter Gesprächssequenzen aus Gruppendiskussionen (3). Abschließend werden berufliche Selbstselektion an der ersten Schwelle bedingende Berufs- und Bildungsorientierungen ausblickhaft dargestellt und Konsequenzen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Übergangsbereich sowie für die institutionelle Arbeit im Kontext Übergang Schule-Beruf erörtert (4).

2 Anerkennung und ihre Relevanz für Berufs- und Bildungsorientierung

Berufsorientierungs- und Berufswahltheorien wurden in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive verfeinert und ausdifferenziert. Dominierten bis in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts noch Annahmen einer reinen Passung individueller Bedürfnisse und Erfordernisse des Arbeitsmarktes zur Erklärung von Berufswahl, so werden heute zum Einen sozial-kognitive Theorieansätze stark rezipiert, die die Entwicklung des Selbstkonzeptes als kognitive Ermöglichungsstruktur in den Mittelpunkt der Laufbahnforschung stellen (vgl. Hirschi 2013, 29), und damit eine Verbindung aus rein individualistischen, z. B. interessentheoretischen Ansätzen und der Berücksichtigung der sozialen Umwelt schaffen. Zum Anderen werden aktuell konstruktivistisch geprägte Berufswahltheorien stark rezipiert, die weniger die vermeintlich objektivierbaren Bedingungen der Berufswahl als die subjektiven Deutungsmuster beruflicher Möglichkeiten (vgl. ebd., 31) fokussieren. Beide Paradigmen stellen individuelle Kognitionen bzw. Konstruktionen in den Mittelpunkt der Erklärung von Berufsorientierung und Berufswahl. Selbstselektion und Vermeidung leistungsbezogener Vergleichssituationen als Ausdruck eines entwicklungshinderlichen beruflichen oder akademischen Selbstkonzepts indes sind ohne die Berücksichtigung von Anerkennung und Missachtung nicht erklärbar, da „biographische Missachtungserfahrungen oder das Ignorieren legitimer Anerkennungsansprüche den Prozess der Selbstbildung und -entwicklung behindern und die Akteure dazu führen, die entsprechenden sozialen Lebensformen als pathologisch zu empfinden“ (Stojanov 2006, 207). Der Analysefokus auf Anerkennung und Missachtung in Prozessen leistungsbezogener Subjektivierung betont die grundlegende Intersubjektivität aller beruflichen Entscheidungssituationen. Der Anerkennungsbegriff, der seit Fichte und Hegel paradigmatisch für das Subjektverständnis der Moderne steht, stellt somit die zentrale Kategorie eines intersubjektiven Verständnisses der Subjektivierungsbedingungen in formal arbeitsteiligen Gesellschaften dar. Erkenntnisse über die intersubjektive Verwobenheit institutionell bedingten Anerkennungserlebens mit Bildungs- und Berufsorientierung können zur Klärung der Frage beitragen, warum eine konstant große Gruppe Jugendlicher mit Hauptschulabschluss einen direkten Übergang in qualifizierende Ausbildung an der ersten Schwelle vermeidet und mit welchen Orientierungen und Bedürfnissen diese Jugendlichen in Angebote des Übergangsbereiches einmünden.

Der Anlass, Anerkennungstheorien für die Erklärung von Berufs- und Bildungsorientierung zu verwenden, liegt in der Möglichkeit ihrer Rekonstruktion als Bildungstheorie begründet (vgl. Brumlik 2002,13; Stojanov 2006). Hegel fasst den Kampf um Anerkennung als jenen praktischen Konflikt „in dem das Subjekt sich findet, sobald es zu einem Bewusstsein von sich selbst kommen will“ (Sitzer/Wiezorek 2002, 106). Es handelt sich also um einen unausweichlichen Prozess der Auseinandersetzung von Subjekt und Welt, der sich nur im Modus des Erkennens eigener und fremder Geltungsansprüche vollziehen kann. Auf diesem Wege gelangt das Individuum zu einer Selbstbeziehung als autonomes Subjekt mit Bedürfnissen und Ansprüchen: „Was Anerkennungshandlungen im unendlichen Universum sozialer alltäglicher Geschehnisse auszeichnet, ist ihre Rolle, als die Grundlage für individuelle Autonomie zu dienen. Damit wird die Anerkennungskategorie tendenziell zu einer der zentralen Signaturen der Moderne [Hervorhebung im Original, UW]“ (Stojanov 2006, 210). Die Bedeutung intersubjektiver Anerkennungsdynamik für Berufsorientierung in funktional arbeitsteiligen Gesellschaften der (Spät-)Moderne besteht darin, den Imperativ autonomer Lebensführung inklusive vermeintlich freier Berufswahl als intersubjektives Paradigma zu skizzieren, indem Fragen der beruflichen (Selbst-)Lokalisierung als zentral mit der individuellen Historie der Gewährung und des Entzuges von Anerkennung verbunden verstanden werden. In diesem Sinne sind auch die institutionellen Formen der beruflichen Bildung in ihrer historischen Entwicklung weniger als Ergebnis notwendiger inhaltlicher Veränderungen der Arbeitsbezüge in Folge des industriellen Wandels zu verstehen, denn als Ergebnis sich verändernder „Rangordnungen, Anerkennungsbeziehungen, Distributionslinien des Wissens und formale[r] Karrieremuster“ (Harney 2010, 163). Für Angebote des Übergangsbereiches muss konstatiert werden, dass eine Anbindung an diese Anerkennungsbeziehungen zwar seit einigen Jahrzehnten immer wieder Gegenstand bildungspolitischer Bemühungen ist, in der Umsetzung aber an den je spezifischen Akteursinteressen scheitert, wie z. B. im Falle des Widerstandes der Betriebe gegen die Anrechnung des Berufsgrundbildungsjahres auf das erste Ausbildungsjahr (vgl. Brändle 2012). Eine tiefer gehende Analyse des Zusammenhangs von Partikularinteressen und bildungspolitischen Entscheidungen, die sich nicht an Entwicklungsbedarfen Jugendlicher im Übergangsbereich orientieren, sprengt den Rahmen dieses Beitrages. Es spricht indes einiges dafür, dass es sich beim Übergangsbereich gleichsam um ein „Stiefkind der Anerkennungsbeziehungen“ der beruflichen Bildung handelt, die nur vordergründig einer meritokratischen Logik folgt, in der tatsächlich aber, wie im allgemeinen Bildungssystem auch, „kulturelle Passung und der Schülerhabitus“ (Kramer 2014, 187) so aufeinander bezogen sind, dass „die doppelte Willkür des pädagogischen Handelns (...) den herrschenden (privilegierten) Schichten entspricht, sich aber auch an Angehörige anderer, (unterprivilegierter) Schichten wendet und darin ihren Partikularismus als universelle Anforderung und Anerkennung verschleiert“ (ebd).

Der Kern der anerkennungstheoretischen Überlegungen Axel Honneths als theoretische Basis der vorliegenden Untersuchung besteht darin, Anerkennungstheorie als bildungstheoretische Gesellschaftstheorie für einzelwissenschaftliche Untersuchungen empirisch anschlussfähig zu machen. Honneth zerlegt den Anerkennungsbegriff analytisch in drei Dimensionen; (1) emotionale Anerkennung (Liebe), (2) rechtliche Anerkennung (als Staatsbürger) und (3) soziale Wertschätzung (als Individuum mit spezifischen Eigenschaften und Leistungen). Hierbei entwickelt er emotionale Anerkennung als Anerkennungsverhältnis, das als „jene Grundschicht einer emotionalen Sicherheit nicht nur in der Erfahrung, sondern auch in der Äußerung von eigenen Bedürfnissen und Empfindungen, zu der die intersubjektive Erfahrung von Liebe verhilft, die psychische Voraussetzung für die Entwicklung aller weiteren Einstellungen der Selbstachtung [bildet]“ (Honneth 1992, 172). Diese Analyse, die Honneth mit Rückgriff auf die Hegelsche Anerkennungslehre und auf Basis der Psychoanalyse Donald Winnicotts und Jessica Benjamins entwickelt, stellt das Anerkennungsverhältnis, das sich in der Liebe darstellt, gleichsam als konstitutiven Ausgangspunkt menschlicher Bildsamkeit und den „Kern aller Sittlichkeit“ (ebd., 174) dar. Die Anerkennungsform der Liebe fasst Honneth damit als quasi-anthropologische Konstante auf, berücksichtigt aber, im Unterschied zur späthegelianischen Auffassung der Vernunft als zentralem Regulativ bürgerlicher Gesellschaften (vgl. Habermas 1985, 67ff), die Historizität der Subjektivierung und stellt der basalen Anerkennungsform der Liebe die des Rechts gegenüber, die sich historisch und damit komplementär zur Entwicklung moderner Gesellschaften entwickelt hat und weiter entwickelt. Die Anerkennungsdimension des Rechts ist nach Honneth durch die reziproke Anerkennung als moralisch zurechnungsfähige Subjekte in modernen Gesellschaften geprägt (Honneth 1992, 178). Die modernen Rechtsverhältnisse unterscheiden sich von traditionellen Rechtsverhältnissen in erster Linie dadurch, dass in letzteren die rechtliche Anerkennung, die ein Rollenträger genießt, graduell mit der jeweiligen Wertschätzung, d. h. dem angenommenen Wert des Individuum für das Gemeinwesen, abgestuft ist. Erst im Zuge historischer Neuordnungsprozesse des Rechtsgefüges entwickelt sich eine Form von Anerkennung im Medium des Rechts, die jedem Mitglied der Gesellschaft ungeachtet von Rang und Eigenschaften gleichermaßen gelten soll (vgl. ebd. 179). Gleichzeitig spalten sich damit die Vergabepraktiken sozialer Wertschätzung von der Vergabe von Rechtstiteln ab und müssen in der Folge als eigene Anerkennungsform, basierend auf individueller Leistung, gesondert analysiert werden (vgl. ebd.).

Die dritte Anerkennungsform, die der sozialen Wertschätzung, ergänzt die frühe Anerkennungslehre und die Rechtsphilosophie Hegels mit Rückgriff auf die Sozialpsychologie Meads zu der Theorie, anhand derer sich die „moralische Grammatik sozialer Konflikte“ (Honneth 1992) verstehen lässt. Soziale Wertschätzung unterscheidet sich von der Anerkennungsform der Liebe, die als basale Anerkennungsform das soziale Handeln als Subjekt erst ermöglicht und von der des Rechts, die unabhängig von personalen Zuschreibungen besteht, dadurch, dass in sie normative Wertsetzungen der Gesellschaft darüber, unter welchen Umständen Subjekte Anerkennung verdienen, eingeschrieben sind. Sie stellt damit die Grundlage einer Subjektivierungsform dar, die sich von traditionellen, vormodernen Wertvorstellungen abhebt und die soziale Inwertsetzung der Subjekte in erster Linie anhand ihrer sozialen Leistung, also ihres Beitrags zum Gelingen des Gemeinwesens, vollzieht. Damit unterliegt die Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung, ähnlich wie die der Anerkennung als Rechtsperson, einer ständigen Verhandelbarkeit und historischem Wandel. Anders als diese wiederum vollzieht sich im Medium der sozialen Wertschätzung, so Honneth, jenes Ringen sozialer Gruppen um positive Wertschätzung ihrer spezifischen Eigenschaften und Leistungen, die Honneth im Anschluss an Hegel als Kampf um Anerkennung bezeichnet (ebd. 205f). Mit diesem Kampf sind also jene Aushandlungsprozesse gemeint, anhand derer sich über die Verhandlung sozialer Leistungskriterien gesellschaftlicher Fortschritt vollzieht. Honneth skizziert die Verteilung sozialer Wertschätzung in nachtraditionellen Gesellschaften als auf Prozesse von Leistungsevaluation beruhend, „denn wie auch immer die gesellschaftlichen Zielsetzungen bestimmt sind, ob in der einen, scheinbar neutralen Idee der »Leistung« zusammengefaßt [sic] oder als ein offener Horizont pluraler Werte gedacht, stets bedarf es einer sekundären Deutungspraxis, bevor sie innerhalb der sozialen Lebenswelt als Kriterien der Wertschätzung in Kraft treten können“ (ebd. 205).

Die Sphäre der Arbeit ist in funktional arbeitsteiligen Gesellschaften das zentrale Medium der Vergabe leistungsbezogener sozialer Wertschätzung und der zugehörigen Aushandlungsprozesse. Wie stark die Verwobenheit von Leistung und sozialer Wertschätzung im kollektiven Bewusstsein moderner Gesellschaften verwurzelt ist, zeigt sich in parteipolitisch angestoßenen gesellschaftlichen Diskussionen um Leistungsgerechtigkeit, etwa unter der Losung „Leistung muss sich wieder lohnen“. Auch wiederkehrende Diskussionen um die Ausnutzung sozialstaatlicher Leistungen, also der Leistungen der Mehrheit, durch eine als faul, träge oder asozial markierte Minderheit sind als Aushandlungsprozesse des Zusammenhangs unterstellter (Minder-)Leistung und sozialer Wertschätzung bzw. Missachtung zu verstehen. Diese Zuschreibung hat sich seit der Bankenkrise um das Jahr 2008 – unter Verwendung des Vorwurfs der Gier anstelle der Leistungsverweigerung – gegen andere Gruppen gewendet, die sich im Medium des Berufs vermeintlich am Gemeinwesen bereichern (dies als Ausdruck eines  gesellschaftlichen Bedarfs der Markierung von Leistungsparias). Nicht zuletzt das Ringen um einen flächendeckenden Mindestlohn ist anerkennungstheoretisch interpretierbar, insbesondere das Detail, dass Jugendliche vom Mindestlohngesetz ausgenommen sind (vgl. MiLoG, Abschnitt 4, §22 (2), http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/milog/gesamt.pdf). Sie werden, altersbedingt im (Aus-)Bildungsprozess begriffen, nicht als vollwertige Mitglieder des Gemeinwesens adressiert, sondern von ihnen wird erwartet, den gesellschaftlichen Entwicklungsimperativen zu folgen und sich diesen Status und die damit verbundene soziale Wertschätzung durch Bildungsabschlüsse erst zu erarbeiten.

Kinder treten spätestens mit der Einschulung in das „umkämpfte Feld der sozialen Wertschätzung“ (Honneth 1992, 202) ein und sind im Verlauf ihrer Bildungsbiografie zahlreichen Erfahrungen der Gewährung und des Entzuges sozialer Wertschätzung im Kontext institutioneller Bildungs- und Selektionsprozesse ausgesetzt. In diesem Sinne begründet Sandring die Übersetzung von Bildungsbiografie als „Anerkennungsbiografie“ (Sandring 2013, 35). Diese Anerkennungsbiografien spitzen sich an den spezifischen Wegmarken des Bildungssystems jeweils zu als erlebter Möglichkeitsraum beruflicher Entscheidungen und nicht zuletzt von den Anerkennungsbiografien und -erwartungen hängt es ab, welche Wege als begehbar bzw. attraktiv oder versperrt bzw. unattraktiv eingeschätzt werden.

Die Entscheidung für einen Eintritt in qualifizierende Ausbildung stellt eine der bedingungsreichsten biografischen Entscheidungen dar. Entsprechend nachvollziehbar ist das Bestreben Jugendlicher, diese Entscheidung, die gleichzeitig das vorläufige Ende eines adoleszenten Bildungsmoratoriums markiert, hinauszuzögern. Dies gilt besonders, wenn auf Basis der eigenen Anerkennungsbiografie ein Reüssieren in Bewerbung, Ausbildung und Beruf als unwahrscheinlich antizipiert wird. Im  Folgenden soll daher der Grundstein für ein erweitertes Verständnis des Zusammenhangs zwischen Anerkennungserfahrungen und verzögerten Übergängen in qualifizierende Ausbildung gelegt werden.

Eine Bedeutungsbestimmung der Honneth´schen Anerkennungskonzeption für schulische Bildungsprozesse wurden in den vergangenen Jahren im Kontext des Forschungsverbundes Desintegrationsprozesse (vgl. Heitmeyer/Imbusch 2005), insbesondere im Forschungsprojekt „Politische Orientierungen von Schülerinnen und Schülern im Rahmen schulischer Anerkennungsbeziehungen“ (Helsper/Sandring/Wiezorek 2005) vorgenommen.

Helsper, Sandring und Wiezorek werfen die Frage auf, inwiefern die Honneth´sche Anerkennungstheorie als umfassende Gesellschaftstheorie überhaupt geeignet ist, die „professionellen und institutionellen pädagogischen Beziehungen und Verhältnisse“ (ebd., 179) zu reformulieren und zu fassen. Insbesondere stellen sie infrage, wie sich die Anerkennungstheorie auf schulisch-pädagogische Beziehungen übertragen lässt, die durch Asymmetrie und Ungleichheit gekennzeichnet sind, wie die verschiedenen Dimensionen des Anerkennungsbegriffs miteinander interagieren und wie „die Bildungsgeschichte von Individuen als Anerkennungsgeschichte zu rekonstruieren“ (ebd., 180) ist. Sie betonen in ihrer empirischen Forschung die Interdependenzen zwischen den Dimensionen der Anerkennung. So seien die Modi der Anerkennung zwar analytisch voneinander zu trennen, griffen aber empirisch, z. B. in den Spätfolgen entzogener emotionaler Anerkennung in der frühen Kindheit in späteren Prozessen sozialer Interaktion, ineinander (vgl. ebd., 203). In der Schule seien die Anerkennungsmodi der moralischen Anerkennung (als Rechtsperson) und der sozialen Wertschätzung quasi programmatisch miteinander verwoben, da individuell erbrachte schulische Leistungen einer universalistischen Leistungsbewertung unterliegen (Sandring 2013: 250).

3 Kampf um Anerkennung im Berufsgrundbildungsjahr

Die vorliegende Untersuchung ist eingebettet in eine Studie zur Berufs- und Bildungsorientierung Jugendlicher im Berufsgrundbildungsjahr (BGJ). Das BGJ an einem großstädtischen nordrhein-westfälischen Berufskolleg, an dem die erste Teiluntersuchung im Frühjahr 2013 stattfand, richtet sich an schulpflichtige Jugendliche mit Hauptschulabschluss. Es werden zwei unterschiedliche Schwerpunkte im BGJ angeboten, Gastronomie/Hauswirtschaft und Pflege-/Sozialberufe, die klassenweise organisiert sind. Die Teiluntersuchung fand in einer Klasse mit dem Schwerpunkt Gastronomie und Hauswirtschaft statt.

Die Studie war ursprünglich als Praxisforschungsprojekt angelegt mit dem Ziel, das Potenzial internetgestützter Unterrichtsszenarien, die sich auf lebensweltliche situierte Problemstellungen beziehen, für die Förderung fach- und berufsbezogener Lernmotivation zu untersuchen. Hierzu wurde, in Zusammenarbeit mit zwei Lehrkräften des BGJ, ein WebQuest, also ein internetbasiertes Lernszenario (vgl. Moser 2008) entwickelt. Dieses WebQuest zum  Thema Existenzgründung im Berufsfeld Gastronomie forderte die Schüler/innen auf, sich der Frage zu stellen, welche Tätigkeitsbereiche sie attraktiv finden, woher sie notwendige Informationen bekommen können, welche Kooperationsformen beim Bemühen um den Aufbau einer beruflichen Existenz in Frage kommen u. Ä.. Außerdem waren die Jugendlichen aufgefordert, als Projektziel des WebQuests, einen rudimentären Geschäftsplan für ein Unternehmen ihrer Wahl zu entwerfen und auf diesem Wege mathematische Problemstellungen in ihre Überlegungen einzubeziehen. Das WebQuest wurde in einem Umfang von vier Unterrichtseinheiten, inklusive der Ergebnispräsentation, unter didaktischer Mitwirkung der Projektleitung, umgesetzt (vgl. Weiß 2013). Im Nachgang des Unterrichtsprojektes wurden mit den Jugendlichen Gruppendiskussionen durchgeführt um ein Bild davon zu erhalten, welche Themen im Kontext Übergang Schule-Beruf für die Jugendlichen eine besondere Relevanz haben.

Die Fallgruppe bestand ausnahmslos aus Jugendlichen mit Hauptschulabschluss, die diesen an unterschiedlichen Schulformen – vornehmlich an Hauptschulen, einige an Gesamtschulen und ein Schüler an einem Gymnasium – erworben hatten. Die Schüler/innen waren zum Zeitpunkt der Materialerhebung zwischen 16 und 18 Jahren alt.

Die Gespräche mit den Jugendlichen wurden als Reflexionsgespräche des WebQuests zum Thema Existenzgründung geführt und so Anlass und Möglichkeit geschaffen, ein Gespräch über sowohl berufsbezogene Themen als auch Themen schulischer Leistungsaspiration zu führen. Die Auswertung des Materials erfolgt nach der dokumentarischen Methode im Sinne Bohnsacks (Bohnsack 2011, Asbrand 2011). Zunächst wird im Rahmen der formulierenden Interpretation analysiert, was die Schüler sagen und welche Themen relevant sind. Danach wird im Rahmen der reflektierenden Interpretation, also der Analyse, wie etwas gesagt wird, den „konjunktiven Erfahrungsräume[n]“ (Bohnsack 2011, 43) der Jugendlichen und dem darin eingelagerten „handlungsleitenden Wissen“ (ebd., 40) interpretativ nachgespürt.

Die formulierende Interpretation der Gruppendiskussionen offenbart ein sehr gering ausgeprägtes Interesse der Jugendlichen an Fragen zügiger Übergänge in qualifizierende Ausbildung, insbesondere nicht in Ausbildung im Schwerpunkt ihres BGJ, Gastronomie und Hauswirtschaft. Auf interessen- oder kompetenztheoretische Zugänge zum Selbsterleben der Jugendlichen im BGJ ließen sich diese Interpretationen nicht beziehen, da das Erleben spezifischer Kompetenzen oder Interessen im Zusammenhang mit beruflichen Aspirationen in keiner Situation zum Ausdruck kam. Die für die Auswertung von Gruppendiskussionen nach Prinzipien interpretativer Sozialforschung zentrale „metaphorische[..] Dichte“ (Schäffer 2012, 358) zeigt sich vielmehr in solchen Sequenzen, die als Ausdruck einer geringen Selbstschätzung bzw. als Reaktion auf schulische Missachtungserfahrungen interpretierbar sind. Daher wurde im Fortgang der Studie der Schwerpunkt auf Anerkennungs- und Missachtungserleben im Zusammenhang mit Berufs- und Bildungsorientierung Jugendlicher im BGJ gelegt.

Die zentralen Ergebnisse der ersten Teiluntersuchung werden anhand von vier Themenbereichen nachvollziehbar gemacht; (1) Übertragung der Reputation der Schulform Hauptschule auf die Individuen als kollektives Stigma, (2) affektiver Gehalt des mittleren Abschlusses, (3) Wunsch nach sozialer Wertschätzung als BGJler, (4) Verwobenheit von Anerkennungsdimensionen und Rechtspositionen als Rückzugsraum. Komparative Analysen unterschiedlicher „kollektive[r] Sinnstrukturen“ (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2009, 17) ehemaliger Hauptschüler/innen und ehemaliger Schüler/innen anderer Schulformen werden in den folgenden Teiluntersuchungen vorgenommen und auf diese Weise genauer analysiert, welche Formen handlungsleitenden Wissens auf welche institutionenspezifischen Anerkennungs- und Missachtungserfahrungen beziehbar sind.

3.1 Übertragung der Reputation der Schulform Hauptschule auf die Individuen als kollektives Stigma

Die Verflechtung von institutionellen Zuschreibungen und mangelnder „Selbstschätzung“ (Honneth 1992, 209) formuliert ein Schüler während einer Gruppendiskussion recht drastisch. Ein anderer Schüler, der in der Oberstufe zwei mal die Versetzung verpasst hatte und daraufhin mit Hauptschulabschluss das Gymnasium verlassen musste, hatte dargestellt, wie intensiv an seinem Gymnasium Computer im Unterricht genutzt wurden, indem z. B. im Rahmen eines Zeitzeugenprojektes mit Einbindung von Videokonferenzen u. Ä. gearbeitet wurde. Der erwähnte ehemalige Hauptschüler reagiert auf diese Ausführungen mit einem Ausdruck der Scham (alle Interviewsequenzen sind aus Gründen besserer Lesbarkeit in leicht geglätteter Form wiedergegeben):

m1: Irgendwie ist das voll beschämend, Hauptschüler zu sein.

Interv.: Wie bitte?

m1: Es ist beschämend ein Hauptschüler zu sein, wenn man neben ihm sitzt.

Interv.: Warum?

m1: Weil der so mit gutem Deutsch kommt und naja (...) weil bei uns ist ja der Unterrichtsstoff ein bisschen vereinfacht und so. Und der hat ja besseres Deutsch gelernt als ich. Und der redet (…)┌m4┐ Ja, genau, also mit Fachwörtern.

m4: In Fachwörtern

 

Dem Schüler ist bewusst, dass er als Hauptschulabsolvent mit deutlich weniger elaborierten Artikulationsformen in Kontakt gekommen ist, als sein Mitschüler, der bis in die Oberstufe das Gymnasium besucht hat. Er verallgemeinert diese Betroffenheit für alle Hauptschüler/innen, da er unterstellt, als Hauptschüler schlichtweg nicht den Zugang zum distinguierten Artikulationsformen erhalten zu haben. Gleichzeitig bindet er mit der Wahrnehmung von Scham eine individuelle Wahrnehmung ein, die vermeintlich für alle Hauptschulabsolventen gilt. Es kommt zum Ausdruck, dass der Schüler der Institution Schule eine zentrale Bedeutung für das Eröffnen erweiterter Artikulationsräume zuschreibt. Vor diesem Hintergrund ist der weitere Schulbesuch zum Zweck der Überwindung von Scham nachvollziehbar. Die Bedingung „wenn man neben ihm sitzt“ verweist darauf, dass die Scham in der Situation am stärksten wird, in der der ehemalige Hauptschüler mit der offensichtlichen schulischen Überlegenheit des Gymnasiasten konfrontiert wird. Die Situation am Ausbildungsmarkt, in der ehemalige Hauptschüler/innen mit Abiturient/inn/en um Ausbildungsstellen konkurrieren, stellt eine solche Vergleichssituation dar und die Verzögerung des Übergangs in reguläre Ausbildung spiegelt das Empfinden der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss, diesem Konkurrenzkampf schlichtweg nicht gewachsen zu sein.

Eine Ursache der Scham scheint zudem das Erleben zu sein, als Hauptschüler für geistig unterlegen gehalten zu werden, da der Unterrichtsstoff vermeintlich künstlich vereinfacht wird. Auch hier steht der Besuch des BGJ für den Versuch ehemaliger Hauptschüler/innen, sich von der Scham durch eigene Leistung zu befreien und den Gegenbeweis anzutreten, dass auch sie zu höheren Bildungsleistungen in der Lage sind.

Dass andererseits mit dem bloßen Besuch des BGJ bereits ein Teilerfolg im Kampf Selbstschätzung erzielt wird, zeigt die Konklusion der dargestellten Sequenz. Nachdem eine leichte Betretenheit angesichts der vorangegangenen Selbstoffenbarung herrscht, entlastet ein anderer ehemaliger Hauptschüler die Situation mit einer weiteren Erkenntnis:

m2: Tja.

Interv.: Mmh.

m3: Trotzdem seid ihr beiden hier. >Schmunzelnd<

Der ehemalige Gymnasiast wird zwar als in schulischen Leistungssituationen deutlich überlegen anerkannt, dennoch befindet er sich gemeinsam mit den ehemaligen Hauptschüler/inne/n im BGJ, was als eine Art Nivellierung der andererseits offensichtlichen Unterschiede aufgefasst wird. Die gesamte Sequenz zeigt somit, dass ehemalige Hauptschüler sich als soziale Gruppe innerhalb des BGJ begreifen und spezifische kollektive Erfahrungen dieser sozialen Gruppe die Selbstwahrnehmung im BGJ prägen.

3.2 Der affektive Gehalt der mittleren Reife

Eine weitere Sequenz, die an die Frage anschließend entstanden ist, warum die Jugendlichen in der Diskussionsrunde gerne die Fachoberschulreife (FOR) erreichen möchte, zeigt diese kollektive Selbstwahrnehmung noch deutlicher:

m5: Es gibt sogar Leute, die mit keinem Abschluss ┌Interv.┐ eine Ausbildung bekommen haben.

Interv.: Aber sie sagen, mit FOR...

m1: Kommt´s besser rüber. Sagen wir mal so.

m2: Man fühlt sich auch besser irgendwie.

m4: Ja, man fühlt sich dann so, ja so…

m3: Like a boss.

>Lachen<

m2: Like a boss. >Lachend<

m1: Man möchte auch die Eltern stolz machen. ┌m4┐ Verstehen sie, was ich meine? Wenn man nichts hat, kommt man auch ┌Interv.┐  voll blöd rüber.

┌m4┐ : Ja.

┌Interv.┐:  Mmh. 

Auf die Proposition, die Fachoberschulreife sei gar nicht zwingend notwendig für den Beginn einer Berufsausbildung, folgt die Elaboration, dass es bei den Bemühungen um die FOR nicht allein um berufliche Chancen geht, sondern dass mit der Fachoberschulreife eine andere Form affektiver Selbstwahrnehmung einhergeht, die in gesellschaftlichen und familialen Leistungsvorstellungen begründet ist. Der Anreiz eines erweiterten Abschlusses liegt damit nicht ausschließlich in der Erweiterung von beruflichen Entscheidungsspielräumen, sondern darin, die individuelle Selbstwahrnehmung, gemessen an gesellschaftlichen Wertschätzungskriterien, aufzuwerten. Die Formulierung „wenn man nichts hat“ spiegelt zudem die Übernahme der gesellschaftlich weit verbreiteten Einschätzung, dass der Hauptschulabschluss das beinahe wertlose Zertifikat einer „Restschule“ ist. Die affektive Aufladung der Fachoberschulreife stellt ein Aggregat aus Anerkennungsbedürfnissen durch primäre Bezugspersonen, im Beispiel die Eltern, und der gesellschaftlichen Wertschätzung dar, ausgedrückt in der Konklusion, nicht „voll blöd rüber [kommen]“ zu wollen. Diese Interpretation stützt die Einschätzung, dass die unterschiedlichen Anerkennungsmodi auf der analytischen Ebene zwar gut zu trennen sind, empirisch aber vielfältigen Verflechtungen unterliegen (vgl. Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, 189).

Die Formulierung „Like a boss“ bezieht sich möglicherweise direkt auf einen parodistischen Rap-Song („Like a boss“, Lonely Island feat. Seth Rogers auf YouTube: http://www.youtube.com/watch?v=NisCkxU544c) wahrscheinlicher aber auf eine aus diesem Song basierende jugendsprachliche Wendung, nach der Dinge „like a boss“ zu tun bedeutet, sie mit besonderer Lässigkeit und Unverfrorenheit zu tun. Die Phrase findet sich als entsprechende kommentierende Bildunterschrift vielfach in sozialen Medien im Internet (vgl. Langenscheidt, 100% Jugendsprache 2014, epub-Version, http://www.gutefrage.net/frage/like-a-boss----). Die Äußerung beinhaltet in dieser Lesart im Vergleich zur wörtlichen Übersetzung eine ironische Wendung, denn der Modus „like a boss“ entlehnt die statusintensive Position des „boss“ aus ihrer arbeitsweltlichen Konnotation, in der Macht und Verantwortung immer austariert werden müssen und reduziert sie auf einen schrankenlosen Möglichkeitsraum, der dem untergebenen Arbeitnehmer vorenthalten bleibt. Ohne einen möglicherweise aus purer Freude am Zitat ausgesprochenen pop- oder jugendkulturellen Verweis interpretativ überhöhen zu wollen, lässt sich die Äußerung dann so verstehen, dass die FOR in der Wahrnehmung der Jugendlichen Freiräume eröffnet, die der Status des Hauptschulabsolventen nicht vorhält. Die Schüler/innen beschreiben gerade auch den Status des Schülers bzw. der Schülerin, im Sinne eines Bildungsmoratoriums als Raum der Freiheit im Vergleich zu den Zwängen des Berufslebens. Ein Beispiel aus der anderen Gruppendiskussion, in der es ebenfalls um die Gründe für einen weiteren Schulbesuch geht, mag diese Interpretation dokumentieren:

W2:Wiederrum lernt man, also an, von einer Seite lernt man und ähm, man muss nicht arbeiten. Von der anderen Seite, dann ist man auch nicht so ausgepowert am Abend.

In dieser Sichtweise spiegelt sich ein Orientierungsrahmen von Arbeit als etwas, das nicht primär gesellschaftliche Wertschätzung verspricht, sondern – insbesondere unter den Beschäftigungsbedingungen, die viele Hauptschüler/innen möglicherweise aus Erzählungen im privaten Umfeld kennen – den Zwang, sich vielfältigen Zumutungen und Anforderungen auszusetzen, von denen man im Schulkontext weitgehend befreit ist. „Like a boss“ könnte demnach für einen Raum der selbstbezogenen Nutzung von Freiheit stehen, den Schule und höhere Bildung vorhält, Ausbildung und Beruf vermeintlich aber nicht. In Verbindung mit dem vorangegangenen Textbeispiel lässt sich eine Berufsorientierung Jugendlicher im BGJ entwerfen, die zwar Vorstellungen von gesellschaftlicher Anerkennung im Medium Beruf beinhaltet, die die Jugendlichen aber in ihrer lebensweltlichen Realisierung mit ihrem derzeitigen Status für außer Reichweite halten.

3.3 Der Wunsch nach sozialer Wertschätzung als BGJler

Weitere Verflechtungen unterschiedlicher Anerkennungsmodi, insbesondere des Rechts und der sozialen Wertschätzung, verweisen auf Unsicherheiten der Jugendlichen mit unterschiedlichen Dimensionen gesellschaftlicher und statusbezogener Erwartungen. Diese Unsicherheit zeigt sich insbesondere in einer Gesprächssequenz, in der die Bewertung von Schüler- bzw. Lehrerverhalten wiederholt in Argumentationsmuster münden, die sich auf Rechtstitel oder Kriterien der moralischen Integrität als gesellschaftliches Subjekt mit Rechten beziehen.

Es wird beispielhaft eine Sequenz wiedergegeben, die durch eine besondere interaktive Dichte gekennzeichnet ist und aus Platzgründen nur ausschnittweise abgebildet werden kann.  Die lebhafte Diskussion entwickelt sich anschließend an die Frage, warum BGJler im Unterschied zu Schüler/inne/n anderer Bildungsgänge am Berufskolleg keine Unterstützung nach BAföG beziehen können. In der Sequenz vermischen sich Empörungsäußerungen mit Ansätzen formal-rechtlicher Erklärungsversuche.

w4: Wir kriegen kein BAföG, das wollt ich auch noch fragen.

w1: Nicht im Berufsgrundschuljahr, ne?

w3: Janine kann so was bekommen.

w4: Warum Janine und warum nicht wir?

w2: Weil die Quali macht.

w3: Weil die Ausbildung glaube ich macht.

w4: Warum bekommen die anderen Schüler BAföG, aber wir nicht?

w6: Frag ich mich…

w1: Weil wir Berufsgrundschuljahr sind.

w3: Berufsgrundschuljahr.

w4: Eine Freundin macht auch Berufsgrundschuljahr, nur mit Sozial- und Ernährung - kriegt BAföG. 216 Euro im Monat.

w1: Ja.

w4: Wir kriegen nichts! >Entrüstet<

An der Sequenz zeigt sich einerseits ein Bewusstsein für die Regelhaftigkeit sozialstaatlicher Leistungen, weil das Ausbleiben der BAföG-Berechtigung über die Art des Bildungsganges begründet wird, andererseits aber auch das Bedürfnis, dass die eigenen Bildungsanstrengungen als unterstützungswürdig und damit gesellschaftlich wertvoll anerkannt werden. Die Schüler/innen bemühen sich um die Aufwertung des eigenen Sozialstatus im BGJ, machen aber die Erfahrung, dass ihre Bemühungen nicht den gleichen sozialen Rang wie andere (Aus-)Bildungsgänge genießen. Über die formal-rechtlichen Erklärungsversuche erfolgt einerseits ein Rückzug auf die Anerkennungsform des Rechts, weil in diesem Anerkennungsmodus individuelle Zuschreibungen und Inwertsetzungen nicht greifen, gleichzeitig dringt aber eine Empörung über die entzogene soziale Wertschätzung qua nicht gewährter finanzieller Unterstützung durch. In der ergänzenden Elaboration der öffnenden Frage anhand verschiedener, als taxonomisiert begriffener Qualifikationsarten, zeigt sich das geteilte Bewusstsein der Jugendlichen, sich in der Rangordnung der beruflichen Bildung weit unten zu bewegen und deswegen von der Wertschätzung, die sich in einer Ausbildungsvergütung zeigt, abgeschnitten zu sein.

3.4 Verwobenheit von Anerkennungsdimensionen und Rechtspositionen als Rückzugsraum

Eine ausladende Diskussion entspinnt sich entlang der Frage, in welchem Verhältnis wahrgenommenes Fehlverhalten seitens der Schule bzw. einzelner Lehrpersonen und Fehlverhalten seitens der Schüler/innen zueinander stehen. (w3) bezeichnet die Schülerin, die in einen Konflikt mit einer Lehrerin geraten war. Die jeweilige Verantwortung für den Konflikt und seine Klärung seitens der Schülerin bzw. der Lehrerin wird in der Sequenz ausführlich und teilweise kontrovers diskutiert. Dennoch kommt es zu einer Konklusion, die hier wiedergegeben wird. In dieser stellt eine andere Schülerin rückblickend dar, wie es ihr gelungen ist, den Hauptschulabschluss trotz als massiv empfundener persönlicher Entwertung zu erreichen.

w4:      „Wenn die (w3) super Noten schreibt, das war bei mir in [westdeutsche Großstadt] auf der Schule. Haben die Lehrer mich gehasst. Mein Lehrer wollte mich rauskicken, ich schwöre, der hat mich drei Monate lang aus dem Unterricht suspendiert. Ich konnte nichts machen. Aber ich hab das so schlau gemacht in den anderen Unterrichtsstunden, ich war so super. Ich war die beste von den Schülerinnen. Ich hab meinen Abschluss bekommen. Ich hatte null Fehlstunden und der konnte nix machen, weißte wie der mich gehasst hat? Zum Schluss habe ich den so fertig gemacht, ich hab, ich wollt den, das war schlimm. Ist wie gesagt und (w3), wenn du super Noten schreibst, können die nix machen.“

 Der Ausschnitt spiegelt eine grundlegende Unterstellung der Missachtung durch das Lehrpersonal wieder. Der schulische Anerkennungsapparat wird als das feindliche Andere konstruiert, das die Vernichtung der persönlichen Integrität zum Ziel hat. Dieser Feindseligkeit und Missachtung auf Ebene der sozialen Wertschätzung kann aus Sicht der Betroffenen nur durch Anpassung an die vermeintlich überindividuellen Bezugsnormen der Institution Schule, die Noten, begegnet werden. Rechtspositionen übernehmen hier die Funktion eines Schutzraumes (vgl. Honneth 2012, 152), der genutzt wird, um dem kontingenten Raum sozialer Vergabe von Wertschätzung vorübergehend zu entkommen. Anpassung und gute Noten werden als eine Art Trick dargestellt, indem man sich quasi verstellt, zeigt, dass man auf der überindividuell gültigen Ebene des Rechts unangreifbar ist und macht sich auf diese Weise gleichsam immun gegenüber Missachtung auf der Ebene sozialer Wertschätzung. In dieser Orientierung erscheinen Noten nicht als das gerechte Resultat schulischer Bemühungen, sondern als etwas, das vorübergehend benötigt wird, um dem schulischen Repressionsapparat standhalten zu können. Schule als Institution, in der die Vergabe von Anerkennung potentiell in einem transparenten und dynamischen Aushandlungsprozess von Schüler/innen und Lehrer/innen erfolgt und damit zu einer Form von Selbstschätzung als Basis zukünftiger Leistungssituationen beiträgt, hat in dieser Orientierung der trickreichen und vorübergehend selbstverleugnenden Anpassung ihre Bedeutung verloren.

Andererseits wird vom Lehrpersonal ein machtsensibler im Umgang mit dem Rechtstitel der Notenvergabe, basierend auf einer grundlegenden sozialen Anerkennung von Schülerbedürfnissen und -eigenschaften, erwartet:

w2:      „Lehrer, die zum Beispiel auch irgendwo an ihre Mit… . Also an ihre Schüler und ihre Zukunft denken. Zum Beispiel, die steht zwischen Vier und Fünf. Dass sie dann eher die Vier gibt, statt die Fünf. Obwohl sie kann genauso, sie hat das Recht, auch die Fünf zu geben. Aber Lehrer die zum Beispiel auf jemanden einen Tick oder so haben die nicht abhaben können wegen irgendwelchen Gründen. Die geben einfach eine Fünf. So die denken gar nicht so, dass sie ihr Leben zerstören. Das sind für mich falsche Lehrer. Und Lehrer die trotz allem, auch wenn die Schülerin mal so ist, mal so ist, die müssen trotzdem so irgendwo wissen, OK da ist ne Schülerin, die ist jetzt vielleicht so, aber wenn die sich ändert, dass sie trotzdem irgendwie immer versuchen die Noten zu verbessern.“

 Auch diese Konklusion einer längeren Sequenz, in der die Frage, was eine gute Lehrperson ausmacht, verhandelt wird, spiegelt eine Orientierung wieder, in der die Jugendlichen sich nicht als Gestalter/innen ihrer Anerkennungsbiographie erleben, sondern als dem Wohlwollen der sie beurteilenden Lehrer/innen ausgeliefert, die sie lediglich um Milde anrufen können. Schüler/innen stehen in der Gefahr, dass ein Lehrer „einen Tick“ entwickelt, man also „wegen irgendwelchen Gründen“ in den Fokus der Abwertung durch die Lehrperson gerät. Leistungsbewertung wird dann verstanden als das Machtinstrument, mit dem die soziale Missachtung übertragen wird auf die Anerkennungsdimension des Rechts, indem Lehrer die Macht besitzen, die Schülerin als ganze Person zu entwerten und gleichsam ihr Leben zu zerstören. Von Lehrer/inne/n wird die professionelle Wertschätzung erwartet, die es ermöglicht, eine jugendliche Person als im ständigen Wandel begriffen aufzufassen und ihr eine ständige Chance der Verbesserung einzuräumen. Die Schülerin beschreibt an dieser Stelle recht genau, wie Personen im Status des Schülers adressiert werden, nämlich nicht als vollwertige Person, sondern als Person, die diesen Status qua Bildung erst noch zu legitimieren hat. Nicht das Kind, sondern der zukünftige Erwachsene ist Adressat der allgemeinen Schulpflicht (vgl. Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, 181). Im Material zeigt sich ein Ringen um Anerkennung als Teil eines adoleszenten Subjektivierungsprozesses, zu dem alle Schüler/innen sich im Rahmen schulischer Selektionsprozesse aufgefordert sehen und in den Spannungen und Kontingenzen nahezu programmatisch eingeschrieben sind. Gleichzeitig zeigt sich aber auch eine besondere Brüchigkeit des Anerkennungserlebens, da schulische Leistungs- und Selektionssituationen nicht primär als etwas durch selbstbezogene Vorstellungen von Leistungsfähigkeit – z. B. in Form von passenden Lern-und Arbeitsstrategien – Gestaltbares erlebt wird, sondern als etwas, das nicht zuletzt durch trickreiche Anpassungsformen bearbeitbar ist. Im BGJ finden diese Orientierungen ihre Fortsetzung, da die Anerkennungsbiografie die Auffassung der Rolle als Schüler/in im BGJ vorstrukturiert. Diese Subjektivierungsmodalitäten im Modus eines Kampfes um Anerkennung sind keine, die eine zielgerichtete, an individuellen Zielen und Vorstellungen von Leistungsfähigkeit ausgerichtete Berufsorientierung wahrscheinlich machen. Das BGJ steht angesichts solcher Bildungsorientierungen nicht zuletzt für ein soziales Setting, das deswegen gewählt wird, weil hier weitere Entwertungen der persönlichen Integrität unwahrscheinlicher sind als in anderen „Leistungsumwelten“ und das deswegen für von Entwertung jedweder Art Betroffene die Übergangsentscheidung der Wahl an der ersten Schwelle ist.

4 Zusammenfassung und Ausblick

Es konnte gezeigt werden, dass Berufs- und Bildungsorientierungen Jugendlicher im BGJ deutliche Zeichen eines Kampfes um Anerkennung tragen in dem Sinne, dass sich in den konjunktiven Sinnstrukturen insbesondere ehemaliger Hauptschüler/innen das Bedürfnis erkennbar ist, gruppenbezogene Statuszuweisungen individuell positiv zu wenden und das BGJ als Vehikel für die Aufwertung der leistungsbezogenen Selbstbeziehung zu verwenden. Ferner konnte gezeigt werden, dass nicht in erster Linie spezifische Bildungsziele oder das Scheitern der Bewerbung um eine Ausbildungsstelle der Grund für das Ziel eines erweiterten Abschlusses sind, sondern das Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung, einer positiven Selbstbeziehung im Medium der Leistung und die Konfundierung emotionaler Anerkennung durch die Erfüllung elterlicher Bildungserwartungen.

Strategien der Selbstselektion, verstanden als Verzögerung des Übergangs in qualifizierte Ausbildung, stehen hierbei für ein Bündel an Berufs- und Bildungsorientierungen, die der weiteren Explikation und Erforschung bedürfen und die je spezifisch auf verschiedene Anerkennungsdimensionen beziehbar, aber auch auf Orientierungen, die außerhalb eines Kampfes um Anerkennung liegen, zurückführbar sind.

Die analytische Dreiteilung des Anerkennungsbegriffs der Honneth´schen Anerkennungskonzeption hat sich als hilfreich erwiesen. Die Unterscheidung und reziproke Bezogenheit insbesondere der Anerkennungssphären des Rechts und der sozialen Wertschätzung hat dazu beigetragen, Einzelaspekte der Beziehung von Schüler/inne/n im BGJ zum Lehrpersonal und zur Institution Schule sichtbar zu machen.

Ausgehend von dieser Anerkennungskonzeption konnten Berufs- und Bildungsorientierungen im BGJ analysiert werden, in die das intersubjektiv entwickelte Anerkennungsgefüge der Gesellschaft eingeschrieben ist, das in Formen von Selbstselektion an der ersten Schwelle zur Geltung kommt. Beispielhaft zu nennen sind:

1) Das vielfach beschriebene Bedürfnis der Aufwertung der (affektiven) Selbstbeziehung durch die Fachoberschulreife.

2) Das Bedürfnis, elterliche Zuneigung, die als an Bildungserfolg gekoppelt erlebt wird, zu legitimieren. Insbesondere in Familien mit Migrationshintergrund liegen teilweise sehr hohe Bildungsaspirationen bei gleichzeitig tendenziell schwach ausgeprägten Unterstützungsstrukturen vor (vgl. Becker 2011, 30). Viele Jugendliche würden gerne dem elterlichen Wunsch, das Abitur zu erreichen um ein Studium aufnehmen zu können, entsprechen und nutzen das BGJ entweder, um diese Möglichkeit als reale Chance aufrecht zu erhalten oder um den Eltern gegenüber den Moment der Offenbarung aufzuschieben.

3) Eine Anerkennungsbiografie, die von Misserfolgserfahrungen gekennzeichnet ist und die weitere Herabsetzungserfahrungen durch Ablehnung in einem Bewerbungsverfahren als nicht zumutbar für die persönliche Integrität erleben lässt.

4) Ausprägungen sozialer Pathologien der rechtlichen Freiheit (Honneth 2012, 157ff), in denen intersubjektive Freiheit, mithin Berufswahl, nicht mehr als etwas reziprok Verhandelbares erlebt wird, sondern als belastendes Spannungsfeld, das Sprachlosigkeit erzeugt. Unterschiedliche Leistungserwartungen ziehen derart an den Jugendlichen, dass die Teilnehme am BGJ als von intersubjektiven Begründungszwängen befreiter Rechtsraum für eine temporäre Flucht aus berufsbezogenen Kommunikationsräumen genutzt wird.

Weitere Aspekte von Selbstselektion sind im BGJ wirksam, aber nicht primär auf Anerkennungsdynamiken beziehbar, z. B.:

5) Ein individuelles Attributionsverhalten des schulischen Misserfolgs, das zu der Einsicht führt, dass die Unreife der früheren Jugend und nicht Unvermögen die Ursache für schulischen Misserfolg war und die Selbstwahrnehmung, dass man mit erfolgter persönlicher Reifung auch zu höherwertigen schulischen Leistungen in der Lage ist,

6) direkte oder indirekte Botschaften aus dem Arbeitsmarkt, man sei noch zu jung und hätte nach einem Berufsgrundbildungsjahr bessere Chancen auf eine Ausbildungsstelle.

Die Vielfalt der Berufs- und Bildungsorientierungen an der ersten Schwelle macht es notwendig, die Unterschiede in den Bildungs- und Berufsorientierungen ehemaliger Hauptschüler/innen systematisch mit denen ehemaliger Gesamtschüler/innen mit Hauptschulabschluss im BGJ zu kontrastieren.

Die Auswertungen zeigen, dass das BGJ den Jugendlichen sowohl psychosoziale Entlastung verschafft, sie aber gleichzeitig von den Anerkennungsbeziehungen, in die qualifizierende Ausbildung eingelagert ist, isoliert.

Zusammenfassend zeigt sich, dass subjektbasierte, anerkennungstheoretische Forschung zu den Berufs- und Bildungsorientierungen im BGJ das Potenzial hat, die Vielfalt der Berufs- und Bildungsorientierungen Jugendlicher im BGJ zu beschreiben, indem die Jugendlichen als Subjekte mit spezifischen Bedürfnissen ernst genommen und die Bedeutung einer reflexiven, hegemoniesensiblen Berufsorientierungsforschung in die Theorieentwicklung integriert wird. Indem der weitere Schulbesuch an der ersten Schwelle als biografisch legitimierte Entscheidung anerkannt wird eröffnet sich die Möglichkeit, Bedürfnisse, Geschichten und komplexe Subjektivierungskontexte auf Berufs- und Bildungsentscheidungen zu beziehen und Verzögerungen des Eintritts in qualifizierende Ausbildung als biografisch sinnvoll aufzufassen. Das Bildungsmoratorium als eigene Qualität der Zeit, die Kinder und insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene in institutionellen Bildungskontexten verbringen, ist derzeit ein Privileg der Erbringer bürgerlich gerahmter Bildungsleistungen. Abiturienten nutzen die Zeit in der Oberstufe nicht nur, um sich auf ein Studium vorzubereiten, sondern auch für diverse Formen des „Erwachsenseins im Schonraum“, kulturelle Selbsterprobung, tentative Suchbewegungen etc. Die Pluralisierung der Arbeitsbezüge und ein gesellschaftlicher Bedeutungszuwachs subjektiv bedeutsamer Bildungs- und Berufsentscheidungen haben dazu geführt, dass das Bedürfnis, sich Zeit für einen Prozess der Selbstfindung zu nehmen, gesellschaftliche Verbreitung auch in die Gruppen von Schülern gefunden hat, die traditionell nach der Schule in qualifizierende Ausbildung eingetreten sind (vgl. Bojanowski 2012, 129). Dieses Bildungsmoratorium als spezifische Bildungsphase auch für Jugendliche ohne Schulabschluss und mit niedrigen Schulabschlüssen ertragreich zu gestalten bei gleichzeitiger Fokussierung beruflicher oder schulischer Anschlussmöglichkeiten, d. h. ohne den Preis einer sozialpädagogischen Entschulung, ist eines der zentralen Kriterien für Gestaltungsentscheidungen im Übergangsbereich insgesamt. Aus anerkennungstheoretischer Sicht ist es sinnvoll, Jugendlichen im BGJ ihre Anerkennungsbiografie reflexiv verfügbar zu machen. Dies wäre eine Grundlage dafür, dass die Jugendlichen ihre biografisch begründeten Bildungsentscheidungen als Subjekte in den Rahmen eines emanzipierten Selbsterlebens stellen. Konzepte, die im BGJ zu einer positiven Selbstbeziehung als Grundlage einer ermöglichenden Berufsorientierung beitragen, ohne das BGJ dabei auf eine sozialpädagogische Reparaturwerkstatt zu reduzieren, sind auf der Basis dieser Untersuchung notwendig.

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