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Channel: Ausgabe 27 (Dez. 2014) - bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik - online
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Berufswahlbereitschaft und -fähigkeit als Metakompetenz aus Identität, Adaptabilität und Resilienz. Eine neue Konzeptualisierung der Zielgröße von Berufsorientierungsmaßnahmen

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1 Berufswahlkompetenz

1.1 Einleitung

Die Effektivität pädagogischer Maßnahmen zur Berufsorientierung zu bestimmen, lässt einige Wahlmöglichkeiten zu. Das naheliegende Ziel ist die Einmündung in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Aber zum einen ist das gemessen am Zeitpunkt der Maßnahme ein distales, weit in der Zukunft liegendes, Ziel und zum anderen ist es abhängig von maßnahmenunabhängigen Faktoren, wie Konjunktur und den Gegebenheiten des lokalen Arbeitsmarktes. Andere Ansätze sind Verfahren der betriebswirtschaftlichen Qualitätssicherung, die Strukturen und Prozessabläufe in den Organisationen überprüfen, oder sozialwissenschaftliche Methoden, die Maßnahmenerfolge an Output- und Outcome-Indikatoren festmachen (Bleck 2011).

Ein Outcome-Konzept, das in der Berufsvorbereitung und Berufsorientierung einen hohen Stellenwert erlangt hat, ist das Konzept der Ausbildungsreife. Es ist die übergeordnete Zielgröße im Rahmenkonzept der Berufsorientierung des Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland (2006b). Die notwendigen Kriterien für die inhaltliche Bestimmung und Operationalisierung des Begriffs hat ebenfalls eine Arbeitsgruppe des Pakts festgelegt (2006a). Die Kriterienliste ist jedoch so umfassend und facettenreich, dass entweder jede Art von Maßnahme irgendeinem Aspekt der Liste gerecht werden kann, oder es erfolgt eine Reduzierung auf plakative Verkürzung wie Schulleistungen, Arbeitstugenden und das, was von Praktikern Berufsorientierung genannt wird. In den jährlichen Umfragen der Industrie- und Handelskammer beklagen 30% der Betriebe die fehlende Berufsorientierung der Bewerber um Ausbildungsstellen (DIHK 2013). Gemeint ist damit, dass die Jugendlichen trotz umfangreicher Berufsorientierungsmaßnahmen noch keine Klarheit über ihre berufliche Zukunft erlangt haben. Dieser Aspekt ist als Berufswahlreife ebenfalls in der Kriterienliste des Pakts vertreten.

Berufswahlreife ist im Gegensatz zur Ausbildungsreife ein wissenschaftliches Konzept, das aus der empirischen Forschung zur Entwicklung des Berufswahlverhaltens Jugendlicher hervorgegangen ist. Es entspricht in der Konzeptualisierung und in den Grundannahmen Gegebenheiten der 50er bis 70er Jahre und spielt im internationalen Fachdiskurs heute kaum eine Rolle. Alternativ wurden Konzepte der Berufswahlbereitschaft, der Employability oder des selfdirected career management vorgeschlagen (Hirschi 2012). Die größte Akzeptanz in der internationalen Fachwelt findet das Konzept der Adaptabilität, das als direkte Weiterentwicklung und Rekonzeptualisierung der Berufswahlreife vorgestellt wurde (Savickas 1997). Im deutschen Sprachraum ist inzwischen der Begriff Berufswahlkompetenz (Ratschinski 2008) verbreitet. Er ist in einigen Modellprojekten als Zielgröße definiert worden (Driesel-Lange/Hany/Kracke/Schindler 2010; INBAS 2010; Ratschinski/Sommer/Struck 2013; Ratschinski/Struck 2012) und wird konzeptuell unterschiedlich weiterentwickelt (Kaak/Kracke/Driesel-Lange/Hany 2013; Ratschinski/Struck 2014).

In diesem Beitrag werden die theoretischen Hintergründe und die empirische Absicherung eines neuen Modells der Berufswahlkompetenz vorgestellt. Gleichzeitig werden Praktikern veröffentlichte Skalen in ökonomischen Kurzformen zugänglich gemacht. Wir kommen damit häufigen Nachfragen und einem offensichtlich großen Bedarf nach. Ich bin den Autoren der Original-Skalen Nadya Fouad, Bärbel Kracke und Werner Stangl für die Erlaubnis dankbar, die verwendeten Skalenitems im Wortlaut wiedergeben zu dürfen.

Die Daten für die Modellüberprüfung stammen aus einer Onlinebefragung von 1343 Haupt- und Realschülern der 7. bis 10. Klassen aus einem niedersächsischen Landkreis, die im Rahmen des Bundesprojektes „Perspektive Berufsabschluss“ durchgeführt wurde (Ratschinski/Struck 2012). Es sind Daten der dritten und letzten Befragungswelle, weil hier erstmals alle Modellskalen eingesetzt wurden. Um eindeutige Gruppenzuordnungen zu ermöglichen, wurden Ergebnisse der wenigen Förder- und Gesamtschüler nicht berücksichtigt. Fehlende Werte wurden durch Maximum-Likelihood-Schätzungen ersetzt.

1.2 Berufswahlkompetenz

Es ist unbestritten, dass der Berufswahlprozess spezifische Kompetenzen voraussetzt. Berufswahlkompetenz als Oberbegriff für alle personalen Voraussetzungen einer erfolgreichen Berufswahl erscheint jedoch erklärungsbedürftig. Mit dem klassischen Begriff der Berufswahlreife wurde das Entwicklungsgeschehen betont und nach relevanten Entwicklungsdomänen gesucht. Die Berufswahlbereitschaft und -fähigkeit war eine Frage des Alters. Der Reifebegriff diente – wie in anderen Bereichen der Humanentwicklung - als Motor der vorberuflichen Entwicklung. Die Koppelung an das chronologische Alter und die Vorstellung eines biologischen Entfaltungs- oder Differenzierungsprozesses wurden jedoch inzwischen aufgegeben. Sie werden weder dem Gegenstandsbereich gerecht noch entsprechen sie neueren Entwicklungskonzepten. Vorberufliche Entwicklung ist eine komplexe Person-Umwelt-Interaktion mit Einflussgrößen auf allen ökologischen Analyseebenen.

Diesen Zusammenhängen wird ein erweiterter Kompetenzbegriff besser gerecht, der neben kognitiven auch motivationale und volitionale Aspekte integriert. Kompetenz als Voraussetzung zur erfolgreichen Bewältigung komplexer Anforderungen erfordert motivationale, ethische, volitionale und soziale Komponenten, die zwar gelernt werden müssen, aber nicht direkt gelehrt werden können (Weinert 2001, 62). Sie sind – ebenso wie die Persönlichkeitsentwicklung – Ergebnis von Lebenserfahrungen und insbesondere von Erfahrungen bei der Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben.
Die Entwicklungsaufgabe Berufswahl hat eine lange biographische Vorgeschichte (Ratschinski 2013), die in diesem Sinne als Kompetenzentwicklung aufgefasst werden kann. Gefordert werden allgemein Anpassungen an Veränderungen, die mit veränderten Erwartungen oder veränderten Umweltbedingen und -anforderungen auf den Einzelnen zukommen. Tests und Inventare zur Berufswahlkompetenz stellen den Status der Entwicklung fest. Personen unterscheiden sich im Kompetenzniveau und im Entwicklungsstand. „Better outcome (adaption results) are achieved by individuals who are willing (adaptive readiness) and able (adaptability resources) to perform coping behavior that addresses changing conditions (adapting responses)” (Savickas 2013, 162).

Im hier vorgestellten Modell der Metakompetenz zur Berufswahl beschreibt die Teilkompetenz der beruflichen Identität die Berufswahlbereitschaft und die Teilkompetenzen der Adaptabilität und der Resilienz das Bewältigungsverhalten. Identität wirkt wie ein Navigator, der die Notwendigkeit oder das Bedürfnis von Anpassungen signalisiert und Adaptabilität und Resilienz bezeichnen die Ressourcen, die für die Anpassungen zur Verfügung stehen (Savickas 2011).
Die Career Construction Theory (Savickas 2013), an der sich das Modell orientiert, sieht keinen Erklärungsfaktor „Resilienz“ für das Berufswahlverhalten vor. Angesichts der Tatsache, dass der unmittelbare Einstieg in eine Ausbildung immer schwieriger wird, erschien jedoch ein Erklärungsfaktor angemessen, der - über normale Anpassungsleistungen hinaus - die Überwindung von Hindernissen und die Aufrechterhaltung positiver Erwartungshaltungen einschließt.

2 Berufliche Identität

Identität ist allgemein die Implementierung des Selbst in soziale Rollen (Savickas 2011). Je nach sozialer Rolle verfügen wir über verschiedene Identitäten, während das Selbst invariant bleibt und für ein Kontinuitätserleben sorgt. Definiert als Kompetenzerwerb ist Identitätsentwicklung eine aktive Konstruktionsleistung. Sie enthält Entscheidungen über den Beruf, die Geschlechtsrolle, politische Ideologien, religiöse Überzeugungen und Freizeitkulturen und führt zur „Entwicklung einer eigenständigen, selbstverantwortlichen und um einen Kern organisierten Person“ (Fend 2000, 402). Entscheidungen verlangen Auseinandersetzungen mit den möglichen Wahloptionen.

Berufliche Identität ist die Fähigkeit und Bereitschaft zur Integration (antizipierter) beruflicher Rollenmuster, Rollenskripte und Rollenerwartungen in das Selbst, sowie die Integration des Selbst in soziale (Berufs-) Rollen. Selbstkenntnis ist Voraussetzung personaler Identität. Je klarer und je stabiler die Vorstellungen von der beruflichen Zukunft sind, desto entwickelter und ausgeprägter ist die berufliche Identität (Holland 1997).

Aspekte der Identität sind Eigenverantwortung, Identifikation mit den identitätsstiftenden Merkmalen, subjektive Wichtigkeit dieser Merkmale, psychosoziale Reife und vor allem Festlegungen auf persönliche Ziele.
Orientiert daran definieren wir Identität als komplexe Merkmalskombination aus den vier Konzepten Eigenaktivität, Realismus, Entschiedenheit bzw. Entscheidungssicherheit und Berufsbindung bzw. Verbindlichkeit der Entscheidung. Jemand hat Identität erreicht, der sich selbstverantwortlich und selbständig (Eigenaktivität) auf einen Beruf festgelegt hat (Entschiedenheit), der realisierbar ist (Realismus) und der für ihn eine gewisse Verbindlichkeit erlangt hat (Berufsbindung).

Die Items der vier folgenden Skalen stammen aus dem Itempool des Fragebogens zu Einstellungen zur Berufswahl und beruflichen Arbeit in der Version für Hauptschüler (EBwA-HS) (Stangl/Seifert 1986), der deutschen Bearbeitung und Weiterentwicklung des Career Maturity Inventory (CMI) von Crites (1978). Das Verfahren beruht auf dem Berufswahl-Reifemodell von Donald Super (z. B. 1994) und bildet die Einstellungskomponente der Berufswahlreife ab.

Die Skalen wurden in Vorarbeiten nach Faktoranalysen neu zusammengestellt und auf 4-5 Items reduziert. Die Konsistenzwerte sollten .70 nicht unterschreiten, damit Veränderungen auf Gruppenebene noch hinreichend zuverlässig erfasst werden können (Kersting 2006). Alle der folgenden Skalen wurden positiv gepolt und die Antwortvorgaben einheitlich auf 0 bis 3 kodiert, damit auch unstandardisierte Werte sinnvoll interpretierbar sind. In den meisten Skalen steht – bezogen auf eine Aussage – 0 für „ich stimme nicht zu“ und 3 „ich stimme genau zu“.

2.1 Dimensionen beruflicher Identität

2.1.1 Entscheidungssicherheit

Die Frage nach der Entscheidungssicherheit für einen Beruf ist der einfachste und direkteste Weg, Hinweise auf den Status der Berufswahlkompetenz zu erlangen. Berufliche Entscheidungssicherheit oder -unsicherheit ist die Leitvariable beruflicher Identität. Sie korreliert mit anderen Identitätsskalen, ist eine wichtige Zielvariable für Interventionen und – auf kollektiver Ebene – Spiegel wirtschaftlicher Unsicherheit (Hofäcker/Buchholz/Blossfeld 2010). Es ist der wichtigste Einzelprädiktor der Berufsreife, korreliert deutlich mit klassischen Einstellungs-Maßen der Berufswahlreife und wurde als einzelner Indikator (Index) für Berufswahlbereitschaft herangezogen (Hirschi 2011).

Im Modell der Berufswahlkompetenz ist Entschiedenheit durch eine Kurzform der 12-Item-Skala Entschiedenheit/Sicherheit des EBwA-HS repräsentiert. Die Reduktion von 12 auf 5 Items führte zu keiner wesentlichen Verschlechterung der Skalenhomogenität. Der hohe Wert der 12-Item-Variante (α(1343) = 0,89) konnte auch in der 5-Item-Kurzform erhalten werden (α(1343) = 0,84).

In der Tabelle 1 sind (ebenso wie in den folgenden Tabellen) die Mittelwerte (M) und Standardabweichung (SD) der Likert-Skalen (kodiert von 0 bis 3) und die Item-Trennschärfen (rit-i) angegeben. In der letzten Zeile der Tabelle sind der Konsistenzwert α der Skala aufgeführt und die Skalenmittelwerte und Standardabweichungen der Skalen.

Die Item-Mittelwerte weisen zwar eine rechtsschiefe Verteilung mit hohen Zustimmungswerten auf, aber der Variationsbereich ist selbst bei den ältesten Schülern der Realschulen hinreichend groß. Deckeneffekte sind in keiner Subgruppe der Stichprobe zu verzeichnen. Die Itemtrennschärfen liegen mit über 0,60 alle im exzellenten Bereich. Die Skala ist sehr homogen. Dafür spricht auch der – angesichts der kurzen Skala – sehr gute  alpha-Wert von 0,84.

Tabelle 1:     Entscheidungssicherheit (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

Tabelle 1:     Entscheidungssicherheit (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

Alle Items in Tabelle 1 sind negativ formuliert, weil die positiv formulierten Item-Varianten teststatistischen Kriterien nicht genügten (Seifert/Stangl 1986). Für die weitere Auswertung wurden die Item-Werte positiv umgepolt. Hohe Werte sprechen für hohe Entscheidungssicherheit.

2.1.2 Realismus versus Wunschdenken

Zu einer erfolgreichen Berufswahl gehört nicht nur die Passung von Interessen und Fähigkeiten zu den Anforderungen des Berufes, sondern auch die angemessene Einschätzung der eigenen Chancen, mit den gegebenen persönlichen Voraussetzungen (Bildungsstand etc.), auf dem Ausbildungsmarkt erfolgreich zu sein. „Simply defined career maturity means readiness for making realistic career choices” (Crites/Savickas 1995, 59). Unrealistische Berufswahlen spiegeln Wunschdenken wider, einen fehlenden Bezug zu den eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten sowie  naive Vorstellungen von der Erreichbarkeit gewünschter Lebensziele.

Realistische Berufsvorstellungen werden durch Items erfasst, die ursprünglich – negativ gepolt – für berufliches Wunschdenken standen. Die entsprechende Skala wurde aus der EBwA-HS-Skala „Berufswahlengagement und berufliche Orientierung“ abgeleitet. In explorativen Faktorenanalysen der 15 Skalenitems wurden zwei Faktoren extrahiert: Neben „Wunschdenken“ auch der Faktor „Optionslogik“ (Ratschinski 2012), der im nächsten Kapitel vorgestellt wird.

Die 8-Item-Skala Wunschdenken erwies sich in der 3. Befragungswelle von n=1343 Haupt- und Realschülern als konsistent (α(1343) = 0,88). Die Reduktion auf eine Kurzversion von 5 Items senkt den Konsistenzwert nur unwesentlich (α(1343) = 0,83). Nach Umpolung aller fünf Items wurde die Skala zu Realismus umbenannt. Wie Tabelle 2 zeigt, hat sich auch diese Skala hervorragend bewährt.

Tabelle 2:     Realismus (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

Tabelle 2:     Realismus (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

2.1.3 Eigenaktivität versus Abhängigkeit

Eigeninitiative gilt als wichtiges Merkmal stabiler und nachhaltiger Berufsentscheidungen und als Zielgröße von Berufsorientierungsprogrammen und Berufsvorbereitungsprogrammen. Entwicklungs- und Biographie-orientierte Handreichungen für die Berufsorientierung, wie der Berufswahlpass oder der Profilpass, zielen neben der Anregung zur Selbstreflexion ausdrücklich auf die Stärkung der Eigeninitiative und der Eigenverantwortlichkeit (Lumpe 2002). Abhängigkeit in der beruflichen Entscheidungsfindung von anderen hat sich als wichtiger Vorläufer von Ausbildungsabbrüchen erwiesen.

Die 7-Item-Skala „Eigenaktivität und Selbständigkeit“ aus dem Fragebogen EBwA-HS, die im Kompetenzmodell Eigenaktivität repräsentieren soll, erfasst Unabhängigkeit von den Eltern (Stangl/Seifert 1986).

Eine auf sechs Items reduzierte Skala Abhängigkeit erwies sich als konsistent (α(1343) = 0,82). Die Reduktion um zwei weitere Items senkte den Konsistenzwert kaum (α(1343) = 0,81). Die Daten in Tabelle 3 sind so umgepolt, dass hohe Werte für stark ausgeprägte Eigenaktivität und Unabhängigkeit von den Eltern stehen. Die hohen Zustimmungswerte zu den umgepolten Elternabhängigkeiten bestätigen die bekannten Befunde, dass Berufswahlen selbst getroffen werden müssen. Auch diese Skala hat sich bewährt. Sie ist für Gruppenvergleiche ebenso einsetzbar wie für Maßnahmeneffekte auf Gruppenebene.

Tabelle 3:     Eigenaktivität (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

Tabelle 3:     Eigenaktivität (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

2.1.4 Berufsbindung versus Optionslogik

Die Verbindlichkeit der Entscheidung ist im klassischen Identitätsmodell von Marcia (1980) neben dem Grad der Exploration die zweite Dimension für die Definition von Identitätszuständen. Erst wenn nach gründlicher Exploration der gegebenen Optionen die Entscheidung verbindlich wird, kann von erarbeiteter Identität gesprochen werden. Bezogen auf die Berufswahldomäne steht die Bindung an den gewählten Beruf für diese Verbindlichkeit. Bei hohen Ausprägungen halten Jugendliche an der einmal getroffenen Entscheidung fest, auch wenn sich Alternativen bieten.

Die Skala „Berufsentscheidung nach einer Optionslogik“ wurde in explorativen Faktorenanalysen der 15-Item-Skala Berufswahlengagement des Berufswahlreifetests als zweite Dimension nach „Beruflichem Wunschdenken“ ermittelt. Sie enthält Items, die nach dem Modell von Heinz et al. (1985) eine Berufsfindung nach Optionslogik beschreiben. Jugendliche wählen das, was der Markt bietet. Sie passen ihre Wünsche den Gegebenheiten an.

Für das Screening-Verfahren wurden die Items umgepolt und die Skala in „Berufsbindung“ umbenannt. Die 4-Item-Skala Berufsbindung ist konsistent (α(1343) = 0,81), die Items weisen hohe Trennschärfen auf, niedrigere Mittelwerte und höhere Standardabweichungen als andere Skalen. Gemessen an der Chronologie des Berufswahlprozesses ist die Bindung an den Beruf den anderen Identitäts-Dimensionen zeitlich und logisch nachgeordnet.

Tabelle 4:     Berufsbindung (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

Tabelle 4:     Berufsbindung (Items aus: Stangl/Seifert 1986)

2.2 Überprüfung des Teilmodells

Dass die vier Skalen zu einer Teilkompetenz Identität kombinierbar sind, wird mit konfirmatorischen Faktorenanalysen (CFA) belegt. CFA-Ergebnisse haben schon vorher im Rahmen der Modellüberprüfungen die Auswahl und Zusammenstellung der Skalen bestimmt.

2.2.1 Modellüberprüfung

Abbildung 1 zeigt die Ergebnisse. Manifeste Variablen sind nach üblichen Konventionen in Vierecken und latente Variablen in Ellipsen dargestellt. Die Fehlerterme wurden der Übersichtlichkeit halber nicht aufgeführt.

Die zum latenten Konstrukt „berufliche Identität“ zusammengestellten latenten Dimensionen Entschiedenheit, Realismus, Eigenaktivität und Berufsbindung tragen bedeutsam zur Varianz bei. Alle latenten Faktorladungen (2. Ordnung) liegen über der üblichen Akzeptanzgrenze von 0,50.

Auch die Operationalisierung der Identitätsdimensionen ist gut bis exzellent gelungen. Die standardisierten Faktorladungen erster Ordnung liegen im Bereich von 0,58 bis 0,85. Die Faktorladungen zweiter Ordnung liegen in ähnlichen Größenordnungen (von 0,54 bis 0,83).

Angesichts des großen Stichprobenumfanges ist die signifikante Chi-Quadratabweichung der theoretischen von der empirischen Kovarianzmatrix normal. Der um den Stichprobenumfang korrigierte Wert von Chi²/df mit 3,92 liegt deutlich unter der Toleranzgrenze von 5 (s. z.B. Hooper/Coughlan/Mullen 2008).

Aussagekräftiger sind RMSEA (Root Mean Square Error of Approximation) und SRMR (Standardized Root Mean Square Residual). Beide Werte liegen unter den von Hu/Bentler (1999, 27) vorgeschlagenen Grenzwerten von 0,8 für akzeptable bzw. 0,5 für gute Modellanpassungen. Auch der Comparative Fit-Index (CFI) spricht mit 0,96 für eine gelungene Modellanpassung.

Abbildung 1: Faktorenstruktur des Identitäts-Modells. Ergebnisse konfirmatorischer Faktorenanalysen.Abbildung 1: Faktorenstruktur des Identitäts-Modells. Ergebnisse konfirmatorischer Faktorenanalysen.

Berufliche Identität ist am prägnantesten durch realistische Berufsvorstellungen und Eigeninitiative bestimmt. Entschiedenheit und Verbindlichkeit tragen zwar auch substanziell aber nicht in gleichem Maße zur Identität bei.

2.2.2 Strukturelle Invarianz

Die Äquivalenz des Messmodells wurde für verschiedene Untergruppen der Stichprobe mit konfirmatorischen Mehrgruppen-Faktorenanalysen (MGFA) überprüft. Es wurden Modelle für Jungen und Mädchen, für die Schulformen (Haupt- und Realschule) und für jüngere (Klasse 7 und 8) und ältere Schüler (Klasse 9 und 10) berechnet.

Nach Empfehlungen von Brown (2006, 269) wurden im ersten Schritt für jede Gruppe getrennt konfirmatorische Faktoranalysen (CFA) durchgeführt (Tabelle 5a). Danach wurden im Step-up-Verfahren Modelle mit zunehmend restriktiven Annahmen verglichen (Tabelle 5b). Ausgangpunkt ist das konfigurale (Basis-)-Modell, das lediglich die Gleichheit der Modellstruktur für beide Vergleichsgruppen annimmt. Werden im zweiten Schritt die Faktorladungen der manifesten Variablen auf jede der vier latenten Faktoren (Identitätsdimensionen) für beide Gruppen gleichgesetzt, wird die metrische Messinvarianz überprüft. Die Gleichheit der Faktorladungen erster Ordnung ist in Tabelle 5b mit „metrisch-1“ bezeichnet. Im zweiten Schritt werden zur Bestimmung der skalaren Messinvarianz zusätzlich zur Gleichheit der Faktorladungen die Intercepts (Mittelwerte) der Indikatorvariablen für beide Gruppen gleichgesetzt. Im dritten Analyseschritt werden zusätzlich zu den Gleichsetzungen der vorherigen Schritte die latenten Faktorladungen der Identitätsdimensionen auf dem übergeordneten Faktor „Identität“ gleichgesetzt. In Tabelle 5b ist die Gleichheit der Faktorladungen zweiter Ordnung mit „metrisch-2“ bezeichnet. Zur Überprüfung der Modellgültigkeit wird die Differenz der Fit-Indizes gebildet. Sie ist mit dem in Tabelle 5b mit dem Symbol delta (∆) bezeichnet.

Tabelle 5a:    Überprüfung der Messinvarianz des Identitätsmodells: Schritt 1: Separate Modellberechnungen

Tabelle 5a:    Überprüfung der Messinvarianz des Identitätsmodells: Schritt 1: Separate Modellberechnungen

Die Fit-Indizes sollten sich in aufeinanderfolgenden Invarianz-Stufen um nicht mehr als 0,01 unterscheiden (s. z.B. Weiber/Mühlhaus 2014, 302). Tabelle 5b zeigt, dass dieses Kriterium für das Identitäts-Modell erfüllt ist.

Tabelle 5b:   Überprüfung der Messinvarianz des Identitätsmodells: Step-up-Ansatz

Tabelle 5b:   Überprüfung der Messinvarianz des Identitätsmodells: Step-up-Ansatz

Das Modell erweist sich damit als außerordentlich robust. Es hat für alle untersuchten Untergruppen die gleiche Bedeutung.

Welche Form der Messinvarianz für weitere Analysen notwendig ist, hängt von der Fragestellung ab. Der Nachweis der skalaren Messinvarianz z.B. ist zwingend erforderlich, wenn latente Mittelwerte zwischen den Gruppen überprüft werden sollen (vgl. Christ/Schlüter 2012, 61).

Die um Messfehler bereinigten latenten Mittelwertunterschiede für die vier Dimensionen der Identität sind in Tabelle 5c aufgeführt. Je größer die Unreliabilitäten ausfallen, desto deutlicher sind die Unterschiede zwischen den latenten Mittelwerten und den Mittelwerten aufsummierter Zahlenreihen. Der Unterschied in der Eigenaktivität z.B. hat bei Realschülern einen negativen Wert von -.05. Der Wert ist also niedriger als bei Hauptschülern. Gemessen an Mittelwerten manifester Punktsummen besteht mit .01 kein Unterschied.

Tabelle 5c:    Latente Mittwertunterschiede (Wertdifferenzen) der Identitäts-Dimensionen

Tabelle 5c:    Latente Mittwertunterschiede (Wertdifferenzen) der Identitäts-Dimensionen

Die Ergebnisse entsprechen den aus der Literatur bekannten Befunden und belegen die differentielle Validität der eingesetzten Skalen. Mädchen sind realistischer in ihren Berufsvorstellungen und zeigen mehr Eigeninitiative. Beides spricht für den bekannten psychosozialen Entwicklungsvorsprung und für höhere Berufswahlreife.

Ältere Schüler haben realistischere Berufsvorstellungen und zeigen eine stärkere Bindung an ihre Berufsentscheidung. Beides entspricht erwarteten und plausiblen Entwicklungsfortschritten.

Die Unterschiede zwischen Haupt- und Realschülern sind dagegen gering.

3 Adaptabilität

Adaptabilität ist eine allgemeine biografische Übergangskompetenz. Sie kommt bei Rollenübernahmen, Statuspassagen und Positionsveränderungen, aber auch bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen (wie Phasen der Arbeitslosigkeit) im gesamten Lebenslauf zum Tragen. Im beruflichen Kontext ist esdie Fähigkeit und Bereitschaft, sich an veränderte berufliche Rollenmuster anzupassen und Rollenerwartungen zu erfüllen. Zum Bedeutungsumfang gehören die Fähigkeit, sich auf beruflichen Veränderungen der Zukunft einzustellen und sie zu nutzen, die Zufriedenheit mit neuen Verantwortungsbereichen und die Fähigkeit aus Rückschlägen und Fehlern zu lernen.

Laufbahn-Adaptabilität ist die Anpassung des klassischen Konzepts der Berufswahlreife an Einstellungen und Kompetenzen Erwachsener in Berufsentscheidungsprozessen (Super/Knasel 1981) und an Veränderungen der Arbeitswelt (Savickas 1997). Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass Berufslaufbahnen nicht mehr linear und hierarchisch verlaufen, sondern vielschichtig, zyklisch und mehrere Übergänge im Lebenslauf enthalten. Adaptabilität erfasst Übergangskompetenzen in einem sich permanent verändernden Arbeitsmarkt. Abgebildet wird ein Kompetenz-Ensemble zum „Self directed career management“ (Hirschi 2012).

Savickas definiert Laufbahnadaptabilität motivational als Bereitschaft. Laufbahn-Adaptabilität ist die Bereitschaft, sich zwei Aufgaben zu stellen: der vorhersehbaren Aufgabe eine Berufsrolle zu übernehmen und der nicht vorhersehbaren Aufgabe, sich an Veränderungen der Arbeitswelt anzupassen (Savickas 1997, 254).

Das Vorläuferkonzept zu Adaptabilität Berufswahlreife umfasst nach Super vier Dimensionen: die Einstellungsdimensionen Planung und Exploration und die kognitiven Dimensionen des Berufs- und Entscheidungswissens (Savickas 1997, 250). In einer ersten Version operationalisiert Savickas Laufbahn-Adaptabilität nahezu identisch mit Planung, Exploration und Entscheidung (Savickas 1997, 255).

Für die Erfassung der Metakompetenz Adaptabilität wurden konventionelle und erprobte Skalen neu kombiniert. Concern wird durch eine Skala Ziele/Intentionen (Fouad/Smith/Enochs 1997) operationalisiert. Control wird durch (Laufbahn-) Planung (Seifert/Eder 1985) repräsentiert, curiosity durch Exploration (Kracke 1997) und confidence durch berufswahlbezogene Ergebniserwartung (Fouad et al. 1997).

3.1 Dimensionen der Adaptabilität

3.1.1 Concern: Ziele/Intentionen

Concern ist die Fähigkeit, das Thema Berufswahl zum persönlichen Anliegen zu machen. Sie entwickelt sich im Laufe der mittleren Adoleszenz, wenn die Berufswahl subjektive Bedeutung bekommt und zum wichtigen Thema gedanklicher Beschäftigung wird. Jugendliche entwickeln persönliche Zeitperspektiven und Zukunftsorientierungen. Ihnen wird bewusst, wie wichtig es ist, für morgen vorzusorgen, sich Ziele zu setzen und für die Zukunft zu planen. Als Ressource hilft concern vorauszuschauen und für die Zukunft zu planen. Gemeint ist Zukunftsorientierung, die durch Optimismus gefördert wird. Der Gegenpol zu concern ist Planlosigkeit und Zukunftspessimismus (Savickas/Porfeli 2011, 3).

Concern ist im Modell der Berufswahlkompetenz operationalisiert durch die Skala Ziele und Intentionen aus der Middle School Self-Efficiency-Scale (MSSESS) von Fouad und Kollegen. Sie enthält kurzfristige Vorhaben und Intentionen, die den Berufswahlprozess regulieren oder eher Entscheidungen beinhalten, die zukünftige Entwicklungen nicht be- oder verhindern (Fouad et al. 1997). Die Skala Ziele/Intentionen hat in der Originalform sechs Items und erreicht in dieser Form ein α(1343) von 0,828. Die auf 5 verkürzte Form büßt mit 0,825 kaum an Skalenkonsistenz ein. Die mittlere Ausprägung ist mit 1,99 gegenüber 1,92 etwas gestiegen.

Tabelle 6:     Ziele/Intention (Items aus: Fouad et al. 1997; Übers. G.R.)

Tabelle 6:     Ziele/Intention (Items aus: Fouad et al. 1997; Übers. G.R.)

3.1.2 Control: Planung

Der Adaptabilitätsfaktor Control meint Kontrolle über die eigene Zukunft, indem Verantwortung bei der Berufswahl übernommen wird. Er geht im Bedeutungsumfang über die Eigenaktivitäten der Identitäts-Kompetenz hinaus. Zu Control gehören Entscheidungsfindung, Selbstbehauptung, Kontrollüberzeugungen, Selbstbestimmung, Anstrengungs-Attribution, Handlungskontrolle und Autonomie (Savickas 2005).

Control wird im Modell durch die Subskala „Laufbahnplanung“ des Career Development Inventory (CDI) von Super und Mitarbeiter (Super/Thompson/Lindeman/Jordaan/Myers 1981) operationalisiert. Die deutsche Bearbeitung liegt unter dem Titel Fragebogen zur Laufbahnentwicklung (LBE) von Seifert/Eder (1985) vor.

Die LBE-Skala Laufbahnplanung enthält in Form A 11 Items zur Laufbahnplanung und in Form B 11 Items zu Laufbahnwissen, die den zeitlichen Aufwand für die gedankliche Auseinandersetzung mit der Planung der beruflichen Zukunft – im Vergleich zu den Klassenkameraden – erfassen, den Grad der durchgeführten Planungsaktivitäten und die Höhe des Wissens über den bevorzugten Beruf. Antwortvorgaben von 5 Kategorien, wobei höhere Werte für intensivere Planung stehen. Zur besseren Vergleichbarkeit wurden die Werte von 1 bis 5 auf den Bereich von 0-3 transformiert. Die mittlere Ausprägung der 11-Items-Skala lag so bei 1,79; die der reduzierten 5-Item-Version ist mit 1,83 etwas größer. Der alpha-Wert sinkt von 0,93 von 0,89 nur unwesentlich.

Tabelle 7:     Laufbahnplanung (mod. nach Seifert/Eder 1985)

Tabelle 7:     Laufbahnplanung (mod. nach Seifert/Eder 1985)

3.1.3 Curiosity-Neugier: Exploration

Die Ressource curiosity (Neugier) ermöglicht Nachdenken über Möglichkeiten der Passung zwischen dem Selbst und verschiedenen Umweltszenarien. Zum Bedeutungsumfang gehören Informationssuche, Exploration, Selbstwissen, Berufswissen, Realismus und Offenheit für neue Erfahrungen (Savickas 2005).

Exploration der Berufs- und Arbeitswelt gilt als die Schlüsselvariable der vorberuflichen Sozialisation (Porfeli/Hartung/Vondracek 2008). Sie signalisiert die Bereitschaft zur ernsthaften Auseinandersetzung mit der beruflichen Zukunft und deutet auf eine realistische Einstellung zur Berufswahl.

Die Entwicklung des Explorationsverhaltens verläuft nicht linear. Es wird intensiviert, wenn Übergänge anstehen und reduziert wenn der Übergang vollzogen ist (Kracke 2004). Thüringen Gymnasten der Klassen 7-8 und 9-10 zeigten wohl deshalb keine Veränderungen im Explorationsverhalten (Driesel-Lange 2011)

Ebenso wie in Thüringen wurde zur Konzepterfassung die Explorationsskala von Kracke (1997) eingesetzt. Die ursprüngliche Skala umfasst sechs Items und erreicht in der vorliegenden Stichprobe einen Konsistenzwert von α(1343) = 0,86. In der reduzierten Form bleibt der Wert mit 0,85 nahezu gleich. Auch die mittlere Ausprägung bleibt nahezu unverändert. Sie steigt von 1,97 auf 2,02.

Tabelle 8:     Exploration (Items aus: Kracke 1997; Übers. G.R.)

Tabelle 8:     Exploration (Items aus: Kracke 1997; Übers. G.R.)

Die Modellanpassung ist gut gelungen. Die Skalenkonsistenz ist mit α(1396)=0,85 besser als von der Autorin berichtet (α(236)=0,70) und die Itemtrennschärfen sind mit Werten über 0,62 sehr hoch.

3.1.4 Confidence: Erwartung

Mit confidence ist das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gemeint, Probleme zu lösen und Hindernisse zu überwinden, aber auch Vertrauen in die Verlässlichkeit der sozialen Umwelt. Es entspricht Ermutigung, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit (Savickas 2005).

Im Kontext der Berufswahlkompetenz wird confidence über das Konstrukt Ergebniserwartung erfasst. Ergebniserwartung gehört neben Selbstwirksamkeit zum personalen Überzeugungssystem der eigener Wirksamkeit (Fouad et al. 1997). Allgemein umfasst das Konzept die Anreize (Incentives), die ein Beruf bieten kann, wie Gehalt, Aufstiegsmöglichkeiten und Verantwortungsbereiche. In diesem speziellen Bereich der Berufsorientierung und -entscheidung werden damit die erwarteten Konsequenzen von berufswahlbezogenen Handlungen und Entscheidungen abgefragt. Das typische Aussage-Muster der Items ist: Wenn ich etwas tue, dann hat das die Konsequenzen.

Die im Modell eingesetzte Skala ist eine Übersetzung der Subskala „Outcome Expectations“ aus dem MSSE. Sie enthält 5 Items und erreicht an einer Stichprobe von 361 eher leistungsschwachen Schülern amerikanischer Middleschools der 7. und 8. Klassen eine Skalenkonsistenz von α=0,70 (Fouad et al. 1997, 23). Mit der deutschen Übersetzung haben wir bei Sekundarschülern der Klassen 7 bis 10 einen höheren Wert von α(1396)=0,86 ermittelt. Eine Reduktion dieser Skala war wegen ihrer Kürze nicht notwendig.

Tabelle 9:     Ergebnis-Erwartung (Fouad et al. 1997)

Tabelle 9:     Ergebnis-Erwartung (Fouad et al. 1997)

3.2 Überprüfung des Teilmodells

3.2.1 Modellstruktur

Gemessen an Hu/Bentlers (1999) Grenzwerten für Strukturgleichungsmodelle (χ²/df<5; CFI „close to“ 0,95, RMSEA<0,06, SRMR<0,08) ist das Adaptabilitäts-Modell bestätigt (vgl. auch Brown 2006, 87).

Abbildung 2: Faktorenstruktur des Adaptabilitäts-Modells. Ergebnisse konfirmatorischer Faktorenanalysen.Abbildung 2: Faktorenstruktur des Adaptabilitäts-Modells. Ergebnisse konfirmatorischer Faktorenanalysen.

3.2.2 Strukturelle Invarianz

Die Struktur und das Niveau der Teilkompetenz Adaptabilität erweisen sich im Gruppenvergleich als sehr robust. Tabelle 10a belegt, dass die Modelle für alle Gruppen in separaten Berechnungen gute Modellanpassungen erreichen.

Tabelle 10a:     Überprüfung der Messinvarianz des Adaptabilitäts-Modells: Schritt 1: Separate Modellberechnungen

Tabelle 10a:     Überprüfung der Messinvarianz des Adaptabilitäts-Modells: Schritt 1: Separate Modellberechnungen

Auch im simultanen Gruppenvergleich werden bei zunehmend strikteren Annahmen die Modellabweichungen nicht bedeutsam (Tabelle 10b). Metrische und skalare Modellinvarianz konnten für alle drei Gruppen nachgewiesen werden.

Tabelle 10b:    Überprüfung der Messinvarianz des Adaptabilitäts-Modells: Step-up-Ansatz

Tabelle 10b:    Überprüfung der Messinvarianz des Adaptabilitäts-Modells: Step-up-Ansatz

Der aufgrund der skalaren Modellinvarianz zulässige Vergleich der latenten Mittelwerte führte zu plausiblen Unterschieden.

Tabelle 10c:     Latente Mittwertunterschiede (Wertdifferenzen) der Adaptabilitäts-Dimensionen

Tabelle 10c:     Latente Mittwertunterschiede (Wertdifferenzen) der Adaptabilitäts-Dimensionen

Die Altersunterschiede der Klasse 7 und 8 gegenüber den Klassen 9 und 10 sind erwartungsgemäß gravierend. Insbesondere die Planungsaktivitäten nehmen deutlich zu. Aber auch die anderen Adaptabilitäts-Dimensionen zeigen deutliche Veränderungen. Das Zeitfenster notwendiger Berufsentscheidungen ist in Abschlussklassen erreicht.

4 Resilienz

Resilienz ist die psychische Widerstandskraft gegen belastende Lebensumstände. Das Konzept wurde im Kontext devianter Entwicklungen definiert. Wenn Kinder unter widrigen Lebensumständen groß werden und sich trotzdem klinisch unauffällig entwickeln, geht man  von hoher Resilienz aus. Die Kinder verfügen über Schutzfaktoren in der Person selbst oder im sozialen Umfeld, die negative Wirkungen von Lebensstress abpuffern. Die wichtigsten personalen Schutzfaktoren sind Selbstwirksamkeit und Selbstwertgefühl. Ihr Vorhandensein trägt stärker zu Resilienz bei als das Fehlen von Risikofaktoren wie Ängste und Depressionen (Lee et al. 2013).

Inzwischen wird Resilienz zur Lebensbewältigungskompetenz verallgemeinert. Es wird vor allem in biographischen Übergangssituationen als wichtiger (personaler) Erklärungsfaktor für erfolgreiche Bewältigungen angeführt. Der Einstieg in die Berufs- und Arbeitswelt ist die biographisch bedeutendste und folgenreichste Übergangssituation. Sie birgt besonders für Jugendliche mit schwachen Schulleistungen Risiken und führt zu ungewissen Ergebnissen. Resilienz kann in diesem Kontext eine wertvolle Ressource sein.

Im Modell der Berufswahlkompetenz ist Resilienz über Allgemeine Resilienz, Selbstwertschätzung und zwei Domänen der Selbstwirksamkeit definiert: die berufswahlbezogene Selbstwirksamkeit und berufliche Selbstwirksamkeit.

4.1 Dimensionen berufswahlbezogener Resilienz

4.1.1 Allgemeine Resilienz

Zur Erfassung der allgemeinen Resilienz wurde eine Kurzform der Resilienz-Skala RS-11 (Schumacher/Leppert/Gunzelmann/Strauß/Brähler 2005) eingesetzt, die Resilienz über zwei Dimensionen erfasst: über (1) persönliche Kompetenz: Selbstvertrauen, Unabhängigkeit, Beherrschung, Beweglichkeit und Ausdauer und (2) über Akzeptanz des Selbst und des Lebens: Anpassungsfähigkeit, Toleranz, flexible Sicht auf sich und den Lebensweg. Die hier verwendete Kurzform RS-5 enthält ausschließlich Items zur persönlichen Kompetenz. Die beiden Items zur Selbstakzeptanz der RS-11 sind zusammen mit 4 Kompetenzitems nicht berücksichtigt.

Die Gesamtskala RS-11 erreicht in der dritten Befragungswelle im Herbst 2011 einen Alpha-Wert von 0,90 und einen mittleren Ausprägungswert von 2,15. Die Skalenwerte der reduzierten Skala liegen im üblichen Akzeptanzbereich (Tabelle 11).

Tabelle 11:      Die reduzierte Resilienz-Skala RS-5 (nach Schumacher et al. 2005)

Tabelle 11:      Die reduzierte Resilienz-Skala RS-5 (nach Schumacher et al. 2005)

4.1.2 Selbstwertgefühl

Die explizite Erfassung des Selbstwertgefühls erfolgte mit der international weit verbreiteten Self-Esteem-Skala (SES) von Rosenberg (1965) in der deutschen Fassung von Collani und Herzberg (2003a). Die Skala enthält 10 kurze Selbstbeschreibungen, von denen fünf positiv und fünf negativ gepolt sind. Als Antwortvorgabe diente auch in der Originalversion eine vierstufige Skala mit den Polen „trifft gar nicht zu“ (0) bis „trifft voll und ganz zu“ (3).

Die hier eingesetzte Skala enthält die fünf positiv gepolten Items der SES-Skala. Wie Tabelle 12 zeigt, sind die Skalen-Kennwerte sehr gut.

Tabelle 12:      Die reduzierte Selbstwertgefühl-Skala (nach Collani/Herzberg 2003b)

Tabelle 12:      Die reduzierte Selbstwertgefühl-Skala (nach Collani/Herzberg 2003b)

4.1.3 Berufswahlbezogene Selbstwirksamkeit

Selbstwirksamkeit ist die Überzeugung, eine bestimmte Handlung oder eine Klasse von Handlungen erfolgreich ausführen zu können. Zwar gibt es Konzeptionen allgemeiner Selbstwirksamkeit, aber im Prinzip ist die Selbstwirksamkeitserwartung domänenspezifisch. Je nach Handlung oder Klasse von Handlungen sind spezifische Kompetenzerwartungen aktiv. Selbstwirksamkeit erweist sich in allen Etappen der beruflichen Entwicklung von zentraler Bedeutung: Berufswahl, Ausbildung, Berufseinstieg, Integration in berufliche Umfelder etc. werden entscheidend von Selbstwirksamkeit beeinflusst. So ist insbesondere die Abneigung junger Frauen gegenüber Mathematik und Naturwissenschaften nachweislich stärker von Selbstwirksamkeitserwartungen als von den tatsächlichen Fähigkeiten beeinflusst.

In diesem Kontext ist die Middle School Self-Efficency Scale (MSSE) zur Berufswahlorientierung von Schülern der Mittelstufe erstellt worden (Fouad et al. 1997), die wir in deutscher Übersetzung in verschiedenen Projekten genutzt haben. Die 12-Item-Skala erwies sich als hoch konsistent (α(1343) = .94) mit einer mittleren Ausprägung von 2,12. Die Reduktion auf die 5-Item-Kurzform senkt weder den Konsistenzwert bedeutsam (α(1343) = .91) noch die mittlere Ausprägung.

Tabelle 13:      Die reduzierte Skala zur berufswahlbezogenen Selbstwirksamkeit (Items aus: Fouad et al. 1997; Übers. G.R.)

Tabelle 13:      Die reduzierte Skala zur berufswahlbezogenen Selbstwirksamkeit (Items aus: Fouad et al. 1997; Übers. G.R.)

4.1.4 Berufliche Selbstwirksamkeit

Selbstwirksamkeit in Bezug auf die Anforderungen des angestrebten Berufes wird mit einem selbst entwickelten Fragebogen erfasst, nachdem sich etablierte Verfahren (Abele/Stief/Andrä 2000; Schyns/von Collani 2007) für unsere Zwecke und für unsere Zielgruppen als ungeeignet erwiesen hatten. Bei der Fragebogenerstellung wurden Empfehlung von Lent/Brown (2006) berücksichtigt.

Die Skala zu berufsbezogene Selbstwirksamkeit zeigte in der 11-Itemversion eine hohe Skalenkonsistenz von α=0,92 bei 1343 Schülern der 7. bis 10. Klasse. Die reduzierte Skala erreicht ebenfalls noch gute Werte (Tabelle 14).

Tabelle 14:      Berufliche Selbstwirksamkeit (Eigenentwicklung)

Tabelle 14:      Berufliche Selbstwirksamkeit (Eigenentwicklung)

4.2 Überprüfung des Teilmodells

4.2.1 Modellstruktur

Auch das Resilienzmodell entspricht den üblichen Gütekriterien für Strukturgleichungsmodelle (χ²/df<5; CFI ~ 0,95, RMSEA<0,06, SRMR<0,08).

Abbildung 3: Faktorenstruktur des Resilienz-Modells. Ergebnisse konfirmatorischer Faktorenanalysen.Abbildung 3: Faktorenstruktur des Resilienz-Modells. Ergebnisse konfirmatorischer Faktorenanalysen.

4.2.2 Strukturelle Invarianz

Tabelle 15a und 15b zeigen, dass die Konstrukte denselben Sachverhalt in allen drei Vergleichsgruppen messen. Sie haben ähnliche Pfadbeziehungen und ähnliche Achsenabschnitte (Intercepts). Ein Vergleich der Mittelwerte im Rahmen der Mehrgruppen-CFA ist zulässig.

Tabelle 15a:     Überprüfung der Messinvarianz des Resilienz-Modells: Schritt 1: Separate Modellberechnungen

Tabelle 15a:     Überprüfung der Messinvarianz des Resilienz-Modells: Schritt 1: Separate Modellberechnungen

Das Modell zeigt eine strikte faktorielle Invarianz für beide Geschlechter, für Haupt- und Realschüler und für jüngere und ältere Jugendliche. Die Reliabilität der Messmodelle ist für die untersuchten Gruppen gleich.

Tabelle 15b:    Überprüfung der Messinvarianz des Resilienz-Modells: Step-up-Ansatz

Tabelle 15b:    Überprüfung der Messinvarianz des Resilienz-Modells: Step-up-Ansatz

Tabelle 15c:     Latente Mittwertunterschiede (Wertdifferenzen) der Resilienz-Dimensionen

Tabelle 15c:     Latente Mittwertunterschiede (Wertdifferenzen) der Resilienz-Dimensionen

Die Ergebnisse zeigen die etwas geringere emotionale Belastbarkeit der Mädchen und allgemeine Resilienz-Fortschritte gegen Ende der Schulzeit.

5 Das Gesamtmodell

Die Komponenten des Modells sind in Abbildung 4 in Form einer CFA mit Item-Päckchen in Beziehung gesetzt. Die hohen Faktorladungen erster Ordnung rechtfertigen zwar eine Päckchenbildung (Little/Cunningham/Shahar/Widaman 2002), aber ein Vergleich der Faktoren zweiter Ordnung in den Abbildung 1 bis 3 und Abbildung 4 macht deutlich, welche Abweichungen bei Nichtberücksichtigung der Messfehler zu erwarten sind.

Dennoch sind die Ergebnisse sinnvoll interpretierbar. Die Positionsstabilität der Ladungen ist weitgehend erhalten. Das Analyse-Ergebnis (n=1343; χ²(50) = 448,91; χ²/df=8,98; CFI=.94; RMSEA=.077, SRMR=.055) spricht für eine noch akzeptable Datenanpassung.

Die Faktorladungen von .51 bis .84 sprechen gar für eine gute Datenanpassung. Lediglich die hohe Korrelation zwischen Adaptabilität und Resilienz deuten darauf hin, dass beide Konzepte große inhaltliche Überschneidungen aufweisen und zu wenig voneinander abgegrenzt sind.

Abbildung 4: Das vollständige Modell der BerufswahlkompetenzAbbildung 4: Das vollständige Modell der Berufswahlkompetenz

Ob aus den einzelnen Komponenten und Facetten ein Globalindex für Berufswahlkompetenz gebildet werden kann, wurde mit einer Hauptkomponentenanalyse überprüft. Eine hinreichend hohe Ladung des ersten Faktors spricht für das Vorliegen eines Generalfaktors, der nach den Kriterien der Konzeptkombinationen und Itemzusammenstellung als Berufswahlkompetenz interpretiert werden kann.

Tatsächlich ergibt die Hauptkomponentenanalyse eine zweifaktorielle Lösung mit 41,3% erklärter Varianz durch den ersten Faktor und 17,5% durch den zweiten Faktor. Eine Varimax-Rotation der Hauptachsen führt zu einem Faktor aus Adaptabilität und Resilienz und einem zweiten Faktor Identität. Wie durch die hohe Korrelation angedeutet, laden Adaptabilität und Resilienz auf dem gleichen Faktor.

6 Diskussion

Das angenommene Modell Berufswahlkompetenz über die drei Teilkompetenzen Identität, Adaptabilität und Resilienz zu definieren, konnte eindrucksvoll bestätigt werden. Alle Skalen erweisen sich als konsistent, die drei Teilkompetenzen konnten als latente Variablen modelliert werden und das Zusammenspiel der Teilkompetenzen zu dem Metakonstrukt Berufswahlkompetenz führte zu einem akzeptablen Modell. Gruppenunterschiede in den erfassten Dimensionen entsprechen den Erwartungen und sind plausibel interpretierbar. Lediglich die hohe Korrelation der latenten Konstrukte Adaptabilität und Resilienz bietet Ansatzpunkte für Modellveränderungen.

Offensichtlich sind sich Adaptabilität und Resilienz ähnlicher als erwartet. Obwohl Adaptabilität durch Aktivitäten definiert wurde und Resilienz durch Überzeugungen, treten beide Merkmalkomplexe überwiegend zusammen auf. Anpassungsvorgänge unter normalen Bedingungen und Anpassungsvorgänge unter widrigen Umständen sind empirisch weniger gut zu trennen als theoretisch angenommen.

Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass dieser Effekt auf die Stichprobe von Regelschülern zurückzuführen ist, die noch keine Hindernisse auf dem Weg in die Berufs- und Arbeitswelt überwinden mussten. Das könnte bei Teilnehmern von Berufsvorbereitungsmaßnahmen anders sein, die nach Abschluss der Regelschule keinen Ausbildungsplatz gefunden haben oder wegen mangelnder Ausbildungsreife von der Arbeitsverwaltung nicht vermittelt wurden. Eine Überprüfung des Modells an Teilnehmern von Berufsvorbereitungsmaßnahmen könnte Antworten liefern. Entsprechende Überprüfungen an Datensätzen des Hamburger AvDual-Projektes sind geplant.

Für Teilnehmer an Berufsorientierungsmaßnahmen in der Regelschulzeit können die Skalen zur beruflichen Identität und zur Adaptabilität ausreichen. Maßnahmeneffekte können auf Gruppenebene erfasst werden. Einer Individualdiagnostik genügen die Skalen-Kennwerte nicht. In welcher Größenordnung Korrekturen der Maßnahmen-Effekte bei Berücksichtigung der Messfehler zu erwarten sind, lässt sich aus dem Vergleich der latenten mit den manifesten Variablen ableiten.

Berufliche Identität ist operationalisiert über Skalen aus dem Itempool, der für die Erfassung der Einstellungskomponente der Berufswahlreife zusammengestellt wurde. Das Konzept entspricht der Berufswahlbereitschaft. Die 18 Items können als Kurzform der 45-Item-Version interpretiert werden. Die Akzente sind zwar anders gesetzt, aber beide Varianten können den gleichen Zweck erfüllen.

Adaptabilität deckt wichtige Kompetenzaspekte der Berufswahl ab. Beide Konzepte zusammen bilden die Bereitschaft und Fähigkeit die Entwicklungsaufgabe Berufswahl erfolgreich an Angriff zu nehmen. Vergleiche zu gängigen Konzepten beruflicher Handlungsfähigkeit sind naheliegend und gewollt. Berufswahlkompetenz ist eine wichtige Domäne beruflicher Handlungskompetenz.

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Fachprofile beruflicher (Un-)Sicherheit – Konsequenzen einer Prekarisierung des Arbeitsmarktes für die Berufsorientierung

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1 Einleitung

In der beruflichen Bildung stehen ca. 350 Ausbildungsberufe und ein Vielfaches an Erwerbsberufen zur Auswahl, was allein schon eine Herausforderung für sich orientierende Individuen darstellt. Junge Menschen sind dabei vielfältigen Einflüssen ausgesetzt, und nicht zuletzt bieten die eigenen Eltern eine Berufsbiografie an, welche zur Imitation oder eher zur Abkehr davon anregt. Häufig kommen aus dem familiären Umfeld aber auch Ratschläge, die zu einer zukunftsträchtigen oder zumindest krisensicheren Beschäftigung führen sollen. Die Beobachtung von Entwicklungen und Technologien zur Ableitung von Entfaltungsmöglichkeiten in Zukunftsbranchen (vgl. Merkl 1996) sowie neuen Qualifikations- und Beschäftigungsfeldern (vgl. Laszlo/Tessaring 1996) ist dabei eine Hilfestellung der Berufsorientierung. Demgegenüber werden seit zwei Jahrzehnten auch Untersuchungen zur beruflichen Eingliederung nach der Ausbildung durchgeführt, um Integrationsprozesse in den Beruf zu analysieren (vgl. Schöngen/Westhoff 1992; Schöngen 2003; Braun/Bremser/Schöngen/Weller 2012). Diese von außen an die Jugendlichen herangetragenen Informationen einerseits in Verbindung mit den volitionalen Statements nach eigenen Berufswünschen andererseits verbinden sich zu dem hier vertretenen Verständnis der Berufsorientierung, das objektive Gegebenheiten der Berufs- und Arbeitswelt mit individuellen Voraussetzungen und Entwicklungsprozessen verknüpft (vgl. Butz/Deeken 2014, 98).

Eine dieser objektiven Gegebenheiten ist die in den vergangenen Jahren stattgefundene Prekarisierung des deutschen Arbeitsmarktes. Als Konsequenz ist das Integrationspotenzial aus Erwerbstätigkeit deutlich eingeschränkt. Besonders sichtbar wird dies an der Entwicklung von prekären und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen im Vergleich zur Vollzeitbeschäftigung. Letztere ist in den vergangenen Jahren stark gesunken, sie erreichte 2007 nur noch 80% des Ausgangswertes von 1997. Teilzeitbeschäftigung hat sich dagegen über diesen Zeitraum beinahe verdoppelt (190%). Den deutlichsten Zuwachs verzeichnet aber die geringfügige Beschäftigung, die 2007 mit 240% beinahe das Zweieinhalbfache ihres Wertes von 1991 erreicht (vgl. Möller/Walwei 2009, 17). Die derart veränderte Arbeitsmarktstruktur zieht eine Umverteilung von Integrationschancen und Ausgrenzungsrisiken nach sich. Diese Ausgrenzungsrisiken sind nicht per se an bestimmten Merkmalen festzumachen. Ob von Prekarität betroffene Personen eine eigene gesellschaftliche Klasse bilden, wird z. B. von Castel (2009) oder Vogel (2008) als offene Frage diskutiert. Bourdieu (1998) hat es  so formuliert, dass: „Prekarität heutzutage allgegenwärtig ist, […] in den Industrieunternehmen, aber auch in den Einrichtungen der Produktion und Verbreitung von Kultur, dem Bildungswesen, dem Journalismus, den Medien usw.“ (ebd., 96f.).

Insbesondere junge Erwachsene, die ihre Position auf dem Arbeitsmarkt erst finden müssen, sind von den nicht eindeutig zu unterteilenden Verflechtungen sicherer und unsicherer Beschäftigung betroffen. Mit Blick auf diese veränderte Ausgangslage verfolgt der vorliegende Artikel das Erkenntnisinteresse herauszuarbeiten, ob bzw. welche Zusammenhänge zwischen sicheren und unsicheren Arbeitsmarktsegmenten und beruflichen Fachrichtungen bestehen. Zur Untersuchung dieser Frage wird die Erwerbssituation von 25- bis 34-jährigen (potenziell) Erwerbstätigen betrachtet, d.h. alle nicht mehr in Schule, Ausbildung oder Studium befindlichen Personen. Mit diesem Zugang erhält man „aus dem Blickwinkel der aktuellen Berufstätigkeit wichtige Hinweise auf die Beantwortung der Frage, welchen Wert die berufliche Ausbildung hinsichtlich ihrer Anwendungs- und Erweiterungsmöglichkeit sowie der materiellen Absicherung der Individuen […] darstellt“ (Schöngen/Westhoff 1992, 6f.).

Die Suche nach sicheren oder unsicheren Arbeitsmarktsegmenten wird dabei nicht allein an der Art der Erwerbstätigkeit ausgerichtet. Für einen weiter reichenden Blick auf sichere oder unsichere Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse dient das von Bandorski (2013) entwickelte Konzept beruflicher Lagen, die als Erwerbstätigkeits-Milieus verstanden werden können. Die beruflichen Lagen werden im Rahmen dieses Artikels dahingehend vertieft untersucht, durch welche beruflichen Fachrichtungen sie geprägt sind. Darüber können gezielte Aussagen getätigt werden, in welchem Verhältnis eingeschlagene Fachrichtungen zu den beruflichen und sozialen Chancen angehender und junger Erwerbstätiger stehen. Damit soll ein Beitrag geleistet werden, diese Ergebnisse bei der Berufsorientierung mit in den Blick nehmen zu können, um unter Einbeziehung aller relevanten Kriterien zu einer reflektierteren Berufswahl zu gelangen.

2 Methodisches Vorgehen zur Verschränkung fachlicher Erwerbstätigkeit und beruflicher Lagen

Wie eingangs formuliert wird Berufsorientierung als Lebenswegplanung verstanden, die berufliche und soziale Chancen eröffnet. Mit Konietzka (2010) können „für den Übergang in das Erwachsenenalter […] diverse Schlüsselereignisse [benannt werden], deren gemeinsamer Bezugspunkt bei der Gewinnung ökonomischer und sozialer Unabhängigkeit von den Eltern liegt“ (ebd., 115). Dazu gehört auf der einen Seite das Beenden der allgemeinbildenden Schule und der Übergang in Ausbildung oder Studium. Auf der anderen Seite geht es im privaten Bereich um das Eingehen einer Paarbeziehung im Sinne einer Heirat oder auch einer (nichtehelichen) Lebensgemeinschaft und die Familiengründung. Durch die oben knapp skizzierten Umwälzungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt wird jedoch durch Erwerbstätigkeit „nicht mehr in jedem Fall die soziale Integration des Einzelnen garantiert“ (Paugam 2007, 99). In diesem Zusammenhang betont Kraemer (2007) explizit die Rolle von Prekarität: „Die zentrale Frage, ob eine Person erwerbstätig ist oder nicht, wird durch die Problemstellung abgelöst, ob eine Erwerbsperson regulär oder prekär beschäftigt ist“ (ebd., 127).

Wie können also nun im Sinne einer Berufsorientierung die Weichen derart gestellt werden, dass ökonomische und soziale Eigenständigkeit erreicht werden kann? Und wie kann eine möglichst dauerhafte (Planungs-)Sicherheit erlangt werden? Im Hinblick auf Berufsorientierung soll in diesem Artikel untersucht werden, ob es spezifische berufliche Fachrichtungen gibt, die in einen gesicherten Erwerbstätigkeits-Kontext führen und somit eine eigenständige Lebensplanung ermöglichen oder ob vielmehr dieselben Fachrichtungen sowohl in sicheren als auch in unsicheren Kontexten vorkommen. Den Bezugspunkt bei der Suche nach sicheren oder unsicheren beruflichen Fachrichtungen stellen berufliche Lagen der 25- bis 34-Jährigen dar. In dieser Lebens- und erwerbsbiographischen Phase sind die o.g. Schlüsselereignisse weiter fortgeschritten, überwiegend alle Formen beruflicher Qualifikationen abgeschlossen und die für den Berufseinstieg typischen Phasen der Sucharbeitslosigkeit bzw. unsicherer Beschäftigung für einen großen Teil bereits überwunden (vgl. dazu Fuchs 2006; Rothe/Tinter 2007).

2.1 Berufliche Fachrichtungen

Der Terminus Berufliche Fachrichtung bezeichnet zumeist das Erstfach, das im Rahmen eines Studiums zum Lehramt an berufsbildenden Schulen (BBS) an Universitäten und Hochschulen zu belegen ist. Es deckt dabei ähnliche Berufe ab und steht in engem Zusammenhang mit den Berufsfeldern (vgl. Herkner 2012, 161). Die Definition der Berufsfelder vollzieht sich jedoch nicht anhand der in den BBS unterrichteten Ausbildungsberufe, sondern vielmehr auf Basis der Klassifikation der (Erwerbs-)Berufe des Statistischen Bundesamtes. Im Detail existieren insgesamt 54 Berufsfelder des BIBB, die durch eine Neugruppierung von Berufsordnungen zu Berufsfeldern entlang der Dimensionen Tätigkeits- und Branchenschwerpunkt gebildet wurden (vgl. Tiemann et. al. 2008, 27).

Laut KMK (2013, 4) werden für die beruflichen Schulen (Lehramtstyp 5) derzeit folgende 16 berufliche Fachrichtungen ausgewiesen:

  • Wirtschaft und Verwaltung,
  • Metalltechnik,
  • Elektrotechnik,
  • Bautechnik,
  • Holztechnik,
  • Textiltechnik und -gestaltung,
  • Labor/Prozesstechnik,
  • Medientechnik,
  • Farbtechnik, Raumgestaltung und Oberflächentechnik,
  • Gesundheit und Körperpflege,
  • Ernährung und Hauswirtschaft,
  • Agrarwirtschaft,
  • Sozialpädagogik,
  • Pflege,
  • Fahrzeugtechnik und

Davon besitzen 7 berufliche Fachrichtungen jeweils 2 Vertiefungsrichtungen, bspw. wird die Metalltechnik in die Fertigungs- und Produktionstechnik sowie die Heizungs- Klima- und Lüftungstechnik untergliedert. Die einschlägigen bzw. in Neuordnung begriffenen Ausbildungsberufe sind den jeweiligen beruflichen Fachrichtungen zumeist eindeutig zugeordnet. Daneben stellen einige Hochschulvertreter/-innen explizite Bezüge zwischen der von ihnen vertretenen beruflichen Fachrichtung und derKlassifikation der Berufe bzw. den Berufsfeldern her (vgl. u. a. Meyser 2010; vgl. Becker 2010; vgl. Grundmeier/Hayen 2010; vgl. Wulfhorst 2010).

Es wird ersichtlich, dass es sich bei den beruflichen Fachrichtungen um Konstrukte handelt, die von ordnungspolitischen und berufspädagogischen Strukturbestrebungen gekennzeichnet sind. Gleichwohl werden die beruflichen Fachrichtungen als Kategorie für das hier entfaltete Forschungsdesign gewählt, da sie zum einen die berufswissenschaftliche Dimension (Inhalte beruflicher Facharbeit, Kompetenzorientierung, Entwicklung von Curricula) berücksichtigen. Zum anderen bieten die beruflichen Fachrichtungen in ihrer überschaubaren Anzahl ein Gerüst, das sich mit den beruflichen Lagen im Hinblick auf fachliche Erwerbstätigkeit gut verbinden lässt. Allerdings kann nicht darüber hinweg gesehen werden, dass die Etablierung beruflicher Fachrichtungen gegenüber allgemeinbildenden Fächern in der Lehrerausbildung noch vergleichsweise jung ist. Zudem folgen Ausbildungs- und Erwerbsberufe einer je eigenen Genese und daher kann eine Vielzahl von Erwerbsberufen den beruflichen Fachrichtungen nicht ohne weiteres eindeutig zugeordnet werden.

2.2 Berufliche Lagen

Berufliche Lagen wurden in Anlehnung an das Konzept der sozialen Lagen (vgl. Hradil 2009) von Bandorski (2013) konzipiert als „typische Handlungskontexte beruflicher Integration und [sie] skizzieren über vorherrschende Merkmalskombinationen vergleichsweise gute oder schlechte Chancen auf eine gesellschaftliche Anbindung über Erwerbstätigkeit“ (ebd., 110).

Datengrundlage für die Ermittlung beruflicher Lagen war der Scientific Use File des Mikrozensus 2005. Sein inhaltlicher Schwerpunkt ist die Erwerbstätigkeit, die Arbeitskräftestichprobe der Europäischen Union ist in ihn integriert. Er bietet also die Möglichkeit einer differenzierten Abbildung der Bevölkerungs- und Arbeitsmarktstruktur. Die beruflichen Lagen wurden entlang folgender Merkmale gebildet (zu den genauen Ausprägungen vgl. Bandorski 2013, 113):

  • aktueller Erwerbstätigkeitsstatus,
  • Schul- und Berufsabschluss,
  • Alter,
  • Geschlecht,
  • Familienstand und Elternschaft,

Diese Merkmale wurden mittels einer Two-Step-Clusteranalyse zu Gruppen zusammengefasst, „die sich innerhalb eines Clusters ähnlich sind und in ihren Merkmalskombinationen Unterschiede zu Personen anderer Cluster aufweisen“ (Solga/Powell/Berger 2009, 39). Auf diese Weise wurden fünf berufliche Lagen gebildet, welche hinsichtlich Erwerbstätigkeit, Bildungsprofil und Personenspezifika klar voneinander unterschieden werden können.

Ein Schlüssel zum Verständnis der beruflichen Lagen ist der Erwerbstätigkeits-Status. Der verwendete Index wurde neu konzipiert mit einem Fokus darauf, die Spannweite von Beschäftigungsverhältnissen unter besonderer Berücksichtigung prekärer Beschäftigung abzubilden. Er orientiert sich an dem Zonenmodell nach Castel (2000) mit einer Zone der Integration, einer Zone der Entkoppelung und einer dazwischen liegenden Zone der Prekarität. So wird neben Erwerbslosen und Nichterwerbspersonen (Zone der Entkoppelung) noch zwischen regulärer (Zone der Integration) und unsicherer und prekärer Beschäftigung (Zone der Prekarität) unterschieden. Reguläre Beschäftigung liegt beim Ausüben einer qualifizierten Tätigkeit, unbefristet und in Vollzeit vor. Prekäre Beschäftigung liegt vor, wenn eine einfache Tätigkeit mit strukturellen Einschränkungen verbunden ist, z. B. Befristung oder Teilzeit. Unsichere Beschäftigung fasst alle dazwischenliegenden Beschäftigungsverhältnisse zusammen (zur genauen Konstruktion vgl. Bandorski 2013, 97ff.).

Tabelle 1:     Charakteristische Merkmalskombinationen in den beruflichen Lagen

Tabelle 1

In ihrer Gesamtheit geben die beruflichen Lagen eine Momentaufnahme der in der westdeutschen Gesellschaft vorzufindenden Struktur wieder, ihre volle Aussagekraft entfalten sie immer im Zusammenspiel. In Tabelle 1 sind aus diesem Grund alle beruflichen Lagen knapp skizziert. Der Fokus des vorliegenden Artikels liegt auf Erwerbstätigen und Arbeit suchenden Personen, die eine betriebliche oder schulische Berufsausbildung absolviert haben. Aus diesem Grund werden die letzten beiden beruflichen Lagen wegen des hohen Anteils von Akademiker/-inne/-n bei den „Hochqualifizierten“ und von Nichterwerbspersonen – also Personen, die nicht erwerbstätig sind und aktuell auch keine Erwerbstätigkeit suchen – bei den „Verheirateten mit Kindern“ hier nicht weiter verfolgt und an dieser Stelle nicht detailliert aufgeführt.

„Klassiker“, „Verunsicherte“ und „Gesicherte“ beschreiben berufliche Milieus von Personen, die das duale bzw. schulische Ausbildungssystem durchlaufen haben. (Die einzige Ausnahme ist ein Anteil von „Gesicherten“, der über einen Fachhochschulabschluss verfügt.) Sie bilden die Datenbasis dieses Artikels und umfassen zusammengenommen 50,2% aller 25- bis 34-jährigen (potenziell) Erwerbstätigen. Neben der Konzentration auf die Art der Berufsausbildung eint sie der Umstand, dass hier nahezu ausschließlich kinderlose Personen zusammengefasst sind. Neben diesen Gemeinsamkeiten weisen sie jedoch ein je eindeutiges Profil auf:

„Klassiker“ sind sehr gut in den Arbeitsmarkt integrierte Personen. Über zwei Drittel von ihnen sind regulär beschäftigt. Charakteristisch ist die Bildungslaufbahn Realschule – Lehre, das Geschlecht spielt keine Rolle. Personen mit einem Migrationshintergrund sind zwar unterdurchschnittlich, mit 6,7% jedoch deutlich vertreten (28,2% Migrationsanteil bei allen 25- bis 34-Jährigen).

Die Situation der „Verunsicherten“ reicht von einer unsicheren Anbindung an den Arbeitsmarkt über prekäre Beschäftigung bis hin zu durch Erwerbslosigkeit erfahrener Ausgrenzung. Charakteristisch für sie sind geringe oder auch gar nicht vorhandene Schul- bzw. Berufsabschlüsse. In einem solchen Erwerbstätigkeits-Milieu befinden sich mit zwei Dritteln Männer häufiger als Frauen. Der Migrationsanteil liegt deutlich über dem Durchschnitt dieser Altersgruppe.

Die „Gesicherten“ stellen als hochintegratives Segment der Gesellschaft quasi einen Gegenentwurf zu den „Verunsicherten“ dar. In diesem Erwerbstätigkeits-Milieu sind nahezu alle Personen regulär beschäftigt. Das Bildungsprofil ist im Gegensatz zu den „Klassikern“ vielfältig. Neben Hauptschulabsolvent/-inn/-en mit einer Lehre befinden sich in dieser beruflichen Lage Personen, die hochwertige Schulabschlüsse mit einer Lehre kombiniert haben. Das Geschlechterverhältnis ist leicht zu Gunsten der Männer verschoben, der Migrationsanteil mit 0,4% verschwindend gering.

„Klassiker“ und „Gesicherte“ werden im Folgenden als positive Zielpunkte einer beruflichen Orientierung betrachtet, wogegen die „Verunsicherten“ einen Kristallisationspunkt von Unsicherheit darstellen.

2.3 Forschungsdesign

Im Gegensatz zu den nach Bandorski (2013) bereits zur Verfügung stehenden beruflichen Lagen musste eine Einordnung von Erwerbstätigkeit in bzw. jenseits von beruflichen Fachrichtungen erst vorgenommen werden. Dies geschah entlang des aktuellen Erwerbsberufs, der im Mikrozensus 2005 als Klassifikation der Berufe 1992 zur Verfügung steht. In einem ersten Schritt wurden die angegebenen Berufe den bestehenden 16 beruflichen Fachrichtungen zugeordnet. Alle anderen Berufe, die keiner Fachrichtung zugeordnet werden konnten, wurden in einem zweiten Schritt nach inhaltlichen Gesichtspunkten zu Beschäftigungsbereichen jenseits beruflicher Fachrichtungen zusammengefasst. Diese lauten wie folgt:

  • Transport, Verkehr und Logistik,
  • Management,
  • IT-Berufe,
  • Sicherheitsberufe,
  • Gastwirtschaft,
  • Kunst und Musik,

Um mit dem Blick auf die „Verunsicherten“ auch aussagekräftige Ergebnisse zu dem Grenzbereich zwischen unsicherer Beschäftigung und Erwerbslosigkeit zu erhalten, wurde anschließend auch ein großer Teil der Erwerbslosen den o.g. beruflichen Fachrichtungen oder Beschäftigungsbereichen jenseits davon zugeordnet. Dazu konnte, so vorhanden, die Hauptfachrichtung des höchsten Berufsabschlusses verwendet werden, die ebenfalls im Mikrozensus enthalten ist.

Für den vorliegenden Artikel wurden Personen mit einem hochqualifizierenden Berufsabschluss bzw. Erwerbstätige in hochqualifizierten Beschäftigungsbereichen den sonstigen Beschäftigungsbereichen zugeordnet. Daneben fallen in dieses Kategorie diejenigen Erwerbstätigen, die nicht weiter zuordenbar sind. Erwerbslose ohne beruflichen Abschluss und Nichterwerbspersonen, die aktuell weder eine Erwerbstätigkeit ausüben noch suchen, können natürlich keiner beruflichen Fachrichtung oder einem Beschäftigungsbereich jenseits davon zugeordnet werden. Diese wurden zu einer weiteren, eigenständigen Gruppe zusammengefasst.

3 Ergebnisse

In Tabelle 2 ist die fachliche Erwerbstätigkeit in den beruflichen Lagen entlang der oben beschriebenen Kategorien abgebildet.

Tabelle 2:     Fachliche Erwerbstätigkeit in den beruflichen Lagen (Spaltenprozent)

Tabelle 2

Es zeichnen sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden integrativen beruflichen Lagen „Klassiker“ und „Gesicherte“ einerseits und den „Verunsicherten“ mit ihrem hohen Grad an Unsicherheit andererseits ab, die nachfolgend aus drei Perspektiven betrachtet werden.

3.1 Berufliche Fachlichkeit im Überblick

Zunächst kann festgehalten werden, dass die „Klassiker“ größtenteils einer bestehenden beruflichen Fachrichtung zugeordnet werden können. Dies ist für 79,8% von ihnen der Fall, bei den „Gesicherten“ sind es 65,9%. Die beruflichen Fachrichtungen scheinen also grob betrachtet in eine vergleichsweise sichere Zukunft zu führen.

Ebenso deutlich wie der positive Zusammenhang zwischen solider bis sicherer Erwerbstätigkeit und den beruflichen Fachrichtungen zeichnet sich für die „Verunsicherten“ das Gegenteilab. Mit 52,3% findet sich nur gut die Hälfte in den beruflichen Fachrichtungen wieder. Ein gutes Viertel von ihnen ist in Beschäftigungsbereichen jenseits beruflicher Fachrichtungen verortet, wozu mit 14,0% vor allem eine Tätigkeit im Bereich Transport, Verkehr und Logistik gehört. Für sie wird außerdem als einzige berufliche Lage die Kategorie der Erwerbslosen ohne Berufsabschluss relevant, die auf jede/-n zehnte/-n „Verunsicherte/-n“ zutrifft.

3.2 Fachlichkeits-Profile der beruflichen Lagen

Mit einem zweiten Blick wird geprüft, welche beruflichen Fachrichtungen bzw. Beschäftigungsbereiche jenseits davon in den beruflichen Lagen am häufigsten vorkommen. Welche Fachrichtungen machen also die „Gesicherten“ und „Klassiker“ zu integrativen Segmenten und wodurch zeichnet sich die Unsicherheit der „Verunsicherten“ aus?

In Abbildung 1 sind die je fünf häufigsten Beschäftigungsbereiche bzw. Erwerbstätigkeits-Status jenseits davon für „Klassiker“, „Verunsicherte“ und „Gesicherte“ dargestellt. Drei Dinge fallen dabei auf:

  1. „Klassiker“ und „Gesicherte“ sind vorwiegend durch die berufliche Fachrichtung Wirtschaft und Verwaltung gekennzeichnet. In beiden beruflichen Lagen macht diese einen deutlich größeren Anteil als alle anderen aus. Bei den „Verunsicherten“ gibt es dagegen keine derart deutliche Prägung. Für sie ist die Erwerbstätigkeit oder der Berufsabschluss in Wirtschaft und Verwaltung nur leicht markanter als der Beschäftigungsbereich Transport, Verkehr und Logistik.
  2. Die beruflichen Fachrichtungen Wirtschaft und Verwaltung (in Abbildung 1 schwarz umrahmt) und Metalltechnik (in Abbildung 1 weiß umrahmt) sind in allen drei beruflichen Lagen unter den fünf größten Anteilen. Im Falle von Wirtschaft und Verwaltung sind sie in den sicheren beruflichen Lagen jedoch deutlich größer als bei den „Verunsicherten“. Die Metalltechnik ist dagegen diejenige berufliche Fachrichtung, die in allen hier betrachteteten beruflichen Lagen einen vergleichbar großen Anteil ausmacht. Beiden beruflichen Fachrichtungen kommt damit eine Sonderstellung zu, die in Kapitel 4 noch weiter diskutiert wird.
  3. Neben der o. g. Gemeinsamkeit im Hinblick auf Wirtschaft und Verwaltung und Metalltechnik sind die beruflichen Lagen durch weitere berufliche Fachrichtungen oder auch Beschäftigungsbereiche jenseits davon gekennzeichnet. „Klassiker“ finden sich häufig in der Pflege oder in der Elektrotechnik, „Gesicherte“ agieren vorrangigim Management und in der Pflege. Bei den „Verunsicherten“ sind Erwerbstätige ohne Berufsabschluss und Nichterwerbspersonen überdurchschnittlich stark vertreten.

Abbildung 1: Häufigste Beschäftigungsbereiche innerhalb der beruflichen LagenAbbildung 1: Häufigste Beschäftigungsbereiche innerhalb der beruflichen Lagen

3.3 Vergleichender Blick auf berufliche Lagen

Mit einer abschließenden Perspektive werden die Anteile beruflicher Fachrichtungen bzw. von Beschäftigungsbereichen jenseits davon über die drei beruflichen Lagen hinweg verglichen. Dabei lässt sich feststellen, dass bei den „Verunsicherten“ bestimmte berufliche Fachrichtungen und Beschäftigungsbereiche jenseits davon besonders ausgeprägt sind. Sie verzeichnen jeweils deutlich höhere Anteile als bei den „Klassikern“ und „Gesicherten“. Dies sind: Bautechnik, Textiltechnik und -gestaltung, Labortechnik/Prozesstechnik, Ernährung und Hauswirtschaft, Agrarwirtschaft, Transport, Verkehr und Logistik, Gastwirtschaft und Hilfsarbeit. Eher unterrepräsentiert bei den „Verunsicherten“ sind hingegen Elektrotechnik, Pflege, Sozialpädagogik, Management und IT-Berufe.

4 Diskussion

Die oben dargelegten Ergebnisse werden nachfolgend hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Berufsorientierung diskutiert und interpretiert. Unter Berücksichtigung einer Prekarisierung des Arbeitsmarktes wurde eingangs die Fragestellung aufgeworfen, welche (Un-)Sicherheit Beschäftigungsverhältnisse entlang beruflicher Fachrichtungen bieten. Zu deren Beantwortung sollen dabei folgende Aspekte im Nachgang ausgeführt werden:

  • Fachprofil beruflicher Unsicherheit,
  • Fachprofil beruflicher Sicherheit,
  • Integrationspotenziale der beruflicher Fachrichtungen Wirtschaft und Verwaltung sowie Metalltechnik,
  • Zielgruppenspezifika

4.1 Fachprofil beruflicher Unsicherheit

Das Erwerbstätigkeits-Milieu der „Verunsicherten“ bringt als Kristallisationspunkt beruflicher Unsicherheit klare Einschränkungen im Hinblick auf ökonomische und soziale Autonomie mit sich. Mit den hohen Anteilen von prekär und häufig temporär Beschäftigten, Erwerbslosen, und Personen, die im Alter von 25 bis 34 Jahren noch ohne Berufsabschluss sind, ist Berufsorientierung für diese berufliche Lage auch aktuell virulent.

Im Hinblick auf das Fachprofil beruflicher Unsicherheit verwundert es nicht, dass die „Verunsicherten“ neben den in Abbildung 1 aufgeführten fünf häufigsten Beschäftigungsbereichen (die insgesamt 53,5% ausmachen) vorrangig in der Bautechnik, in der Ernährungs- und Hauswirtschaft, in der Textiltechnik und -gestaltung sowie in der Agrarwirtschaft beschäftigt sind. Hinzu kommen Beschäftigungsbereiche jenseits beruflicher Fachrichtungen in der Gastwirtschaft und sonstiger Hilfsarbeit. In der Summe stellen diese weitere 22,7% aller „Verunsicherten“ dar. Mit dem vergleichenden Blick auf „Klassiker“ und „Gesicherte“ sind es dagegen in der Elektrotechnik, Pflege, Sozialpädagogik, im Management, in IT- oder anderen hochqualifizierten Erwerbsberufen zusammengenommen gerade einmal 10,2%.

Die ohnehin recht heterogene berufliche Lage der „Verunsicherten“ mit ihrem sehr unterschiedlichen Bildungsprofil, ihren hohen Prozentzahlen an Personen mit einem Migrationshintergrund und unsicher bzw. prekär Beschäftigten, kann auch im Hinblick auf berufliche Fachlichkeit als stark zergliedert beschrieben werden. Belege dafür finden sich im Vergleich zu den „Klassikern“ und „Gesicherten“ anhand:

  • der geringsten Anteile in den beruflichen Fachrichtungen,
  • der höchsten Anteile in Beschäftigungsbereichen jenseits davon,
  • dem nicht zu vernachlässigendem Teil nicht zuordenbarer Beschäftigung (3,5%) und
  • der mit 10,6% überaus großen Gruppe von Erwerbslosen ohne Berufsabschluss.

Zudem sind die „Verunsicherten“ in den gesondert betrachteten beruflichen Fachrichtungen Wirtschaft und Verwaltung und Metalltechnik mit zusammengenommen 23,5% deutlich seltener vertreten als die „Klassiker“ mit 44,5% und die „Gesicherten“ mit 41,1%.

4.2 Fachprofil beruflicher Sicherheit

„Klassiker“ und „Gesicherte“ beschreiben zwei verschiedene Milieus einer beruflichen Sicherheit, welche eine gesellschaftliche Anbindung über Erwerbstätigkeit ermöglicht. Die Berufsorientierung kann für diese jungen Erwachsenen als in einem ersten Schritt durchaus abgeschlossen verstanden werden, da sie in sichere Positionen eingemündet sind. Aus diesen beiden beruflichen Lagen lassen sich zwei verschiedene Zugangswege zu beruflicher Sicherheit ablesen.

„Klassiker“ sind auch in ihrer Fachlichkeit als klassisch zu charakterisieren. Vier ihrer fünf häufigsten Beschäftigungsbereiche (bei ihnen zusammen bereits 66,8%) sind in beruflichen Fachrichtungen verortet. Als nächsthäufige Beschäftigungsbereiche kommt noch eine weitere berufliche Fachrichtung hinzu (Sozialpädagogik mit 4,0%) und mit Transport, Verkehr und Logistik (4,0%) und Sicherheitsberufen (3,5%) zwei Beschäftigungsbereiche jenseits davon. Erwerbstätigkeit im Management oder in IT-Berufen ist dagegen auch bei ihnen vergleichsweise unterrepräsentiert.

Das klassische Profil dieser beruflichen Lage mit seinem eindeutigen Bildungsprofil zeichnet sich auch fachlich ab durch:

  • den größten Anteil in den beruflichen Fachrichtungen,
  • den geringsten Anteil in den Beschäftigungsbereichen jenseits davon und
  • nur geringen Anteilen in sonstiger Erwerbstätigkeit oder in Nicht-Beschäftigung.

Wie bereits in 4.1 beschrieben haben die „Klassiker“ zudem mit 44,5% den höchsten Anteil von Personen in den Fachrichtungen Wirtschaft und Verwaltung und Metalltechnik.

„Gesicherte“ beschreiben dagegen einen anderen Weg in berufliche Sicherheit. Zu ihren fünf häufigsten Beschäftigungsbereichen (mit 66,9% genauso groß wie bei den „Klassikern“) zählen neben drei beruflichen Fachrichtungen Erwerbstätigkeiten im Management oder solche mit Hochqualifizierung. Ihre nächsthäufigen Kategorien sind mit Elektrotechnik eine weitere berufliche Fachrichtung und mit IT-Berufen ein Beschäftigungsbereich jenseits davon.

Charakteristisch für die „Gesicherten“ ist:

  • der höchste Anteil von Hochqualifizierten,
  • ein hoher Anteil in Beschäftigungsbereichen jenseits beruflicher Fachrichtungen
  • mit einer deutlichen Konzentration auf Management und IT-Berufe.

Wirtschaft und Verwaltung und Metalltechnik machen für sie zusammengenommen 41,1% aus und sind damit vergleichbar stark vertreten wie bei den „Klassikern“.

4.3 Integrationspotentiale der beruflichen Fachrichtungen Wirtschaft und Verwaltung sowie Metalltechnik

Die o.g. beruflichen Fachrichtungen haben sich aus den Ergebnissen als besonders bedeutsam herausgestellt. Wirtschaft und Verwaltung ist in allen drei beruflichen Lagen die anteilig häufigste berufliche Fachrichtung, Metalltechnik mit zwar deutlich kleineren Anteilen ebenso bei allen unter den fünf häufigsten. Diese Fachrichtungen spielen somit für sich orientierende junge Menschen eine große Rolle, geben dabei jedoch keine klare Richtung für die berufliche Zukunft vor. Wirtschaft und Verwaltung ist zumindest stärker in den integrativen Erwerbstätigkeits-Milieus vorzufinden, woraus sich eine Tendenz in Richtung sicherer Beschäftigung ablesen lässt. Bei der Metalltechnik sind die Anteile dagegen mit Werten zwischen 6,6% und 8,4% sehr eng beieinander.

Sowohl Wirtschaft und Verwaltung als auch Metalltechnik besitzen demnach ein hohes Potential für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt. Sie ermöglichen unter Umständen Personen, die eine Erwerbstätigkeit in diesen Beschäftigungsbereichen ausüben, perspektivisch den Übertritt aus einem unsicheren in ein sicheres Erwerbstätigkeits-Milieu. Dies kann bspw. durch die Übernahme verantwortungsvollerer Aufgaben im Unternehmen und einer damit einhergehenden unbefristeten Vertragsgestaltung gelingen. Eine solche Mobilität zeichnet sich für andere berufliche Fachrichtungen oder Beschäftigungsbereiche jenseits davon nicht ab. Insbesondere für die „Verunsicherten“ bestehen in Bezug auf fachliche Erwerbstätigkeit ansonsten keine Überschneidungen zu den beiden integrativen beruflichen Lagen.

4.4 Zielgruppenspezifika

Abschließend soll noch ein Blick auf Personenmerkmale gerichtet werden, die für konzeptionelle Überlegungen von Berufsorientierung relevant werden könnten.

Das Bildungsprofil, durch die Dreigliedrigkeit des Schulsystems gekennzeichnet, verweist deutlich auf einen Zusammenhang von fehlenden Berufsabschlüssen und einer Positionierung im Spannungsfeld zwischen unsicherer Beschäftigung und Erwerbslosigkeit. Es zeichnet sich aber auch ab, dass höhere Bildungsabschlüsse nicht eindeutig zu sicheren Beschäftigungsverhältnissen führen. So machen z. B. Hauptschüler/-innen mit abgeschlossener Lehre den größten Anteil sowohl der „Gesicherten“ als auch der „Verunsicherten“ aus.

Die deutliche Unterrepräsentanz von Personen mit einem Migrationshintergrund in den vertieft analysierten sicheren beruflichen Lagen der „Klassiker“ und „Gesicherten“ muss dadurch relativiert werden, dass diese bei den hier nicht berücksichtigten „Verheirateten mit Kindern“ überproportional vertreten sind. Die hier präsentierten Ergebnisse sind also erheblich durch die Lebensführung und Familienplanung moderiert. Ihr hoher Anteil bei den „Verunsicherten“ kann ebenfalls nicht derart gedeutet werden, dass berufliche Unsicherheit ein spezifisches Migrationsproblem wäre. Vielmehr beschreibt diese berufliche Lage eine Gruppe von Personen, die aufgrund ihrer persönlichen Merkmalsausstattung einer besonderen Berufsorientierung bedürfen. An dieser Stelle wird noch ein zusätzlicher Blick auf die Bildungsbiographie der „Verunsicherten“ mit einem Migrationshintergrund geworfen. Nach eigenen Berechnungen haben 68,2% von ihnen ihre (Aus-)Bildungslaufbahn in Deutschland beendet, 31,8% sind indessen erst nach deren Beendigung im Ausland nach Deutschland eingereist. Für sie setzt eine Berufsorientierung auf den deutschen Arbeitsmarkt demnach auch erst spät an. Somit besteht durchaus eine migrationsspezifische Besonderheit, denn für spät Zugewanderte ist keine durchgängige Berufsorientierung ab der Schule möglich.

Bezüglich des Geschlechts findet man in den sicheren beruflichen Lagen kaum Unterschiede. Gerade bei den „Klassikern“ ist das Geschlechterverhältnis ausgewogen und bei den „Gesicherten“ überwiegen die Männer nur leicht. Berufliche Unsicherheit von Frauen findet sich vornehmlich in der nicht weiter betrachteten Lage der „Verheirateten mit Kindern“, ist also familiär bedingt. Die berufliche Unsicherheit von Männern zeigt dagegen keinen Zusammenhang zu einer stattgefundenen Familiengründung, da die „Verunsicherten“ größtenteils kinderlos sind. Auch das ist für eine Berufsorientierung in dieser Lebensphase ein wichtiges Ergebnis, da gut qualifizierte Mütter im Gegensatz zu gering qualifizierten Männern durchaus bessere Chancen auf einen Wiedereinstieg in Erwerbstätigkeit haben.

Berufsorientierung benötigt nach Ansicht der Autoren kein in erster Linie an bestimmten Zielgruppen ausgerichtetes Konzept für die Einzelmerkmale Bildungsprofil, Migration und Geschlecht. Wodurch sich Berufsorientierung auszeichnen sollte, wird durch die Betrachtung spezifischer Erwerbstätigkeits-Milieus und deren Fachprofile aussagekräftiger und für mögliche Konzeptionsentwicklungen gut verwendbar erfasst.

5 Schlussfolgerungen

5.1 Berufsorientierung in verschiedenen Lebensphasen

Personen in der beruflichen Lage der „Verunsicherten“ bedürfen einer langfristigen Unterstützung bei der Berufsorientierung. Für Erwerbslose reicht sie von Angeboten der ersten Orientierung bis hin zur (Nach-)Qualifizierung. Aber auch für erwerbstätige Personen in dieser beruflichen Lage erscheint eine Berufsorientierung neben einer Beratung vor dem Berufseintritt durchaus sinnvoll, da eine (Um-)Orientierung beim Wiederfinden in einer unsicheren Erwerbstätigkeit durchausangezeigt ist. Es entsteht der Eindruck, dass viele dieser Arbeitsnehmer/-innen ihren Erwerb in solchen Tätigkeiten suchen und finden, die ihnen wenig Gewähr auf den Erhalt von dauerhafter Beschäftigungsfähigkeit bieten. Sie sind fachlich fast überall zu finden, nur nicht in den anspruchsvollen und prosperierenden Bereichen des Arbeitsmarktes oder den höheren Hierarchieebenen von Unternehmen.

Die berufliche Orientierung und auch die Berufseinstiegsbiographie der „Klassiker“ kann als die möglicherweise gradlinigste interpretiert werden. Auf eine bestimmte Bildungslaufbahn folgt die Orientierung an etablierten Berufen in beruflichen Fachrichtungen, die dann auch in eine sichere berufliche Zukunft führen. Für sie wären Berufsorientierungskonzepte vorstellbar, die am Ende der allgemeinbildenden Schule ansetzen und vorrangig den Übergang in die Ausbildung begleiten.

Die „Gesicherten“ sind dagegen wieder eine inhomogene Gruppe. Ihr Bildungsprofil weist keine klare Tendenz auf, sondern fasst vielmehr alle Personen jenseits des klassischen Wegs zusammen. In dieses Sammelbecken fallen sowohl Personen, die in berufliche Fachrichtungen eingemündet sind, daneben solche mit Erwerbsberufen, die einen (Fach-)Hochschulabschluss erfordern, oder im Management und in IT-Berufen. Entsprechende Berufsbiographien sind nach dem Ende der allgemeinbildenden Schule vermutlich weicher und wenig eindeutig vorgezeichnet. Ihre Berufsorientierung setzt somit zeitgleich mit der der „Klassiker“ an, dauert aber länger, denn ein Aufstieg in Führungspositionen ergibt sich erst im Laufe der Erwerbsbiographie. Noch dazu erfordern (Fach-)Hochschulstudiengänge eine Berufswahlentscheidung in der Regel während oder gegen Ende der Qualifikationsphase und nicht wie bei Ausbildungsberufen bereits mit deren Beginn. Durch das anzunehmende Anspruchsniveau der aufgeführten Tätigkeiten ist diese längere Form der Berufsorientierung jedoch eine völlig andere, als sie beispielsweise die „Verunsicherten“ bedürfen.

5.2 Fachlichkeit als ein Weg zu beruflicher Sicherheit

Es steht außer Zweifel, dass berufsfachlich Qualifizierte gegenüber An- und Ungelernten auf dem Arbeitsmarkt grundsätzlich im Vorteil sind. Die Diskussion der Ergebnisse hat darüber hinaus gezeigt, dass Entscheidungen für bestimmte fachliche Erwerbstätigkeiten zu Beschäftigungsverläufen mit unterschiedlichem (vorläufigen) Ausgang führen. Die beruflichen Fachrichtungen Wirtschaft und Verwaltung sowie Metalltechnik nehmen dabei eine besondere Rolle ein und wurden als Mobilität ermöglichende Beschäftigungsbereiche identifiziert.

Ob des sich abzeichnenden Zusammenhangs zwischen dem Erwerbstätigkeits-Milieu der „Verunsicherten“ und dem Beschäftigungsbereich Transport, Verkehr und Logistik ist zu fragen, wie sich diese fachliche Erwerbstätigkeit solider gestalten ließe. Ungeachtet der dafür vorgenommenen Einteilung der Facharbeit nach vermeintlich inhaltlichen Gesichtspunkten wie Güter-, Personen- und Datenströme wäre dieser Aufgabe sowohl gesellschaftspolitisch als auch berufswissenschaftlich nachzugehen.

Die Ausführungen stellen für alle in die Berufsorientierung involvierten Akteure relevante und wertvolle Informationen zur Verfügung. Junge Menschen werden in die Lage versetzt, ihre individuellen Potentiale mit den Optionen der jeweiligen Beschäftigungsbereiche zu verbinden. Für Beratende bieten die beruflichen Lagen mit ihrer je eigenen Fachlichkeit und möglichen (Un-)Sicherheitszuständen eine zusätzliche Hilfestellung, die sie im Dialog mit sich Orientierenden für Schwerpunktsetzungen nutzen können.

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Relevanz, Nutzungshäufigkeit und eingeschätzte Nützlichkeit unterschiedlicher Unterstützungsangebote aus Sicht von Jugendlichen während des Berufsorientierungsprozesses

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1 Einleitung

Der Übertritt von der Schule in den Beruf ist für einen Großteil der Jugendlichen in der Schweiz (vgl. Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation [SBFI] 2014) eine der wesentlichen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz. Die erfolgreiche Bewältigung des Übertritts in eine berufliche Ausbildung und deren erfolgreicher Abschluss sind wichtige Voraussetzungen, damit der Übertritt in den Arbeitsmarkt oder eine weiterführende Ausbildung gelingt und somit entscheidend für die längerfristige berufliche und gesellschaftliche Integration (vgl. Hirschi 2007, 30; Häfeli/Schellenberg 2009, 12; Hupka-Brunner/Wohlgemuth 2014, 105). Dem Prozess der Berufsorientierung kann daher essenzielle Bedeutung zugeschrieben werden. Die Verfügbarkeit von sozialer Unterstützung während der Berufsorientierung ist (neben persönlichen Ressourcen und gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einflussfaktoren) entscheidend für den Erfolg bei der Lehrstellensuche (vgl. Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006). Mit sozialer Unterstützung sind Formen der Unterstützung im persönlichen Umfeld der Jugendlichen (z. B. Elternunterstützung) sowie schulische, betriebliche und außerschulisch-institutionelle Unterstützungsangebote gemeint. Aus einer Angebot-Nutzungs-Perspektive kann davon ausgegangen werden, dass ein positiver Einfluss sozialer Unterstützung im Prozess der Berufsorientierung jedoch nicht nur von deren Verfügbarkeit abhängt, sondern auch davon, ob und wie diese von den Jugendlichen als relevant eingestuft, genutzt und als wie nützlich diese eingeschätzt wird.

In bisherigen Studien (vgl. Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006; Müller 2009; Neuenschwander et al. 2010) wurde die Nutzungshäufigkeit von Unterstützungsangeboten durch Jugendliche, die von ihnen eingeschätzte Nützlichkeit und deren Veränderung über die Zeit anhand von retrospektiv erfassten Daten untersucht. Was fehlt sind Studien, die die Nutzung und die eingeschätzte Nützlichkeit von Unterstützungsangeboten aus der Perspektive der Jugendlichen zeitnah, d. h. ohne zeitliche Distanz erfassen. Es ist nämlich davon auszugehen, dass retrospektive Befragungen mit Erinnerungslücken und Wahrnehmungsverzerrungen einhergehen, welche die Ergebnisse maßgeblich verfälschen können.

Diese Studie begegnet diesem Defizit, indem sie Daten von Jugendlichen verwendet, die am Ende des 8. Schuljahres und knapp ein Jahr später (d. h. gegen Ende des 9. Schuljahres) noch einmal befragt wurden. Ausgehend von einem Angebot-Nutzungs-Modell werden die Relevanz und die Nutzungshäufigkeit von Unterstützungsangeboten sowie deren eingeschätzte Nützlichkeit aus der Perspektive von Jugendlichen untersucht. Ferner wird in dieser Studie eruiert, wie sich die genannten Aspekte während des Berufsorientierungsprozesses verändern, und ob zwischen Jugendlichen mit und ohne Zusage für eine Lehrstelle gegen Ende des 9. Schuljahres Unterschiede hinsichtlich der genannten Aspekte bestehen.

Zur Untersuchung des skizzierten Erkenntnisinteresses wurden Daten aus dem Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Berufsorientierung und regionales Übergangsmanagement –  Chancen, Kompetenzen und Entwicklungspotenziale (BRÜCKE) genutzt, welches mit Mitteln der Internationalen Bodensee-Hochschule (IBH) gefördert wurde (vgl. Bahl et al. 2013; Rottmann et al. 2013).

2 Einbettung des Beitrags in Theorie und Forschung zur Berufsorientierung

2.1 Theoretisches Rahmenmodell

Der Berufsorientierungsprozess kann prinzipiell als langfristiger und sogar als lebenslanger Prozess betrachtet werden. Im Fokus des vorliegenden Beitrags steht jedoch ein Ausschnitt der Berufsorientierung, der sich auf Jugendliche vor und während des Übergangs von der obligatorischen Schule in die Berufsausbildung bezieht. Derart fokussiert kann die Berufsorientierung Jugendlicher verstanden werden als „aktive[r] und konstruktive[r] Prozess, der aus den Lernerfahrungen und Wahrnehmungen Jugendlicher hervorgeht und sich in einem unterschiedlich offenen Raum von Möglichkeiten abspielt“ (Müller 2009, 37f.). Diese Definition betont zum einen den Prozesscharakter der Berufsorientierung und hebt zum anderen hervor, dass die Interaktion zwischen der jugendlichen Person und der sie umgebenden Umwelt ein zentrales Element der Berufsorientierung darstellt. Das Ziel der beruflichen Orientierung eines Jugendlichen ist es zum einen, im Anschluss an die obligatorische Schule eine Lehrstelle zu finden und dabei zum anderen eine Berufswahl zu treffen, bei der eine möglichst große Passung zwischen den persönlichen Voraussetzungen (z. B. Fähigkeiten, Einstellungen, Interessen) und den Erfordernissen und Ansprüchen des gewählten Berufes erzielt wird. Das ist für das Erlernen und die Ausübung des jeweiligen Berufes unverzichtbar (vgl. Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006, 24; Müller 2009, 38; Egloff/Jungo 2009, 110). Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Jugendliche im Rahmen ihres Berufsorientierungsprozesses unter Einsatz ihrer persönlichen und unter Nutzung der sozialen, sie umgebenden Ressourcen eine Reihe von Entscheidungen treffen (vgl. Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006, 25f.).

Den skizzierten theoretischen Grundlagen folgend, wird ein personenzentriertes Prozessmodell der Berufsorientierung postuliert, in welchem der Berufsorientierungsprozess sowohl von persönlichen Faktoren der Jugendlichen als auch von Umweltfaktoren beeinflusst wird (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Prozessmodell der Berufsorientierung.Abbildung 1: Prozessmodell der Berufsorientierung.

In Anlehnung an Hirschi (2007, 31) sowie an Egloff/Jungo (2009, 110f.) werden im abgebildeten Modell grundlegend Faktoren der Person (persönliche Ressourcen) und Faktoren der Umwelt (soziale Ressourcen) als relevante Einflussfaktoren des Berufsorientierungsprozesses identifiziert und differenziert.

Hinsichtlich der Faktoren der Person werden stabile und variable Personenmerkmale voneinander unterschieden. Während stabile Personenmerkmale (z. B. Geschlecht, Ethnie, Dauer des Schulbesuchs) als nicht oder nahezu unveränderlich gelten, handelt es sich bei den variablen Personenmerkmalen um Faktoren, die sich während des Berufsorientierungsprozesses (und darüber hinaus) verändern bzw. entwickeln können (z. B. Kompetenzen, Berufswahlbereitschaft, Leistungsfähigkeit und -bereitschaft) (vgl. Hirschi 2007, 32ff.; Egloff/Jungo 2009, S. 111).

Bei den Faktoren der Umwelt wird zwischen fernen und unmittelbaren Umweltfaktoren unterschieden (vgl. Egloff/Jungo 2009, 111). Die fernen Umweltfaktoren – von Hirschi (2007) als „gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Kontext“ (31f.) bezeichnet – beeinflussen den Berufsorientierungsprozess, indem sie diesen rahmen. Sie bestimmen die beruflichen Entwicklungsaufgaben, die Personen zu bewältigen haben und schaffen Gegebenheiten, welche die beruflichen Übergänge erschweren respektive erleichtern (vgl. Hirschi/Läge 2006, 72). Zu diesen fernen Umweltfaktoren zählen beispielsweise die gegenwärtige Situation auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, die gesellschaftlichen Werthaltungen oder die Wirtschafts- und Infrastruktur der Wohngegend der Jugendlichen. Solche Umweltfaktoren können den Erfolg bei der Lehrstellensuche und Berufswahl stark beeinflussen, beispielsweise, wenn im Wunschberuf kaum Lehrstellen angeboten werden. Die unmittelbaren Umweltfaktoren – von Hirschi (2007) mit „soziale Unterstützung“ umschrieben (31f.) – spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle für den Berufsorientierungsprozess der Jugendlichen. Sie determinieren die Entwicklung und damit auch die berufliche Orientierung der Jugendlichen maßgeblich und können demzufolge die Bewältigung beruflicher Übertritte unterstützen oder erschweren (vgl. Hirschi/Läge 2006, 72) (vgl. Abschnitt 2.2). Zu den unmittelbaren Umweltfaktoren zählen nicht nur Personen, sondern ebenso andere potenzielle Informationsquellen wie das Internet, Berufsinformationszentren (BIZ) oder Informationsveranstaltungen. Auch sie können Jugendlichen im Prozess der Berufsorientierung als Unterstützung dienen. In diesem Beitrag stehen die unmittelbaren Umweltfaktoren – sprich die soziale Unterstützung und weitere Unterstützungs- bzw. Informationsquellen – und ihre Bedeutung für den Berufsorientierungsprozess im Mittelpunkt, weshalb sie nachfolgend detaillierter beschrieben werden. Wie in Abbildung 1 ersichtlich ist, werden in Bezug auf die unmittelbaren Umweltfaktoren unterschieden: das persönliche Umfeld der Jugendlichen (Eltern, Geschwister, Verwandte und Bekannte, Freunde/innen) sowie schulische (Lehrpersonen, Schulleitung, Schulsozialarbeit, Informationsveranstaltungen in Schulen), betriebliche (Betriebsmitarbeitende) und außerschulisch-institutionelle Einflüsse (Berufsberater/innen, Berufswahlcoaches, Casemanager/innen, Internetangebote, BIZ, Messen). Die Unterstützung kann dabei unterschiedliche Formen annehmen.

Eltern beispielsweise können ihre Kinder im Prozess der Berufsorientierung motivieren und emotional unterstützen, sie können direkte, sachbezogene Hilfe leisten (z. B. Unterstützung bei der Bewältigung schulischer Anforderungen, Hilfe bei der Informationssuche), sie können durch ihr eigenes Handeln Vorbild sein oderihre Kinder finanziell unterstützen (z. B. Bezahlen von Bewerbungsschreiben). Ähnliche Formen der Unterstützung können auch andere Personen aus dem persönlichen Umfeld der Jugendlichen leisten. Dabei hängt das Unterstützungspotential der Eltern und weiterer Bezugspersonen aus dem persönlichen Umfeld der Jugendlichen von deren eigenen Ressourcen (z. B. Bildungsniveau, Beherrschen der Sprache, Kenntnisse des Bildungssystems) ab (vgl. Bertossa/Haltinger/Meyer Schweizer 2008; Gaupp et al. 2008; Neuenschwander et al. 2010). Lehrpersonen und andere schulische Akteure können zwar ebenfalls emotionale und motivationale Unterstützung bieten, sie sind aber in erster Linie dafür verantwortlich, den Schüler/innen (im Berufswahlunterricht oder in Informationsveranstaltungen) grundlegende Informationen über Berufe und Ausbildungen zu vermitteln, Berufswahlprozesse zu initiieren und zu begleiten (vgl. Neuenschwander et al. 2010). Zudem können sie als Vermittler bei der Lehrstellensuche fungieren (vgl. Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006). Auch außerschulisch-institutionelle und betriebliche Beratungsangebote und ihre Akteure haben in erster Linie eine informative und beratende Funktion. Anders als mit Eltern und Bezugspersonen sowie Lehrpersonen und weiteren schulischen Akteuren kommen Jugendliche mit außerschulisch-institutioneller und betrieblicher Unterstützung aber nicht zwingend und/oder nur punktuell in Kontakt (vgl. Bertossa/Haltinger/Meyer Schweizer 2008).

Abbildung 1 zeigt ferner, dass im Rahmenmodell von einer Angebot-Nutzungs-Beziehung zwischen den Jugendlichen und den unmittelbaren Umwelteinflüssen ausgegangen wird. Dementsprechend wird angenommen, dass die unmittelbaren Umweltfaktoren den Jugendlichen während des Berufsorientierungsprozesses Unterstützung anbieten, welche von den Jugendlichen aufgenommen und/oder aktiv nachgefragt, also genutzt werden kann. DiePersonen und Informationsquellen, die den genannten vier Bereichen zugeordnet werden können, werden daher auch als Unterstützungsangebote bezeichnet. Sie stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags, indem ihre Relevanz, ihre Nutzungshäufigkeit und ihre Nützlichkeit aus Sicht der Jugendlichen in den Blick genommen werden.

2.2 Forschungsstand

Soziale Unterstützung erfahren Jugendliche im Prozess der Berufsorientierung im Wesentlichen von ihren Eltern (vgl. Gaupp et al. 2008; Neuenschwander et al. 2010; Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006; Bertossa/Haltinger/Meyer Schweizer 2008; Schönenberger/Thurnherr/Brühwiler 2013).

Gemäß einer die Jahre 1979, 1994 und 2003 umfassenden repräsentativen Schweizer Trendstudie (vgl. Bertossa/Haltinger/Meyer Schweizer 2008) hatten die Eltern bzw. Erziehenden nach Angaben von jungen Erwachsenen den stärksten Einfluss auf ihre Berufswahl. Lediglich zwischen 18 % und 21 % der Jugendlichen gaben an, in ihrer Berufswahl von den Eltern bzw. Erziehenden gar nicht beeinflusst worden zu sein. Die Bedeutung der Eltern bei der Berufswahl nahm über die Jahre sogar leicht zu. Über 80 % der Jugendlichen gaben 2003 an, ihre Eltern hätten sich so um ihre Berufswahl gekümmert, wie sie es sich gewünscht hätten, und sie hätten nicht versucht, mehr Einfluss auf sie zu nehmen, als ihnen recht war. 78 % der Jugendlichen gaben an, mit den Eltern oft über die Berufswahl gesprochen zu haben, und 70 % der Jugendlichen berichteten, ihre Eltern hätten ihnen geholfen, mehrere Berufsmöglichkeiten kennen zu lernen. Einen ebenfalls starken Einfluss auf die Berufswahl wiesen Kameraden/innen, Bücher oder Schriften und Lehrpersonen auf. Weniger als 50 % der befragten Jugendlichen gaben 2003 an, von diesen Personen oder Medien bei der Berufswahl gar nicht beeinflusst worden zu sein. Eine etwas geringere Bedeutung in Berufswahlfragen wiesen Verwandte oder Bekannte, Berufsberater/innen, Radio und Fernsehen und Geschwister auf. Sie hatten 2003 bei mehr als 50 % der Jugendlichen keinen Einfluss auf die Berufswahl.

Herzog/Neuenschwander/Wannack (2006) befragten rund 500 Schweizer Jugendliche am Ende der obligatorischen Schule (rückblickend auf das 8. und das 9. Schuljahr) zur Häufigkeit von Gesprächen mit verschiedenen Personen über ihre berufliche Zukunft und den eingeschätzten Nutzen dieser Gespräche. Es zeigte sich auch in dieser Studie, dass Jugendliche am häufigsten mit ihren Eltern sprachen, um sich über ihre berufliche Zukunft zu informieren, und dass diese Gespräche für sie am hilfreichsten waren. Andere Personen aus dem familiären Umfeld der Jugendlichen (Verwandte und Geschwister) nahmen eine deutlich weniger wichtige Rolle ein. Erstgeborene Jugendliche sprachen mit ihren Geschwistern signifikant weniger häufig über ihre berufliche Zukunft als Jugendliche mit älteren Geschwistern. Freunde/innen wurden nach den Eltern als zweithäufigste Gesprächspartner/innen genannt und die Gespräche mit ihnen wurden als eher hilfreich eingeschätzt. Als dritthäufigste Gesprächspartner/innen nannten die Jugendlichen Lehrpersonen. Sie schätzten den Nutzen dieser Gespräche ebenfalls als eher hilfreich ein. Vom 8. bis zum 9. Schuljahr nahm die Gesprächshäufigkeit über die Berufswahl mit allen Personen (außer mit Freunden/innen außerhalb der Schule) signifikant ab. Zudem zeigte sich eine signifikante Abnahme des eingeschätzten Nutzens der Gespräche mit Eltern, Verwandten und Lehrpersonen (bei den Geschwistern nahm der eingeschätzte Nutzen ebenfalls ab, das Resultat war jedoch nicht signifikant). Diese Ergebnisse können dahingehend interpretiert werden, dass die Berufswahl bereits im 8. Schuljahr konkretisiert wird, die Jugendlichen deshalb weniger häufig Gespräche über ihre berufliche Zukunft führen und die geführten Gespräche als weniger hilfreich beurteilen.

Neuenschwander et al. (2010) zeigten in einer Studie mit rund 700 Auszubildenden aus dem Kanton Zürich, dass die Jugendlichen die finanzielle Hilfe ihrer Eltern (z. B. Bezahlen von Bewerbungsschreiben) als am höchsten einstuften. Sie berichteten, dass die Eltern gut über ihre Bewerbungen informiert waren und ihnen Tipps für das Schreiben der Stellenbewerbungen gaben. Formen aktiver Unterstützung der Eltern (z. B. Bewerbungsmöglichkeiten vermitteln, Lehrstelleninserate suchen) kamen dahingegen weniger häufig vor. Weibliche Jugendliche fühlten sich durch ihre Eltern besser unterstützt als männliche Jugendliche. Die Mehrheit der Auszubildenden (74 %) gab zudem an, bei der Berufswahl im 9. Schuljahr Unterstützung von Lehrpersonen erhalten zu haben. Die Qualität der Unterstützung durch Lehrpersonen wurde als gut bis sehr gut bewertet. 62 % der befragten Lernenden ließen sich im 9. Schuljahr in einem BIZ persönlich beraten. Die Qualität dieses Unterstützungsangebots wurde als eher gut beurteilt. Auszubildende mit Migrationshintergrund bewerteten die Qualität der Beratung höher als Schweizer Jugendliche.

In einer Studie von Müller (2009) gaben 70.2 % von über 5000 befragten Jugendlichen an, ein BIZ besucht zu haben. Hauptgründe für die Nicht-Nutzung dieses Unterstützungsangebots waren, dass die Jugendlichen dessen Nützlichkeit als gering einstuften oder bereits eine Lehrstelle hatten. Die Nützlichkeit der Leistungen des BIZ wurde von den Jugendlichen retrospektiv als mittelmäßig eingestuft.

Schnupperlehren und Praktika hingegen nehmen im Prozess der Berufsorientierung einen hohen Stellenwert ein und werden von den Jugendlichen als sehr nützlich bewertet (vgl. Gaupp et al. 2008; Neuenschwander et al. 2010; Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006). Gemäß Neuenschwander et al. (2010) bieten Schnupperlehren oder Praktika Jugendlichen Möglichkeiten, Einblicke in Berufe zu erhalten und konkrete Erfahrungen zu sammeln. Herzog et al. (2006) zeigten, dass Schnupperlehren sowohl im 8. als auch im 9. Schuljahr die am häufigsten eingesetzte Informations- und Suchstrategie von Jugendlichen waren, deren Ziel es war, eine Berufslehre zu absolvieren, um sich über mögliche Berufe/Anschlusslösungen zu informieren (neben Lehrstelleninseraten, dem Internet, usw.).

Zusammenfassend sind aus Sicht der Jugendlichen also die Eltern das effektivste Unterstützungsangebot, was sich auch in der Nutzungshäufigkeit zeigt. Aber auch von Lehrpersonen, Freunden/innen sowie außerschulisch-institutionellen Angeboten und Schnupperlehren fühlen sich Jugendliche während des Berufsorientierungsprozesses unterstützt. Weitgehend ungeklärt bleibt jedoch die Frage, wie die verschiedenen Unterstützungsangebote und deren Nutzung mit dem erfolgreichen Übergang in eine berufliche Ausbildung tatsächlich zusammenhängen (unabhängig von der subjektiven Einschätzung der Jugendlichen).

3 Forschungsfragen

Ausgehend vom vorgestellten Rahmenmodell (vgl. Abschnitt 2.1) und dem skizzierten Forschungsstand (vgl. Abschnitt 2.2) beleuchtet der vorliegende Beitrag die Relevanz, Nutzungshäufigkeit und eingeschätzte Nützlichkeit diverser Unterstützungsangebote der Berufsorientierung aus der Perspektive von Jugendlichen sowie deren Zusammenhänge mit dem Erfolg bei der Lehrstellensuche. Konkreter gefasst liegen dem Aufsatz folgende Forschungsfragen zugrunde.

  1. An welchen Unterstützungsangeboten orientieren sich Jugendliche während des Berufsorientierungsprozesses und wie verändert sich die Relevanz der Unterstützungsangebote über die Zeit?
  2. Wie häufig nutzen Jugendliche verschiedene Unterstützungsangebote im Berufsorientierungsprozess und wie verändert sich die Nutzungshäufigkeit über die Zeit?
  3. Als wie hilfreich schätzen Jugendliche die genutzten Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses ein und wie verändert sich die eingeschätzte Nützlichkeit über die Zeit?
  4. Bestehen Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Zusage für eine Lehrstelle im Hinblick auf ihre Einschätzungen zur Relevanz, Nutzungshäufigkeit und Nützlichkeit von Unterstützungsangeboten?

4 Forschungsmethodologie

4.1 Forschungsdesign und Stichprobe

Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden 343 Jugendliche in der Deutschschweiz mittels Fragebogen befragt. Mit dem Ziel, dem Prozesscharakter der Berufsorientierung Rechnung zu tragen und Veränderungen hinsichtlich der interessierenden Aspekte der Berufsorientierung (Relevanz, Nutzungshäufigkeit, Nützlichkeit) zu erfassen, fanden die Datenerhebungen zu zwei Zeitpunkten statt. Die Jugendlichen wurden zum ersten Mal gegen Ende des 8. Schuljahres befragt (Sommer 2011). Zu diesem Zeitpunkt befanden sie sich inmitten des Berufsorientierungsprozesses. Die zweite Datenerhebung fand knapp ein Jahr später (Frühjahr 2012), d. h. gegen Ende des 9. Schuljahres und damit kurz vor Abschluss der obligatorischen Schulzeit statt. Die Schüler/innen befanden sich demgemäß zum zweiten Erhebungszeitpunkt in der Endphase der Berufsorientierung. Befragt wurden Real- und Sekundarschüler/innen (Sekundarstufe I) aus verschiedenen Schulen in den Kantonen St.Gallen, Thurgau und Zürich. Es wurden sowohl Schulen aus Stadtgebieten als auch Schulen aus ländlichen Regionen berücksichtigt. Bei der ersten Erhebung waren die Jugendlichen im Durchschnitt 15.05 Jahre alt (SD = 0.57). Beide Geschlechter sind in der Stichprobe nahezu gleich vertreten, da sie zu 51 % aus Schülerinnen und zu 49 % aus Schülern besteht.

4.2 Erhebungsinstrumente

Im Fragebogen wurden die Jugendlichen um Angaben zum aktuellen Stand ihrer Berufs-/Ausbildungswahl bzw. in Bezug auf alternative Anschlusslösungen gebeten. Des Weiteren umfasste der Fragebogen den Themenbereich „Unterstützungsangebote“. Die Fragen wurden den Jugendlichen zu beiden Erhebungszeitpunkten vorgelegt, so dass die betreffenden Informationen im Längsschnitt vorliegen.

Die Orientierung der Jugendlichen an diversen Unterstützungsangeboten bzw. die durch die Schüler/innen eingeschätzte Relevanz dieser wurde mit Hilfe des Items: „Auf folgende Personen höre ich, wenn es um meine Berufs-/Ausbildungswahl geht“ erhoben. Es wurden elf verschiedene Personen(gruppen) vorgegeben: Eltern/Erziehungsberechtigte, Lehrer/in, Mitarbeiter/in eines Betriebs, Berufsberater/in, Verwandte und Bekannte, Freunde/innen, Geschwister, Berufswahlcoach, Schulsozialarbeiter/in, Schulleiter/in, Casemanager/in. Die Probanden gaben den Grad ihrer Zustimmung jeweils auf einer vierstufigen Likert-Skala an (1 = stimmt überhaupt nicht, 2 = stimmt eher nicht, 3 = stimmt eher, 4 = stimmt völlig). Zudem bestand die Möglichkeit, die Option „kann ich nicht beantworten“ zu wählen.

Mit Hilfe des Items „Wie oft wurdest du bei der Berufs-/Ausbildungswahl schon unterstützt durch …?“ wurde die Nutzungshäufigkeit verschiedener Unterstützungsangebote eruiert. Einbezogen wurden diesbezüglich die gleichen elf Personen(gruppen) wie in der vorherigen Frage sowie zusätzlich Vertreter/innen einer weiterführenden Schule und vier weitere, nicht personenbezogene Unterstützungs- bzw. Informationsquellen (Informationsveranstaltungen in der Schule, BIZ, Messen und Internet). Die Nutzungshäufigkeit wurde von den Jugendlichen auf einer vierstufigen Ordinalskala (1 = nie, 2 = einmal, 3 = 2–3-mal, 4 = 4-mal oder mehr) eingeschätzt.

Sofern die Jugendlichen bei der vorherigen Frage angaben, ein Unterstützungsangebot mindestens einmal genutzt zu haben, wurden sie außerdem dazu aufgefordert, die Nützlichkeit des betreffenden Unterstützungsangebots zu bewerten. Die entsprechende Frage lautete: „Wie hilfreich war diese Unterstützung bei der Berufs-/Ausbildungswahl für dich?“ Die Einschätzung der Nützlichkeit wurde von den Jugendlichen erneut auf einer vierstufigen Likert-Skala (1 = überhaupt nicht hilfreich, 2 = ein wenig hilfreich, 3 = ziemlich hilfreich, 4 = sehr hilfreich) vorgenommen.

Zum zweiten Erhebungszeitpunkt wurde außerdem erfasst, ob die Schüler/innen bereits eine verbindliche Zusage (Vertragsabschluss) für eine Lehrstelle besitzen. Die entsprechende Frage war von den Jugendlichen mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten.

4.3 Datenauswertung

Um zu beschreiben, welche Relevanz Jugendliche verschiedenen Unterstützungsangeboten zuschreiben, wie häufig sie diese nutzen und inwiefern sie diese als hilfreich einstufen, wurden die Daten zu den entsprechenden Fragebogenitems (vgl. Abschnitt 4.2) deskriptiv ausgewertet.

In Bezug auf die Relevanz und die eingeschätzte Nützlichkeit der Unterstützungsangebote werden vor allem der Mittelwert (M) und – wo von Bedeutung – die Standardabweichung (SD) berichtet (vgl. Wirtz/Nachtigall 2008, 73; Brosius 2008, 357; Bühl 2006, 122; Bühner 2006, 79). Basierend auf den Mittelwerten wurde für beide Fragen jeweils eine Rangfolge der Unterstützungsangebote generiert. Dabei wurden die verschiedenen Alternativen gemäß der Ausprägung der Mittelwerte in eine Rangfolge gebracht (vgl. Diekmann 2007, 459ff.), wobei Rangplatz 1 jeweils für die Alternative mit dem höchsten Mittelwert vergeben wurde. Im Hinblick auf die Nutzungshäufigkeit der Unterstützungsangebote wird aufgrund der ordinalen Skalierung an Stelle von M und SD die Verteilung der prozentualen Häufigkeiten und wiederum eine Rangreihe (vgl. Diekmann 2007, 459ff., 669ff.) berichtet. Die Rangfolge ergab sich in diesem Zusammenhang auf Basis einer kumulierten Nutzungshäufigkeit, welche der Summe aller Schüler/innen entspricht, die das jeweilige Angebot mindestens einmal nutzten.

Um zu beurteilen, ob sich die Relevanz und die eingeschätzte Nützlichkeit über die Zeit signifikant verändern, wurden t-Tests für verbundene Stichproben durchgeführt (vgl. Brosius 2008, 474-477; Nachtigall/Wirtz 2009, 141ff.). Das Vorliegen von Differenzen in Bezug auf die ordinalskalierte Nutzungshäufigkeit der verschiedenen Unterstützungsangebote wurde mit Hilfe des Wilcoxcon-Tests untersucht (vgl. Bortz 2005, 153f.; Brosius 2008, 867ff.).

Mit dem Ziel, signifikante Differenzen zwischen Jugendlichen mit und ohne Zusage für eine Lehrstelle (gegen Ende des 9. Schuljahr) herauszuarbeiten, wurden in Bezug auf die Relevanz und die eingeschätzte Nützlichkeit t-Tests für unabhängige Stichproben (vgl. Brosius 2008; 468-474; Nachtigall/Wirtz 2009, 138-141) angewendet. Analog dazu wurden für die Aufdeckung von Unterschieden hinsichtlich der ordinalskalierten Nutzungshäufigkeit Mann-Whitney U-Tests verwendet (vgl. Bortz 2005, 150f.; Brosius 2008, 842).

5 Ergebnisbericht

5.1 Relevanz diverser Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses

5.1.1 Einschätzung der Relevanz diverser Unterstützungsangebote

Die Relevanz der Unterstützungsangebote zu beiden Erhebungszeitpunkten aus Sicht der Jugendlichen ist in Abbildung 2 dargestellt. Die Unterstützungsangebote sind dabei absteigend nach Größe des Mittelwerts zum Zeitpunkt t1 geordnet.

Abbildung 2: Eingeschätzte Relevanz von Unterstützungsangeboten zu zwei Erhebungszeitpunkten.

Anmerkungen: Signifikanzniveaus des t-Tests * p < .05, ** p < .01, *** p < .001;
t1 = Ende des 8. Schuljahres (Sommer 2011); t2 = gegen Ende des 9. Schuljahres (Frühjahr 2012)

Abbildung 2: Eingeschätzte Relevanz von Unterstützungsangeboten zu zwei Erhebungszeitpunkten.

Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Jugendlichen gegen Ende des 8. Schuljahres, sprich rund ein Jahr vor Abschluss der obligatorischen Schulzeit (Messzeitpunkt t1), hinsichtlich ihrer Berufs-/Ausbildungswahl primär an ihren Eltern orientieren. Unterstrichen wird das durch die Häufigkeitsverteilung, der zufolge 94 % der Schüler/innen eine zustimmende Antwortoption („stimmt eher“, „stimmt völlig“) bezüglich der betreffenden Frage wählen. Darüber hinaus, aber in deutlich geringerem Ausmaß, hören die Schüler/innen gemäß Rangfolge der Mittelwerte auch auf Lehrpersonen, Betriebsmitarbeitende, Berufsberater/innen sowie ferner Verwandte und Bekannte, Freunde/innen und Geschwister, wenn es um ihre Berufs-/Ausbildungswahl geht.

Auch knapp ein Jahr später, d. h. gegen Ende des 9. Schuljahres, ist für die Jugendlichen hinsichtlich der Berufsorientierung vor allem die Unterstützung der Eltern bedeutsam. Der hohe Mittelwert von 3.49 und die niedrige Standardabweichung von 0.66 belegen das, gleichermaßen wie die Tatsache, dass 94 % der Jugendlichen eine zustimmende Antwortalternative ankreuzen („stimmt eher“, „stimmt völlig“). Relevant für die Berufsorientierung sind ferner und in absteigender Reihenfolge Betriebsmitarbeitende, Berufsberater/innen sowie Personen aus dem persönlichen und schulischen Umfeld der Jugendlichen (Freunde/innen, Lehrpersonen, Geschwister, Verwandte und Bekannte).

Im Vergleich dazu besitzen weitere schulische Akteure (Schulsozialarbeiter/innen und Schulleitende) sowie Akteure außerschulisch-institutionalisierter Unterstützungsangebote (Berufswahlcoachs und Casemanager/innen) in Bezug auf die Berufsorientierung der Jugendlichen zu beiden Zeitpunkten vergleichsweise wenig Relevanz (M ≤ 2.21).

5.1.2 Veränderung der Relevanz diverser Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses

Bezogen auf die Entwicklung der Relevanz diverser Unterstützungsangebote fällt auf, dass der Einfluss von Personen aus dem persönlichen Umfeld, d. h. von Eltern, Geschwistern, Freunden/innen sowie Verwandten und Bekannten ohne Ausnahme steigt. Die Orientierung an den Geschwistern nimmt dabei während des Berufsorientierungsprozesses in signifikantem Ausmaß zu (t = -2.176; p < .05). Im Gegensatz dazu büßen ausnahmslos alle schulischen (Lehrpersonen, Schulleitende, Schulsozialarbeiter/innen), betrieblichen (Betriebsmitarbeitende) und außerschulisch-institutionalisierten (Berufsberater/innen, Berufswahlcoach, Casemanager/innen) Unterstützungsangebote über die Zeit an Bedeutung für die Berufsorientierung der Jugendlichen ein. Für die Lehrpersonen (t = 5.711; p < .001) und die Berufsberater/innen (t = 2.429; p < .05) ist dabei ein signifikanter Bedeutungsverlust zu verzeichnen.

Die Größe der Stichprobe (n) in den einzelnen t-Tests weicht teilweise stark (z. B. bezüglich Casemanager/in; siehe Abbildung 2) von der Anzahl der an den Fragebogenerhebungen teilnehmenden Schüler/innen (n = 343) ab. Das ist großteils darauf zurückzuführen, dass viele Jugendliche von der Antwortoption „kann ich nicht beantworten“ Gebrauch machen. Es ist zu vermuten, dass die Schüler/innen mit den betreffenden Unterstützungsangeboten nicht in Kontakt kommen.

5.2 Nutzungshäufigkeit diverser Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses

5.2.1 Nutzungshäufigkeit diverser Unterstützungsangebote

Wie häufig die verschiedenen Unterstützungsangebote inmitten und gegen Ende des Berufsorientierungsprozesses von den Jugendlichen genutzt werden, ist in Abbildung 3 graphisch dargestellt. Die Unterstützungsangebote sind in diesem Zusammenhang absteigend nach ihrer kumulativen Nutzungshäufigkeit zum Zeitpunkt t1 (vgl. Abschnitt 4.3) sortiert.

Abbildung 3: Nutzungshäufigkeit von Unterstützungsangeboten zu zwei Erhebungszeitpunkten.

Anmerkung: Signifikanzniveaus des Wilcoxon-Tests * p < .05, ** p < .01, *** p < .001;
t1 = Ende des 8. Schuljahres (Sommer 2011); t2 = gegen Ende des 9. Schuljahres (Frühjahr 2012)

Abbildung 3: Nutzungshäufigkeit von Unterstützungsangeboten zu zwei Erhebungszeitpunkten.

Die Schüler/innen geben rund ein Jahr vor Abschluss der obligatorischen Schulzeit (Erhebungszeitpunkt t1) fast ausnahmslos an, bei der Berufs-/Ausbildungswahl Unterstützung seitens der Eltern zu bezogen zu haben. Lediglich 1 % der befragten Jugendlichen bekundet, „nie“ von den Eltern unterstützt worden zu sein, während 67 % der Jugendlichen die Unterstützung der Eltern gar „4-mal oder mehr“ genutzt haben. Auf den Rangplätzen 2 und 3 folgen die Lehrpersonen und Internetangebote. Auch bezüglich dieser beiden Unterstützungsangebote ist der Anteil der Jugendlichen, die „nie“ von diesen Angeboten Gebrauch machten, mit 9 % und 8 % niedrig. Die Antwortoption „4-mal oder mehr“ wurde bei beiden Unterstützungsangeboten am häufigsten gewählt (je 37 %). In der Rangreihe folgen auf den weiteren Plätzen BIZ, Messen, Freunde/innen sowie Verwandte und Bekannte. Der Anteil der Jugendlichen, welche die genannten Unterstützungsangebote „nie“ nutzten, liegt jeweils bei rund einem Drittel (28 % bis 33 %). Am häufigsten wird bezüglich der Nutzungshäufigkeit dieser Angebote die Alternative „einmal“ gewählt.

Die „Spitzenposition“ der Eltern im Hinblick auf die Nutzungshäufigkeit bleibt auch zum zweiten Erhebungszeitpunkt, sprich gegen Ende des 9. Schuljahres, bestehen. Die Jugendlichen bekunden zu 79 % „4-mal oder mehr“ Elternunterstützung bezogen zu haben. Wiederum lediglich 1 % der Jugendlichen hat „nie“ die Unterstützung der Eltern bei der Berufs-/Ausbildungswahl beansprucht. Erneut folgen die Lehrpersonen auf Platz 2 der Rangreihe. Bezüglich dieses Unterstützungsangebots wurde die Antwort „nie“ am wenigsten (11 %) und die Antwort „2–3-mal“ am häufigsten (40 %) angekreuzt. Platz 3 belegen die Internetangebote. 42 % der Jugendlichen berichten, Angebote zur Berufsorientierung aus dem Internet „4-mal oder mehr“ genutzt zu haben, wohingegen 17 % der Jugendlichen „nie“ auf entsprechende Internetangebote zugriffen. In der weiteren Rangreihe folgen die Freunde/innen auf dem 4. Platz. Die Antwort „2–3-mal“ wird am häufigsten als zutreffende Nutzungshäufigkeit gewählt (32 %). Platz 5 und 6 nehmen Messen und BIZ ein, bei denen jeweils die Antwortkategorie „einmal“ überwiegt (41 % bzw. 35 %).

Hinsichtlich aller weiteren Unterstützungsangebote dominiert zu beiden Erhebungszeitpunkten die Antwortoption „nie“ (Verwandte und Bekannte [nur zu Zeitpunkt t2], Berufsberater/innen, Geschwister, Betriebsmitarbeitende, Informationsveranstaltungen in der Schule, Schulsozialarbeiter/innen, Schulleitende, Berufswahlcoachs, Vertreter/innen einer weiterführenden Schule und Casemanager/innen).

5.2.2 Veränderung der Nutzungshäufigkeit diverser Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses

Beim Vergleich der Nutzungshäufigkeiten zu beiden Erhebungszeitpunkten werden fünf signifikante Entwicklungen offensichtlich. Die Häufigkeit der Nutzung der Unterstützung durch Eltern (Z = -3.687; p < .001), Freunde/innen (Z = -2.307; p < .05) und Geschwister (Z = -2.537; p < .05) nimmt dabei in signifikantem Ausmaß zu. Alle drei Unterstützungsangebote sind dem persönlichen Umfeld zuzurechnen, so dass von einer Intensivierung der Nutzung der Unterstützung aus dem persönlichen Umfeld der Jugendlichen gesprochen werden kann. Des Weiteren nimmt auch die Nutzungshäufigkeit der Unterstützung durch Schulleitende (Z = -3.051; p < .01) signifikant zu, wohingegen eine signifikante Abnahme der Nutzungshäufigkeit von Informationsveranstaltungen der Schule (Z= -2.658; p < .01) zu verzeichnen ist.

5.3 Eingeschätzte Nützlichkeit diverser Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses

In die Auswertung dieser Frage wurden nur jene Schüler/innen einbezogen, welche bei der Frage zur Nutzungshäufigkeit angegeben hatten, das entsprechende Unterstützungsangebot mindestens einmal in Anspruch genommen zu haben. Infolge dessen ist der Stichprobenumfang bei einzelnen Unterstützungsangeboten deutlich geringer als die Anzahl der befragten Jugendlichen (Schulleiter/in [n = 17], Berufswahlcoach [n = 13], Vertreter/in einer weiterführenden Schule [n = 12], Schulsozialarbeiter/in [n = 16] und Casemanager/in [n = 1]). Das ist der Hauptgrund dafür, dass für die betreffenden Unterstützungsangebote die Stichprobengröße so gering ist (n < 30), dass der Vergleich der Mittelwerte nicht aussagekräftig ist. Deshalb werden die Resultate für diese Unterstützungsangebote aus dem nachfolgenden Ergebnisbericht in den Abschnitten 5.3.1 und 5.3.2 ausgeklammert.

5.3.1 Eingeschätzte Nützlichkeit diverser Unterstützungsangebote

Die von den Jugendlichen eingeschätzte Nützlichkeit der Unterstützungsangebote zu beiden Erhebungszeitpunkten wird in Abbildung 4 veranschaulicht. Die Unterstützungsangebote sind dabei absteigend nach Größe des Mittelwerts zum Zeitpunkt t1 angeordnet.

Abbildung 4: Eingeschätzte Nützlichkeit von Unterstützungsangeboten zu zwei Erhebungszeitpunkten.

Anmerkungen: Signifikanzniveaus des t-Tests * p < .05, ** p < .01, *** p < .001;
t1 = Ende des 8. Schuljahres (Sommer 2011); t2 = gegen Ende des 9. Schuljahres (Frühjahr 2012);

Schulleiter/in, Berufswahlcoach, Vertreter/in einer weiterführenden Schule, Schulsozialarbeiter/in und Casemanager/in werden aufgrund geringer Fallzahlen nicht dargestellt.

Abbildung 4: Eingeschätzte Nützlichkeit von Unterstützungsangeboten zu zwei Erhebungszeitpunkten.

Hinsichtlich der Bewertung der Nützlichkeit der zu Rate gezogenen Unterstützungsangebote rangieren am Ende des 8. Schuljahres die Eltern auf Platz 1. Überdies belegen die Lehrpersonen und das Internet die weiteren „Spitzenplätze. Die Jugendlichen deklarieren die Unterstützung durch Eltern, Lehrpersonen und das Internet während des Berufsorientierungsprozesses dabei im Durchschnitt als ziemlich hilfreich (3.04 ≤ M ≤ 3.39). Auch alle weiteren Unterstützungsangebote erweisen sich gemäß den schülerseitigen Einschätzungen im Mittel als ziemlich hilfreich (2.56 ≤ M ≤ 2.98). In absteigender Reihenfolge gilt das für Betriebsmitarbeitende, Berufsberater/innen, Geschwister, BIZ, Freunde/innen, Verwandte und Bekannte, Informationsveranstaltungen in der Schule und Messen.

Auch gegen Ende des 9. Schuljahres beschreiben die Jugendlichen die Unterstützung durch die Eltern als ziemlich bis sehr hilfreich (M = 3.49). Sie belegen weiterhin Platz 1 in der Rangliste der eingeschätzten Nützlichkeit. Darüber hinaus sind jedoch Veränderungen in der Rangfolge zu registrieren. So nimmt die Nützlichkeit von Internetangeboten und Geschwistern im Durchschnitt zu, was dazu führt, dass sie die nachfolgenden Plätze 2 und 3 belegen. Ihr Nutzen wird als ziemlich hilfreich bewertet (M = 3.22 bzw. M = 3.00). Gemäß den Mittelwerten klassieren die Jugendlichen darüber hinaus die Unterstützungsangebote in folgende weiterführende Rangordnung: Betriebsmitarbeitende, Lehrpersonen, Freunde/innen, Verwandte und Bekannte, Berufsberater/innen, Messen, Informationsveranstaltungen der Schule und BIZ. Wiederum gilt, dass sämtliche Unterstützungsangebote als ziemlich hilfreich beschrieben werden (2.51 ≤ M ≤ 2.97).

Die skizzierten Ergebnisse implizieren, dass ausnahmslos alle genutzten Unterstützungsangebote von den Jugendlichen in einem gewissen Maß als nützlich empfunden werden.

5.3.2 Veränderung der eingeschätzten Nützlichkeit diverser Unterstützungsangebote während des Berufsorientierungsprozesses

Die durchschnittliche Einschätzung der Nützlichkeit der verschiedenen Unterstützungsangebote durch die Jugendlichen verändert sich während des Berufsorientierungsprozesses deutlich. Zahlreiche signifikante Mittelwertunterschiede sind Indiz dafür. Die eingeschätzte Nützlichkeit nimmt für die Eltern (t = -2.190; p < .05), Freunde/innen (t = -2.843; p < .01), Verwandte und Bekannte (t = -2.065; p < .05) sowie für Internetangebote (t = -2.447; p < .05) signifikant zu. Im Gegensatz dazu sinkt die Nützlichkeitseinschätzung für Lehrpersonen (t = 2.630; p < .01) und BIZ (t = 3.325, p < .01) während des Berufsorientierungsprozesses in signifikantem Ausmaß. Ferner verändert sich auch die relative Bedeutung dieser beiden Unterstützungsangebote, da die Lehrpersonen vom ersten zum zweiten Erhebungszeitpunkt in der Rangreihe von Platz 2 auf Platz 5 und die BIZ von Platz 7 auf Platz 11 fallen.

5.4 Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Zusage für eine Lehrstelle hinsichtlich der Einschätzungen zur Relevanz, Nutzungshäufigkeit und Nützlichkeit diverser Unterstützungsangebote

In Bezug auf die Relevanz, die Nutzungshäufigkeit und die eingeschätzte Nützlichkeit der Unterstützungsangebote ist von Interesse, ob und inwiefern sich die Einschätzungen zwischen Jugendlichen mit und ohne Zusage für eine Lehrstelle gegen Ende des 9. Schuljahres unterscheiden. Das Herausarbeiten dieser Unterschiede ist bedeutsam, weil hierdurch möglicherweise Zusammenhänge zwischen der Nutzung und Einschätzung von Unterstützungsangeboten und dem Erfolg bei der Lehrstellensuche entdeckt werden können. Erfolg bei der Lehrstellensuche bedeutet im Rahmen dieses Beitrags, dass die Jugendlichen, welche den Wunsch äußern, eine Berufsausbildung zu absolvieren, zum Zeitpunkt der zweiten Datenerhebung über eine verbindliche Zusage (Abschluss eines Lehrvertrags) verfügen. Dieser Konvention entsprechend gelten 222 Jugendliche als erfolgreich und 24 Jugendliche als nicht erfolgreich. Während 13 Jugendliche aufgrund fehlender Angaben nicht kategorisiert werden können, werden die Angaben weiterer 84 Schüler/innen nicht in die entsprechenden Datenauswertungen einbezogen, da sie nicht den Wunsch nach einer Lehrstelle äußern und stattdessen andere Ziele verfolgen (z. B. den Besuch einer weiterführenden Schule).

5.4.1 Unterschiede bezüglich der eingeschätzten Relevanz von Unterstützungsangeboten

Der Vergleich zeigt, dass sich Schüler/innen, welche gegen Ende des 9. Schuljahres über eine verbindliche Zusage für eine Lehrstelle verfügen, zum Ende des 8. Schuljahres – d. h. zum Erhebungszeitpunkt t1 – signifikant (t = -2.578; p < .05) stärker an den Eltern orientierten (M = 3.56; SD = 0.61) als Jugendliche ohne Zusage für eine Lehrstelle (M = 3.22; SD = 0.60). Ferner besteht ein signifikanter Unterschied (t = 2.510; p < .05) hinsichtlich der eingeschätzten Relevanz der Berufsberater/innen. Jugendliche ohne Lehrvertrag zum Ende des 9. Schuljahres (M = 3.15; SD = 0.88) bewerteten die Relevanz der Berufsberater/innen im 9. Schuljahr höher als Jugendliche mit Lehrvertrag (M = 2.55; SD = 1.04).

Anders formuliert bedeuten diese Ergebnisse, dass Jugendliche ohne „Lehrstellenerfolg“ bezüglich ihrer Berufs-/Ausbildungswahl im 8. Schuljahr weniger auf die Eltern und im 9. Schuljahr mehr auf Berufsberater/innen hören als Jugendliche mit „Lehrstellenerfolg“.

5.4.2 Unterschiede bezüglich der Nutzungshäufigkeit von Unterstützungsangeboten

Schüler/innen mit Zusage für eine Lehrstelle gegen Ende des 9. Schuljahres nutzen die Elternunterstützung signifikant häufiger als Jugendliche, welche zum Zeitpunkt der zweiten Erhebung keine Zusage für eine Lehrstelle besitzen. Das gilt sowohl für den ersten (Z = -3.869; p < .001) als auch für den zweiten Erhebungszeitpunkt t2 (Z = -2.007; p < .05). Darüber hinaus ergibt der Vergleich, dass im Hinblick auf den zweiten Erhebungszeitpunkt Jugendliche ohne „Lehrstellenerfolg“ Berufsberater/innen (Z = -2.299; p < .05) und Vertreter/innen weiterführender Schulen (Z = -2.827; p < .01) signifikant häufiger nutzen als Schüler/innen mit „Lehrstellenerfolg“.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Jugendliche ohne „Lehrstellenerfolg“ die Elternunterstützung im 8. und im 9. Schuljahr weniger häufig, die Unterstützung durch Berufsberater/innen und Vertreter/innen weiterführender Schulen im 9. Schuljahr aber häufiger nutzen als Jugendliche mit „Lehrstellenerfolg“.

5.4.3 Unterschiede bezüglich der eingeschätzten Nützlichkeit von Unterstützungsangeboten

Hinsichtlich der eingeschätzten Nützlichkeit der verschiedenen Unterstützungsangebote ist ein signifikanter Unterschied zu verzeichnen. Diesem zufolge schätzen Jugendliche, die gegen Ende des 9. Schuljahres eine verbindliche Zusage für eine Lehrstelle besitzen, die Unterstützung durch die Eltern zum Zeitpunkt t1 signifikant (t = -3.175; p < .01) nützlicher ein (M = 3.47; SD = 0.64) als Schüler/innen, welche am Ende des 9. Schuljahres keinen Lehrvertrag besitzen (M = 3.00; SD = 0.91).

6 Diskussion der Ergebnisse und abschließendes Fazit

Der vorliegende Beitrag untersucht aus der Perspektive der Jugendlichen, welche Unterstützungsangebote für sie während der Berufsorientierung relevant sind, von ihnen in Anspruch genommen werden, und als wie nützlich sie diese Angebote bewerten. Die Daten wurden im Rahmen einer längsschnittlichen Untersuchungsanlage nicht retrospektiv, sondern direkt während des Berufsorientierungsprozesses im 8. und 9. Schuljahr erhoben. Es liegen folglich auch Daten zu den Unterstützungsangeboten vor, die zu einem Zeitpunkt erfasst wurden, zu dem bei den meisten Jugendlichen die Entscheidung über den Anschluss an die obligatorische Schulzeit noch nicht gefallen war.

Die Analysen zeigen, dass aus Sicht der Jugendlichen die Eltern im Prozess der Berufsorientierung eine überaus wichtige Rolle spielen. Mehr als 95 % der Jugendlichen geben an, bei der Berufsorientierung mehrmals von den Eltern unterstützt worden zu sein. Außerdem schätzen die Jugendlichen deren Unterstützung nicht nur als hilfreich ein, sondern hören auch auf ihre Eltern in Bezug auf ihre Berufs- oder Ausbildungswahl. Die Lehrpersonen sind aus Sicht der Jugendlichen die zweitwichtigste Ressource bei der Berufsorientierung. Sie liegen deutlich vor anderen schulischen Unterstützungsangeboten. Das ist insofern nachvollziehbar, weil in der Schweiz der Berufsorientierungsunterricht in der Regel von der Klassenlehrperson durchgeführt wird. Das Internet spielt als Informationsmedium ebenfalls eine wichtige Rolle. Etwa zwei Drittel aller Jugendlichen geben an, das Internet im Zusammenhang mit der Berufsorientierung mehrmals genutzt zu haben.

Die Unterstützung durch Lehrpersonen und Internetangebote wurde von den Jugendlichen als hilfreich eingeschätzt. Als noch hilfreicher wurde aber die elterliche Unterstützung bewertet, sowohl während als auch gegen Ende der beruflichen Orientierung. Insgesamt ergeben sich zwischen den beiden Messzeitpunkten kaum nennenswerte Verschiebungen in der Nutzungshäufigkeit der Unterstützungsangebote. Dies weist darauf hin, dass der Berufsorientierungsprozess in der zweiten Hälfte des 8. Schuljahres bereits deutlich fortgeschritten ist. Bezüglich der Nützlichkeitseinschätzung fällt auf, dass Personen aus dem persönlichen Umfeld (z.B. Eltern oder Freunde/innen) eher an Bedeutung gewinnen, während andere Angebote (z. B. Lehrpersonen, BIZ) im 9. Schuljahr als weniger nützlich eingestuft werden. Vermutlich wird das dadurch bedingt, dass es in dieser Phase der Berufsorientierung weniger darum geht, sich grundsätzlich mit der Berufswahl vertraut zu machen. Vielmehr geht es konkret darum, sich auf Lehrstellen zu bewerben. Die Jugendlichen scheinen daher im 9. Schuljahr im besonderen Maße die emotionale Unterstützung durch Bezugspersonen zu benötigen.

Der Vergleich der beiden Zeitpunkt zeigt, dass sich die skizzierten Gegebenheiten im Verlauf der Zeit verstärken, sprich die Jugendlichen sowohl die Relevanz (geringfügig) als auch in signifikantem Ausmaß die Nutzungshäufigkeit und Nützlichkeit der Elternunterstützung im 9. Schuljahr höher einschätzen als im 8. Schuljahr. Das steht im Widerspruch zu den Resultaten, die Herzog et al. (2006) berichten (vgl. Abschnitt 2.2).

Für die Berufsorientierung als ähnlich hilfreich wie die Lehrpersonen werden Betriebsmitarbeitende, Geschwister und (insbesondere im 8. Schuljahr) die Berufsberatung wahrgenommen. Diese Unterstützungsangebote werden aber deutlich seltener in Anspruch genommen. Etwa ähnlich oft wird auf Freunde/innen, Verwandte und Bekannte oder auf das BIZ als Unterstützungsressource zurückgegriffen. Diese werden aber als etwas weniger nützlich erlebt als Betriebsmitarbeitende, Geschwister oder die Berufsberatung.

Die übrigen erfragten Unterstützungsangebote (z. B. Schulsozialarbeiter/in oder Berufswahlcoachs) spielen eine untergeordnete Rolle und werden nur als durchschnittlich hilfreich eingeschätzt. Nichtsdestotrotz können sie in Einzelfällen, wo andere Unterstützungsangebote nicht verfügbar sind oder wenn es sich um schwer zu vermittelnde Jugendliche handelt, eine wichtige unterstützende Funktion im Berufsorientierungsprozess übernehmen.

Von besonderem Interesse ist die Frage, ob sich ein Zusammenhang zwischen der Nutzung und Bewertung von Unterstützungsangeboten und dem Erfolg bei der Lehrstellensuche finden lässt. Auch hier zeigt sich die herausragende Bedeutung der Eltern: Jugendliche, denen am Ende des 9. Schuljahrs eine Zusage für eine Lehrstelle vorlag, hatten schon ein Jahr zuvor angegeben, häufiger Unterstützung von den Eltern zu erhalten und sie schätzen die Elternunterstützung auch als hilfreicher ein als jene, die bei der Lehrstellensuche erfolglos blieben. Wer keine Lehrstelle gefunden hat, suchte häufiger Unterstützung bei der Berufsberatung oder bei Vertretern weiterführender Schulen. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass bei fehlender familiärer Unterstützung oder bei absehbaren Schwierigkeiten im Berufsorientierungsprozess – beispielsweise bei schwierig zu vermittelnden Schülerinnen und Schülern – institutionelle Unterstützungsangebote an Bedeutung gewinnen. Insofern ist es wenig erstaunlich, dass die Nützlichkeit institutioneller Angebote als geringer wahrgenommen wird als die Nützlichkeit der familiären Unterstützung. Da institutionelle Unterstützungsangebote häufiger bei Problemen beigezogen werden, werden sie bei fehlendem Erfolg bei der Suche nach einer passenden Anschlusslösung auch nicht als besonders wirksam wahrgenommen.

Die hohe Bedeutung der Eltern im Berufsorientierungsprozess mag vordergründig erstaunen, da sich Jugendliche in der Entwicklungsphase der Adoleszenz gerne von den Eltern abgrenzen wollen (z. B. Fend 2003). Offensichtlich unterscheiden aber die Jugendlichen sehr wohl zwischen verschiedenen Lebensbereichen und wählen gezielt aus, wessen Meinung ihnen jeweils wichtig ist. Für die zentrale Entwicklungsaufgabe der Berufswahl übernehmen die Eltern jedenfalls eine entscheidende Funktion – und die Jugendlichen hören auch auf sie.

Die hohe Bedeutung der Eltern bei der Berufsorientierung kann aber aus verschiedenen Gründen problematisch sein. So hängt das Unterstützungspotential der Eltern von ihren eigenen Ressourcen ab (z. B. Kenntnisse des Bildungssystems). Eltern sind nicht immer verfügbar oder können bei Schwierigkeiten im Berufsorientierungsprozess an ihre Grenzen stoßen. Aber auch ganz generell kann eine zu starke Einflussnahme problematisch sein, weil Eltern in der Regel nicht den Überblick über das ganze berufliche Spektrum und die heutigen Anforderungen und Ausbildungsmöglichkeiten aufweisen. Zudem dürften auch die eigenen beruflichen Erfahrungen den Unterstützungsprozess stark prägen. Dadurch kann der Blick auf mögliche berufliche Tätigkeiten verengt sein, was auch ein Grund dafür sein dürfte, weshalb Kinder häufiger denselben Beruf ergreifen oder zumindest in ähnlichen Berufsfeldern tätig sind, wie ihre Eltern (vgl. Neuenschwander et al. 2012; Luttenberger et al. 2014). Noch problematischer ist es, wenn dadurch Aufstiegsmöglichkeiten ungenutzt bleiben und dadurch soziale Ungleichheiten tradiert werden (vgl. Neuenschwander et al. 2012, 129).

Die berichteten Ergebnisse bestätigen die in verschiedenen Studien (z. B. Beinke 2006; Herzog et al. 2006; Müller 2009; Neuenschwander et al. 2010) gefundene große Bedeutung der Eltern. Dies ist nicht nur inhaltlich, sondern auch aus methodischer Sicht bedeutungsvoll, weil die Nutzungshäufigkeit und die selbsteingeschätzte Nützlichkeit der Unterstützungsangebote, anders als in ähnlichen Studien, auf einer längsschnittlichen Studienanlage beruhen und nicht retrospektiv am Ende des Berufsorientierungsprozesses erfasst wurden. So erfolgten die Angaben zu den Unterstützungsangeboten erstmals im 8. Schuljahr, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Jugendlichen noch nicht wussten, ob die Lehrstellensuche erfolgreich sein wird. Bei retrospektiven Befragungen besteht hingegen die Gefahr, dass Erinnerungslücken oder Wahrnehmungsverzerrungen die Ergebnisse verfälschen können. Insbesondere dürften die genutzten Unterstützungsangebote unterschiedlich bewertet werden, je nachdem ob die Lehrstellensuche erfolgreich war oder scheiterte.

Obschon die Daten in einer längsschnittlichen Untersuchungsanlage erhoben wurden, und die Ergebnisse wesentliche Befunde anderer Studien bestätigen – insofern also als valide einzustufen sind – gibt es aus methodischer Sicht einige kritische Anmerkungen, die für die Interpretation der Ergebnisse von Belang sind.

(1) So beruhen die Ergebnisse nicht auf der Grundlage einer repräsentativen Stichprobe, sondern es wurden in einem zweistufigen Verfahren zunächst Schulen und dann Klassen ausgewählt. Innerhalb der gewählten Klassen wurden aber alle Schüler/innen befragt. Dies hat den Vorteil, dass in der Stichprobe die ganze Bandbreite der künftigen Berufsfelder abgebildet ist. Es sind aber keine differenzierten Aussagen zu einzelnen Berufsfeldern möglich.

(2) Bei beiden Messzeitpunkten wurde die Frage zur Nutzungshäufigkeit identisch formuliert, nämlich „Wie oft wurdest du bei der Berufs-/Ausbildungswahl schon unterstützt durch ...?“. Aufgrund dieser Formulierung dürften zum zweiten Messzeitpunkt im 9. Schuljahr keine niedrigeren Werte vorkommen als im 8. Schuljahr. Um die Nutzungshäufigkeit von Unterstützungsangeboten während des 9. Schuljahrs zu erfassen, wäre besser danach gefragt worden, wie oft die Jugendlichen im letzten Jahr unterstützt wurden. Die Ergebnisse zur längsschnittlichen Betrachtung aus Abschnitt 5.2 sind daher mit der gebotenen Vorsicht zu interpretieren.

(3) Aus den Daten lässt sich nicht feststellen, ob bestimmte Unterstützungsangebote für die Jugendlichen gar nicht verfügbar gewesen waren und deshalb nicht genutzt werden konnten, oder ob ein Angebot nicht genutzt wurde, obwohl es prinzipiell vorhanden gewesen wäre.

(4) Während in Bezug auf die Fragen nach der Nutzungshäufigkeit und der Nützlichkeit sowohl Personen(gruppen) als auch nicht personenbezogene Unterstützungs- und Informationsquellen einbezogen wurden, fokussierte die Frage zur Orientierung an Unterstützungsangeboten ausschließlich auf Personen. In weiterführenden Studien wäre auch hinsichtlich der Orientierung an Unterstützungsangeboten die Relevanz nicht personenbezogener Unterstützungs- und Informationsquellen zu beleuchten.

In der vorliegenden Studie wurden wesentliche Befunde aus der Forschung zur Berufsorientierung bestätigt und vertieft. Insbesondere die Bedeutung der Eltern für eine gelingende Berufsorientierung konnte anhand der Längsschnittdaten erhärtet werden. Daraus ergeben sich wichtige Anschlussfragen, die noch nicht oder erst unzureichend geklärt sind:

Das Gelingen der Berufsorientierung wird im empirischen Teil dieses Beitrags mit dem Erfolg bei der Lehrstellensuche (verbindliche Zusage für eine Lehrstelle gegen Ende des 9. Schuljahres) assoziiert. In Abschnitt 2.1 wurde zudem die adäquate Berufswahl, bei der eine möglichst große Passung zwischen persönlichen Voraussetzungen und Berufserfordernissen angestrebt ist, angesprochen und als Ziel der Berufsorientierung ausgegeben. Inwiefern diese Passung bei den Jugendlichen mit Lehrstellenerfolg gegeben ist, d. h. inwiefern die gefundene Lehrstelle auch der Berufswahl oder gar dem Traumberuf der Jugendlichen entspricht, bleibt offen und wäre in weiterführenden Studien zu beleuchten.

Berufsorientierung kann im weiten Sinne als langfristiger und gar lebenslanger Prozess verstanden werden. Dementsprechend sind Unterstützungsangebote nicht nur beim Übergang von der obligatorischen Schule in die Berufsausbildung wichtig, sondern auch während und nach der beruflichen Ausbildung. Um mehr dazu zu erfahren, müsste beispielsweise die bisherige Datenbasis um weitere Messzeitpunkte während der Ausbildung und eventuell sogar nach dem Übertritt in den Beruf ergänzt werden. Gekoppelt mit der Erfassung des Ausbildungserfolgs oder der Entwicklung berufsrelevanter Kompetenzen ließen sich auch Hinweise zur längerfristigen Wirkung der Unterstützungsangebote gewinnen. Umgekehrt wäre es für eine wirksame Begleitung von Jugendlichen wichtig zu wissen, welche Unterstützungsangebote bereits vor dem 8. Schuljahr zu einer gelingenden Berufsorientierung beitragen. In den vorliegenden Analysen noch nicht ausgewertet wurden spezifische Informationen der Jugendlichen zu Schnupperlehren und Praktika.

Von Interesse wäre schließlich eine differenziertere Erfassung der Unterstützungsangebote und deren Nutzung, damit Erkenntnisse darüber gewonnen würden, welche Personen bzw. Angebote an welcher Stelle im Berufswahlprozess genutzt werden und um welche Formen der Unterstützung es sich handelt (z. B. emotionale, informationsbezogene oder prozessbezogene Unterstützung). Um exemplarisch das Zusammenspiel verschiedener Einflüsse aufzuzeigen, wären neben einer differenzierteren Erfassung der Unterstützungsangebote mittels Fragebogen auch Ergänzungen mit qualitativen Methoden im Sinne eines mixed-method-Designs hilfreich.

Auch wenn in den letzten Jahren die empirisch gesicherten Erkenntnisse zur Nutzung und zu den Wirkungen von Unterstützungsangeboten im Berufsorientierungsprozess zugenommen hat, so ist eine weitere Beschäftigung mit dieser Thematik nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht, sondern vor allem auch mit Blick auf die Optimierung des existierenden Unterstützungssystems in der Praxis von großer Bedeutung.

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Berufsorientierung als kontinuierliche Entwicklungsaufgabe – Eine empirische Studie über den Zusammenhang von Arbeitsbedingungen, Berufsbiographien und Berufsorientierung

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1 Berufsorientierung zwischen Arbeitsmarktflexibilisierung und Prekarität

Ökonomische Flexibilitätsbestrebungen, Konkurrenzdruck und Profitmaximierung forcieren Organisationsformen, die durch hohe Flexibilität, kostenbezogene Steuerung, ein marktbezogenes Leistungsprofil, Dezentralisierung, flache Hierarchien und anpassungsfähige Arbeitszeiten gekennzeichnet sind. (vgl. Baethge und Baethge-Kinsky 1998, 464f.) Die gewerbsmäßige Überlassung von Arbeitnehmern (Zeitarbeit) ist ein solches Beschäftigungsverhältnis, welches der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse Rechnung trägt. (vgl. Brinkmann et al. 2006, 8f.) Seit etwa fünf Jahrzehnten werden in Deutschland Arbeitnehmer zeitweise an andere Unternehmen überlassen, damit sie dort bspw. Auftragsspitzen oder Krankheitsausfälle abdecken.

In der Soziologie ist dahingehend von der „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ (vgl. u. a. Bosch 2001a/Hoffmann und Walwei 2000a/Hoffmann und Walwei 2000b/Mückenberger 2007/Kress 1998/Zachert 1988a/Dombois 1999) die Rede. Aus dem Blickwinkel der Berufs- und Wirtschaftspädagogik bieten sich hier Anknüpfungspunkte bspw. an die Diskussionen um die „Erosion des Berufsprinzips“. Die für das Berufskonzept typischen Merkmale der Kontinuität, Dauerhaftigkeit und Vorhersehbarkeit der Berufslaufbahn, aus einer konkreten Aufgabe abgeleitete Spezialqualifikationen und ein über den Beruf transportiertes soziales und berufliches Ansehen (vgl. Schreiber 2014, 41ff./Dostal et al. 1998, 440/Lempert 2006, 116/Stratmann 1975, 314) sind überholt, wenn Mitarbeiter, wie im Rahmen der Zeitarbeit, häufig Tätigkeitsfelder bzw. Berufe und Betriebe wechseln müssen. Qualifikationsanforderungen werden zunehmend unschärfer und eine abgeschlossene Berufsausbildung ist kein Garant für eine qualifikationsadäquate Berufsausübung. (vgl. Severing 2001, 8ff.) In der Soziologie sind dies gleichsam Merkmale, die eng an den Prekaritätsbegriff gebunden sind. (vgl. Brinkmann et al. 2006, 14f./Pietrzyk 2002, 151f./Rodgers 1989, 3/Mayer-Ahuja 2003, 15)

Darin kann sogleich die Kehrseite der Medaille gesehen werden. „Die Politik der Flexibilisierung und Prekarisierung von Erwerbsarbeit ist [damit] nichts anderes, als dem Faktor Arbeit das Prinzip der Liquidität aufzuzwingen. [...] Unternehmensleitungen geben Marktrisiken mehr und mehr an ihre Belegschaften weiter“. (Brinkmann et al. 2006, 23) Die Arbeitskraft muss in der Lage sein, zeitlich und örtlich dort zu arbeiten, wo gerade Bedarf entsteht, sich erforderliches fachliches Know-How, Qualifikationen und Kompetenzen eigenständig anzueignen und über regionale und soziale Mobilitätsbereitschaft verfügen. Nicht zuletzt führen die Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort sowie die daraus resultierende Notwendigkeit, neues Fachwissen erlernen zu müssen, zu verstärkten Diskontinuitäten von Erwerbsbiografien, zu Brüchen und Zäsuren. (vgl. König 1993/Hall et al. 2004/Behringer et al. 2004)

Das sich hieraus Konsequenzen für die Berufsorientierung ergeben, ist unschwer zu erkennen. Insbesondere häufig wechselnde Einsätze in qualifikations-/berufsfremden Tätigkeitsfeldern können dazu führen, dass eine in der Jugend getroffene Berufswahl permanent in Frage gestellt werden muss. Zeitarbeiter werden gezwungen, sich immer wieder neu beruflich zu orientieren. Berufsorientierung wird unter diesen Bedingungen zu einer immer wiederkehrenden, lebenslangen Entwicklungsaufgabe.

Dieser in Abbildung 1 dargestellte Entwicklungsprozess spannt den Rahmen für das zentrale Forschungsanliegen des vorliegenden Aufsatzes. Auf Basis einer Fragebogenerhebung innerhalb der Zeitarbeit soll der Frage nachgegangen werden, ob und wenn ja wie sich Flexibilität/Prekarität und Berufsorientierung wechselseitig bedingen.

Abbildung 1: Einordnung der ForschungsfrageAbbildung 1: Einordnung der Forschungsfrage

Diese Fragestellung spiegelt einen Teilbereich der Dissertation von Schreiber (vgl. Schreiber 2014) wider, in welcher die Zusammenhänge zwischen der Prekarität von Arbeitsverhältnissen und der beruflichen Identität untersucht wurden.Berufsorientierung wurde hier im Sinne einer Berufssicherheit konzipiert und innerhalb der Zeitarbeiterbranche erhoben. Im vorliegenden Aufsatz werden auf die o. g. Fragestellung ausgerichtete Ergebnisse dieser Untersuchung dargestellt.

2 Zeitarbeit als Synonym für Prekarität

Um untersuchen zu können, welche Zusammenhänge zwischen prekären Arbeitsbedingungen und Berufsorientierung bestehen, muss zunächst das Konstrukt der Prekarität operationalisiert werden. Aus dem lateinischen abgeleitet, steht Prekarität für:

precarius = „bedenklich, peinlich, unangenehm, unsicher, heikel, schwierig“ und

precere = „um etwas bitten müssen, etwas durch Bitten erlangen“ (Duden 2001, 1177)

Diese Zitate umfassen auch die von Bourdieu herausgearbeiteten Wirkungsmechanismen von Prekarität, die mit den Begriffen „Unsicherheit“ und „Machtlosigkeit“ umschrieben werden können und auf die subjektive Einschätzung des Individuums verweisen. Wenn von „Unsicherheit“ die Rede ist, verweist Bourdieu auf die zunehmende Instabilität von Arbeitsverhältnissen (Arbeit auf Abruf, instabile Temporärarbeit) und eine damit einhergehende Arbeitsplatzunsicherheit. Diese Ungewissheit über den Fortbestand des Beschäftigungsverhältnisses gilt als eines der wesentlichen Kriterien von Prekarität (vgl. Rodgers 1989, 3). An den stets und überall drohenden Verlust des Arbeitsplatzes sind wiederum ökonomisch-materielle Sicherheitsbedingungen wie regelmäßige Einkünfte, gebunden, die es dem Individuum durch den alltäglichen Kampf um die Existenz (vgl. Bourdieu 2000, 109) unmöglich machen, sich mit längerfristigen Lebensentwürfen auseinander zu setzen und einen kohärenten und systematischen Zukunftsplan zu entwerfen. (vgl. Bultemeier et al. 2008, 246f./Bourdieu 2004, 108f.) In der „Machtlosigkeit“ spiegeln sich u. a. die Restriktionen des Arbeitsmarktes wider, welche die Konkurrenz um eine Arbeitsstelle zur zentralen und alltäglichen Form des Kampfes um das Überleben erheben. (vgl. Hauer 2005, 2/Bourdieu 1987, 65)

Prekarität wird in diesem Aufsatz anhand der Abweichung von sozialpolitisch geforderten und gesellschaftlich etablierten Standards von Lohn-/Erwerbsarbeit definiert. Als Referenzstandard fungiert das Normalarbeitsverhältnis. (vgl. Mayer-Ahuja 2003/Keller und Seifert 2007/Kraemer und Speidel 2004/Rodgers 1989). In diesem Sinne wird Prekarität als mehrdimensionales Phänomen gefasst, welches die Ausprägung der objektiven Tätigkeitsmerkmale und deren subjektive Einschätzung beinhaltet. Die subjektive Dimension ergibt sich mit Rückgriff auf die eingangs erörterte semantische Ableitung schon alleine daraus, dass mit dem Begriff „prekär“ all diejenigen Arbeitsverhältnisse angesprochen sind, die von den Betroffenen u. U. unfreiwillig eingegangen werden müssen bzw. deren Ausgestaltung als problematisch wahrgenommen wird. (vgl. Wimmer und Neuberger 1998, 280ff.)

Schreiber (2014) hat mit Hilfe einer umfangreichen Analyse des Forschungsstandes aus dem Bereich der Prekaritätsforschung theoretischen Dimensionen von Prekarität operationalisiert und in Fragebogenitems sowie geeignete Skalen überführt. Dieser Fragebogen wurde im Rahmen einer Erhebung innerhalb der Zeitarbeitsbranche eingesetzt. Auf Basis von 153 auswertbaren Datensätzen wurden die theoretischen Dimensionen einer Faktorenanalyse unterzogen, empirisch bestätigt und in die in Abbildung 2 dargestellten Faktoren überführt. (vgl. ausführlich Schreiber 2014, 316ff.)

Abbildung 2: Faktoren der PrekaritätAbbildung 2: Faktoren der Prekarität

Neben der objektiven Einkommensprekarität in Form eines u. U. nicht existenzsichernden Bruttoeinkommens spiegeln sich in der subjektiven Einschätzung eine Zufriedenheit, eine empfundene Einkommensgerechtigkeit im Vergleich zu festangestellten Kollegen und eine Sicherheit z. B. im Fall von Arbeitslosigkeit oder zukünftigen Rentenansprüchen wider. Im Rahmen der sozialen Unsicherheit werden Einschätzungen hinsichtlich einer sozial-rechtlichen Absicherung der Zeitarbeiter in Bezug auf Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Unfall erfragt. Bei der Prekarität in der Interessenvertretung ist von Belang, ob eine zeitarbeitsspezifische Interessenvertretung existiert und wie zufrieden der Zeitarbeiter mit dieser ist. Objektiv diskontinuierlich ist eine Erwerbsbiografie u. a. dann, wenn sie durch häufige Berufs-, Betriebs- und Tätigkeitswechsel sowie qualifikationsfremde Einsätze gekennzeichnet ist. Die subjektive Komponente erfasst, inwieweit diese Bedingungen individuell positiv gedeutet werden, indem sie z. B. Möglichkeiten zur beruflichen Weiterentwicklung bieten. Ebenso erfasst werden Unsicherheits- und Existenzängste, ein mehr oder weniger stark ausgeprägter Wunsch nach einer klassischen Festanstellung mit der Orientierung am Beruf sowie die berufliche Zukunftsperspektive, die sich zwischen Hoffnung auf Veränderung und Resignation bewegen kann. Bei der Dimension der Arbeitssituation erfolgen eine qualitative Einschätzung der auszuführenden Tätigkeiten sowie die Bewertung der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz.

3 Berufsorientierung als Berufssicherheit

3.1 Berufsorientierung als Bestandteil und Ausdruck einer beruflichen Identität

Berufsorientierung wird in der vorliegenden Untersuchung als Bestandteil einer beruflichen Identität konzipiert. Ausgangspunkte für die Entwicklung einer strukturell/inhaltlichen beruflichen Identität sind die Aufnahme, Verarbeitung und Integration neuer, identitätsrelevanter Informationen durch Selbstreflexion des Individuums im beruflich/sozialen Kontext. Sie konstituiert sich durch die Aufnahme von Wissen über sich selbst, z. B. über berufliche Zukunftspläne, Fähigkeiten etc. (Innenperspektive) sowie von Wissen über die Anforderungen der Umwelt, z. B. über Karrieremöglichkeiten, Qualifikationsanforderungen etc. und Wissen über soziale/gesellschaftliche Erwartungshaltungen (Außenperspektive) und deren kognitive Verarbeitung in neue Identitätsmuster als subjektiv zufriedenstellende Balance zwischen Innen- und Außenanspruch. (vgl. Frey und Haußer 1987, 16/Keupp 1999a, 9/Nunner-Winkler 1985, 466/Krappmann 1987, 78ff.)

Ein wesentliches Strukturmerkmal von beruflicher Identität ist das berufliche Selbstkonzept. (vgl. u. a. Haeberlin und Niklas 1978/Mead 1968/James 1890) Das Selbstkonzept als „die Gesamtheit (das Ganze, die Summe, der Inbegriff usw.) der kognitiven Repräsentation der Einstellungen zur eigenen Person“ (Mummendey 2006, 38) ist sowohl beschreibender als auch bewertender Natur und speist sich aus den Erfahrungen der Lebensgeschichte. (vgl. Mummendey 1990, 79/Zoglowek 1995, 24/Straub 1991, 56f.) In ihm werden die generalisierten Erfahrungen von Fähigkeiten, Kompetenzen, Interessen und Zukunftsplänen abgespeichert. (vgl. Haußer 1995/Keupp 1999a) Betrachtet man diese inhaltlichen Komponenten des Selbstkonzeptes wird deutlich, das mit den beruflichen Interessen/Fähigkeiten und potenziellen Zukunftsplänen genau das angesprochen wird, was, wie im folgenden Kapitel noch gezeigt wird, auch Bestandteil einer Berufsorientierung ist. Diese Vorstellungen vom beruflichen Selbst können jedoch mit den aktuellen, situationsspezifischen Anforderungen in Widerspruch geraten, so dass ein Konflikt entsteht, der im Sinne einer gelungenen Identität/Berufsorientierung ausbalanciert werden muss. Bezogen auf die Zeitarbeiter kann dies z. B. der Fall sein, wenn Qualifikationsanforderungen des Arbeitsplatzes nicht den eigenen Fähigkeiten entsprechen oder ein Beruf ausgeübt wird, der nicht mit den eigenen beruflichen Interessen konform geht. Eine zufriedenstellende Balance kann dann nur gesichert werden, wenn auch die Struktur der personalen Identität flexibel gestaltet ist, der Mitarbeiter dementsprechend über flexible Zukunftspläne, Fähigkeitszuschreibungen und berufliche Interessen verfügt.

Zwei weitere, generalisierte Bestandteile von Identität sind die Selbstwirksamkeit und die Kontrollüberzeugung. Im Zusammenhang mit der Kontrollüberzeugung führt Haußer eine motivationale Komponente ein. Dabei betont er, dass insbesondere den Selbstansprüchen in Bezug auf individuelle Interessen eine besondere Bedeutung beigemessen wird, da zwischen ihnen und Identität ein enges Wechselwirkungsverhältnis besteht. (vgl. Haußer 1995, 52f.) Interessen, verstanden als subjektive Überzeugungen einer erstrebenswerten Realität, treffen auf ein gegebenes Feld gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten (vgl. Haußer 1995, 34), deren Beschaffenheit wiederum Auswirkungen auf die Kontrollüberzeugungund Selbstwirksamkeit nach sich ziehen.

Berufsorientierung ist auf Basis dieser theoretischen Überlegungen Bestandteil eines beruflichen Selbstkonzeptes (Interessen/Fähigkeiten). Selbstwirksamkeit und Kontrollüberzeugungen sind maßgeblich dafür verantwortlich, wie intensiv an der Umsetzung festgelegter Zukunftspläne gearbeitet wird. (vgl. Haußer 1995, 54ff.)

3.2 Theoretische Fundierung von Berufsorientierung als Berufssicherheit

Den theoretischen Anknüpfungspunkt zur Operationalisierung der Berufsorientierung als Berufssicherheit bietet die BerufsinteressentheorievonHolland, die wichtige Schnittstellen zu Haußer´s Theorie der Identität aufweist. Holland geht wie bereits Haußer davon aus, dass berufliche Interessen eine wichtige Äußerungsform der Persönlichkeit darstellen. (vgl. Weinrauch und Srebalus 1994, 46) Dabei wird angenommen, dass sich aus der Interessiertheit eines Menschen an bestimmten Gegenständen und Umwelten im Verlauf der Entwicklung zum Erwachsenen ein stabiles Interesse entwickelt, das in Kombination mit beruflichen Präferenzen, Werten, Motiven und Fähigkeiten das Selbst (die Identität) einer Person gestaltet. Nach Holland streben Menschen von sich aus danach, in beruflichen Umwelten tätig werden zu können, die mit ihren individuellen Interessenschwerpunkten und Fähigkeiten (Person-Umwelt-Kongruenz) übereinstimmen. (vgl. Holland 1997, 2ff. /Joerin Fux 2005, 72)

Zur detaillierteren Beschreibung von Persönlichkeitstyp und Umwelt führt Holland die Begriffe Konsistenz, Differenziertheit, Identität und Kongruenz ein. Ein konsistenter Persönlichkeitstyp besitzt ein klares Selbstkonzept und Lebensziel, welche ihm eine positive Karriere erleichtert. „Personen mit konsistenten Orientierungen [haben] klarere Interessen und stabilere persönliche Ziele [...], und [...] ihre (beruflichen) Präferenzen [können] besser vorhergesagt werden“ (Bergmann und Eder 2005, 16) Die Differenziertheit beschreibt den Grad der Eindeutigkeit des Interessenprofils im Vergleich zu dem anderer Personen. Sind Person und Umwelt nicht kongruent (Umwelt und Fähigkeiten/Interessen stimmen nicht überein), ist die Person bestrebt, die unpassende Umwelt zu verlassen (Holland 1997, 5). Die Identität beschreibt in diesem Zusammenhang den Grad der Eindeutigkeit eines Persönlichkeitsprofils im Hinblick auf Konsistenz und Differenziertheit. Berufliche Identität definiert Holland als „die Klarheit und Stabilität der Vorstellungen einer Person über ihre eigenen Interessen und Fähigkeiten, Werte und Ziele. [...]“. (Joerin Fux 2005, 154) Personen mit hoher Identität wissen, wer sie sind und was sie wollen, können sich mit Blick auf berufliche Ziele treffsicher entscheiden, zeigen stabile Berufswahlentscheidungen und eine höhere Arbeitszufriedenheit. (vgl. Joerin Fux 2005, 79)

Im Gegensatz dazu betrachtet Super (vgl. Super 1957) die Berufswahl- und Karriereentwicklung eines Menschen als lebenslangen, dynamischen Prozess in wechselseitiger Beeinflussung von affektiver, intellektueller und sozialer Entwicklung. (vgl. Kahl 1981, 105) Er geht davon aus, dass sich durch die Interaktion von Person und Umwelt und den daraus resultierenden Lernprozessen das Selbstkonzept entwickelt. Dieses beeinflusst als „Bild von sich selbst“ die Bildung von Berufspräferenzen, die Wahl des Berufes und der beruflichen Laufbahn sowie die spätere Berufszufriedenheit. Zentrale Bestandteile sind die Interessen, Fähigkeiten, Werte und Ziele einer Person. (vgl. Bergmann 2004, 366) In diesem Sinne sind berufliche Interessen, wie im vorangegangenen Kapitel angenommen, Ausdruck des Selbstkonzepts. (vgl. Rolfs 2001, 18) Personen streben daher zum Zweck der Selbstverwirklichung Berufsfelder an, die ihrem Selbstkonzept entsprechen. (vgl. Mayrhofer et al. 2002, 404) Je treffsicherer diese Entscheidungen getroffen werden, d. h. je klarer sich die Person über ihre Berufsmerkmale (z. B. Interessen, Fähigkeiten etc.) und die Anforderungen der Arbeitsumgebung ist, umso eher liegt eine Berufswahlreife vor (vgl. Seifert 2000, 185), die immer dann gegeben ist, „[…] wenn dem Alter angemessene, selbstkonzeptgemäße und realistische Berufswahl- und Laufbahnentscheidungen getroffen werden.“ (Seifert 1984, 188) Neben der planvollen Vorbereitung auf Laufbahnentscheidungen durch Selbstabklärung und Nutzung von Informationsquellen bildet also die Entschiedenheit/Sicherheit über Laufbahnziele eine wesentliche Komponente der Berufswahlreife. (vgl. Seifert 1996, 446) Lang von Wins und Triebel bezeichnen dies als Berufswahlkompetenz und ergänzen selbige um ein Ensemble von Fähigkeiten die helfen, mit aktuellen und neuen Situationen und bisher unbekannten Handlungsanforderungen zurecht zu kommen, Aufgaben auch in Zukunft gut meistern zu können und sich dafür zuständig zu erklären. (vgl. Lang-von Wins und Triebel 2006) Hier werden Parallelen zu den bereits dargestellten Identitätskomponenten der Selbstwirksamkeit und der Kontrollüberzeugung deutlich.

Letztlich handelt es sich bei diesen Konstrukten allerdings um idealtypische Muster beruflicher Entwicklung, die eng an die berufliche „Normalbiografie“ geknüpft sind. Dass dies für die hier betrachtete Gruppe der Zeitarbeiter nicht zwangsläufig Gültigkeit besitzt, wurde im Rahmen der Ausführungen zur Prekarität ausführlich erläutert. Typisch für Zeitarbeiter sind personell oder situativ bedingte Diskontinuitäten. Sie äußern sich u. U. durch eine notwendige Mobilität, welche die Ausführung verschiedener Tätigkeiten bei unterschiedlichen Institutionen an wechselnden Standorten nach sich zieht. So folgen Zeitarbeiterbiografien u. U. instabilen Laufbahnmustern, die nicht zwangsläufig mit einem im Sinne des Entwicklungsbegriffs intendierten beruflichen Aufstieg verbunden sind, sondern auch berufliche Abstiege mit sich bringen können. Mit Blick auf diese Flexibilisierungsbedingungen sind häufige berufliche Umorientierungen vonnöten, so dass fraglich ist, welche Auswirkungen dies auf eine Berufsorientierung hat. (vgl. Wiswede 2007, 191)

Zusätzlich betont Super den Einfluss von Kontextvariablen wie der sozialen Umwelt sowie Arbeitsbedingungen auf die Entstehung des Selbstkonzeptes. Besonders bedeutsam ist die Verfügbarkeit adäquater Anwendungsmöglichkeiten von Interessen, Fähigkeiten und Werten. (vgl. Sterns und Subich 2002) Mit Blick auf die u. U. prekären Arbeitsbedingungen von Zeitarbeitern stellt sich dann jedoch die Frage, was mit Menschen passiert, die zwar stabile und konsistente Interessen haben, die reale berufliche und wirtschaftliche Umwelt dafür aber keine Verwendung hat? Wenn also Menschen gesucht werden, die häufig aufgrund wechselnder „Jobs“ in der Lage sind, sich immer wieder auf neue Tätigkeitsfelder einzustellen und bei Bedarf schnell Neues zu lernen.

Im Folgenden wird daher insbesondere davon ausgegangen, dass vor allem eine prekäre Arbeitssituation und eine ausgeprägte Diskontinuität Auswirkungen auf die Berufssicherheit haben.

3.3 Dimensionen und Faktoren der Berufssicherheit

Aus den theoretischen Annahmen der vorgestellten Modelle wurde die in Abbildung 3 dargestellte Dimension der Berufssicherheit konstruiert. Die Idee, an dieser Stelle eine explizite Sicherheitsdimension einzufügen, speist sich auch aus den oftmals mit Prekarität in Verbindung gebrachten Unsicherheitsgefühlen. D. h. von besonderem Interesse ist die Frage, inwieweit sich dieses Unsicherheitsgefühl dahingehend zeigt, dass von einer Unsicherheit in der beruflichen Zukunftsplanung und einer nicht existenten Möglichkeit der aktiven Einflussnahme auf die eigene Berufsbiografie ausgegangen wird.

Abbildung 3: Untersuchungsdimensionen/Faktoren der BerufssicherheitAbbildung 3: Untersuchungsdimensionen/Faktoren der Berufssicherheit

In Anlehnung an Holland und Super wurde die Skala zur Interessenklarheit konstruiert. Hier wird zum einen deutlich, wie sicher der Zeitarbeiter einschätzen kann, welche Tätigkeiten und Aufgaben er beruflich ausüben möchte, um eine Tätigkeit gemäß der eigenen Interessenlage zu ergreifen. Zusätzlich erhoben wurde eine entsprechend flexible Haltung. Der Mitarbeiter ist bspw. in der Lage, in einer Situation, in welcher der Arbeitsmarkt restriktiv wirkt und nur bestimmte Einsatzmöglichkeiten bietet, dennoch gezielt auszuwählen, welche der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten seinem Interessen- und Fähigkeitsselbstbild am nächsten kommt. Diese Fähigkeit galt zum einen als wesentliche Komponente der Berufsreife und entspricht in dieser flexiblen Form wiederum den besonderen Bedingungen der Zeitarbeit.

Berufliche Identität respektive Berufssicherheit impliziert weiterhin eine klare und bewusste Einschätzung eigener beruflicher Fähigkeiten sowohl im Hinblick auf die konkreten Anforderungen eines Tätigkeitsfeldes als auch im Hinblick auf die Fähigkeit, die eigenen Interessen sowie berufliche Ziele und Pläne gegen äußere Hemmnisse und Widerstände durchzusetzen. Da Berufswahl wie oben gezeigt wurde keine einmalige, konstante Größe, sondern von zyklischer Natur ist, müssen Berufswahlentscheidungen immer wieder neu getroffen bzw. berufliche Übergänge bewältigt werden. Seifert verweist darauf, dass sich Berufswahlreife auch darauf bezieht, sich für eigene Entscheidungen zuständig zu fühlen und die notwendigen Informationen daher aus endogenen Faktoren und nicht aus dem Einfluss von Dritten oder situativen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu beziehen. (vgl. Seifert 1988, 195) Selbstwirksamkeit und Kontrollüberzeugung konnten somit als weitere Subdimensionen der Berufssicherheit expliziert werden. Beide Konstrukte bilden mit Rückbezug auf das Identitätsmodell von Haußer die handlungsbezogene Komponente von Identität.

Im Rahmen einer faktoranalytischen Überprüfung konnte die theoretisch hergeleitete Dimension (Berufliche Interessen) bestätigt werden (Faktor Interessenklarheit). Die Aussagen zu den Dimensionen Selbstwirksamkeit und Kontrollüberzeugungluden hingegen nicht auf jeweils einen Faktor. Die inhaltliche Gemeinsamkeit der Aussagen zum 2. Faktor beschreiben, inwieweit der Zeitarbeiter glaubt, beeinflussen zu können, ob er im gewünschten Beruf oder Tätigkeitsfeld beschäftigt wird oder aber der externe Markt vorgibt, welche Beschäftigungen/Tätigkeiten auszuüben sind. Daher wurde dieser Faktor zwar im Sinne der Kontrollüberzeugung gefasst jedoch als Tätigkeitskontrolle bezeichnet.

Faktor 3 erfasst den Glauben daran, inwieweit Zielvorstellungen über die berufliche Entwicklung (Wo will ich hin? Was will ich erreichen?) verwirklicht werden können. Das entspricht eher dem Konstrukt der Selbstwirksamkeit. Hohe Selbstwirksamkeit äußert sich darin, dass sich die Person für sich Karriereentscheidungen getroffen und berufliche Ziele entwickelt hat und daran glaubt, die Fähigkeit zu besitzen, diese verwirklichen zu können. Dieser Faktor wurde im Sinne der Selbstwirksamkeit mit dem Begriff Selbstüberzeugung umschrieben.

4 Zum Wechselwirkungsverhältnis von Berufssicherheit und Prekarität

4.1 Forschungsdesign und Berechnungsgrundlage

Fasst man die bisherigen Ausführungen zusammen, kann im Rahmen der Fragebogenstudie das in Abbildung 4 dargestellte Wechselwirkungsverhältnis von Prekarität und Berufssicherheit untersucht werden.


Abbildung 4: Forschungsleitende Indikatoren für das Wechselwirkungsverhältnis von Prekarität und BerufssicherheitAbbildung 4: Forschungsleitende Indikatoren für das Wechselwirkungsverhältnis von Prekarität und Berufssicherheit

Auf Basis motivationstheoretischer Annahmen wird zusätzlich davon ausgegangen, dass sich Erwerbstätige hinsichtlich unterschiedlicher Ausprägungsvarianten der arbeitsorientierten Motivation (materiell/extrinsisch vs. immateriell/intrinsisch) unterscheiden lassen. Der Motivtyp mit den Ausprägungen „niedrig“ und „hoch“ wurde auf Basis empirischer Arbeiten aus dem Bereich der Werteforschung definiert als eine Kombination aus inversem Alter sowie dem Ausbildungsniveau (Abstufungen: keine Ausbildung, Berufsausbildung, Fachschule o. ä., Fachhochschule, Hochschule) und dem Tätigkeitsniveau (Abstufungen: ungelernter Arbeiter, Arbeiter mit einfacher Tätigkeit, Fachkraft mit Spezialkenntnissen, qualifizierte Tätigkeit, leitende/hochqualifizierte Tätigkeit). (vgl. Hauff 2008/Heidenreich 1996/Baethge 1994) Hohe Motivtypen sind daher durch ein geringes Alter sowie ein hohes Ausbildungs- und Tätigkeitsniveau gekennzeichnet. Geringe Motivtypen haben die gegenteiligen Ausprägungen. Motivationstheoretische Annahmen (vgl. Heckhausen 2006/Schneider und Schmalt 2001/Maslow 1954/Herzberg et al. 2008) weisen darauf hin, dass zwischen dem Motivtyp und dem Prekaritätspotenzial ein negativer Zusammenhang besteht. Dies konnte im Rahmen der durchgeführten Studie durchgängig bestätigt werden (vgl. Schreiber 2014). Je höher die Ausprägung der Motivtypmerkmale sind, umso geringer ist die Prekarität des Arbeitsverhältnisses.

Daraus wurden zur Untersuchung des Wechselwirkungsverhältnisses von Prekarität und Berufssicherheit Hypothesen formuliert (vgl. Schreiber 2014, S. 289ff.) und korrelativ überprüft. Neben der Berechnung des Korrelationswertes wurden t-Tests angewandt, um zu überprüfen, ob es sich um signifikante Zusammenhänge handelt. Für die eigene Untersuchung wurde für ein Signifikanzniveau von 5 % (zweiseitig) bei n=150 ein kritischer Korrelationskoeffizient von r_{c}=0.158 (gute Korrelation) errechnet. Für ein Signifikanzniveau von 1% (zweiseitig) ist ein korrelierter Zusammenhang ab r_{c}>0.258 (sehr gute Korrelation) anzunehmen. (vgl. Schreiber 2014, 297ff.)

4.2 Berufssicherheit und Prekarität

Das Ergebnis der Korrelationsanalyse in Abbildung 5 zeigt, dass zwischen der Berufssicherheit und der Prekarität ein signifikant negativer Zusammenhang besteht.

Betrachtet man die Berufssicherheit detaillierter, indem man auf ihre Subdimensionen eingeht (siehe Abbildung 6) wird deutlich, dass sich die Zusammenhänge hauptsächlich auf die Faktoren Selbstüberzeugung und Tätigkeitskontrolle beziehen. Zwischen den Prekaritätsvariablen und der Interessenklarheit bestehen kaum signifikante Zusammenhänge.

Die subjektive Diskontinuität steht in signifikant negativem Zusammenhang zur Tätigkeitskontrolle und Selbstüberzeugung. In der Interpretation bedeutet dies: Glaubt der Zeitarbeiter, auf die Art seiner Beschäftigung und die auszuübende Tätigkeit selbst Einfluss nehmen zu können (hohe Tätigkeitskontrolle), dann wird objektive Diskontinuität in der subjektiven Wahrnehmung eher als Ausdruck von Selbstverwirklichung, individueller Freiheit und Souveränität bewertet, durch welche aktive, zukunftsorientierte Karriereziele realisiert werden können. Die Angst vor Arbeitslosigkeit und Existenzängste sind gering (geringe subjektive Diskontinuität). Personen mit gegenteiliger Ausprägung (geringe Tätigkeitskontrolle) neigen hingegen zu Anspruchsreduktion, der Aufgabe von Zielen sowie zu Resignation. Sie reagieren auf die wahrgenommenen Arbeitsmarktrestriktionen mit großen Existenzängsten und Unsicherheitsgefühlen (hohe subjektive Diskontinuität).

Abbildung 5: Korrelation zwischen Prekarität und BerufssicherheitAbbildung 5: Korrelation zwischen Prekarität und Berufssicherheit

 

Abbildung 6: Korrelationsmatrix Prekaritätsfaktoren und BerufssicherheitAbbildung 6: Korrelationsmatrix Prekaritätsfaktoren und Berufssicherheit

Hat der Zeitarbeiter für sich Karriereentscheidungen getroffen, berufliche Ziele entwickelt und glaubt daran, diese verwirklichen zu können (hohe Selbstüberzeugung), dann hat er ebenfalls geringe Existenzängste und glaubt, dass Zeitarbeit eine Übergangssituation darstellt. Es besteht noch Hoffnung auf eine wie auch immer gestaltete berufliche Veränderung. Zeitarbeit ist nicht das Ende der beruflichen Karriere (geringesubjektive Diskontinuität). Eine geringe Selbstüberzeugung bewirkt das Gegenteil. In dieser Interpretationsrichtung beeinflusst die Berufssicherheit die subjektive Diskontinuität. Genauso kann jedoch diese Einstellungs- und Verarbeitungsstrategie (subjektive Diskontinuität) die Berufssicherheit (Tätigkeitskontrolle/Selbstüberzeugung) beeinflussen.

Ebenso verhält es sich mit der objektiven Diskontinuität in Form der Häufigkeit von Berufs-/Tätigkeits-/Arbeitgeberwechseln etc. Entweder hat eine hohe Diskontinuität einen negativen Einfluss auf Tätigkeitskontrolle und Selbstüberzeugung oder aber die negative Ausprägung dieser Faktoren ist dafür verantwortlich, dass der Zeitarbeiter eher von diskontinuierlichen Arbeitsbedingungen betroffen ist.

Auch die Vermutung, dass Zusammenhänge zwischen inhaltlicher Prekarität der Arbeitssituation und den Ausprägungen von Selbstüberzeugung und Tätigkeitskontrolle bestehen, bestätigt sich. Arbeitsbedingungen, die durch abwechslungsreiche Tätigkeiten gekennzeichnet sind, die ein breitgefächertes Kompetenzrepertoire erfordern, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten bieten und durch Autonomie und Entscheidungsfreiräume gekennzeichnet sind (geringe Prekarität der inhaltlichen Arbeitssituation) gehen mit einer signifikant höheren Tätigkeitskontrolle einher. Die gleichen Auswirkungen haben eine fachliche Anerkennung und Wertschätzung sowie eine gute Integration in die Arbeitsteams (geringe Prekarität der sozialen Arbeitssituation). Auch hier kann jedoch die Tätigkeitskontrolle im Umkehrschluss dazu führen, dass die Arbeitssituation positiver bewertet wird.

Als weiteres Ergebnis kann zusammenfassend festgehalten werden, dass auch negative, Unsicherheit erzeugende Arbeitserfahrungen, wie z. B. ein prekäres Einkommen oder eine hohe soziale Unsicherheit (z. B. Arbeitsplatzunsicherheit) negativ mit der Tätigkeitskontrolle korrelieren. Selbstüberzeugung und Einkommensprekarität beeinflussen sich jedoch nicht.

4.3 Motivtyp und Berufssicherheit

Zwischen dem Motivtyp und den drei Faktoren der Berufssicherheit bestehen signifikant positive Zusammenhänge (Abbildung 7).

Je höher der Motivtyp ist, umso höher ist auch die Interessenklarheit. Das heißt, je geringer das Alter und je höher Ausbildungs- und Tätigkeitsnivau, umso konkreter sind die Vorstellung darüber, wie eine gewünschte berufliche Tätigkeit ausgestaltet sein muss, um den eigenen Fähigkeiten und Interessen zu entsprechen und umso mehr ist der Mitarbeiter in der Lage, in einer Situation, in der nur bestimmte Einsatzmöglichkeiten gegeben sind, dennoch gezielt auszuwählen, welche der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten seinem Interessen- und Fähigkeitsselbstbild am nächsten kommt (hohe Interessenklarheit). Der Zeitarbeiter verfügt also über eine entsprechend flexible Berufswahlreife. (vgl. Seifert 1983, 188)

Abbildung 7: Korrelationsmatrix Motivtyp und BerufssicherheitAbbildung 7: Korrelationsmatrix Motivtyp und Berufssicherheit

Zeitarbeiter auf höheren Ausbildungs- und Tätigkeitsebenen glauben zudem eher daran, dass sie selbst dafür verantwortlich sind und entscheidend dazu beitragen können, welche Tätigkeiten sie im Rahmen der Zeitarbeit ausüben (hohe Tätigkeitskontrolle). Zeitarbeiter mit geringeren Ausbildungs- und Tätigkeitsebenen gehen hingegen eher davon aus, dass sie kaum Möglichkeiten haben, über die Art ihrer Beschäftigung entscheidend mit zu bestimmen (geringe Tätigkeitskontrolle). Das Alter ist jedoch mir r=-0.11 kleiner als der kritische r von 0.158 und damit nicht signifikant.

Ebenso verhält es sich mit der Selbstüberzeugung. Auch hier glauben insbesondere Zeitarbeiter auf einem höheren Tätigkeitsniveau (r=0.21), dass sie ihre Berufsbiografie selbst gestalten, Karriereentscheidungen selbst treffen bzw. selbst gesteckte berufliche Ziele/Pläne eigenverantwortlich verfolgen und verwirklichen zu können. Sinkt das Tätigkeitsniveau, wird die aktuelle und zukünftige berufliche Situation eher als nicht beeinflussbar und nicht veränderbar erlebt.

Höhere Motivtypen weisen also eine insgesamt höhere Berufssicherheit auf.

5 Wirtschaftspädagogische Implikationen

Zusammenfassend zeigt sich, dass Prekarität und Berufssicherheit in einem negativen Wechselwirkungsverhältnis stehen. In einer ersten Interpretationsrichtung erschwert oder behindert demnach Prekarität die Entwicklung bzw. Aufrechterhaltung einer sicheren beruflichen Orientierung. Im Umkehrschluss kann eine geringe Berufssicherheit bzw. Berufsorientierung mit höherer Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass der Mitarbeiter eher mit objektiv bzw. subjektiv prekären Arbeitsbedingungen konfrontiert wird.

Beide Ergebnisse sind unter wirtschaftspädagogischen Gesichtspunkten relevant. Fall eins bestätigt die Aussage, dass ohne stabile Kulturform des Berufes keine berufliche Identität (vgl. u. a. Dostal et al. 1998, 440/Heinz 1995, 22) und als Teilbestandteil dieser auch keine klare Berufsorientierung entstehen kann. Für Zeitarbeiter kann also der Beruf, wenn er denn prekäre Bestandteile enthält, zur „durchaus problematischen, ambivalenten - Basis sozialer Identität und Selbstidentifizierung“ (Beck et al. 1994, 232) werden.

Auf die prekären Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt kann nur wenig Einfluss genommen werden. Politisch sind Entwicklungen, welche die Prekarität und die Erosion des Berufes fördern, entsprechend abzulehnen.

Damit ist dem Individuum allerdings nur wenig geholfen. Zentraler Ansatzpunkt für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist demnach die Förderung der Berufsorientierung:

  • Derartige Maßnahmen müssen darauf abzielen, dass der Mitarbeiter eine klare Vorstellung über die eigenen beruflichen Fähigkeiten, Interessen und Zukunftspläne entwickelt. Dabei müssen aktuelle und zukünftige, durch den Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellte Möglichkeiten mit berücksichtigt werden. Neben einer klaren Vorstellung über die gewünschte berufliche Karriereentwicklung können so auch alternative und u. U. realistischere Vorstellungen über den Verlauf der eigenen Berufsbiografie in Betracht gezogen werden (Interessenklarheit).
  • Zusätzlich geht es im Sinne der Tätigkeitskontrolle darum, trotz einer eventuell wahrgenommenen Abhängigkeit von den Bedingungen des Arbeitsmarktes und einer empfundenen Handlungsohnmacht das Vertrauen dahingehend zu stärken, dass zur Verfügung stehende berufliche Einsatzfelder und Tätigkeiten nicht wahllos und unreflektiert akzeptiert und wahrgenommen werden müssen. Das Ziel muss darin bestehen, dass Vertrauen des Arbeitnehmers dahingehend zu stärken, dass auf die Verwirklichung eigener beruflicher Ziele auch dann Einfluss genommen werden kann, wenn äußere Faktoren (z. B. eine schlechte Arbeitsmarktlage) dagegen sprechen. Wenn das der Fall ist, d. h. wenn der Mitarbeiter selbst entscheiden möchte, welche Beschäftigungen/Tätigkeiten ausgeübt werden, kann er den Arbeitsmarkt gezielt nach aktuell zur Verfügung stehenden Stellen durchsuchen, die seinem Interessen-/Fähigkeitsprofil am ehesten entsprechen und lässt sich dies nicht vom Markt diktieren.
  • Ähnlich verhält es sich mit der Selbstüberzeugung. Hier geht es darum, den Mitarbeiter dabei zu unterstützen, sich anspruchsvolle und dem eigenen Kompetenzprofil entsprechende berufliche Ziele zu setzen und sich wiederum auch bei auftretenden Schwierigkeiten dafür zu engagieren, diese zu verwirklichen. Bspw. kann der Mitarbeiter dazu befähigt werden, auch bei auf den ersten Blick ungewünschten Arbeitseinsätzen (bei Brüchen in der Erwerbsbiografie) dennoch zu reflektieren, inwieweit sich hier Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Wie kann bspw. ein momentanes Abweichen im Karriereverlauf dabei helfen, ein berufliches Ziel dennoch zu erreichen? Welche positiven Erfahrungen können auch in dieser ungewünschten Situation gesammelt, welche wichtigen Fähigkeiten weiterentwickelt werden?

Geht man davon aus, dass sich durch entsprechende Schulungsmaßnahmen im Rahmen der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung im lern- bzw. entwicklungstheoretischen Sinn etwas positiv verändert, der Mitarbeiter sich seiner beruflichen Interessen und Ziele bewusster wird und sich auch mit Nachdruck für eine Veränderung seiner beruflichen Situation engagiert, könnte dies wiederum im zeitlichen Verlauf dazu führen, dass er eine subjektiv bzw. objektiv bessere Arbeitstätigkeit erhält und sich in Richtung einer geringeren Prekarität bewegt. In der umgekehrten Interpretationsrichtung kann so das Risiko minimiert werden, mit prekären Arbeitsbedingungen konfrontiert zu werden.

Obgleich die Berufs- und Wirtschaftspädagogik auf den ersten Blick an den prekaritätsfördernden Bedingungen des Arbeitsmarktes nichts ändern kann, kann das Risiko, von prekären Arbeitsverhältnissen betroffen zu sein, über den Hebel einer gestärkten Berufsorientierung in der Aus-, Fort- und Weiterbildung minimiert werden.

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Berufsorientierung, Lebenslanges Lernen und dritter Bildungsweg – Zur Entwicklung beruflicher Orientierung im Lebenslauf anhand zweier Fallstudien

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1 Einleitung

Ein Ziel der europäischen Bildungs- und Beschäftigungspolitik ist es, die beruflichen Wahlmöglichkeiten zu erweitern. Im OECD-Bericht „Bildungs- und Berufsberatung: Bessere Verzahnung mit der öffentlichen Politik“ (2004) wird darauf hingewiesen, dass die Beratungsangebote zur Berufsorientierung auf die Erfordernisse von lebenslangen Lernprozessen anzupassen sind. Darüber hinaus sollen zunehmend persönliche und studienbezogene Orientierungshilfen in die Beratung einbezogen werden. Die Angebote der beruflichen Orientierung sollen deshalb in der Zukunft so ausgestaltet werden „[…] dass sie ebenso auf die Entwicklung von Kompetenzen zur Berufswegplanung wie auf die Bereitstellung von Informationen und die direkte Entscheidungsfindung abzielen, und sie allen Bürgern in allen Lebensphasen zu öffnen [sind] – und zwar unter Bedingungen, an Orten und zu Zeitpunkten, die den diversifizierten Bedürfnissen der Nutzer dieser Dienste gerecht werden“ (OECD 2004, 3).

Mit dieser bereits vor zehn Jahren formulierten europäischen Forderung wird auch in der politischen Programmatik das Konzept der Berufsorientierung mehr und mehr zu einer Lebenslauforientierung ausgeweitet. Durch die weiter voranschreitende Dynamik und Komplexität von Bildungs- und Beschäftigungssystemen werden Berufsbiographien weiter entstandardisiert, so dass die Individuen nicht mehr ausschließlich ihre berufliche Karriere als linearen Prozess verstehen, sondern immer öfter vor der Möglichkeit aber auch Anforderung stehen, sich beruflich neu- bzw. umzuorientieren (vgl. Eckert/Heisler 2014). Dieser Aspekt bewirkt, dass die Berufsorientierung zunehmend im Kontext des Lebenslangen Lernens diskutiert wird und sich nicht mehr nur auf die Prozesse an der ersten Schwelle fokussiert.

In der Begriffsbestimmung wird Berufsorientierung im herkömmlichen Sinne noch als ein einmaliger Entscheidungsprozess gefasst, der es Schülerinnen und Schülern ermöglicht, „(…) eine rationale, d.h. zwischen subjektiven Interessen und Voraussetzungen sowie objektiven aktuellen und – soweit vorhersehbar – zukünftigen Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarktbedingungen vermittelnde Entscheidung für einen ‚Start-‚ bzw. ‚Erstberuf‘ zu treffen“ (Schudy 2002, 9). In einer erweiterten Definition wird berufliche Orientierung als ein lebenslanger Lernprozess bezeichnet, der aus einer Reihe von Bildungs-, Ausbildungs-, Weiterbildungs-, Berufs- und Arbeitsplatzentscheidungen besteht und in dem die Individuen zu einer permanenten Erweiterung und Vertiefung von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen befähigt werden sollen (vgl. Famulla et al. 2003, 5). Auch in der aktuellen Literatur zur Berufsorientierung wird zwar auf einen lebenslangen Lernprozess verwiesen (vgl. Kracke 2014; Büchter/Christe 2014), Forschungsarbeiten beziehen sich jedoch überwiegend auf den Übergang von der Schule in das Ausbildungssystem (vgl. u.a. Brüggemann/Rahn 2013; Beinke 2012; Walter 2010). Seltener wird im Rahmen von Berufsorientierung auch die Studienorientierung thematisiert (vgl. u.a. Lohmann/Stooss 2012; Schmidt-Koddenberg/Zorn 2012) bzw. die Berufsorientierung als ein biographischer Entscheidungsprozess im Sinne einer „lebensgeschichtlichen Gelenkstelle“ gefasst (Oram 2007, 241).

Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Berufsorientierung stärker in den Kontext des Lebenslangen Lernens einzubinden. Dafür soll anhand von zwei Fallbeispielen aus dem Forschungsprojekt „Lernbiographien von Studierenden des dritten Bildungsweges“ aufgezeigt werden, welche Bedeutung der primären Berufswahl im Lebenslauf zukommt und wie sich eine berufliche Orientierung im Lebenslauf entwickelt und von den Individuen umgesetzt wird. Der so genanntedritte Bildungsweg „[…] bezeichnet inzwischen – als Sammelbegriff – alle Wege, die ohne zusätzlichen Schulbesuch über eine berufliche Ausbildung und Tätigkeit zur Hochschule führen“ (Wolter 1994, 9), er schließt also Personen ein, die sich nach einer Berufsausbildung und einer Zeit der Berufstätigkeit dafür entscheiden, ein Studium aufzunehmen. Sie liefern damit ein exemplarisches Beispiel dafür, dass Berufsorientierung einen (Lern-)Prozess darstellt, der sich über mehrere Phasen der Bildungsbiographie erstreckt. Während an der ersten Schwelle noch diverse Personen und etablierte Institutionen beteiligt sind, um Jugendliche in diesem komplexen Prozess zu unterstützen, sind Berufstätige bei ihrer Karriereentwicklung meist auf sich gestellt. Weitet man den Blick auf berufliche Orientierung in einer Lebenslaufperspektive, so müssen die Berufsorientierungsangebote verstärkt das handelnde Subjekt in den Mittelpunkt einer biographisch orientierten Laufbahnentwicklung stellen, um den Herausforderungen im Zuge des Lebenslangen Lernens gerecht zu werden.

Der vorliegende Beitrag stellt zunächst das Forschungsprojekt, aus dem die empirischen Daten für diesen Beitrag entlehnt wurden, vor. Anschließend erfolgt eine Einordnung des Themenkomplexes in den Kontext von Berufswahltheorien. Anhand von zwei Fallbeispielen wird darauf hin der Zusammenhang zwischen Berufswahl, Berufsverlauf und Berufsorientierungen nachgezeichnet und abschließend diskutiert.

2 Projektdesign

Die zugrundeliegenden qualitativen Daten stammen aus dem Forschungsprojekt „Lernbiographien von Studierenden des dritten Bildungsweges“ und wurden im Kontext der bildungspolitischen Forderung nach einer weiteren Öffnung der Hochschulen für Studierende des dritten Bildungsweges erhoben. Aufgrund des nach wie vor niedrigen Anteils von Hochschulabsolventen in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Industrieländern (vgl. OECD 2013, 26), wird das bildungspolitische Ziel verfolgt, eine höhere Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung zu erreichen, bzw. Hochschulen für neue Zielgruppen weiter zu öffnen. Der Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) von 2009 erleichterte den Weg an die Hochschulen über eine berufliche Qualifizierung zuletzt entscheidend und wurde in den Folgejahren in unterschiedlicher Ausgestaltung von den Bundesländern in das jeweilige Landesrecht übernommen.Seit dem KMK-Beschluss von 2009 können Absolvent/inn/en von Aufstiegsfortbildungen (z. B. Meister, Techniker, Fachwirte etc.) einen Hochschulzugang für alle Studiengänge an Fachhochschulen und Universitäten erhalten, ohne dass dieser länger an die Frage der Affinität geknüpft ist. Ausbildungsabsolvent/inn/en können außerdem heute nach erfolgreicher Eignungsfeststellung in einem affinen Fach auch an Universitäten studieren, nachdem dies zuvor in den meisten Bundesländern nur an Fachhochschulen möglich war (Freitag 2012, 90f.).Trotz zahlreicher Versuche, beruflich Qualifizierte stärker an der Hochschulbildung zu beteiligen, verbleibt der Anteil von Studienanfänger/inne/n auf dem dritten Bildungsweg auch im Jahr 2011 mit 2,9% weiterhin auf einem niedrigen Niveau(vgl. Dahm/Kerst 2013, 35). Erkenntnisse über die Personen, die den so genannten dritten Bildungsweg tatsächlich gehen, existieren bislang kaum. So konstatiert auch Freitag in ihrer Expertise zum Forschungsstand des zweiten und dritten Bildungsweges, dass es an qualitativer Forschung im Bereich der Studierendenforschung fehle (vgl. Freitag 2012, 111).

Originäres Ziel des Forschungsprojektes ist, die bisher weitgehend unbekannte Gruppe beruflich qualifizierter Studierender näher zu charakterisieren. In der Untersuchung wird die Bedeutung der zentralen biographischen Lernerfahrungen in unterschiedlichen Lernumgebungen herausgearbeitet, die für die Studienentscheidung und die erfolgreiche Bewältigung des Übergangs vom Beruf in die Hochschule relevant sind (vgl. Heibült/Anslinger 2012). Dafür wurden 38 qualitative Interviews mit beruflich qualifizierten Studierenden aus unterschiedlichen Fachrichtungen zu Beginn ihres Erststudiums (Vollzeit- und Präsenzstudium) an deutschen Universitäten durchgeführt Das Projekt ist am Zentrum für Arbeit und Politik der Universität Bremen angesiedelt und wurde mit einer Laufzeit von Januar 2013 bis Dezember 2014 von der Hans-Böckler-Stiftung finanziert.

In der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material wurde ein enger Zusammenhang zwischen Lernerfahrungen und beruflicher Orientierung identifiziert. Biographische Aussagen zum schulischen und beruflichen Werdegang können des Weiteren sowohl in den Kontext des Lebenslangen Lernens als auch in das Themenfeld der Berufsorientierung eingeordnet werden. Anhand qualitativer Interviews beruflich qualifizierter Studierender auf dem dritten Bildungsweg kann u.E. eindrucksvoll gezeigt werden, inwieweit Berufsorientierung im Kontext des Lebenslangen Lernens eine zentrale Rolle einnimmt.

3 Theoretische Rahmung

In der Berufsbildungsforschung bestehen unterschiedliche Begrifflichkeiten und Verständnisse zum Themenkomplex Berufsorientierung, die in unterschiedliche Modelle von Berufswahltheorien sowie in verschiedene Disziplinen eingeordnet werden können. Dabei wird Berufsorientierung erstens als ein Allokationsprozess gesehen, in dem sich das Individuum an seine Umwelt anpasst. Berufswahltheorien, die das Individuum verstärkt in den Blick nehmen, bezeichnen Berufsorientierung zweitens als Matching- oder Entscheidungsprozesse. Fokussiert eine Theorie hingegen auf die Interaktion zwischen Umwelt und Individuum kann Berufsorientierung drittens als ein Entwicklungs- oder Lernprozess interpretiert werden (vgl. Porath 2013, 37).

Berufswahltheorien, die lediglich einzelne Bedingungsfaktoren von beruflicher Orientierung fokussieren, tragen nicht hinreichend der Komplexität moderner Berufslaufbahnen Rechnung. Wir verstehen angelehnt an Hirschi (2013) berufliche Orientierung als einen lebenslangen Lernprozess, der verschiedene berufliche Entscheidungen beinhaltet. Die Laufbahnentwicklungstheorie nach Donald Super (vgl. Super 1990) sowie die darauf aufbauenden sozial-kognitiven Theorien, eignen sich u.E. insbesondere dafür, Berufsorientierung in den lebenslangen Lernkontext zu stellen. Wir gehen davon aus, dass die berufliche Orientierung einen den Lebenslauf begleitenden Prozess darstellt, der von den Individuen Orientierungs- und Entscheidungsleistungen abverlangt, die in die persönliche Lebensgeschichte integriert werden müssen. Dabei kommt der Berufsentscheidung an der ersten Schwelle (primäre Berufswahl) eine entscheidende Rolle zu, da an dieser Stelle die Weichen für die spätere Laufbahnentwicklung gestellt werden. Allerdings ist auch festzustellen, dass Entscheidungen zu späteren Zeitpunkten nicht nur revidierbar sind, sondern an unterschiedlichen Stationen in einer Berufslaufbahn zahlreiche Optionen bestehen, zukünftig alternative berufliche Wege einzuschlagen (vgl. Oram 2007).

Um Berufsorientierung in den Kontext des Lebenslangen Lernens einzubetten ist die sozial-kognitive Theorie nach Lent, Brown und Hackett das zurzeit einflussreichste Konzept (vgl. Hirschi 2013). Es basiert auf dem psychologischen Konstrukt der Selbstwirksamkeit: „Selbstwirksamkeit beschreibt die Einschätzungen von Personen über ihre Fähigkeiten, bestimmte Handlungen zur Erreichung von bestimmten Leistungen ausführen zu können“ (ebd., 29). Interessen von Individuen entwickeln sich aufgrund bestimmter Selbstwirksamkeitserwartungen, die sich dann auf eine bestimmte Berufswahl auswirken können. Darüber hinaus führen sämtliche Lernerfahrungen „ihrerseits zur Entwicklung von Selbstwirksamkeitserwartungen“ (ebd.). Das Konzept der Selbstwirksamkeit geht auf die Theorie des sozialen Lernens von Bandura zurück. Selbstwirksamkeit wird demnach aus vier Quellen entwickelt: „aus der eigenen Erfahrung, durch Beobachtung, durch Argumentationen anderer und durch körperliche Rückmeldungen“ (Bandura 1997 zit. n. Ratschinski 2013, 245). Die Komponenten sind hierarchisch geordnet, die wichtigste Komponente ist dabei die eigene Erfahrung. Insgesamt gehen Personen mit einer hohen Selbstwirksamkeit schwierige Aufgaben eher an und verfolgen ihre Ziele mit größerer Ausdauer.

Die sozial-kognitive Theorie kann aus einer subjektiven Perspektive Interpretationen und Bedeutungszuschreibungen von Berufswahl und Laufbahnentwicklung aufzeigen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Berufslaufbahn das Ergebnis einer aktiven Auseinandersetzung mit persönlichen Entwicklungen und Lernerfahrungen ist, die im Abgleich mit der äußeren Umwelt von den Akteuren gelenkt wird. In einer retrospektiven Sicht auf die eigene Berufsorientierung und Berufslaufbahn werden von den Individuen häufig Zufälle oder Gelegenheiten identifiziert, die entscheidend für den weiteren Verlauf ihrer Karriere waren (vgl. Hirschi 2013).

Der Zusammenhang von Selbstwirksamkeitserwartungen, Lernerfahrungen, äußeren Einflüssen sowie zufälligen Gelegenheiten in der Berufsorientierung wird in der „social learning theory of career decision making“ (SLTCDM) von Krumboltz (vgl. Mitchell/Krumboltz 1990) in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses gestellt. Sie fasst das Erleben und die kognitive Analyse von positiv und negativ verstärkten Ereignissen als ein Produkt vielfältiger Lernerfahrungen, welche sowohl durch geplante aber auch durch ungeplante Situationen hervorgerufen werden. Krumboltz identifiziert vier zentrale Faktoren, die die berufliche Entscheidung von Individuen beeinflussen:

  1. Genetische Ausstattung und besondere Begabungen sind beispielsweise ethnische und soziale Herkunft, Geschlecht oder spezielle Fähigkeiten.
  2. Umweltbedingungen und -ereignisse sind beispielsweise die Art der angebotenen Ausbildungsplätze oder soziale Regeln und Verfahren bei der Auswahl von Auszubildenden.
  3. Lernerfahrungen sind individuelle und komplexe Geschichten, die zur Wahl eines bestimmten Berufsweges führen und in denen die anderen benannten Faktoren als Vorstufen gesehen werden können.
  4. Aufgaben- und Problemlösefähigkeiten entstehen aus dem Zusammenspiel von Lernerfahrungen, genetischen Merkmalen, speziellen Begabungen und Umwelteinflüssen.

Das komplexe Zusammenspiel der vier Einflussfaktoren kann vom Individuum auf vielfältige Weise interpretiert werden. Um die Komplexität individueller Lernerfahrungen zu reduzieren, nutzt das Individuum Mechanismen zur Verallgemeinerung, durch die es seine Überzeugungen zum Ausdruck bringen kann. Diese als generalisierte Selbstbeobachtungen und generalisierte Weltanschauungen bezeichneten Fähigkeiten stellt das Individuum in einen Gesamtzusammenhang bzw. inneren Sinnzusammenhang. Krumboltz betont, dass sich die dargestellten Verhaltensweisen und Entscheidungen der Berufsplanung über das ganze Leben erstrecken. Erfolgreich dabei ist der- oder diejenige, bei dem/ der dieser Weg zu einer individuellen Zufriedenheit führt (vgl. Mitchell/Krumboltz 1990, 162ff.).

Besonders relevant erscheint in dem hier dargelegten Zusammenhang, dass die genannten Theorien gleichsam die gesamte Biographie als auch die gesamten Lernerfahrungen einer Person einbeziehen. Krumboltz bezieht zusätzlich die Rolle der Umwelteinflüsse, die auf das Individuum von außen wirken, wie beispielsweise soziale, gesellschaftliche oder politische Aspekte im Lebensumfeld, mit ein. Die Konzepte verdeutlichen darüber hinaus die Komplexität beruflicher Orientierung: Mit jedem Zugewinn an Lernerfahrungen verändern sich Präferenzen, Sichtweisen und Einstellungen (generalisierte Selbstbeobachtungen und - Weltanschauungen), die wiederum den Blick erweitern oder die momentane berufliche Situation beeinflussen. So ist die Wahrnehmung jeder Lernerfahrung auch immer das Ergebnis einer früheren Lernerfahrung. Jede Lernerfahrung wird von den Individuen aufgrund der eigenen Selbstwirksamkeitserwartung neu bewertet und ggf. verändert und wirkt damit auf die berufliche Orientierung (vgl. Mitchell/Krumboltz 1990, 170).

Die Analyse der Interviews mit beruflich Qualifizierten auf dem dritten Bildungsweg zeigt, dass alle erläuterten Lernerfahrungen und Ereignisse von den Befragten in einen inneren Sinnzusammenhang gestellt werden, sich also trotz beruflicher Veränderungen für die Befragten ein roter Faden in der beruflichen Laufbahn ergibt, der bei dieser ausgewählten Zielgruppe in einem Studium gipfelt. Im Folgenden werden anhand von zwei Fallbeispielen diese umfassenden subjektiven Lernerfahrungen nachgezeichnet und aufgezeigt, welche Rolle die Berufsorientierung im Hinblick auf die Berufslaufbahn einnimmt. Ausgehend von den vier Einflussfaktoren nach Krumboltz, werden aus dem Material zentrale Einflussfaktoren herausgearbeitet, die auf die Selbstwirksamkeit und damit auch auf die Berufsorientierung einwirken.

4 Fallbeispiele[1]

4.1 Frau Berger: „Das war immer der Plan“

Frau Berger ist zum Zeitpunkt des Interviews 31 Jahre alt, gelernte Erzieherin und studiert im zweiten Fachsemester Erziehungswissenschaften.

Frau Berger besucht nach der Grundschule auf Anraten der Lehrerin die Realschule: „[…] und von daher haben dann meine Eltern gesagt, bevor ich dann überfordert bin, versuchen wir es erst mal, Abi kann ich später dann immer noch nachholen.“ (Z. 210-112) Die weichenstellende Schulwahlentscheidung kommt Frau Berger am Übergang zur Realschule entgegen, denn dadurch bleibt sie mit ihren Klassenkameraden und Freunden zusammen, die für sie eine zentrale Rolle im Leben einnehmen. Sie ist eine eher mittelmäßige Schülerin und betont mehrfach die für sie geringe Bedeutung abstrakter schulischer Lernformen: „Ich bin halt eher so ein praktischer Mensch, ich muss es dann auch machen. Und dieses schulische Lernen hat mir da nicht viel gebracht.“(Z. 264-265) Frau Berger bezeichnet sich generell als in ihrer Freizeit sehr aktive Person, was sich auch im Interesse für den Kanusport äußert, der für sie während der Schulzeit eine entscheidende Bedeutung einnimmt und über alle anderen Aktivitäten – insbesondere über das schulische Lernen – gestellt wird.

Beruflich orientiert sie sich äußerst selbstbestimmt bereits zur Realschulzeit in die soziale Richtung: „Weiß ich nicht, für mich gab es irgendwie keine Alternative. Also ich habe überhaupt nicht über irgendwas anderes nachgedacht.“ (Z. 403-404) Sie möchte eine Ausbildung zur Erzieherin mit Schwerpunkt auf den Heim- und Jugendbereich beginnen und führt diesen Entschluss auf frühe positive (berufliche) Erfahrungen als Babysitterin sowie auf das generell gute Zurechtkommen mit Kindern und Jugendlichen zurück. Sie wechselt direkt nach dem Realschulabschluss auf ein Berufskolleg mit dem Schwerpunkt frühkindliche Bildung und absolviert das dazugehörige Pflichtpraktikum in einem Kindergarten. Die Entscheidung für diesen Ausbildungsgang, der zunächst in einem anderen Schwerpunkt verortet ist, rechtfertigt sie mit ihrem Alter: „Aber da war ich, glaube ich, selber noch zu jung, um zu sagen, ich gehe in ein Jugendzentrum, weil ich wäre ja dann nicht wirklich älter gewesen als die. […] Hätte ich komisch gefunden. Von daher war ich auch noch eher so in Richtung Kindergarten, machst du jetzt erst mal […] ich habe da schon gewusst, das wird mich nicht fördern und fordern.“ (Z. 412-421) Das favorisierte Interessengebiet, die Jugendarbeit, stellt sie als Arbeitsgebiet zunächst zurück, weil sie aufgrund ihres Alters noch nicht genügend Erfahrungen und damit Selbstbewusstsein entwickelt hat, um sich den Herausforderungen in der Jugendhilfe zu stellen. Auf dem Berufskolleg bietet sich wiederum die Möglichkeit den weiteren Weg mit einigen Mitschüler/inne/n aus der allgemeinbildenden Schule zu gehen. Im zweiten Ausbildungsjahr wechselt sie dann allerdings in einen Ausbildungsgang mit dem Schwerpunkt Jugend und Freizeit. Einschlägige Erfahrungen bei einem Auslandspraktikum bestärken sie in dieser Entscheidung und in ihrem Professionsverständnis sowie in der „richtigen“ Berufswahl.

Insgesamt bewertet sie ihre Ausbildung zur Erzieherin überaus positiv und verbindet das Lernen an der Erzieherschule mit großem Spaß. Die an der Handlungsorientierung ausgerichteten Lernsettings eröffnen ihr einen neuen Zugang zum schulischen Lernen: „Also man hat ganz oft irgendwas draußen gemacht und die Sportangebote waren so ausgerichtet, dass man da irgendwie selber Spaß dran hat und nicht irgendwie ‚Ringelpiez mit Anfassen‘ macht oder ‚Teddy Bär dreh dich um‘. Das war schon eine andere Qualität, wo man selber Spaß dran hatte. So ein bisschen erlebnispädagogisch auch angehaucht alles.“(Z. 529-533)Zentral in diesem Lernprozess ist auch, dass sie ihre privaten und beruflichen Interessen verknüpfen kann. Dadurch hat sie die Möglichkeit, ihre professionelle Identität für sich optimal weiterzuentwickeln. Dieser Lernprozess bestärkt sie darin, die für sich richtige berufliche Entscheidung getroffen zu haben und am Ende der Ausbildung bei ihrem Wunschberuf, nämlich in der Jugendhilfe, angekommen zu sein. Hier wird deutlich, dass eine aktive Auseinandersetzung mit Lernerfahrungen und der persönlichen Entwicklung im Abgleich mit den äußeren Rahmenbedingungen konstituierend für die Berufslaufbahn sind.

Das Anerkennungsjahr absolviert sie im Jugendhilfezentrum ihres Heimatorts in einer Wohngruppe für Jungen im Alter von zehn bis 16 Jahren. Zur Orientierung in dem neuen Arbeitsumfeld erhält sie eine längere Eingewöhnungszeit. Für Frau Berger ist dabei von besonderer Bedeutung, dass sie von den Jugendlichen akzeptiert wird. Ihre Kolleg/inn/en unterstützen sie und geben ihr positives Feedback. Aus heutiger Sicht bezeichnet sie das Anerkennungsjahr als bewältigbar und blickt positiv auf diese Zeit zurück. Doch sie betont auch, dass sie zu Beginn überfordert war mit dem geringen Altersunterschied zu den Jugendlichen und sie sich als Neue erstmal „durchkämpfen musste“ (Z. 698): „ich hatte schon häufiger Angst oder Respekt, weil ich nicht wusste, was passiert. Gerade wenn man noch so jung ist und die ja auch teilweise dann so groß sind wie einer selbst. War halt immer so ein bisschen: ‚uh, was passiert jetzt heute Abend, wenn ich alleine bin?‘ Es ist aber nie groß was vorgefallen.“ (Z. 618-621) Derschwierige und durch Unsicherheiten geprägte Berufsstart wird durch positive Erfahrungen in der praktischen Arbeit und durch die positiven Rückmeldungen durch die Kollegen und Vorgesetzten retrospektiv als gelungen bewertet. Die Bewältigung der anfangs als schwierig empfunden Aufgaben stärken einerseits die Selbstwirksamkeitserwartung von Frau Berger, anderseits werden im Prozess der Arbeit Kompetenzen erlernt, die im Sinne von Persönlichkeitsentwicklung auch zu einer Erweiterung der beruflichen Handlungskompetenzen beitragen.

Nach dem Anerkennungsjahr wird sie übernommen und ist fast zehn weitere Jahre im Jugendhilfezentrum tätig. Während ihrer Zeit im Haus verändert sich ihr Erzieherstatus, auch aufgrund des wachsenden Altersunterschieds zu den Jugendlichen. Darüber hinaus erlangt sie ein höheres Selbstverständnis im beruflichen Alltag. Um den beruflichen Herausforderungen gerecht zu werden, absolviert sie Fortbildungen zu u.a. nonverbaler Kommunikation und aggressionsfreier Konfliktlösung, die ihr wiederum Sicherheit in der Arbeit geben. Sie machtaußerdem berufsbegleitend eine Ausbildung zur Erlebnispädagogin.Diese beschreibt sie als sehr wertvoll, da das Gelernte direkt in der Praxis umgesetzt werden kann. Hier zeigt sich erneut die Affinität zum aktiven Arbeiten draußen und dem praktischem Lernen. Nach circa sechs Jahren erhält sie das Angebot, eine Gruppe von gewalttätigen Jungen bis 14 Jahren zu übernehmen. Sie ist sich zwar unsicher, ob sie mit den Intensivtätern umgehen kann, sagt aber dennoch sofort zu, denn es ist „nochmal ein ganz anderer Rahmen und ganz andere Regeln, eine ganz andere Struktur. Und wo ich in der vorherigen Gruppe schon an einem Punkt war, an dem alles so gut lief und mir das nicht mehr reichte, habe ich mich gefragt, was danach kommt. Von daher kam dieses Jobangebot ganz passend eigentlich, weil ich glaube, ich hätte dann vielleicht noch ein Jahr da durchgezogen, aber dann hätte ich mir auch etwas anderes gesucht. […] Ich habe mich dann dafür entschieden, weil ich gedacht habe, okay, das muss man einfach auch mal ausprobieren.“ (Z. 725-736) Mit der entwickelten Sicherheit in ihrer Berufserfahrungen und der Erkenntnis, dass sie ihre Weiterbildungen sinnvoll in den beruflichen Alltag einbringen kann, fasst sie den Mut und das Selbstbewusstsein neue Herausforderungen einzugehen. Die vertikale berufliche Mobilität ermöglicht es Frau Berger, ihre beruflichen und persönlichen Kompetenzen weiter zu entwickeln und Anschlussfähigkeit an ihre Interessen und an ihr berufliches Selbstverständnis herzustellen.

Trotz der bewussten Entscheidung diese neue berufliche Gelegenheit wahrzunehmen, beschreibt sie wiederum einen schwierigen Start und einige herausfordernde Situationen in der neuen Tätigkeit: „da war ich dann wieder die Neue unter den Jungs, die in der Gruppe waren. Das heißt, der Kampf fing schon wieder von vorne an.“ (Z. 740-741)Sie bleibt trotz dieser Startschwierigkeiten vier Jahre in der Gruppe, wendet ihr professionelles Wissen an und verknüpft dieses mit persönlichen Präferenzen: Mit der Gruppe ist sie einen Großteil des Jahres draußen unterwegs, wobei sich ihre erlebnispädagogische Ausbildung als sehr nützlich erweist. Sie absolviert darüber hinaus mehrere kleinere Weiterbildungen. Zudem macht sie über zwei Jahre eine Fortbildung zu pädagogischer Arbeit mit Tätern und Opfern von Gewalterfahrungen. Auch diese Inhalte kann sie in ihren Arbeitsalltag gut integrieren: „für mich war das eine total wertvolle Fortbildung, die ich da gemacht habe. Und die jetzt auch, glaube ich, meinen Lebensweg beeinflusst hat.“(Z. 780-781) Wieder stärkt sie durch gezielte Fortbildung nicht nur ihr professionelles Handeln im Alltag, sondern erlangt persönliche Stabilität und gewinnt an Selbstbewusstsein.

Während der Beschreibung ihrer beruflichen Laufbahn wird zunehmend deutlich, dass sie den Erzieherinnenberuf sehr schätzt und hart an sich arbeitet, um ihre berufliche Identität weiterzuentwickeln. Gleichzeitig wird ihr mit der Zeit klar, dass der Berufsalltag mit seiner hohen Verantwortung sehr viel Kraft kostet und ihre innere Zufriedenheit aus dem Gleichgewicht gerät. Daher entscheidet sie im Verlauf der Berufstätigkeit, dass sie ihren Wunschberuf nicht bis zur Rente ausüben kann und setzt sich – gemeinsam mit einem Kollegen – eine Frist von zehn Jahren. Besonders bei der der Tätergruppe stößt sie bei ihrer Arbeit „mehrfach da auch vom Thema her, und von den Jungs her, an meine Grenzen […], aber nicht so, dass ich gesagt hätte, ich schaffe es nicht, ich will jetzt was anderes machen. Ich hatte natürlich auch den Ehrgeiz, die zehn Jahre voll zu machen.“ (Z. 744-747) Ein extremer Vorfall in der Gruppe kurz vor Ende der selbst gesteckten Zehn-Jahresfrist bringt sie endgültig an ihre beruflichen und persönlichen Grenzen. Den spontanen Impuls sofort zu kündigen überdenkt sie. Sie hat an sich den professionellen Anspruch die Arbeit mit den Jugendlichen gut zu Ende zu bringen und erarbeitet gemeinsam mit dem Team ein neues Konzept, um die Gruppe aufzufangen.

Nach einem halben Jahr ist die Gruppe durch die konzeptionelle Umstellung wieder gefestigt, so dass sie beschließt, die Kündigung einzureichen, um zu studieren. „Ich wechsle ja nicht von Heim ins Heim, das war für mich klar, dass das quatsch ist. Und dann habe ich überlegt: ‚was könntest du denn machen? ‘ Und da ich ja immer schon viele Fortbildungen und so gemacht habe und das auch immer toll fand, habe ich gedacht, ja, kann man mal studieren.“ (Z. 1000-1003) Frau Berger hat eine stark entwickelte professionelle Identität und die Sicherheit, dass sie auch schwere Situationen bewältigen kann. Dennoch stößt sie an ihre persönlichen Grenzen, was dazu führt, dass sie die praxisorientierte Arbeit als Erzieherin nicht mehr länger ausüben möchte. Vor allem durch die positiv besetzten Weiterbildungen traut sie sich ein Studium zu und hat konkrete Vorstellungen über ihre berufliche Zukunft nach dem Studium entwickelt. „Ja, das war immer der Plan dann, wenn ich aufhöre, dann möchte ich auch noch was dazu lernen. […] Ich gehe schon dann auch gerne zur Schule und setze mich da hin und lerne was.“ (Z. 972-976) Sie informiert sich ausschließlich via Internet über ihre Studienmöglichkeiten. Dabei denkt sie darüber nach, ob es sinnvoll wäre, soziale Arbeit zu studieren und bespricht ihre Studienfachwahl mit vielen Bekannten, die sie in eine andere Richtung leiten. Im Nachhinein ist sie froh, sich für den eher theoretisch ausgerichteten Studiengang Erziehungswissenschaften entschieden zu haben. So kann sie in ihrem angestammten Berufsfeld bleiben, nach dem Studium in die Präventivarbeit gehen und so an ihre Erfahrungen mit Intensivtätern anknüpfen. Trotz dieser Umorientierung hin zu einem Studium kann Frau Berger ihre Interessen und Kompetenzen aus dem beruflichen Zusammenhang weiterentwickeln und damit retrospektiv den roten Faden in ihrer beruflichen Biographie weiter spannen.

Anhand der vier Faktoren der beruflichen Entscheidung von Krumboltz lässt sich nachvollziehen, dass die genetische Ausstattung und besondere Begabungen sowie die Umweltbedingungen, vielfältige Lernerfahrungen sowie Aufgaben- und Problemlösefähigkeiten entscheidend die berufliche Orientierung beeinflussen: Frau Berger hat ihre Berufswahl aus der Überzeugung getroffen, dass die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ihr nicht nur Spaß macht, sondern auch ihren besonderen Begabungen entspricht. Eine explizite, institutionalisierte Berufsorientierung erfolgt zwar nicht, sie hat jedoch durch frühe praktische Lernerfahrungen in diesem Bereich ein starkes Interesse für diese Arbeit entwickelt, die durch Praktika und durch einen Auslandsaufenthalt bestätigt werden. Das hohe Weiterbildungsbestreben und die Suche nach neuen Herausforderungen sind ein Ausdruck für die Entwicklung einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung über das berufliche Handeln. Durch eine bewusste Veränderung ihrer Umweltbedingungen, über den Wechsel in eine neue Gruppe, kann sie sich neuen Inhalten zuwenden. Trotz einiger Startschwierigkeiten findet sie sich in dem neuen Feld gut zurecht und bindet ihre Lernerfahrungen aus den beruflichen Weiterbildungen aktiv in ihr berufliches Handeln ein. Tätigkeiten im Berufsfeld aber auch in der Freizeit stärken ihre Selbstwirksamkeit und werden zu einem inneren Sinnzusammenhang zusammen geführt. Der einschneidende Vorfall in der Gruppe stellt für sie eine Veränderung ihrer Umweltbedingungen dar, so dass sie ihrem professionellen Anspruch etwas zu verändern in der praktischen Arbeit nicht mehr hinreichend gerecht werden kann. Sie nimmt für sich folgerichtig eine berufliche Veränderung vor, und greift damit auf ihre Aufgaben- und Problemlösefähigkeit zurück. Daraus erwächst der Berufswunsch in den Präventivbereich zu wechseln sowie die praktischen Erfahrungen durch theoretisches Wissen anzureichern. Sie orientiert sich in Richtung eines Studiums, das sie sich durch die überaus positiven Lernerfahrungen aus der Weiterbildung zutraut. Frau Berger zeichnet sich insgesamt durch eine starke berufliche Identifikation und Professionalität aus. Dabei steht eine stringente Auseinandersetzung mit dem Berufswunsch, der beruflichen Praxis und der subjektiven Zufriedenheit im Vordergrund.

4.2 Herr Kubel: „Also ich bin Spätentwickler“

Herr Kubel ist zum Zeitpunkt des Interviews 53 Jahre alt, gelernter Koch und durch eine zweite Ausbildung auch Standesbeamter und studiert heute im 11. Semester Geschichte.

Herr Kubel wächst gemeinsam mit seiner älteren Schwester auf dem Dorf bei seiner Mutter auf. Die Eltern sind getrennt, die Mutter berufstätig. Die Kinder sind meist sich selbst überlassen. In der Grundschule kommt er zunächst gut zurecht, obwohl er sich nicht besonders anstrengt. Nach dem Wechsel auf die Realschule fangen die schulischen Probleme an: „Ich habe gesehen, Mathe, Physik war schlecht. Und dann habe ich eigentlich gar nichts mehr gemacht. Dann hatte ich fünf Fünfen und bin damit sitzen geblieben logischerweise. War mir aber auch egal, weil ich habe mich da eh nicht wohl gefühlt.“ (Z. 710-713) Die mangelhaften schulischen Leistungen führt er rückblickend auf Faulheit und mangelnde Unterstützung der Eltern zurück: „[…] weil von zu Hause eigentlich überhaupt nix kam […] Keine Unterstützung.“ (Z. 378-379) In der neuen Klasse sind seine Noten zwar in Ordnung, er strengt sich jedoch weiterhin nicht besonders an, so dass sich seine Leistungen kaum verbessern. Durch seine damalige Partnerin und deren Freunde, die das Gymnasium besuchen, wird ihm der Wert einer höheren Schulausbildung vorgelebt. Dies reflektiert Herr Kubel jedoch erst im Verlauf von Ausbildung und Berufstätigkeit. Eine Fortsetzung des Schulbesuchs nach dem Realschulabschluss zieht er aufgrund seiner Noten und der mangelnden Unterstützung durch sein Elternhaus für sich nicht in Erwägung.

Mit 16 Jahren besucht er die Berufsberatung des damaligen Arbeitsamtes, der Sachbearbeiter schlägt ihm angesichts seiner Noten handwerkliche Berufe wie beispielsweise Werkzeugmacher vor. Er möchte keine „Schmiere“ an den Fingern, nicht mit Metall arbeiten oder im Blaumann rumlaufen, sondern ins Büro. Doch der Berufsberater rät davon ab: „nee, mit dem Zeugnis sowieso nicht. Und dann […] Koch habe ich da noch. Und dann meine Mutter: ‚ach, was für ein schöner Beruf!‘“ (Z. 879-881) Er stellt sich bei der vom Arbeitsamt vorgeschlagenen Stelle als Koch vor, die auch seine Mutter für geeignet hält und wird genommen. Allerdings hadert er mit seiner Entscheidung: „naja, jetzt habe ich nur mittlere Reife und mache so eine popelige Ausbildung, die ich gar nicht will. […]Und da habe ich dann so mir gedacht, naja gut, von zu Hause kam ja auch nix […] ja, was willst denn machen? Ja. Bist mit der Schule fertig, jetzt musst du eine Lehre machen […] ja gut, dann mache ich eine Lehre. Ich war einfach zu blöd auch noch, um das überhaupt zu begreifen, dass man eine vernünftige […] Schulbildung haben muss, um später auch etwas Vernünftiges [zu lernen; Anm. d. Ver.].“ (Z. 550-558) Vor allem in Bezug auf seine schulische Leistungsfähigkeit hat er eine eher geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung ausgebildet. Nach der Schule in eine Berufsausbildung zu gehen ist für ihn daher der nächste logische und naheliegende Schritt. Die berufliche Orientierung sowie die Berufsentscheidung werden durch die Berufsberatung und durch seine Mutter dominiert. Er glaubt, seinen Berufswunsch – eine kaufmännische Tätigkeit im Büro – aufgrund seiner Schulleistungen nicht realisieren zu können, so dass er die Empfehlungen der Berufsberatung sowie seiner Mutter an der ersten Schwelle zunächst unreflektiert übernimmt.

Die Ausbildung ist rückblickend in Ordnung.Er findet sich damit ab, als Koch sein Geld zu verdienen. Es gibt jedoch keine Tätigkeiten in diesem Berufsfeld, die er besonders gerne macht, es muss schließlich alles gemacht werden. Das Kochen macht ihm Spaß, aber „als Beruf, nee! Niemals! Niemals!“ (Z. 966) Er realisiert, dass der Beruf unterbezahlt ist und man ungünstige Arbeitszeiten hat, was sich nicht mit seinen persönlichen Präferenzen und Zielen vereinbaren lässt. Für die Schule engagiert er sich ähnlich wenig wie in der Realschule, da auf „Hauptschulniveau“ unterrichtet wird. Er erarbeitet sich gemeinsam mit einem anderen Auszubildenden die Perspektive, nach der Ausbildung etwas „Vernünftiges“ zu machen und besucht im Anschluss an die Ausbildung für ein Jahr die Fachoberschule für Ernährung. „Ich dachte, […] ich muss wieder irgendwas Vernünftiges lernen, das geht nicht mehr so weiter!“ (Z. 993-994)Sein Ziel ist es Ernährungswissenschaften zu studieren. Er hat jedoch Probleme in den naturwissenschaftlichen Fächern: in Mathe bekommt er eine sechs, in Chemie ist er ebenfalls schlecht. Er bricht die Schule vor der Fachabiturprüfung ab, in dem Glauben, den Abschluss sowieso nicht zu schaffen, was er allerdings rückblickend bereut. Die schulischen Misserfolge und der damit verbundene geringe Glaube an die eigene (schulische) Leistungsfähigkeit führen zu einer niedrigen Selbstwirksamkeitserwartungen in Bezug auf seine Bildungsaspirationen. Er reagiert zunächst mit Resignation.

Nach einem halben Jahr der Arbeitslosigkeit findet er eine Stelle als Küchenleiter in einem öffentlichen Kindertagesheim. Trotz seines noch jungen Alters wird ihm Verantwortung übertragen, die sein Selbstbewusstsein stärkt: „Ich war auch erst 21 und hatte irgendwie schon einen Job, wo man eigentlich normalerweise ein paar Jahre für braucht. Das fand ich toll, dass man dann auch schon gleich als Küchenchef anerkannt wird. Ganz toll.“ (Z. 1308-1310) Die Stelle, angesiedelt im öffentlichen Dienst, erscheint ihm von Anfang an als gute Option, von der aus man sich weiter in Richtung öffentliche Verwaltung umorientieren kann. Er hofft, seinen ursprünglichen Berufswunsch, die „Arbeit im Büro“ über diesen Umweg realisieren zu können und beobachtet die Ausschreibungen für diverse Stellen im öffentlichen Dienst. Nach acht Jahren als Küchenchef bewirbt er sich schließlich auf eine Stelle als Hilfssachbearbeiter im Standesamt, die er trotz erheblicher finanzieller Einbußen auch kurze Zeit später antritt. Herr Kubel ergreift eine ihm sich bietende Gelegenheit und hofft, dass die berufliche Veränderung ihn zu einer inneren Zufriedenheit führt. Darüber hinaus zieht er mit seiner heutigen Ehefrau in eine erste gemeinsame Wohnung und verlässt damit den starken Einflussbereich seiner Mutter. Das Zusammenleben mit seiner Partnerin bestärkt ihn darin, über mögliche Alternativen zu seinem Beruf als Koch nachzudenken.

Rückblickend bewertet Herr Kubel die Entscheidung als gelungen. Aufgrund von Personalknappheit im Standesamt qualifiziert er sich, ohne eine explizite Weiterbildung, durch die Bearbeitung höherqualifizierter Aufgaben schnell weiter, wobei er von seinen Kolleg/inn/en und dem Chef unterstützt wird. Herr Kubel wird in das (neue) Kollegium schnell integriert, was sich auch im beruflichen Aufstieg ausdrückt: Bereits nach einem Jahr wird er drei Stufen höher eingruppiert, gleichzeitig beginnt er eine berufsbegleitende Verwaltungsausbildung für den mittleren Dienst. Im Anschluss daran durchläuft er den gleichen Prozess noch einmal für den gehobenen Dienst: „Dann habe ich irgendwann gesagt, okay, mal gucken, wo die nächste Grenze ist. […] Und ging auch alles ganz easy (lacht). […] Also ich bin Spätentwickler.“(Z. 1620-1623)Seine Leistungen in den Fortbildungen sind gut, BWL bereitet ihm als einziges Fach Probleme, insgesamt schneidet er mit einer drei ab. Seiner Meinung nach macht er jetzt im Grunde das, was er mit 16 Jahren schon hätte machen sollen. Die Arbeit auf einer Behörde fand er schon immer interessant, er fühlt sich dort wohl und die Bearbeitung der Aufgaben fällt ihm leicht. Durch die Weiterqualifizierung verändern sich nochmals seine Aufgaben – er ist jetzt Standesbeamter. Nach zehn Jahren als Standesbeamter erfährt er zufällig von einer Bekannten, dass er durch seine Berufserfahrung und Weiterqualifizierungen die Möglichkeit hat, auch ohne Abitur an der Universität ein Studium zu beginnen. In seinen Weiterbildungen sammelt er viele positive Lernerfahrungen und lernt dabei das Fach Politikgeschichte kennen und schätzen. Er informiert sich im Internet sowie bei der Studienberatung über die Studiermöglichkeiten, bewirbt sich und beginnt kurze Zeit später mit dem Studium der Geschichte: „Das fand ich unheimlich spannend. Und dann kam also nichts anderes für mich infrage als Geschichte zu studieren. Als ich wusste, dass das geht, ich hab's ja erst spät erfahren, dass man das überhaupt studieren kann […]. Sonst hätte ich wahrscheinlich schon eher angefangen. Ich könnte mir auch vorstellen, sonst hätte ich schon direkt nach dem gehobenen Dienst damit angefangen, wenn ich's gewusst hätte.“ (Z. 2104-2109) Die uneingeschränkte Unterstützung seiner Partnerin sowie zwischenmenschliche Probleme im Standesamt bestärken ihn in seiner Entscheidung. Zudem hat er in den Weiterbildungen die Erkenntnis erlangt, dass ihm Lerninhalte, die seinen Neigungen entsprechen, leicht fallen. Ihm wird bewusst, dass ihm trotz fehlender Abschlüsse der Zugang zu akademischem Wissen nicht verschlossen bleiben muss.

Die negativen Lernerfahrungen aus der Schule kann er nun endlich überwinden. Er bezeichnet sich durch die positiven Lernerfahrungen sogar mittlerweile als „Bildungsjunkie“ (Z. 2455). Nach dem Abschluss des Bachelorstudiums entscheidet er noch den Master zu absolvieren. Beruflich hat er verschiedene Ziele. Reizen würde ihn die Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter, aber seiner Einschätzung nach kann er sich auf eine solche Position nicht bewerben, da ihm dazu das nötige Wissen und die entsprechende Berufserfahrung fehlt. Realistischer findet er seine Idee, wiederum über den öffentlichen Dienst in einem Museum oder bei der Landesarchäologie zu arbeiten. Alternativ spielt er mit dem Gedanken sich selbstständig zu machen, beispielsweise mit Dienstleistungen wie z. B. familienbezogenen Recherchen.

Legt man die vier Faktoren der beruflichen Entscheidung von Krumboltz zugrunde wird in Herrn Kubels Biographie deutlich, dass die primäre Berufswahl maßgeblich durch Umweltfaktoren beeinflusst wird und seine berufliche Orientierung überlagert. Er hat an der ersten Schwelle zwar konkrete berufliche Vorstellungen, kann diese aber nicht gegenüber Dritten durchsetzen. Gründe hierfür sind die mangelnde Unterstützung aus dem Elternhaus sowie die Lernprobleme in der Schule, die eine große Unsicherheit in Bezug auf die Ausbildungswahl bedingen. Herr Kubel nimmt die Herausforderungen in seinem Erstberuf an und entwickelt mit der beruflichen Tätigkeit als Küchenchef sogar die Gewissheit, dass selbständiges Arbeiten und eine verantwortliche Tätigkeit seinen Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Daraus reift das Selbstbewusstsein nicht aufzugeben und das Ziel im Büro zu arbeiten weiter zu verfolgen, d.h. den zunächst eingeschlagenen Berufsweg irgendwann zu verlassen. Auch der Auszug aus seinem Elternhaus ermöglicht ihm seine Denk- und Handlungsweisen neu zu entfalten. Eine entscheidende Rolle nehmen dabei veränderte Umweltbedingungen ein: sein soziales Umfeld bestärkt ihn darin, sich neu zu orientieren. Letztlich findet er über die Bewerbungsstrategie im öffentlichen Dienst eine Möglichkeit, sich beruflich zu verändern, ohne zunächst weitere Lernanstrengungen im institutionalisierten Bildungssystem wahrzunehmen. Mit der Tätigkeit im Standesamt beginnt für ihn eine neue Phase der Berufstätigkeit: die Aufgaben fallen ihm leicht und er erhält uneingeschränkte Unterstützung durch die Kollegen und Vorgesetzten, die ihn in seiner Selbstwirksamkeitserwartung weiter bestärken. Motiviert durch Beförderungen stellt er sich neuen Lernsituationen und qualifiziert sich bis zum Standesbeamten. Die Option ein Studium aufzunehmen eröffnet für ihn zufällig erneut eine Möglichkeit, die er aufgrund seiner Schulbildung nie geglaubt hatte erreichen zu können. Insgesamt ist Herr Kubel an seinen Lernerfahrungen gewachsen und entwickelt über die positiven beruflichen Tätigkeiten und Weiterbildungen die Selbstwirksamkeit, die ihn zu einem geisteswissenschaftlichen Studium führt. Am Ende zeigt sich jedoch, dass die Suchbewegung von Herrn Kubel noch nicht abgeschlossen ist: er traut es sich aufgrund mangelnder Erfahrungen nicht zu, seinen eigentlichen Wunschberuf – den des wissenschaftlichen Mitarbeiters – einzuschlagen.

5 Diskussion

Die Fallbeispiele zeigen, dass der Berufsorientierung an der ersten Schwelle eine zentrale Bedeutung zukommt und die Berufswahl langfristig auf das berufliche Handeln aber auch auf die Selbstwirksamkeitserwartungen von Individuen wirkt. Durch vielfältige Lernerfahrungen in Ausbildung und Beruf konkretisieren sich Wünsche und Zielvorstellungen der Personen. Gelingt es den Individuen, aus Lernerfahrungen eine hohe Selbstwirksamkeit zu entwickeln, werden berufliche Optionen zielstrebig verfolgt oder ggf. Entscheidungen revidiert (vgl. Mitchell/Krumboltz 1990, 170). Es ist darauf zu verweisen, dass durch die Entstandardisierung der Berufswelt die Berufswahl auch zu einem späteren Zeitpunkt überdacht werden kann und Neujustierungen ermöglicht. Dies ist zunächst als eine Chance zu begreifen, erfordert aber auch von den Einzelnen erhebliche Anstrengungen, ihre individuellen Präferenzen und Möglichkeiten herauszuarbeiten. Unterstützung erfahren die in den beiden Fallbeispielen vorgestellten Personen dabei insbesondere durch das persönliche Umfeld, aber auch im beruflichen Alltag durch Kolleg/inn/en und Arbeitgeber. Dadurch werden sie darin bestärkt, die individuelle berufliche Biographie aktiv zu gestalten. Darüber hinaus sind vor allem die Weiterbildungen als eine zentrale Instanz zu identifizieren, die einerseits den beruflichen Alltag in einem positiven Sinne prägen, aber auch die persönliche Weiterentwicklung bestärken. Die darin entwickelte Selbstwirksamkeit eröffnet berufliche Orientierungen nicht nur in einer vertikalen Richtung, sondern auch auf horizontaler Ebene in Richtung einer Karriereentwicklung über ein Studium.

Im Kontext des Lebenslangen Lernens kann die Bedeutung der Berufsorientierung an der ersten Schwelle dahingehend entlastet werden, dass sich für die Individuen auf ihrem späteren Lebensweg durch zahlreiche Lernerfahrungen Gelegenheiten ergeben, sich beruflich weiter zu entwickeln. Dabei ist das Konstrukt der Selbstwirksamkeit als ein Prozess zu begreifen, der sich über berufliches Handeln weiter entwickelt. Die qualitativen Daten aus dem Forschungsprojekt „Lernbiographien beruflich Qualifizierter“ verweisen darauf, dass vielfältige Lernerfahrungen im schulischen und später im beruflichen Alltag einer Person, aber auch Einflüsse aus der Umwelt, wie Familie oder Kolleg/inn/en Perspektiven eröffnen, die in berufliches Handeln umgesetzt werden können. Die Gruppe der beruflich Qualifizierten auf dem dritten Bildungsweg zeigt damit exemplarisch die Bedeutung von Berufsorientierung im Kontext des Lebenslangen Lernens auf. Die Fallbeispiele verdeutlichen, dass es Individuen sowohl an der ersten Schwelle als auch im weiteren Lebenslauf gelingen kann, Wünsche, Fähigkeiten und Neigungen in berufliches Handeln zu überführen, um zukünftigen beruflichen Herausforderungen angemessen begegnen zu können. Zur Unterstützung von beruflicher Orientierung im Kontext des Lebenslangen Lernens steht die Etablierung von Beratungs- und Unterstützungsstrukturen sowie weitere biographieorientierte Forschung allerdings noch aus.

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[1]Alle Namen und Ortsbezeichnungen wurden anonymisiert.

Berufsorientierung im Kontext des Lebenslangen Lernens – berufspädagogische Annäherungen an eine Leerstelle der Disziplin

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1 Berufsorientierung – ein Desiderat im berufspädagogischen Diskurs

Es steht außer Frage, dass gerade Jugendliche – vor allem diejenigen, die aus so genannten bildungsfernen Milieus kommen – Unterstützung in der Berufsorientierung und der Berufswahl benötigen. Die soziale Ungleichheit, die im Schulsystem schon angelegt ist, setzt sich in der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung fort (vgl. Gillen et al. 2010). Diesen Jugendlichen muss eine besondere Förderung zuteilwerden, die ihre spezifische Situation (Alter, Herkunft, Lernerfahrungen u. Ä.) berücksichtigt. In Deutschland, und auch in anderen deutschsprachigen Ländern, hat die Erkenntnis der Bedeutung dieses spezifischen Förderbedarfs zu der Etablierung von Parallelstrukturen im Bildungssystem geführt – dem so genannten Übergangssystem. Diese poltisch-strukturellen Maßnahmen haben zwar bereits erste Erfolge gezeigt, gelöst ist das Problem der Integration benachteiligter Jugendlicher in das Bildungssystem jedoch nicht. Dies ist auch ein Grund dafür, dass sich die berufliche Förderpädagogik als Teildisziplin der Berufspädagogik akademisch ausdifferenziert. Insofern kann konstatiert werden: über die Orientierungs- und Berufswahlprobleme an der ersten Schwelle, im Übergang von der Schule zum Beruf, ist die Disziplin Berufs- und Wirtschaftspädagogik insbesondere für die Gruppe der Benachteiligten zumindest grob orientiert.

Was aber passiert nach dieser ersten Berufswahlphase? Die berufliche Orientierung muss im Kontext des Lebenslangen Lernens kontinuierlich im Lebenslauf erfolgen. Die zu erbringenden Orientierungsleistungen richten sich zum einen auf das Ausloten der individuellen Interessen und Ansprüche sowie die Zufriedenheit in und mit der Arbeit. Zum anderen sind faktisch Anpassungsleistungen an die Veränderungen der Arbeitswelt und die betrieblichen Organisationsprozesse zu erbringen. Die strukturellen und institutionellen Veränderungen führen zu Pluralisierung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen (Trinczek 2011), die letztlich für den einzelnen Arbeitnehmer in ihrer Komplexität unübersichtlich sind. Diese Orientierungsleistungen, die angesichts einer zunehmenden Flexibilisierung, Entgrenzung, Intensivierung und Subjektivierung von Arbeit jenseits der ersten Schwelle des Übergangs von der Schule in den Beruf  zu erbringen sind, werden im berufspädagogischen Diskurs kaum diskutiert.

Es wird zwar in den Veröffentlichungen zur Berufsorientierung ausdrücklich betont, dass diese im Kontext des gesamten Erwerbslebens eine große Bedeutung hat (vgl. Maier/Vogel 2013;  u. a. 2014; BIBB 2014; Brüggemann/Rahn 2013), die Frage nach den biographischen Gestaltungskompetenzen, die dazu notwendig sind, schlägt sich jedoch bisher im berufspädagogischen Diskurs nur ansatzweise nieder (vgl. zusammenfassend Kaufhold 2009). Dies verweist zum einen darauf, dass der inhaltliche Fokus der Berufs- und Wirtschaftspädagogik nach wie vor auf die Kontexte Berufsschule und Erstausbildung gerichtet ist. Zum anderen ist zu vermuten, dass dies auch einem Mangel an theoretischen Zugängen und dem Fehlen empirisch gesicherter Erkenntnisse geschuldet ist.

Gegenüber der berufspädagogischen Verkürzung auf die „Übergangsproblematik“ werden in der Psychologie berufsbezogene Entwicklungsprozesse im Kontext des Lebenslaufes betrachtet. Dabei wird davon ausgegangen, dass Menschen sich in einem sozialen Raum lebenslang weiter entwickeln, wobei sowohl die Gelegenheitsstrukturen und Möglichkeiten des sozialen und kulturellen Umfeldes als auch die persönlichen Eigenschaften determinierende Merkmale der beruflichen Orientierung sind. Im Sinne von „Karrierekonstruktionen“ wird angenommen, dass berufliche Entwicklungsprozesse einer Sinnhaftigkeit und Zielgerichtetheit folgen (vgl. Kracke 2014, 17). Positive Emotionen und internale Kontrollüberzeugungen werden als wichtigste Faktoren für die Karrierekonstruktion benannt.

Der entwicklungspsychologische Diskurs um Berufsorientierung speist sich theoretisch im Wesentlichen aus dem amerikanischen Konzept der career construction. In dieser Theorie der Laufbahnkonstruktion, die mit dem Karrierebegriff auch zugleich beruflichen Erfolg unterstellt, wird ein grundlegender Zusammenhang der individuellen Berufsorientierung und der Veränderbarkeit im Verlauf der beruflichen Sozialisation herausgestellt.  Ratschinski (2013) beschreibt die Eckpunkte einer amerikanischen Theorie der Laufbahnkonstruktion nach Mark Savickas (2002). Demnach gibt es vier Entwicklungslinien, die vier „c“: concern (Beschäftigung mit der Zukunft), Control (Entwicklung von Gefühl und Autonomie), curiosity (Erkundung und Exploration der Berufswelt) sowie confidence (Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit). Das ABC der Laufbahnkonstruktion wird in diesem Konzept als ein Zusammenwirken von attitudes (Einstellungen/Haltungen), beliefs (Überzeugungen/Meinungen) und competencies (Fähigkeit/Können) beschrieben.

Allerdings implizieren die beschriebenen Zugänge in der Regel eine enge Orientierung an den Anforderungen des Arbeitsmarktes. Diese engführende Perspektive ist aus berufspädagogischer Sicht zu überwinden und durch eine subjektorientierte Dimension zu erweitern. Büchter und Christe (2014) plädieren vor diesem Hintergrund für eine „bildungsbezogene Berufsorientierung“, in der neben den Machtverhältnissen und Interessen auch soziale und ökonomische Aspekte und eine humane Gestaltung der Arbeits- und Berufswelt eine Rolle spielen. In berufspädagogischer Perspektive ist also das Thema Berufsorientierung im Kontext der institutionellen und der bildungspolitischen Voraussetzungen als organisationale Rahmung konsequent vom Subjekt her zu denken.

Hier werden theoretische Vorüberlegungen für die Thematisierung von Orientierungsleistungen in beruflichen Kontexten zur Diskussion gestellt. Dabei geht es einerseits darum, eine subjektorientierte Perspektive einzunehmen und danach zu fragen, in welchen Situationen bzw. an welchen Übergängen besondere Orientierungsleistungen erforderlich sind. Zum anderen ist danach zu fragen, wie Orientierungsprozesse im Kontext von Beruflichkeit auf der institutionell-strukturellen Ebene des Bildungssystems im Sinne von Beratung und Begleitung (guidance) unterstützt werden können.

2 Empirische Perspektive: Orientierungsleistungen in Übergängen – Befunde und theoretische Annäherungen

Die Orientierungsleistungen, die an dem Übergang der ersten Schwelle erbracht werden müssen, sind ohne jeden Zweifel entscheidend für den weiteren Verlauf der beruflichen Entwicklung und Karriere (vgl. Gillen et al. 2010). Aber selbst wenn diese Schwelle ohne größere Probleme bewältigt wurde, steht der Einzelne in unterschiedlichen Lebensphasen weiterhin vor der Herausforderung, Orientierungsleistungen zu erbringen. Dies gilt auch im Erwerbsleben, wenn es um das Ausloten der Balance zwischen Arbeiten, Lernen und Leben geht (vgl. Meyer/Müller 2013).

Orientierungsleistungen müssen erbracht werden, um grundlegende Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Nach einem von Harvinghurst Anfang der 1980er Jahre entwickelten Modell werden an Individuen in verschiedenen Lebensphasen unterschiedliche gesellschaftliche und kulturelle Anforderungen herangetragen (vgl. Shell 2010): die Qualifikation, Ablösung und Bindung, Regeneration und auch Partizipation. Alle Aufgaben treten ein Leben lang auf – nicht zuletzt, weil z.B. Ablösung und Bindung auch den Umgang im Privaten einschließt (Umgang mit Trennungen, Tod).

Hier wird nachfolgend zunächst danach gefragt, welche empirischen Erkenntnisse über die beruflichen Orientierungen, Einstellungen und Werthaltungen und den Prozess der Berufswahlentscheidung bereits vorliegen.

Die jüngste Auszubildendenstudie legt nahe, dass diejenigen, die nicht zu der Gruppe mit besonderem Förderbedarf gehören, relativ klare Orientierungen haben (McDonald’s 2013). Hurrelmann et al. – die Autoren, die auch die letzte Shell Studie verfasst haben – haben im Auftrag von McDonald’s Jugendliche und Auszubildende zu ihren beruflichen Orientierungen befragt. Die qualitative Untersuchung umfasst ein Sample von 3.068 Schülern, Auszubildenden und jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Alter von 15 bis 25 Jahren. Auch diese Studie zeigt die bekannten Probleme bei der Berufsorientierung von so genannten „benachteiligten“ Jugendlichen: während diejenigen aus den oberen und mittleren Schichten ganz bewusst nach höheren Bildungsabschlüssen streben, weil sie damit eine realistische Chance für eine erfolgreiche berufliche Entwicklung verbinden, fühlen sich die Jugendlichen aus unteren sozialen Milieus – wie auch schon die Shell Jugendstudie von 2010 dokumentiert – „als sozial Abgehängte“ (7). Die deutliche Mehrheit der Befragten (71%) sieht jedoch die Zukunft durchaus optimistisch. Hier bestätigt sich, dass die jungen Menschen eher ein hohes Vertrauen in die eigene Leistung haben und damit über eine hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung verfügen, die grundlegend für die berufliche Orientierung ist: Selbstwirksamkeit ist das zentrale Erklärungskonzept für die Genese von Berufsinteressen, Berufswahlentscheidungen und auch von beruflichen Leistungen (vgl. Ratschinski 2013, 32).

Orientierung im Hinblick auf ihre berufliche Entwicklung haben sich die jungen Auszubildenden und ArbeitnehmerInnen im Wesentlichen über Gespräche mit den Eltern und Freunden sowie über Internetrecherche verschafft. Aus berufspädagogischer Sicht ist hier interessant, dass die „offiziellen“ Unterstützungsangebote, z. B. die Berufsberatung der Arbeitsagentur oder Jobmessen, eine untergeordnete Rolle spielten. Sie wurden nur von einem Drittel der Befragten genutzt. Betriebliche Erfahrungen im Rahmen von Praktika hat nur rund die Hälfte der Jugendlichen gemacht (McDonald’s 2013, 47). Das leitende Motiv und insofern ausschlaggebend für die Wahl eines Ausbildungsbetriebes war ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis: 73% der Auszubildenden gaben an, dass sie ihre Chancen, nach der Ausbildung übernommen zu werden, positiv einschätzen (61). Hier zeigt sich dass die Jugendlichen durchaus bewusst Strategien entwickeln, um Unsicherheiten im Anschluss an die Berufsausbildung zu vermeiden. Insgesamt haben die Auszubildenden und Berufstätigen mit 67% eine positive Einschätzung ihrer beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten (88). Dass sie trotz dieser optimistischen Perspektive lebenslang und berufsbegleitend Orientierungsleistungen erbringen werden, wird daran deutlich, dass zum Zeitpunkt der Befragung nur jeweils 36% der Auszubildenden und jungen Berufstätigen konkrete Pläne für ihre berufliche Entwicklung haben. Gut die Hälfte der jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer „lassen das eher auf sich zukommen“ (86).

Schon die Shell Studie 2010 hat gezeigt, dass Jugendliche aus gehobenen Milieus mit guten Qualifikationsvoraussetzungen und stabilen Elternhäusern zuversichtlich in die Zukunft blicken. Grundsätzlich können die Jugendlichen ihrer eigenen Einschätzung nach auch mit Druck gut umgehen (Shell 2010, 33). In berufspädagogischer Perspektive ist allerdings interessant, dass der größte Druck, den die befragten Jugendlichen empfinden, tatsächlich auf das Qualifizierungssystem zurückzuführen ist. Sie nehmen offensichtlich schon zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn wahr, dass die Wege in das Erwerbssystem über die formale Qualifizierung vorstrukturiert werden.

Diese Befunde können durch aktuelle arbeitssoziologische Untersuchungen gestützt werden: Ebner (2014) hat im Rahmen einer umfassenden Auswertung der 8. Erhebungsetappe des nationalen Bildungspanels (NEPS) nachgewiesen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen dem erlernten Beruf und dem Weiterbildungsverhalten besteht. Beruf – so der Schluss der Untersuchung – gibt damit eine grundlegende Orientierung für die weitere Berufslaufbahn. Dies gilt nach diesen Daten allerdings in höherem Maße für Tätigkeiten in Dienstleistungen als im herstellenden Gewerbe. Dass der erlernte Beruf den Berufserfolg und den Laufbahnerfolg entscheidend prägt, ist auch das Ergebnis einer Untersuchung des BIBB, in der duale und schulische Ausbildungswege verglichen wurden (Hall/Krekel 2014). Aus diesen Ergebnissen kann geschlossen werden, dass das Konzept der Beruflichkeit die Optionenvielfalt im positiven Sinn reduziert und diese reduzierte Komplexität die berufliche Orientierung wiederum erleichtert, indem sie spezifische Anschlüsse nahelegt.

Dies galt auch für eine große Gruppe Berufstätiger im Zuge der Wiedervereinigung. Empirische Untersuchungen zeigen hier ebenfalls, dass die Herstellung von berufsbiografischer Kontinuität in der extremen Situation beruflicher Um- bzw. Neuorientierung auf der Basis von Wissen über die Arbeitsmarktlage und der jeweiligen Ausdeutung der Informationen erfolgte (Struck-Möbbeck o. J). Die Bewältigungsstrategien richteten sich auch hier in erster Linie auf die Herstellung beruflicher Sicherheit und Stabilität, wobei explizit die Ressource des Berufs dafür verantwortlich gemacht wird, dass der Zugang zu schutz- und stabilitätsgenerierenden Beschäftigungssegmenten erfolgen konnte (81f.). Auch mit dieser Untersuchung, die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 186 „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ an der Universität Bremen durchgeführt wurde, konnte empirisch bestätigt werden, dass Personen mit einer instabilen beruflichen Karriere ein geringes internales Kontrollbewusstsein und eine mangelnde Selbstwirksamkeit aufweisen.

Die empirischen Daten zeigen, dass das Berufskonzept seinerseits berufliche Orientierungen im Lebenslauf liefern kann und dass darüber gerade bei den jungen Menschen ein hohes Bewusstsein besteht.

Dies gilt auch für Jugendliche, die sich nach dem Abitur für einen akademischen Bildungsweg entscheiden: Im Rahmen der HIS-Studierendenbefragung wurden explizit empirische Befunde zum Entscheidungs- und Informationsverhalten bei Studierenden erhoben. Auch für die Wahl eines Studiums gilt, dass das Wissen um die wegweisende Bedeutung und die langfristigen Auswirkungen von Bildungsentscheidungen verunsichernd wirken (Spangenberg/Willich 2013). Die Berufs- bzw. hier Studienorientierung erfolgt entlang eines Sechs-Phasen-Models: Nach einer Anregungsphase, i.d.R. im Schulsystem, folgt in der Suchphase die Informationsbeschaffung zumeist über das Internet (77%). Im Gegensatz zu den beruflichen Orientierungsprozessen bei Auszubildenden spielen die Eltern hier eine untergeordnete Rolle (44%). Dieser Suchprozess scheint eine entscheidende Phase in der Orientierung zu sein: „Vor allem beim Eintritt in die Suchphase fühlen sich die Studienberechtigten mit Sorgen belastet, die mit der Komplexität der Entscheidungssituation in direktem Zusammenhang stehen.“ (5) Eine Überforderung entsteht vor allem aufgrund der Vielzahl der alternativen Bildungsangebote und der Unsicherheit bezogen auf die eigenen Interessen. Die Suchphase umfasst faktisch noch die Auswahl- und Optimierungsphase und die Realisationsphase (auch wenn aus Gründen der Operationalisierung der Daten diese Phase in der Untersuchung getrennt ausgewiesen wird). Die Autoren weisen explizit darauf hin, dass „die Suchphase einer bestimmten Dauer bedarf und nicht (wesentlich) durch besonders effiziente Entscheidungen abgekürzt werden kann“ (7). Mit Blick auf die Kontrollphase zeigt sich, dass die Entschlossenheit, mit der die Wahl für ein bestimmtes Studium getroffen wurde auch mit der Nachhaltigkeit der Entscheidung korreliert. Auch in der letzten ausgewerteten Phase, in der eine Selbstreflexion erfolgt, zeigte sich: „Je fester der Entschluss für ein bestimmtes Studium bereits früh getroffen wurde, desto höher ist die Zufriedenheit mit diesem Schritt.“ (8)

Bestätigt werden diese Befunde auch für die Gruppe derjenigen, die über den 3. Bildungsweg, also ohne Abitur, über die Anerkennung der beruflichen Erfahrungen, an die Hochschulen kommen. Dabei handelt es sich um Personen, die bereits eine Berufsausbildung und in der Regel auch eine Fortbildung absolviert haben und sich aus einer bestehenden Berufstätigkeit heraus neu orientieren. Für diese Studierenden ist ebenfalls die Suchphase entscheidend: auch hier erweist sich die Aufbereitung der Daten als intransparent, die Internetrecherchen als „mühsam und unübersichtlich“ (Heilbült/Müller 2014), wobei die Uninformiertheit über Zulassungskriterien und Verfahren am meisten zu der empfundenen Unsicherheit in der Such- und Auswahlphase beiträgt. Spezifisch an der Situation der beruflich Erfahrenen ist, dass sie sich nicht nur für einen hochschulischen Bildungsweg entscheiden, sondern dass damit in den meisten Fällen auch die negative Entscheidung gegenüber dem bestehenden Beschäftigungsverhältnis und dem beruflichen Bildungsweg (i.S. von beruflichen Weiterbildungen) einhergeht. Berufsorientierung jenseits der ersten Berufswahl schließt insofern selbst bei der Wahl fachaffiner Studiengänge immer auch eine Entscheidung gegen eine bisher mehr oder weniger erfolgreich vollzogene Laufbahn mit ein. Diese so genannten Bildungsaufsteiger müssen sich für ihre Entscheidung sowohl gegenüber ihrem beruflich geprägten Herkunftsmilieu verantworten, als auch  dem für sie neuen akademischen Milieu anpassen und damit nicht nur strukturelle, sondern auch habituelle und soziale Hürden überwinden (vgl. El Mafaalani 2012). Dennoch zeigen Studien, dass diese beruflich erfahrenen Studierenden ein höheres Engagement und eine höhere Leistungsbereitschaft aufweisen, die letztlich zum Erfolg des Studiums beitragen (vgl. Zinn 2012; Heilbült/Müller 2014). Die Daten zur Entscheidungssicherheit im Hinblick auf die Berufsorientierung und die Nachhaltigkeit der Entscheidung aus der HIS-Studie werden also auch hier bestätigt und liefern Ansatzpunkte zu einer subjektbezogenen und berufsorientierenden (Studien-)Beratung für traditionelle und nicht-traditionelle Studierende.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass ein früher Informationsbeginn, ein hoher Informationsstand und die Sicherheit über die Bildungsabsichten in Beruf und Studium sich nachhaltig positiv als tragfähig für Bildungsentscheidungen auswirken. Einmal orientiert, fällt die Berufsorientierung im Lebensverlauf leichter. Spangenberg und Willig (2013) führen das darauf zurück, dass die Berufsorientierung ein „anspruchsvoller und selbstreflexiver Prozess“ ist, in dem die jungen Menschen sich selbst kennenlernen und „das Wissen über sich und mögliche Bildungs-, Berufs- und Lebensperspektiven in einem Destillat zusammenführen.“ (9) Hier wird zum einen deutlich, wie wichtig eine transparente Informationsaufbereitung und Darstellung unterschiedlicher  Qualifizierungsangebote und Studienformate (z.B. im Internet) ist. Zum anderen zeigt sich die hohe Bedeutung einer frühen Begleitung vor allem in der Phase des Suchprozesses der Berufsorientierung. Daraus wiederum lässt sich der hohe Stellenwert ableiten, den die Kompetenzen der Berater und Begleiter im Hinblick auf die Anleitung der Reflexion haben müssen.

Zu fragen ist, mit welchen Konzepten berufliche Orientierungsprozesse einerseits theoretisch gerahmt werden können und wie sie andererseits auf der institutionellen Ebene gestaltet sein müssen, damit eine subjektorientierte, individuelle Unterstützung ermöglicht wird.

3 Theoretische Perspektive: Beruflichkeit und Zeitstrukturen als Rahmung der beruflichen Orientierung

In der Auseinandersetzung mit dem Thema der beruflichen Orientierung muss zunächst einmal geklärt werden, was genau mit dem Begriff der Orientierung gekennzeichnet wird. Hier bieten philosophische Theorien Ansätze zur Definition. Grundlegend kennzeichnet Seibt (2005) Orientierung in subjektiver Perspektive als „Beziehung einer indexikalischen Größe (mein Standpunkt, was ich gerade erlebe, meine Sicht der Dinge, die heutige Zeit, seine Sicht, unser Standpunkt etc.) zu einem umgebenden System (räumlicher, zeitlicher, logischer, normativer Beziehungen)“ (208).

Entscheidend ist nicht die Zielorientierung, sondern das Vorliegen spezifischer handlungsleitender Überzeugungen. Es geht um kognitive Orientierungen, denen immer eine Interpretationsleistung vorausgeht. Diese Interpretationsaktivitäten wiederum lassen sich jeweils durch drei Auswertungsperspektiven charakterisieren, in denen danach gefragt wird, was die Situation ist, was diese für den Einzelnen bedeutet und was daraus für Handlungen abgeleitet werden können (215).

Üblicherweise geben gesellschaftliche Ordnungen wie Wissenschaft, Recht, Moral und  Religion Orientierung – aber genau diese Instanzen erzeugen auch Kontingenz und produzieren Unsicherheit: „Orientierung ist notwendig unter Ungewissheit. Sie hilft mit ihr umzugehen, hebt sie jedoch nicht auf. Und sie muss in jeder neuen Situation wieder unter neuer Ungewissheit zustande kommen“ (Stegmaier 2005, 15).

Der Orientierungsprozess, den das Individuum selbst leisten muss, vollzieht sich in einzelnen Schritten: „Man ‚sichtet‘ die Situation im Doppelsinn, fasst (a) ins Auge, woran man sich halten kann, und mustert (b) aus, was man vorläufig beiseitelassen kann. Man behält, was man beiseitelässt, jedoch weiterhin im Auge, es könnte später noch von Belang sein und dann berücksichtigt werden müssen.“ (ebd., 28) Entwicklungsziele, die in der beruflichen Orientierung anvisiert werden, müssen demnach offen sein und sich unterwegs verändern dürfen und können. Damit ist jede Orientierung eine Orientierung auf Zeit und eine zum jeweiligen Zeitpunkt provisorische Dauerleistung im Kontext des Lebenslangen Lernens.

Für die systematische Auseinandersetzung mit Prozessen der beruflichen Orientierung bietet sich die von Luckner (2005) entfalte Logik an: „Jemand [Orientierungssubjekt] (1) orientiert sich an etwas [Orientierungsprozess] (2) oder jemandem [Orientierungsinstanz] (3), in Bezug auf etwas [Orientierungsbereich] (4) mit Hilfe von jemandem oder etwas [Orientierungsmittel] (5) vermöge von etwas [Orientierungsfähigkeiten] (6).“ (226)

Mit Blick auf die berufliche Orientierung steht der Mensch, der sich beruflich verändern möchte oder auch verändern muss, als Orientierungssubjekt im Mittelpunkt. Leitend für den Orientierungsprozess können zum einen betriebliche Veränderungen oder Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sein, die neue Anforderungen an die Kompetenzen stellen. Zum anderen kann der Orientierungsprozess auch von individuellen Bedürfnissen nach Persönlichkeitsentwicklung bzw. Veränderung angestoßen sein – möglicherweise auch als Überwindung von im Beruf wahrgenommenen Begrenzungen. Die Orientierungsinstanzen können Kollegen oder Vorgesetzte sein, wobei gerade im Feld der Berufsarbeit die communities of practice eine rahmende Orientierungsinstanz bilden können – das gilt auch hier  im positiven wie im negativen Sinn.

Den Orientierungsbereich bildet das Feld beruflicher Tätigkeiten bzw. die Berufe und Qualifizierungsangebote, die einen optionalen Horizont der Möglichkeiten bieten. Im Kontext beruflicher Orientierung können die geordneten Berufsbilder als Orientierungsmodelle dienen. Sie strukturieren einerseits den Arbeits- und Beschäftigungsmarkt und damit die Praxis von Arbeit und Beruf. Sie können wie das klassische Orientierungsmittel einer Landkarte funktionieren: „Sie gibt Übersicht über Ziele und Wege und alle bedeutsamen Anhaltspunkte in einem Gebiet, reduziert die Kontingenzen des Suchens und Findens, versetzt Sie in die Lage, sich informiert zu orientieren.“ (Stegmaier 2005, 7) Aber die Berufsbilder selbst sind auch nur theoretische Modellvorstellungen einer Orientierung. Dies gilt insbesondere aufgrund des zeitlichen Auseinanderfallens der Veränderungen der Arbeit und der Ordnung der Berufe. Als Orientierungsmittel bzw. –medium dienen vor allem das Internet sowie nach wie vor auch die Instanzen der Berufs- und Laufbahnberatung. Die Orientierungsfähigkeiten beschreiben das Vermögen des Einzelnen, Orientierungsleistungen zu erbringen – in diesem Sinne sind dies die dem Individuum zur Verfügung stehenden Handlungskompetenzen.

Hier wird das Problem offensichtlich, dass mit jeder Aufforderung zu und dem Versuch der Orientierung auch das Risiko der Desorientierung steigt, denn um sich neu orientieren zu können, muss man jeweils auch schon orientiert sein. Daraus folgt, dass der Einzelne sich jeweils auf seine Weise orientieren muss und dass er sich stets in den Spielräumen seiner Orientierungsmöglichkeiten bewegt. Insbesondere die berufliche Orientierung kann somit als anspruchsvoll und voraussetzungsreich gelten. Vor diesem Hintergrund ist ein gezieltes Oszillieren zwischen Analyse und Orientierung gefordert:  „Denken im Sinn logischer Analyse einer vorausgehenden Orientierung und diese Orientierung wieder der Analysen bedarf…“ (ebd. 11) Das heißt, dass im Prozess der Orientierung kognitive Leistungen zu erbringen sind, die wiederum spezifisches Orientierungs- und Verfügungswissen (i. S. des Wissens um Wirkungszusammenhänge) voraussetzen. Berufliche Orientierung geht indes immer einher mit einer Fülle an Wahlmöglichkeiten, die Entscheidungszwang und damit auch Nachdenklichkeit erzeugen (Winkler 1999, 277). In pädagogischer Perspektive muss es also in der Entwicklung von Konzepten der Berufsorientierung vor allem darum gehen, die Fähigkeit zur Reflexion anzuleiten.

3.1 Beruflichkeit als theoretischer und bildungspolitischer Bezugspunkt

Der erlernte Beruf gilt in Deutschland als das Scharnier für die Zuweisung von Erwerbs- und auch Lebenschancen. Konietzka (1999) hat in seinen Kohorten-Untersuchungen gezeigt, dass Individuen in erster Linie über ihre beruflichen Ausbildungen in den Arbeitsmarkt integriert werden. Auf diese Weise werden sie „in spezifisch verberuflichte Erwerbslaufbahnen geschickt“ (334). Diese verberuflichten Erwerbslaufbahnen vermitteln damit auch unter schwierigen Rahmenbedingungen einer großen Mehrheit der (potenziell) Erwerbstätigen eine relative Statussicherheit im Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Es steht insofern außer Frage, dass gerade die Disziplin Berufs- und Wirtschaftspädagogik den Diskurs um berufliche Orientierung im Kontext einer – gegenüber der traditionellen Form des Berufs – erweiterten Beruflichkeit führen muss. Inwieweit weitere theoretische Konstrukte – wie z.B. die Zeit (und in diesem Zusammenhang auch der Lebenslauf) oder auch Raum – leitend sein können, müsste für die Disziplin perspektivisch hinterfragt werden.

Es ist aufgrund dieser engen Koppelung von Berufsausbildung und einer relativ kontinuierlichen Erwerbstätigkeit naheliegend, dass im berufspädagogischen Diskurs Fragen der Berufsorientierung vor allem an der ersten Schwelle des Übergangs in die berufliche Erstausbildung thematisiert werden. Das Konzept der Beruflichkeit hat damit eine nachhaltige Orientierungsfunktion womit wiederum die Notwendigkeit zur permanenten Orientierung im Sinne einer Anpassung und Neuausrichtung im Konzept der Beruflichkeit angelegt ist.

Gegenüber der traditionellen Form des Berufs, die als Lebensberuf eine relative Konstanz aufwies, ist für das Konzept einer modernen Beruflichkeit eine permanente Orientierungsnotwendigkeit als Strukturmerkmal geradezu kennzeichnend (vgl. Meyer 2006). Dies gilt insbesondere, wenn das Berufskonzept im Sinne einer erweiterten Beruflichkeit gedacht wird und die duale, schulische und hochschulische Bildung im Sinne der Durchlässigkeit des Bildungssystems als ein Gesamtkonzept verstanden wird (Wissenschaftlicher Beraterkreis 2014). Damit eröffnen sich einerseits neue Optionen zur Gestaltung von beruflichen Laufbahnen, andererseits ergeben sich für das Bildungssystem (gemeint sind hier die allgemeine und die berufliche Bildung) auch neue Herausforderungen.

Begrenzungen, die für die traditionelle Berufsform kennzeichnend sind, werden in dem Konzept einer modernen Beruflichkeit zum Teil aufgehoben: als Ausdruck dafür kann z.B. die – zumindest in formaler Hinsicht durch den KMK-Beschluss realisierte wenn auch faktisch noch nicht vollzogene – Öffnung der Hochschule für Berufstätige gewertet werden. Allerdings produzieren moderne Formen der Beruflichkeit ihrerseits auch diskontinuierliche Erwerbsverläufe, die wiederum hohe Orientierungsleistungen erfordern. Aufgrund der unbestimmten Qualifikationsanforderungen muss sich Beruflichkeit als eine reflexive Beruflichkeit auf der individuellen Ebene permanent selbst wieder herstellen (vgl. Kreutzer 1999). Die Verantwortung für die Reproduktion der Beruflichkeit wird dabei bio­graphisiert und auf das Individuum verlagert. Die Fähigkeit zur Orientierung setzt jedoch wie oben schon angedeutet Kompetenzen zur Selbststeuerung voraus, die zunächst im Bildungs- und Erwerbssystem erworben und weiterentwickelt werden müssen. Die Ursachen und Folgen dieser Entwicklung sind im Kontext der Arbeitsgruppe „Diskontinuierliche Erwerbsbiographien“ ausführlich beschrieben (vgl. Behringer et al. 2004; vgl. auch Bolder/Dobischat 2009; Bolder et al. 2012).

Grundsätzlich gilt, dass im Rahmen verberuflichter Arbeit immer auch Rationalisierungspotenziale liegen (vgl. Hesse 1972), die ihrerseits Orientierungsleistungen erfordern (biographisch, fachlich oder auch arbeitsmarktpolitisch). Dies zeigt sich in individueller, wie in betrieblicher und gesell­schaftlicher Perspektive: Auf der Mikroebene geht es um Strategien der Individuen zur Sicherung des Arbeitskraftverwertungsinteresses und um Routinisierung. Dazu gehört es auch, Strategien im Umgang mit ständig neuen Zumutungen und Arbeitsbelastungen zu entwickeln. Für den Einzelnen beinhaltet diese Rationalisierung gerade vor dem Hintergrund der Erosion von „Normalerwerbsbiographien“ sinnvolle Entscheidungen zur Berufswahl und -ausbildung, zum Berufswechsel sowie zur Weiterbildung zu treffen. Auf der Mesoebene der betrieblichen Arbeit spielt die effiziente Gestaltung der Geschäfts- und Arbeitsprozesse eine entscheidende Rolle. Auf der Makroebene der gesellschaftlichen Subsysteme  geht es um die arbeitsmarkt-, bildungs- und sozialpolitische Gestaltung der ordnungspolitischen Rahmen­bedingungen im Sinne einer Verrechtlichung und um die Durchsetzung politischer Interessen. Hier sind grundlegende politische Orientierungs- und auch Informationsleistungen der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände als Sozialpartner gefordert, die die Berufsbildungspolitik  maßgeblich mitgestalten.

Insofern kann konstatiert werden, dass die berufsförmige Organisation von Erwerbsarbeit, im Unterschied zu nicht-beruflich organisierter Arbeit, immer auch die Gestaltung zentraler sozialer Chancen (wie z. B. horizontale und vertikale Mobilität und die Ermöglichung von Entwicklungs- und Karrierewegen) zumindest ermöglicht. Dies gilt aber nur unter der Voraussetzung, dass die entsprechenden Orientierungsleistungen auch erbracht werden. Damit ist die Fähigkeit zur beruflichen Orientierung auch als prinzipielle Chance zur sozialen Gestaltbarkeit von Arbeit zu verstehen. Die berufspädagogische Herausforderung besteht darin, berufliche Orientierungsprozesse im Kontext der Beruflichkeit auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene zu thematisieren. Zu fragen ist, welche theoretischen Konzepte sich über die einschlägigen berufswissenschaftlichen und professionstheoretischen Zugänge hinaus eignen, um eine berufs- und zugleich subjektorientierte Überlegungen zu fundieren.

3.2 Zeitstrukturen und Lebenslauf als Rahmen für berufliche Orientierung?

Veränderte Zeitstrukturen, die auch in Arbeits- und Berufskontexten wirksam werden, stellen den Einzelnen vor die Herausforderung, mit der Beschleunigung Schritt zu halten. Die weitestreichende Konsequenz einer komplexen Entwicklung der sozialen Beschleunigung ist nach Rosa (2005) das Auseinandertreten von Erfahrungsraum (was aus der Vergangenheit bekannt ist) und Erwartungshorizont (was von der Zukunft erwartet wird). Wenn das Tempo der Veränderung steigt, dann treten die Zeithorizonte auseinander und das eigene Leben wird in neuen, nicht über­schau­baren Strukturen „verzeitlicht“. In der Konsequenz bleiben z.B. Familien- und Beschäftigungs­verhältnisse nicht mehr über ein Leben stabil.  An die Stelle der Familie treten dann so genannte Patch-Work-Lebensformen und eine serielle Folge von Jobs oder unbezahlter Praktika drohen das Konzept eines identitätsstiftenden Berufs abzulösen. Damit verändern sich auch die Autonomiespielräume für die Subjekte, wobei nach Rosa das neue Zeiterleben die Fortschrittsidee des autonomen Subjekts der Moderne geradezu konterkariert. Die Idee, dass die Subjekte Verantwortung für die Gestaltung ihres Lebens übernehmen könnten, ist – so Rosa – dem neuen Zeitregime diametral entgegengesetzt. Faktisch komme es zu einem Autonomieverlust, „der sich im Schwinden von Steuerungspotenzialen und in der Erosion von Gestaltungschancen manifestiert“ (452). Im Gegensatz zur planbaren Gestaltung zwinge die Beschleunigung die Subjekte und Organisationen zu einer reaktiven Situativität und damit permanente Orientierungsleistungen zu erbringen.

Die Diagnose des Autonomie- und Steuerungsverlustes ist angesichts grundsätzlich schwindendender Planbarkeit in modernen Arbeitsprozessen kritisch zu hinterfragen. Faktisch erhöhen sich die Steuerungsbedarfe im Modus der Planung des Unplanbaren. Es lässt sich in der Realität von Arbeit und Beruf auch empirisch nicht bestätigen: Gerade in den innovationsgetriebenen Branchen, die in hohem Maß einer Beschleunigung unterliegen, lassen sich in der Selbstwahrnehmung sowohl der Beschäftigten als auch der Organisationen durchaus hohe individuelle und organisationale Gestaltungsspielräume verzeichnen (vgl. Antoni et al. 2013).[1]

Dass in der beschleunigten Moderne autonome Entscheidungen im Privatleben wie auch im Berufsleben kaum möglich sind, liegt nach Rosa daran, dass eine selbstbestimmte Gestaltung individuellen wie auch kollektiven Lebens einen Optionszeitraum voraussetzt, der über einen bestimmten Zeitraum hin stabil bleibt – denn begründete Entscheidungen ergeben sich durch die Abwägung von Nutzen, (Opportunitäts-)Kosten und Folgewirkungen, die sich auf der Basis einer minimalen Zeitstabilität nicht erfassen lassen. Die Handlungsbedingungen müssten zur Gewährleistung von Autonomie so dauerhaft sein, dass sich Veränderungsprozesse verstehen und kontrollieren lassen „und schließlich dass ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um durch die planmäßige Einwirkung auf den Handlungsraum Leben und Gesellschaft tatsächlich zu gestalten“ (454). Selbstbestimmung setzt voraus, dass Individuen und Organisationen zeitresistente Präferenzen und Zielvorstellungen ausbilden können. Faktisch wird aber nach Rosa das „Offenhalten von Optionen und Anschlussmöglichkeiten zu einem kategorischen Imperativ […], der sich gegenüber substanziellen Bindungen immer mehr durchsetzt“ (ebd.).

Mit Blick auf berufliche Orientierungsnotwendigkeiten lässt sich vor diesem Hintergrund kons­tatieren, dass die beschriebenen Merkmale auf der einen Seite konstitutiv für eine biographisierte Beruflichkeit sind. Autonomie und die Fähigkeit zum Umgang mit Unsicherheit sind damit die Voraussetzungen für die Planung und Gestaltung individueller Entwicklungswege. Andererseits muss aber zu dieser Sichtweise kritisch angemerkt werden, dass die betriebliche und die gesellschaftliche Dimension der Organisation von Arbeit und Beruf hier vernachlässigt werden. Die Verantwortung für die soziale Gestaltung von Beruflichkeit wird allein dem Individuum übertragen.

Zu prüfen wäre, ob und inwieweit Theorien des Zeitregimes für die Berufsorientierung Anknüpfungspunkte bieten. Im Kontext des Lebenslangen Lernens könnte auch das Lebenslaufregime als strukturierendes Element von Orientierungsleistungen dienen. Im Verlauf eines Erwerbslebens sind im Kontext der Beruflichkeit zahlreiche arbeitsbezogene Übergänge in horizontaler (Aufgaben- und Positionswechsel innerhalb von Unternehmen, Wechsel von Unternehmen, Lernprozesse in der Arbeit) und in vertikaler Hinsicht (Aufstieg und Karriere, Weiterbildungen, Studium) zu vollziehen, die Orientierungsleistungen erfordern. Aber auch in privater Hinsicht stellen sich im Lebenslauf und abhängig von Lebensalter und Lebensphase spezifische Herausforderungen, die eine Ausbalancierung der Work-Learn-Life-Balance erfordern (Antoni et al. 2014).

Insofern bietet sich mit Blick auf Berufsorientierung im Kontext des Lebenslangen Lernens auch Kohlis (1985) Lebenslaufstrukturmodell als eine Interpretationsfolie für Transformationsprozesse als strukturelle Übergänge im Lebenslaufregime an: Kohli zeigt in historischer Perspektive, dass es zu einer Verzeitlichung (1) komme und da diese an einem chronologischen Lebensalter orientiert sei, habe sich im Zuge der Chronologisierung (2) ein Normallebenslauf ergeben. Die Freisetzung des Einzelnen aus lokalen und ständischen Bindungen führe zur Individualisierung (3) und – diese These ist in berufspädagogischer Perspektive am interessantesten, weil hier die Übergänge zu verorten sind, an denen Orientierungsleistungen zu erbringen sind – der Lebenslauf ist aus Kohlis Perspektive mit der Dreiteilung von Vorbereitungs-, Aktivitäts- und Ruhephase (d.h. Kindheit bzw. Jugend/aktives Erwachsenenalter/Alter) um das Erwerbssystem herum organisiert (4).

Das lebenszeitliche Regelsystem, so Kohlis These, lasse sich auf zwei unterschiedlichen Realitätsebenen aufsuchen, zum einen im Sinn von Positionssequenzen (z. B. Karrieren) und zum anderen in der Strukturierung der „lebensweltlichen Horizonte bzw. Wissensbestände, innerhalb derer die Individuen sich orientieren und ihre Handlungen planen.“ (ebd.)

Kritisch anzumerken ist hier jedoch, dass dieses Modell längst erodiert ist. Faktisch ist eher eine Ent-Chronologisierung bzw. eine Ent-Standardisierung des Lebenslaufes zu verzeichnen. Die gesellschaftliche Bedeutung des Lebenslaufregimes, die Kohli unterstellt, ist damit infrage zu stellen. Kohli selbst räumt allerdings auch ein, dass der Prozess der Chronologisierung des Lebenslaufs bereits zu einem Stillstand gekommen sei und dass stattdessen Befunde auf eine Destandardisierung des Lebenslaufs hinweisen. Dennoch ist der theoretische Gehalt der Theorie des Lebenslaufregimes im Hinblick auf die beruflichen Orientierungsleistungen, die im Lebenslauf erbracht werden müssen, zu prüfen. 

Aus berufspädagogischer Perspektive könnten darüber hinaus auch arbeitssoziologische Theorien, die sich mit dem organisationalen Arbeitsvermögen befassen¸ theoretisch grundlegend sein (vgl. Pfeiffer/Schütt/Ritter 2012). Arbeitsvermögen wird in diesem Konzept verstanden als eine subjektgebundene Kompetenz, die in jeweils unterschiedlichen Aneignungskontexten offensichtlich und erfahrbar wird. Es handelt sich um das „Vermögen, sich in spezifische (Arbeits-)Kontexte und lebensweltliche Settings im umfassenden Sinne einzufügen (z. B. als habituelle Passung, als Ressource, um die eigene Beschäftigungsfähigkeit im Subjekt ‘herzustellen‘, und schließlich, um biographische Einschnitte zu bewältigen und/oder biografische Kontinuitäten bzw. gewollte Brüche/Neuorientierungen zu generieren).“ (3) Für die berufspädagogische Rezeption ist dieses Konzept aufgrund der ihm zugrundeliegenden Verknüpfung von individuellem Vermögen und Kompetenzen mit betrieblichen Organisationsprozessen besonders fruchtbar. Diese gilt insbesondere weil die Autoren diesen Zusammenhang auch explizit für arbeitsmarktpolitische Desiderata, die auch das Beratungsgeschäft der Arbeitsagenturen tangieren, herausarbeiten.

4 Institutionelle Perspektive: Organisation und Professionalisierung der Berufsorientierung im Ländervergleich Deutschland-Schweiz

In Deutschland ist Berufsorientierung bzw. die Berufsberatung im Vergleich zu anderen Ländern (z. B. Schweiz und USA) auf bestimmte, krisenbehaftete Lebensabschnitte beschränkt (z.B. Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit) und nur ansatzweise institutionalisiert und professionalisiert. Zwar ist die Berufsorientierung formal gesetzlich für die Sekundarstufe in den Ländergesetzen verankert, systematische staatlich organisierte Angebote gibt es jedoch kaum.

Berufsberatung findet in Deutschland punktuell an spezifischen Übergängen und für ausgewählte Zielgruppen unter der eindeutigen Prämisse der Arbeitsmarktintegration statt. Einen umfassenden Überblick über die Beratungslandschaft in Deutschland im Kontext der beruflichen Orientierung liefern die Untersuchungen des Nationalen Forums für Beratung (nfb) (vgl. Jenschke/Schober/Fürbing 2011): neben öffentlichen Beratungsanboten (von Schulen, Hochschulen und der Agentur für Arbeit) wird die Berufs- und Laufbahnberatung überwiegend von privaten Anbietern geleistet. Die Agentur für Arbeit beschränkt ihr Beratungsangebot auf Personen, die arbeitslos sind oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Festzustellen ist allerdings, dass im Rahmen von Bundes- und Länderprogrammen die Förderung von regionalen Netzwerken auch zum Ausbau von Beratungsleistungen unterstützt wird.[2]

Da Bildung in der Verantwortung der Länder liegt, unterliegt auch die Bildungs- und Berufsberatung einer Vielzahl unterschiedlicher Ländergesetze, wobei das Sozialgesetz einen Großteil der Gesetzgebung in Deutschland ausmacht. Daran zeigt sich, dass Bildungs- und Berufsberatung ein Instrument unterschiedlicher sozial- und arbeitsmarktpolitischer Ziele darstellt. Der Großteil der gesetzlichen Vorschriften in Deutschland legt die Beratungspflicht von unterschiedlichen Einrichtungen fest, sodass Beratung in unterschiedliche institutionelle Kontexte eingebettet ist. Neben den gesetzlich vorgeschriebenen Beratungspflichten im Rahmen des SGB III durch die Bundesagentur für Arbeit (BA) findet Beratung in nicht gesetzlich geregelten Kontexten, wie bspw. im privatwirtschaftlichen Bereich, statt. Der institutionelle Kontext, in welchem die Beratung jeweils in Deutschland eingebettet ist, prägt dementsprechend auch das Angebot hinsichtlich seiner Zugänglichkeit und Ausrichtung. Öffentliche und wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen sind bei ihrem Angebot durch die Sozialgesetzgebung bestimmt oder den Zielen der Einrichtung verpflichtet. Im privatwirtschaftlichen Kontext werden die Beratungsdienstleistungen angeboten, die sich am besten vermarkten lassen und es haben nur Personen zu der Dienstleistung Zugang, die es sich finanziell leisten können.

Im Gegensatz zu Deutschland verfügt die Schweiz über einheitliche und staatlich anerkannte Qualifikationswege und Ordnungsmittel für die Laufbahnberatung sowie über einen Berufsschutz durch die Einführung von Berufstiteln. Die gesetzliche Grundlage für die Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung bildet das Berufsbildungsgesetz der Schweiz (BBG). Der Bund (das Staatsekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, SBFI) ist für die Regelung der Zuständigkeit (BBG Art. 51), für die Formulierung der Grundsätze der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung (BBG Art. 49) sowie für die Formulierung der Qualifikationsstandards in der Ausbildung der Beraterinnen und Berater zuständig. Die Mindestanforderungen an Bildungsgänge für Beraterinnen und Berater und auch die Inhalte der Qualifizierungen sind in der Berufsbildungsverordnung (Art. 56/57) geregelt.[3]

Die Kantone sind wiederum für die Durchführung der Maßnahmen verantwortlich und haben sogenannte „Zentralstellen für Berufs-, Studien- und Laufberatung“[4] installiert. Die Beratungsleistung, die diese Stellen erbringen, ist  unentgeltlich und richtet sich an alle Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichen Erwerbs- und Lebensphasen. Damit hat die Schweiz im Vergleich zu Deutschland die Vision eines flächendeckenden Beratungsangebots, das für alle zugänglich ist und von professionellen Beratungspersonen durchgeführt wird, nahezu erreicht und eine Inklusion aller Bürger gesichert.

Festzustellen ist, dass sich Deutschland und die Schweiz grundlegend in Bezug auf ihre Zielorientierung unterscheiden. Durch die starke Positionierung der Arbeitsagentur in der deutschen Beratungslandschaft ist die Berufsberatung stark an den Zielen des Arbeitsmarktes orientiert. Im Falle der BA ist die Berufsberatung nicht institutionell von der Stellenvermittlung getrennt. Beratungspersonen in der Arbeitsagentur übernehmen Verwaltungstätigkeiten des Staates zur Umsetzung der Arbeitsförderung und Wiedereingliederung nach dem SGB II und SGB III. Dadurch ist das Beratungssetting durch gesetzliche Erwartungen mitgeprägt, denen sich weder die Beratungsperson noch der Ratsuchende entziehen können.

Aufgrund der Qualifizierungsstandards kann mit Blick auf die Systematisierung des Wissens in der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung das Schweizer System als deutlich höher professionalisiert gelten als die Bildungs- und Berufsberatung in Deutschland. Nach Kurtz und Stichweh ist es die Monopolstellung, die eine professionell handelnde Berufsgruppe erst zu einer Profession macht (vgl. Stichweh 1992, 34ff.; Kurtz 1998, 105ff.). Grundsätzlich ist in beiden Ländern die Bildungs- und Berufsberatung ähnlich wie die Sozialarbeit an den Schnittstellen von mehreren Funktionssystemen angesiedelt. Ziel ist es, eine bessere Passung zwischen Subjekt, Bildungssystem und Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Schon dadurch gestaltet sich die Ausbildung einer Profession im Sinne des Einnehmens einer Monopolstellung innerhalb eines Funktionssystems schwierig.

Während in Deutschland die Gruppe der Berufsberater nicht durch eindeutige Qualifizierungswege zu kennzeichnen ist, kommt in der Schweiz den Psychologen als Berufsgruppe eine dominierende Stellung zu: sie sind es, die zum großen Teil das für die Ausübung der Beratung konstitutive Wissen zur Verfügung stellen und weiterentwickeln. Dies zeigt sich daran, dass die Berufs-, Studien und Laufbahnberatung als Teilbereich der Psychologie etabliert ist und den Psychologen diese dominierende Stellung durch entsprechende Berufstitel zuerkannt wird. Demgegenüber hat sich in Deutschland  aufgrund des mangelnden Berufsschutzes keine entsprechend dominante Berufsgruppe herausgebildet.

Nicht zuletzt weil es in Deutschland für die Berufsberatung keinerlei Zulassungsregelungen gibt, stehen hier vielfältige Qualifikationswege und auch Berufsbezeichnungen unsystematisch und uneinheitlich nebeneinander. Dies gilt auch für die Berater, die bei der Agentur für Arbeit tätig sind. Allerdings gibt es einen Verband für Bildungs- und Berufsberatung e.V. (dvb), der sich für die Qualitätssicherung und die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Grundlagen in der Beratung einsetzt. Auch der Schutz der Ratsuchenden vor unqualifizierten Beraterinnen und Beratern ist ein Anliegen des dvb – daher stellt er auf seiner Homepage auch Leitfäden zur Bewertung von Berufsberatungsleistungen zur Verfügung. Besonders hervorzuheben sind die Qualitätsstandards des dvb für die Berufsorientierung.[5] Darüber hinaus gibt es in Deutschland eine Deutsche Gesellschaft für Karriereberatung (DGfK)[6] und den Dachverband Deutsche Gesellschaft für Beratung e.V. (DGfB)[7], der über 30.000 Mitglieder organisiert. Ob die Einflussnahme dieser Verbände im Feld der Berufsberatung und Berufsorientierung zu einer Professionalisierung „von unten“ führen wird, bleibt abzuwarten. Eine explizit berufspädagogische Fundierung ist in den Papieren der Verbände jedenfalls nicht zu verzeichnen.

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen in der Schweiz regeln politische Zuständigkeiten, Finanzierung der kantonalen Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung sowie Berufstitel, Mindestanforderungen, Zulassungsbeschränkungen und ethische Verhaltensrichtlinien. Das Prinzip der Subjektorientierung wird in den Schweizer Konzepten der Berufsorientierung u. a durch den staatlich festgelegten und durch den Berufsverband ergänzten Berufskodex gewährleistet. Im Gegensatz zu Deutschland sind die Stellenvermittlungund die kantonalen Beratungsstellen in der Schweiz institutionell klar voneinander getrennt. Damit wird die Beratungsleistung als eine professionelle Dienstleistung anerkannt, in der die komplexen Belange von Einzelpersonen in direkter Interaktion mit professionell Handelnden bearbeitet werden.

Die Unterschiede in der Zielorientierung der Bildungs- und Berufsberatung in den beiden Ländern sind jeweils in den historischen Kontexten nachzuvollziehen: Die Ursprünge der schweizerischen Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung gehen auf die Lehrlingspatronate in der Zeit der Industriellen Revolution zurück. Die Berufswahlfreiheit überforderte die Jugendlichen (die traditionell den Beruf des Vaters erlernten), was wiederum dazu führte, dass das Problem der sinnvollen Integration der Jugend in die Arbeitswelt vermehrt diskutiert wurde (vgl. Heiniger 2003, 7ff.). In der Folge entstanden mit den Lehrlingspatronaten gemeinnützige Vereinigungen, die Fürsorge-, Vermittlungs- und Informationsfunktionen übernahmen (vgl. ebd.). Die Subjektorientierung ist also durch ihre Entstehungsgeschichte schon von Anfang an in der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung angelegt.

Die deutliche Arbeitsmarktorientierung der Arbeitsagentur in Deutschland wird ebenfalls durch ihr historisches Entstehen nachvollziehbar. Die Anfänge der Arbeitsagentur gehen auf die Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zurück (vgl. OECD 2002, 2684). Diese Zeit war geprägt von einer wachsenden Rationalisierung von Arbeitsplätzen, hohe Anforderungen an Qualifikationen und dem Ausloten von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen. Das deutsche Berufsprinzip war in dieser Zeit vor allem in seiner Allokationsfunktion funktional: die Arbeitgeber konnten angesichts der mangelnden Prognostizierbarkeit von Qualifikationsanforderungen anhand der berufsfachlichen Bezeichnung erkennen, über welche Qualifikation ein Arbeitnehmer verfügte. Die Stellenvermittlung der damaligen Arbeitsämter konnte sich bei relativ klaren Ordnungsverhältnissen in der Berufswelt als Maklerin, die die Passung zwischen beruflich Qualifizierten und beruflich definierten Stellen gewährleistet, profilieren (vgl. dvb 2011, 2). Die Nähe der Berufsberatung zur Stellenvermittlung ist auf die Vorstellungen des Berufsprinzips aus dieser Zeit zurückzuführen.

Aufgrund der kulturellen Pfadabhängigkeit der Entwicklung von (Berufs-)Bildungssystemen ist nicht davon auszugehen, dass sich Systeme anderer Länder ohne weiteres übertragen lassen. Dies zeigen auch Forschungen im Feld des policy-transfers im Feld der Berufsbildung (vgl. Bohlinger 2008). Deutschland ist zudem als Mitglied der EU den Zielen der Europäischen Bildungspolitik verpflichtet, die mit der Orientierung an der so genannten „aktiven Arbeitsmarktpolitik“ ökonomischen Prämissen unterliegt. In diesem Kontext stehen daher auch die europäischen Netzwerkaktivitäten zur Beratung und Begleitung: Das Konzept career guidance zielt auf die die Vermittlung zwischen den Systemen Bildungs- und Beschäftigungssystem, wobei die OECD berufliche Orientierung ausdrücklich als einen lebensbegleitenden Prozess versteht, der auch Weiterbildung, berufliche Umorientierungen und Wiedereingliederung nach Erwerbslosigkeit einbezieht (Niemeyer 2013, 85).

Euroguidance ist z. B. ein europäisches Bildungs- und Berufsberatungsnetzwerk, das über die Europäische Kommission im Rahmen des Programms Lebenslanges Lernen finanziell unterstützt wird. Über 30 Informationszentren in ganz Europa bieten Beratungsleistungen für Einzelpersonen und Beratungsfachkräfte an.[8] Darüber hinaus ist Deutschland mit dem Nationalen Forum in Bildung, Beruf und Beschäftigung auch an dem Europäischen Netzwerk für eine Politik lebensbegleitender Beratung (ELGPN) beteiligt. Dieses Netzwerk wiederum repräsentiert die Interessen der EU-Mitgliedsstaaten  bei der Entwicklung von Programmen und Systemen lebensbegleitender Beratung. Das ELGPN fördert die Kooperation der EU Mitgliedstaaten und der europäische Kommission mit dem Ziel, die Zusammenarbeit und die Entwicklung von Systemen auf Ebene der Mitgliedsstaaten für die Umsetzung der Prioritäten im Rahmen der Offenen Koordinierung mit Blick auf die EU Ratsempfehlungen zu lebensbegleitender Beratung  zu unterstützen.[9] Deutschland ist mit einer Delegation aus Vertreterinnen und Vertretern des BMBF, der KMK, der Bundesagentur für Arbeit und des Nationalen Forum Beratung (nfb) im ELGPN vertreten. Nationaler Ansprechpartner ist das BMBF. Da eine bildungs- berufsbiographiebegleitende Unterstützung in Deutschland institutionell nicht verankert ist, hat sich das nfb zum Ziel gesetzt, öffentliche und unentgeltliche Strukturen einer Berufs(laufbahn-)entwicklung für Erwachsene aufzubauen. Das Schweizer Modell dürfte dabei grundlegend sein.

Allerdings wird trotz der formalen, institutionalisierten Strukturen auch im Schweizer Berufsbildungsdiskurs ein Professionalisierungsbedarf für das Personal im Feld der beruflichen Orientierungen konstatiert: es müssten „transdisziplinäre Theorie- und Methodenansätze“ entwickelt werden, die „Reflexion des Handelns in komplexen Situationen ermöglichen und das Handeln unterstützen“ (Schaffner/Ryter 2013, 364). Dies zeigt, dass jenseits bildungspolitischer Fragen auch inhaltliche, didaktische und methodische Probleme der Berufsorientierung verstärkt thematisiert werden müssen. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine aktuelle Untersuchung des Bundesinstituts für Berufsbildung: Bylinski (2014) hat in einer Befragung von 57 Bildungsverantwortlichen aus Schule und Betrieb die Anforderungen, die sich für das Personal im Hinblick auf die Gestaltung der Übergänge und die Herstellung von Bildungsketten ergeben, beschrieben. Neben den Dimensionen Wissen und Können ist es insbesondere die Fähigkeit zu (Selbst-)Reflexion, die eine bedeutende Dimension der Professionalität des Personals darstellt. Neben der individuellen Begleitung und Beratung stellt die Autorin die Vernetzung, d.h. die multiprofessionelle Zusammenarbeit mit Verbänden und Institutionen heraus (253).

Aufgrund der mangelnden Qualifizierungsangebote in Deutschland müssen auch die Berater ihre eigene Kompetenzentwicklung reflexiv gestalten, d. h. ihre Professionalisierung individuell oder  im Rahmen einer kollegialen Supervision gemeinsam mit anderen vorantreiben. Dieser Anforderung stehen bekanntlich häufig die strukturellen Rahmenbedingungen der Organisation gegenüber. Aufgrund eines hohen Maßes an bürokratischer Organisationsstruktur und einer ausgeprägten institutionellen Beharrungskultur dürfte dies in besonderer Weise für die Agenturen für Arbeit gelten (vgl. Hiestand et al. 2011). Eine Professionalisierung von Beratung in diesem Sinne kann nur gelingen, wenn für die Berater und Vermittler in den Agenturen lernförderliche Arbeitsbedingungen bestehen bzw. dauerhaft hergestellt werden. Dieser Aspekt wäre auch als qualitätssicherndes Merkmal in Beratungskonzeptionen der BA zu formulieren (vgl. Rübner 2009).

5 Fazit und Ausblick

Berufsorientierung ist ein konstruktivistischer Prozess, in dem weniger objektive Daten (wie z. B. gemessene Interessen und Fähigkeiten) relevant sind, sondern vielmehr die subjektive Interpretation und Bedeutungszuschreibung. Insofern sollten Personen darin unterstützt werden, „Klarheit über eigene Werte und Ziele zu erreichen und diese als Leitlinie für ihre persönliche und völlig individuelle Laufbahn- und Lebensgestaltung zu nehmen, die sich nicht nach den Vorgaben von Unternehmen richtet.“ (Hirschi 2013, 35)

Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist gefordert, auch jenseits der Übergänge von Schule und Beruf Theorien und Konzepte zu entwickeln, die eine berufliche Orientierung im Kontext des lebenslangen Lernens ermöglichen. Dabei geht es zum einen um die Beschreibung und Analyse der bildungspolitischen Strukturen, in denen spezifische Interessen und Machtverhältnisse wirksam werden. Zum anderen geht es aber auch um die Begleitung der Professionalisierung des Personals in Schule und Betrieb in spezifisch berufspädagogischer Perspektive. Auch im traditionellen „Kerngeschäft“ der Berufspädagogik – der beruflich-betrieblichen Aus- und Weiterbildung – kommt Berufsorientierung in dem oben beschriebenen Sinn eine immer größere Bedeutung zu: Berufliche Orientierungskompetenz muss in der beruflichen Erstausbildung erworben werden und es braucht berufswissenschaftliche Forschung, deren Erkenntnisse dann in die Curriculumkonstruktion eingehen und in die Aus- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer an berufsbildenden Schulen implementiert werden.

Alle Institutionen der allgemeinen und beruflichen Bildung sind gefordert, in diesem Prozess Unterstützungsleistungen zu erbringen. Dies gilt nicht nur  im Rahmen von Beratung und Begleitung, vielmehr muss die grundlegende Kompetenz zur beruflichen Orientierung erworben werden. Die große Herausforderung für die Lehrerbildung liegt darin, dass Lehrer diese Leistung ihrerseits kaum selbst vollbringen müssen, weil sie zu den Berufsgruppen gehören, die i.d.R. ihren Beruf ein Leben lang ausüben. Damit ist für ihre Beruflichkeit ein hohes Maß an Kontinuität nach wie vor gegeben. Zu fragen ist, wie Lehrer ihre Schüler auf etwa vorbereiten können, was sie selbst nicht erfahren haben.

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[1] Vgl. dazu zwei interdisziplinäre Forschungsprojekte (BWL, Organisationspsychologie und  Berufspädagogik) an der Universität Trier: 1. Das von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierte Projekt  „Kompetenz- und Organisationsentwicklung als Faktoren erfolgreicher Wissensarbeit“ 2. „ALLWISS – ARBEITEN – LERNEN – LEBEN IN DER WISSENSARBEIT“. Forschungs- und Entwicklungsvorhabens im Bereich „Förderung der Innovationsfähigkeit durch das Prinzip der Work-Life-Balance“ der BMBF- Initiative „Balance von Flexibilität und Stabilität in einer sich wandelnden Arbeitswelt“ www.allwiss.de

[2] Vgl. die Programmreichen “Lernende Region – Förderung von Netzwerken” 2001-2007 und das Anschlussprogramm “Lernen vor Ort”

[3] http://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20031709/index.html#a56 

[4] http://www.berufsberatung.ch/

[5] http://www.dvb-fachverband.de/fileadmin/medien/grundsatzpapiere_dvb/Qualitaetsstandards_Orientierung_2009.pdf , (8.08.2014)

[6] http://www.dgfk.org

[7] http://www.dachverband-beratung.de

[8] http://www.arbeitsagentur.de/web/content/DE/service/Ueberuns/WeitereDienststellen/ZentraleAuslandsundFachvermittlung/Ueberuns/Euroguidance/index.htm – (29.7.2014)

[9] http://www.forum-beratung.de/cms/europaeisches-netzwerk-fr-beratung-elgpn/index.html - (29.7.2014)

Berufsorientierung als CASTING? Bericht und Reflexion zu einer subjektbezogenen Konzeption

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1 Einleitung

Die Berufsbildungsberichte der Bundesregierung gehen in den letzten Jahren immer wieder auf das Problem einer Verbesserung der Vernetzung der Schulen mit den Betrieben ein. So gilt den Berufsbildungsexperten die Berufsorientierung von Jugendlichen an den Schulen als unzureichend. Die Befunde zeigen, dass die Berufswahl häufig wenig fundiert und von falschen Erwartungen geprägt ist. Auch fehlt es an realistischen Eindrücken über Anforderungen und Perspektiven der Arbeitswelt und Berufspraxis – so der allgemeine Tenor. Einer der prägnantesten und empirisch gesicherten Befunde für diese Auffassung ist der Ausbildungsabbruch. Im Schnitt wird etwa jeder vierte neu abgeschlossene Ausbildungsvertrag während der Ausbildung wieder gelöst(vgl. Bundesinstitut für Berufsbildung 2014, 9).

Fragt man nach den tieferliegenden Gründen für das „ungelöste Problem Berufsorientierung“, dann stößt man auf vier Begründungszusammenhänge:

  1. Die Ansprüche an Berufsorientierung und -beratung sind transformationsbedingt angestiegen, und zwar als Folge des (insbesondere technisch-ökonomischen) Strukturwandels sowie der damit einher gehenden, veränderten Anforderungen an berufliche Qualifikationen und Kompetenzen. Neue Produktions- und Dienstleistungsstrukturen zeichnen sich vor allem durch einen höheren Grad an Komplexität aus und zugleich durch einen höheren Grad an Rationalität. Oehme beschreibt die Konsequenzen dieser dynamischen Entwicklungen auf Prozesse der Berufsorientierung als 'Desintegrations- bzw. Orientierungsdilemma' (vgl. Oehme 2013, 637).

    "Das Orientierungsdilemma besteht aus dieser Perspektive in der Dynamik, die quasi Orientierung auf einer Bühne erfordert, auf der ständig die Kulissen verschoben werden. Der Mensch in der modernen Arbeitswelt, so könnte man formulieren, steht immer wieder vor der Herausforderung zur Um- und Neuorientierung, um im ständigen Strom sich entsprechend weiter zu entwickeln, um dem verlagerten Werk nachzuziehen, sich neue Betätigungsfelder zu erschliessen - d.h. um immer wieder berufliche Integrationschancen zu suchen und zu nutzen." (Oehme 2013, 637)

    Das Desintegrations- bzw. Orientierungsdilemma hat zur Konsequenz, dass im Rahmen von Berufsorientierungsprozessen auch immer die Expertise im Bezug auf die Produktionsprozesse der entsprechenden Berufsfelder mit einbezogen werden müssen. Konkret erforderlich sind dementsprechend  einerseits eine systematische Rezeption aktueller Erkenntnisse der Arbeitsprozessforschung seitens der beteiligten pädagogischen Akteure und andererseits das Einbeziehen der Arbeitgeberperspektive in die operativen Berufsorientierungsprozesse.

  2. Es sind viele verschiedene Institutionen (Eltern, Schulen, Berufsinformationszentren, Unternehmen durch betriebliche Praktika, Jugendhilfe, etc.) an formalen und informellen Prozessen der Berufsberatung beteiligt. Diese Institutionen verfolgen jedoch jeweils auch eigene Perspektiven und Interessen, was der Tendenz nach eher nicht zu einer kohärenten Berufsorientierung der Subjekte beitragen kann, da die Jugendlichen mit der Integration der verschiedenen Beratungen in eine auf individuelle Potentiale fokussierte Gesamtperspektive allein gelassen werden. Oehme (vgl. Oehme 2013, 641ff.) bezeichnet diese Tatsache als 'Institutionalisierungsdilemma'. Gemeint ist eine nicht abgestimmte Informationsflut, welche die Jugendlichen zur Verarbeitung auffordert, ohne diese Verarbeitungsaufforderung unterstützend zu moderieren.

  3. Es kann gezeigt werden, dass die Prozesse der Berufsorientierung von der sozialen Herkunft der jungen Menschen beeinflusst wird. Eltern sind z.T. kaum mehr in der Lage, die neuen zeitgemäßen Wissensbestände mit ihren Kindern zu erörtern, geschweige zu tradieren. Zu sehr sind die Eltern in der Demobilisierung ihrer alten Wissensbestände gefangen. So fallen die natürlichen Quellen der Orientierung zunehmend weg, wie auch Neuenschwander im Hinblick auf 'Elternarbeit in der Berufsorientierungsphase' feststellt.

    "(...) Eltern [können, ED] überfordert sein, ihre Kinder angemessen im Berufsorientierungsprozess anzuleiten. Insbesondere Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus Nichtakademiker-Familien müssen weitgehend selbstständig die Studienwahl treffen. Viele Eltern sind auch beim Übergang in die Berufsausbildung mit der Beratung überfordert und müssen sich Informationen über Ausbildungsgänge und Berufsfelder selbst beschaffen bzw. sind auf Hilfe durch kompetente Übergangsfachleute angewiesen." (vgl. zu diesem Zusammenhang z. B. (Neuenschwander 2013))

    Diese Entwicklung legt es nahe davon auszugehen, dass es eines neuen professionellen und institutionalisierten Settings für Prozesse der Berufsorientierung bedarf, welches das im Rahmen der primären Sozialisation transformationsbedingt entstandene Informationsdefizit auszugleichen vermag.

  4. Die empirischen Untersuchungen zeigen eine deutliche Zunahme der Pluralisierung von Familien- und anderen Lebensformen. Die private Betreuungs- und Bildungssituation von Kindern wird in erheblichem Maße durch die Zunahme Alleinerziehender, das Sinken der durchschnittlichen Geschwisterzahl, das steigende Alter bei der Erstelternschaft sowie durch die abnehmende Stabilität von Familienstrukturen beeinflusst. Ein signifikanter Hinweis darauf ist die wachsende Zahl von Ehescheidungen, die sich zwischen 1990 und 2013 von jährlich 273,8 auf 357,1 pro 1.000 Einwohner erhöht hat [Summe der ehedauerspezifischen Scheidungsziffern, die sich als geschiedene Ehen eines Eheschließungsjahrgangs je 1 000 geschlossene Ehen desselben Jahrgangs ergeben, für die Ehedauer von 0 bis 25 Jahren. (vgl. Statistisches Bundesamt 22.7.2014)]. Zugenommen hat damit auch der Anteil der Kinder, die bei einem geschiedenen Elternteil leben.

Diese Entwicklungen markieren insgesamt eine deutlich veränderte Ausgangslage, die auch das Verhältnis von Familie und Schule berührt und in vielen Fällen die Unterstützungsmöglichkeiten von Kindern bei der Bewältigung schulischer Anforderungen beschränkt und Schulen zugleich eine lebensweltsensiblere Berücksichtigung veränderter Familienbeziehungen abverlangt. Die Rahmenbedingungen bewirken zugleich auch eine veränderte „Binnenperspektive“  der jungen  Menschen. Die veränderte Binnenperspektive bewirkt möglicherweise allerdings eine Affinität Jugendlicher zu potentialorientierten Ansätzen von Berufsorientierungprozessen abseits ausgetretener Pfade wie standardisierter Bewerbungstrainings, etc. Der folgende Exkurs soll vor diesem Hintergrund in theoretisch rückvermittelnder Weise Aufschluss darüber geben, warum Berufsorientierung im Medium von Casting-Verfahren helfen könnte, sowohl die Explikation des Humanpotentials Jugendlicher als auch die entsprechende Passungsfindung zu Berufs- bzw. Tätigkeitsfeldern lebensweltsensibel zu moderieren.

1.1 Jugendliche Binnenperspektive: Narzissmus und Ichideal

Zima analysiert die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen vor dem Hintergrund aktueller Sozialisationsbedingungen(vgl. zu diesem Abschnitt Zima 2009) und greift dabei die oben bereits skizzierten Aspekte des strukturellen Wandels auf. Insbesondere fokussiert er den Narzissmus als ambivalenten Charakterbestandteil, der einerseits die produktive Kraft, Großzügigkeit, Bejahung des Anderen und der Alterität beschreibt, andererseits aber auch die destruktive Kraft, den Neid und die Verneinung des Anderen und der Alterität. Er konstatiert in einer Kernthese, dass

"(...) der Narzissmus integraler und unverzichtbarer Impuls einer sich dialogisch entwickelnden individuellen Subjektivität ist, die von Kritik und Zustimmung der anderen abhängt, dass er aber jederzeit in eine monologische Negation des anderen umschlagen kann, wenn der Andere dem Subjekt als Vorwand oder als Hindernis erscheint oder selbst diese Rolle spielt." (Zima 2009, 88)

Eine instrumentelle Einstellung zu anderen Menschen - die als Vorwand oder Hindernis aufgefasst werden - kann sowohl in der primären als auch in der sekundären Sozialisationsphase entstehen. Solche Entwicklungen können beispielsweise durch zerfallende Familien mangels idealisierter Elternbilder oder durch elterlichen Ehrgeiz, welcher von Herrschaftsverhältnissen, Hierarchien und Marktmechanismen geprägt ist, entstehen. Im Zuge von institutionalisierten (Aus-)Bildungsprozessen kann es dazu kommen, dass die anderen Kinder/Jugendlichen durch Konkurrenzdruck als Hindernis erkannt werden, so kann der gesunde vom malignen Narzissmus im Laufe der Zeit verdrängt werden - in praxi greifen die Mechanismen ineinander und die Dominanz einer über die andere Form entwickelt sich im Laufe der Sozialisation. Will das narzisstische Individuum durch einen anderen Menschen ein Ziel erreichen, so ist die Rede vom anderen nicht als Dialogpartner sondern als Vorwand (via Instrumentalisierung, Vereinnahmung, Reduktion).

Die Gründe für die Entwicklung sind offensichtlich in der gesellschaftlichen Transformation zu suchen. Erstens wird der Rückgang des liberalen Unternehmertums in Verbindung mit der Schwächung des Berufsethos als Begründungszusammenhang in Betracht gezogen. Demzufolge bildet der Einzelne statt eines beruflichen Ichideals ein freizeitbezogenes Idealich aus. Ichideale von Religion, Beruf und Familie lösen sich durch die Erosion von beruflichen Identitäten und tradierten Berufsbildern auf, welche durch 'Jobs' und 'Projekte' abgelöst werden. Der Beruf wird begrenzt auf einen Job, eine Geldquelle, also auf seinen marktbezogenen Tauschwert. Die Reaktion des Individuums bezieht sich auf den verbleibenden Spielraum: die Freizeitwelt - Konsum, infantile Größenfantasien, Imaginäres, die profane Welt der freizeitbezogenen, leistungsorientierten Selbstverwirklichung, soziale Zuflucht in kommerziell organisierte und infantile Regression der Freizeitindustrie. Das Idealich wird von Werbung und Wirtschaft adressiert und unterliegt permanent der Gefahr manipuliert zu werden.

Der zweite Grund liegt für Zima im gesellschaftlichen Wertezerfall. Das Ichideal wird durch zunehmende gesellschaftliche Differenzierung und ideologische Zersplitterung der Gesellschaft geschwächt. Traditionen sowie religiöse oder künstlerische Ideale verlieren an Wert und Verbindlichkeit bzw. gelten nur noch in spezifischen (Freizeit-) Sphären. Dies führt zur Flucht ins imaginäre Idealich als Reaktion auf Sinn- und Legitimitätsverlust. Durch den erodierenden Wert des Berufs und die rein funktionale Betrachtung als Job wird der Narzissmus als Idealich möglicherweise in der Freizeit befriedigt. Es koexistieren gleichzeitig multiple Wertesysteme, die sich z.T. auch noch widersprechen. An die Stelle religiöser, kultureller und sozialer Werte tritt der Tauschwert als einziger von Allen gleichermaßen anerkannter Wert.

"Alles was über den Bereich individueller Subjektivität hinausgeht, wird abgewertet oder vernachlässigt. Überindividuelle, kollektive Werte, die Individuen miteinander verbinden, solidarisieren, treten in den Hintergrund und werden durch Vorstellungen ersetzt, die dem Bereich des Idealichs angehören. In diesem Bereich erscheint der andere vorwiegend als Vorwand oder gar als zu meidendes oder zu beseitigendes Hindernis - nicht als Vertreter einer Wertgemeinschaft, als Ko-Subjekt." (Zima 2009, 130)

Ein dritter Grund für die sich verändernden Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung der heranwachsenden Generationen scheint im Wandel der traditionellen Familie zu liegen. Die Familie als kleinste Wertegemeinschaft und spezifische Form symbolischer Ordnung der Gesellschaft zerfällt, die (nicht zuletzt über die berufliche Position vermittelte) Stellung des Vaters wird im Zuge von Arbeitsteilung und ansteigender Fragmentierung der Arbeit zusätzlich geschwächt. Ein weiterer Trend besteht in der Trennung des Vaters von der Familie, sei sie temporal, räumlich, emotional oder juristisch-dauerhaft. Hiermit gehen die Abkehr von väterlichen Ichidealen und die Hinwendung zu mütterlich-imaginärem Idealich einher. Der Narzissmus eines imaginären Idealichs wird zum sozialen Erbe innerhalb der Familie, mütterliches Streben nach Symbiose und Harmonie mit dem narzisstisch geliebten Kind ist monologisch und führt zum Narzissmus der jungen Generation die nach Geborgenheit und Allmacht strebt, wie aktuelle Studien der Jugendforschung (vgl. Rheingold Institut 09.09.2010) und Demokratieforschung (vgl. Decker 2014; Heitmeyer 2011) belegen können.

Der aktuelle Trend zur medialen Forcierung des Idealichs stützt Zimas These weiter. Durch die tendenzielle Aufhebung des Realitätsprinzips forcieren die Medien die Entfaltung des Idealichs, Wunschvorstellungen und Selbstprojektionen werden bestätigt und durch Identifikationsangebote gestützt, dialogische Beziehungen werden durch monologisch-narzisstische Projektionen von Idealich-Vorstellungen ersetzt. Gleichzeitig zerfällt der familiäre Kommunikationszusammenhang, da jeder in der Medienwelt ein anderes Idealich verfolgt. Das medial vermittelte Idealich bleibt allerdings durch ein hohes Tempo der Veränderungen labil und ohne stabilisierenden Wert.

"Obwohl die Starkarriere im Fernsehprogramm als 'gesellschaftliches Ideal präsentiert' wird, lässt die Kurzlebigkeit der jugendlichen Laufbahnen vermuten, dass es im Wesentlichen um die Befriedigung eines infantilen Narzissmus geht, der primär auf das Idealich als 'grandioses Selbst' ausgerichtet ist und dem die Verwirklichung gesellschaftlicher, künstlerischer Normen und Werte nicht gilt - zumal in den Augen vieler Teilnehmer die 'Körperinszenierungen der Stars' im Mittelpunkt stehen." (Zima 2009, 142)

Casting-Programme[1] oder virtuelle Welten wie ‚Second Life‘ und 'Facebook'(vgl. Turkle 2012) dienen als digitale Inszenierung des Imaginären der Flucht ins mütterlich-imaginäre (in Kohuts 'infantiles Größenselbst,) und schaffen so eine neue Dimension für das Idealich, in welcher sich die Jugendlichen ganz offensichtlich heimisch fühlen, wie aktuelle Jugendstudien bestätigen (vgl. z. B. Maschke et al. 2013, 85ff.).

1.2 Hypothesen

Folgende Hypothesen werden unter Rückgriff auf die Erkenntnisse der Studie von Zima formuliert:

  1. Zima zu Folge kann davon ausgegangen werden, dass Jugendliche, welche zur Zielgruppe von Berufsorientierungsprozessen gehören, ein ausgeprägtes „Ich“ aufweisen können, das sich nur zum Teil an der sozialen Realität, viel häufiger aber an individuellen und an den peer group Maßstäben orientiert. Die Quellen für diese Selbstbilder stammen aus „Wunschbildern“ und Peergroup-Rückmeldungen, die tendenziell eher eine kompensatorische Realitätsflucht darstellen. Das „Ich“ wird also weniger von tatsächlichen, am Real-Selbst orientierten Erfahrungen gebildet, sondern es dominieren Aspekte des Ideal-Selbst. Der dritte Selbstaspekt, das Moral-Selbst,konkretisiert sich im „Ich“ ebenfalls nur in ausschnitthaften Facetten – sofern sie zur Peergroup Norm und zum eigenen Wunschbild passen.
  2. Die Motivation des sozialen Handelns wird durch Machtmotivation dominiert (vgl. Rheinberg 2004, 100ff.), wobei hier das Ziel in der Erlangung von Anerkennung und Beachtung durch andere Personen liegt. Diese sog. personalisierte Macht – im Kontrast zur sog. sozialisierten Macht kennzeichnet ein Streben nach Dominanz und/oder Aufstieg in der Gruppenhierarchie, wobei auch hier die Bezugsgruppe vornehmlich in der Peergroup zu sehen ist. Außerhalb dieses Kontextes bestehen kaum Chancen, die Anerkennung zu verwirklichen.
  3. Die entweder unrealistisch hohe oder zu niedrige Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten führt zu unangemessenen Aufgaben- oder Berufswahlen. So driften in einem „Teufelskreis“ von Aufgabenwahlen und Selbsteinschätzungen die Selbstbilder immer weiter von der individuellen Realität ab. Durch „erschwindelte“ Leistungen in der Schule genauso wie durch aktive Leistungsverweigerung können kaum echte Erfolgserlebnisse, die durch Emotionsverläufe von Freude, Stolz und Selbstvertrauen gekennzeichnet sind, entstehen. Ein in vielen Fällen grundsätzlich vorhandenes Leistungsmotiv (vgl. Rheinberg 2004, 59ff.) der Jugendlichen kann sich unter diesen Bedingungen nicht entfalten.
  4. Die Tatsache, dass Jugendliche Lebenswelten offensichtlich zumindest zum Teil durch eine medial gestützte Realitätsflucht geprägt sind, darf nicht ignoriert werden. Nimmt man das Postulat Klafkis hinsichtlich der Gegenwartsbedeutung und der Zugänglichkeit von Stoffen ernst, so kommt man nicht umhin sich mit dem Casting-Format als didaktischem Verfahrenselement, auch für Berufsorientierungsprozesse zu befassen. Charakteristisch für dieses Verfahren ist die Notwendigkeit für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich Gedanken darüber zu machen, wie Kompetenzen in performativen Praxen sichtbar gemacht werden können. Es ist essentiell in diesem Verfahren eine Form der 'Inszenierung' der eigenen Kompetenzen zu wählen, welche ein Fachpublikum überzeugen kann. Die so entstehende Performanz gegenüber einer Gruppe von Experten greift aus subjektbezogen-motivationstheoretischer Perspektive auf Zimas Erkenntnis bzgl. des Trends zum inszenierten Ausleben von Potentialen auf. Auf diese Art und Weise kann die konstatierte Veränderung der Binnenperspektive Jugendlicher unter spezifischen Bedingungen konstruktiv im Sinne der Berufs(wahl)orientierung als Zugang zu Humanpotentialen gewendet werden. Die spezifischen Bedingungen resultieren aus der Kritik an gängigen Casting-Formaten bzgl. der Realitätsentkopplung von Zielperspektiven (kurzlebige 'Superstar-Karrieren'). Dementsprechend gilt es ein didaktisch reflektiertes Casting-Verfahren zu generieren und auf sein Potential im Rahmen von Berufsorientierungsprozessen zu überprüfen. Eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe kommt in diesem Setting insbesondere der Jury zu, welche eine realistische, nicht interessengesteuerte Einschätzung objektivierter, individueller Potentiale und Kompetenzen zu leisten im Stande sein muss.

Insgesamt führt diese subjektbezoge-motivationstheoretische Sicht zu der Einsicht, dass Berufsorientierung stärker an realistischen Bezugsnormen und echten Erfolgserlebnissen zu orientieren ist, gleichzeitig aber mit Blick auf die Verfahren lebensweltliche Bezüge nicht außer Acht lassen darf. Zu den gesicherten Kenntnissen gehört, dass eine fundierte, systematische und strukturierte sowie kontinuierliche Berufsorientierung und Berufsberatung nur dann wirksam und wirtschaftlich ist, wenn die Akteure zur Kooperation bereit sind (vgl. hierzu auch (Eckert 2006; Kampmeier 2006; Obolenski 2006; Schreier 2006). Da Lehrkräfte in allgemein bildenden Schulen die Aufgabe der Berufsorientierung nicht alleine bewältigen können, wird in den Berufsbildungsberichten ein abgestimmtes Zusammenwirken der allgemein und berufsbildenden Schulen und der Berufsberatung der Bundesagentur für Arbeit für erforderlich gehalten. In diesem Zusammenhang werden die folgenden vier Ansatzpunkte für eine Verbesserung der Situation genannt:

  • systematisierte Beratungs- und Orientierungsangebote der Bundesagentur für Arbeit zur Berufsorientierung für Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer und Eltern,
  • Schülerbetriebspraktika in den Sekundarstufen I und II,
  • Partnerschaften auf Vertragsbasis zwischen Schulen und Betrieben/Verwaltungen,
  • die Einführung arbeitsweltbezogener Inhalte im Unterricht ab der 8. Klasse.

Diese Perspektiven - gebündelt im Kooperationspostulat (a) und in der subjektbezogen-motivationstheoretisch Legitimation für das Casting-Verfahren (b) - fließen in einen sozialräumlich orientierten Ansatz von Berufsorientierung ein.

2 Sozialräumlich orientierte Berufsorientierung

  1. Die Perspektive des Kooperationspostulats wird durch die Grundstruktur der Konzeption aufgegriffen. In ihrer Grundstruktur folgt die hier vorgestellte Konzeption von Berufsorientierung dem Sozialraumansatz (vgl. Deinet 2012), wie er auch schon von Buchmann und Huisinga im Rahmen eines Projekts zur Alphabetisierung erprobt wurde (vgl. Buchmann/Huisinga 2011). Insgesamt geht es um ein neues Zusammenwirken durch die Vernetzung der Akteure vor Ort, in diesem Fall insbesondere der Vernetzung von Jugendlichen, Schulen und der Arbeitgeberseite. Zu den zu beteiligenden Akteuren gehören weiterhin Eltern, Ausbildungsinitiativen und weitere Koordinierungsstellen in kommunaler oder freier Trägerschaft, auf welche in diesem Beitrag allerdings aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden kann. Die Vernetzung muss das oben entfaltete Bedingungsgefüge hinsichtlich jugendlicher Lebenswelten und Persönlichkeitsentwicklung systematisch berücksichtigen.
  2. Die subjektbezogen-motivationstheoretische Perspektive, wie sie in Kapitel 1 entfaltet wurde, legitimiert die Entscheidung für ein Casting-bezogenes Verfahren, welches sich in fünf Schritte gliedert und die Aspekte der veränderten Binnenperspektive und des Identitätsmodell aufgreift. Nach einem Vorlauf, der 'Coaching' für die pädagogischen Akteure und 'Briefing' für die Arbeitgebervertreter beinhaltet, werden die eigentlichen Workshops durchgeführt. In der ersten Potentialrunde werden - unterstützend moderiert durch entsprechend gecoachte Pädagoginnen und Pädagogen - von den Jugendlichen 'Self-Descriptions' bezogen auf ihr Kompetenzspektrum angefertigt. Diese Selbstbeschreibungen werden in der zweite Potentialrunde im Rahmen eines 'Peer-Reviews' rückgekoppelt und in der dritten Potentialrunde exemplarisch im Sinne der Performanz objektiviert. Der abschließende, fünfte Schritt besteht im eigentlichen Casting, also der Präsentation der Potentiale gegenüber einer Jury, konstitutiert aus Experten des Arbeitsmarktes. Die Details der einzelnen Schritte werden in Kapitel 2.2 ausführlich referiert.

Grundsätzlich folgt die Konzeption der Auffassung, dass die

  • Berufsorientierung Teil der schulischen Allgemeinbildung ist;
  • Berufsorientierung ein wesentliches Bindeglied zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem darstellt;
  • Berufsorientierung eine Kern- und Querschnittsaufgabe für alle Lehrkräfte ist und fachübergreifend wahrgenommen werden sollte;
  • Berufsorientierung weiterer Partner, insbesondere aus der Wirtschaft, der Arbeitsverwaltung, Kammern, Innungen, Verbänden sowie Bildungsträgern bedarf;
  • Berufsorientierung auch auf die Eltern verwiesen ist.

Der Sinn und der Nutzen der geforderten Kooperation liegt darin, dass

  • Schulen und Betriebe die Möglichkeit erhalten , ein gemeinsames Verständnis von Ausbildungsreife und Berufsorientierung zu entwickeln und umzusetzen;
  • Berufsvorbereitungsunterricht für die Schülerinnen und Schüler greifbarer und nachvollziehbarer wird, weil Aspekte der Arbeitswelt einbezogen werden;
  • Schulen durch die Kooperationen zusätzliches Potenzial erhalten, ihren Bildungsauftrag zu erfüllen;
  • Schülerinnen und Schülern arbeitsweltbezogene Entscheidungen angemessener treffen können und motivierter ihre Vorstellungen vortragen können;
  • Unternehmen als Lernpartner künftige Auszubildende werben und sich als attraktiver Arbeitgeber präsentieren können;
  • betriebliche Ausbilder und schulische Lehrkräfte neue Kooperationsbeziehungen eingehen, welche die Personalentwicklung stärken;
  • Schulen und Betriebe ihr Ansehen in der Öffentlichkeit verbessern, wenn sie gemeinsam gesellschaftliche Verantwortung für die nachwachsende Generation in ihrer Region wahrnehmen.

2.1 Äußere und innere Organisationsstruktur

Im Hinblick auf die äußere Organisationsstruktur des sozialen Netzes soll auf einige notwendige Bedingungen hingewiesen werden. In der Praxis zeigt sich, dass es für die Netzwerkbildung in aller Regel eine Basis gibt. Wichtig im Feld der Berufsorientierung sind seit Jahren die Bundes- und Landesarbeitsgemeinschaften Schule-Wirtschaft mit ihren bundesweit über 400 regionalen Arbeitskreisen. Aber auch die Projekte und Initiativen der Industrie- und Handelskammern sowie der Handwerkskammern bieten vielfältige Anknüpfungspunkte. Diese Institutionen können helfen, erste oder weitere geeignete Partner zu gewinnen. In manchen Regionen gibt es bereits regionale Bildungsnetzwerke, in denen sich viele Partner vor Ort entsprechend der konkret vorhandenen Bedürfnisse engagieren. Auch die Vereine, die Arbeitsagenturen, die Schulverwaltungen und die Kommunen mit ihren Jugendhilfeeinrichtungen können einbezogen werden. Die Rahmenvereinbarung von Kultusministerkonferenz und Bundesagentur für Arbeit zur Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung sowie die entsprechenden Vereinbarungen auf Landes- und auf lokaler Ebene, wie etwa die „Beiräte Schule Beruf“ in Nordrhein-Westfalen, bieten einen weiteren Anknüpfungspunkt für gemeinsame Initiativen. Im Rahmen solcher Initiativen und Netzwerke lässt sich eine Akteursvernetzung - insbesondere zwischen Schulen und Arbeitgebervertretern - für die sozialräumlich orientierte Konzeption von Berufsorientierung generieren.

Innerhalb der an der Konzeption beteiligten Schulen sollten die Kolleginnen und Kollegen fächerübergreifend beteiligt werden. Eine Berufsorientierung, welche sich dem Gedanken des Arbeitslehre-Unterrichts folgend nur auf ein Schulfach bezieht, erscheint vor dem Hintergrund der weiter oben entfalteten Argumentation hinsichtlich des gesteigerten Komplexitätsgrades von Produktionsprozessen und die damit verbundenen Kompetenzerfordernisse wenig erfolgsversprechend. Die Konzeption basiert auf der Annahme, dass zum Aufspüren, Entwickeln und Entfalten von jugendlichen Humanpotentialen alle (Fach-)Disziplinen beteiligt werden müssen. Die Konzeption geht nicht davon aus, dass sich diese Humanpotentiale allein in Medium berufsfeldbezogener Lernsituationen als Arbeitskraftpotentiale entwickelt werden können. Das Gegenteil ist der Fall - je mehr Fachdisziplinen am Prozess der Berufsorientierung unbeteiligt bleiben, umso größer wird die Gefahr 'blinde Flecken' zu provozieren. Dementsprechend sollte im Rahmen der Durchführung der einzelnen Phasen der Konzeption (siehe Kap. 2) Wert darauf gelegt werden, die Berufsorientierung als Kern- und Querschnittsaufgabe für alle Lehrkräfte fächerübergreifend zu organisieren. Diese Fokussierung trägt auch der Tatsache Rechnung, dass technisch-ökonomischer und sozialer Wandel eine Flexibilität seitens der Jugendlichen als 'permanente Orientierungsfähigkeit' erfordern. Sowohl die Primäraufgabe der Berufsorientierung als auch die weiterführende Entwicklung und Entfaltung der transparent gemachten Kompetenzen bedürfen des Rückgriffs auf allgemeine Bildungsgehalte (Gesetzmäßigkeiten, Relationsgefüge, Codierungs- und Decodierungsmuster, Grammatiken, etc.), welche den Jugendlichen quasi als 'Handwerkszeug' die lebenslange, berufliche und private Orientierung unter Bedingungen gesellschaftlicher Transformation ermöglichen können. Ohne klare Kommunikations- und Kooperationsstrukturen kann kein Projekt gelingen. Erfolgsfaktoren für eine solche Kooperation sind Systematik, Kontinuität, Kommunikation und Verantwortungsbewusstsein. Die Festlegung einer geeigneten Organisations- und Kooperationsstruktur beginnt daher bereits mit einer Zielformulierung bzw. Zielvereinbarung. Eindeutige Zielvorgaben, die möglichst in kleinen Schritten, also realistisch formuliert sind, wirken sich positiv auf die Motivation aller Beteiligten aus. Für alle Beteiligten und Interessierten an den laufenden oder geplanten Initiativen und Projekten ist stets zu gewährleisten, dass sie freien Zugang zu den relevanten Informationen haben. Ein kontinuierlicher Informationsaustausch sichert die Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Hierbei können regelmäßige Treffen oder Sitzungen eine gute Orientierungshilfe darstellen. Praktisch und hilfreich ist es in diesem Zusammenhang auch, feste Ansprechpartner in den beteiligten Institutionen zu benennen. In einer Dokumentation, die für alle an der Initiative Beteiligten zugänglich ist, stehen Namen, Anschriften, Telefonnummern und E-Mail-Adressen und gegebenenfalls auch feste Sprechzeiten und Vertretungen. Weiterhin erleichtern eine Liste vorhandener und notwendiger materieller und finanzieller Ressourcen sowie eine klare Zuordnung von Aufgaben, die auf Dauer angelegte Kooperationsbeziehung durchzuführen und laufend zu evaluieren. Um die vorhandenen Angaben übersichtlich zusammenzustellen, sind ein Projektstrukturplan und ein Projektablaufplan hilfreiche Instrumente. Umfang und Struktur dieser Pläne sind da-

bei abhängig von den geplanten Maßnahmen zur Berufsorientierung und Berufswahlvorbereitung. Eine Übersicht in Form einer Checkliste kann – in Verbindung mit Zeitvorgaben und der Benennung der zuständigen Personen – eine gute Informationsgrundlage für alle Beteiligten liefern. Bei aller erforderlicher Strukturplanung ist es aber auch wichtig, nicht zu stark zu formalisieren.

2.2 Konzeption

Entscheidend für einen berufsorientierenden Erfolg ist ein Gesamtkonzept, in dem die einzelnen Bestandteile aufeinander abgestimmt sind und sich funktional ergänzen. Berufsorientierung und Berufswahlvorbereitung müssen als Auftrag der ganzen Schule in der Konzeption und Umsetzung kontinuierlich mit den Rahmenbedingungen abgeglichen werden. Folglich kann die Konzeptentwicklung – in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft – nicht endgültig abgeschlossen und die Qualität eines Berufsorientierungskonzepts nicht allgemein gültig festgelegt werden.

Die Konzeption wurde im Rahmen einer Kooperation der AG Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Universität Siegen entwickelt und zusammen mit der 'Oberbergischen Koordinierungsstelle Ausbildung' und Schülerinnen und Schülern einer neunten Gesamtschulklasse als Pilotprojekt erprobt, so wie es im folgenden Text beschrieben wird. Abgesehen von diesem Pilot-Durchgang richtet sich die Konzeption an Schülerinnen und Schüler aller Schulformen der (vornehmlich neunten und zehnten Jahrgangsstufen in der) Sekundarstufe I, sowie an Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Maßnahmen und Bildungsgängen im Übergang Schule - Beruf.

2.2.1 Grundlagen der Workshops

Das Workshop-Konzept an Schulen zur Berufsorientierung setzt an den folgenden wissenschaftsrückbezogenen Erkenntnissen an:

  • Jugendliche Schülerinnen und Schüler leben zumeist in ihrer Lebenswelt (vgl. 'Jugendliche Binnenperspektiven'), die sich in vielen Punkten zu den betrieblichen Systemwelten in einer Differenz befindet. Die Lebenswelt-Systemwelt-Differenz gilt es im Hinblick auf die Berufsorientierung zu schließen. Aus diesem Grunde setzt das Konzept weder an schulischen Unterrichtsstoffen an noch an betrieblichen Logiken der Ausbildung. Die Lebenswelt-Systemweltdifferenz legt vielmehr nahe, die den Schülerinnen und Schülern nahen Lebenswelten zum Ausgangspunkt der Berufsorientierung zu machen und von diesen her einen Entwicklungsprozess anzustoßen.
  • Berufsorientierung bedarf einer Vorstellung von Personalentwicklung. Der Workshop greift deshalb auf ein Identitätsmodell zurück. Die hinter dem Identitätskonzept liegende Frage lautet: „Wie organisieren Subjekte ihre Kohärenzerfahrung angesichts der Vielfalt lebensweltlicher Selbsterfahrungen und der Abnahme der gesellschaftlichen Kohärenzmodelle (z. B. Berufsbildung)? Keupp (vgl. zu diesem Abschnitt Keupp 2008) zu Folge besitzt Identität einen Doppelcharakter als selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren Welt – determiniert durch Eigensinn, Sinnbestimmung, individuellen Bedürfnisse und Autonomiebestreben - und der äußeren Welt, die durch soziale Akzeptanz, Rollenerwartungen und Unterwerfung unter bestimmte Aspekte von Welt geprägt ist. Keupp analysiert insbesondere die Transformationsprozesse in spätmodernen Gesellschaften und deren Auswirkungen auf Prozesse der Identitätsbildung in den Blick – sei Sie denn individuell oder kollektiv - als Umbruchserfahrungen. Von besonderer Relevanz ist die Erfassung der Mechanismen "alltäglicher Identitätsarbeit" unter den Bedingungen der Spätmoderne, also die Beantwortung der Frage nach "konkreten Gestaltungsformen von Kohärenz, Kontinuität und Autonomie im Rahmen besonderer soziokultureller Anforderungen und Vorgaben." (Keupp 2008, 31) Es lassen sich demzufolge vier maßgebliche Kriterien hinsichtlich der Prozesse kohärenter Identitätsbildung differenzieren:
    1. Das Gefühl von und Wissen um Handlungsfähigkeit, wirkt sich als Kohärenzgefühl in der flexiblen Auswahl von Bewältigungsstrategien aus.
    2. Aufmerksamkeit von Anderen, positive Bewertung durch Andere und Selbstanerkennung als Identitätsstiftende und -stützende Anerkennung muss mittels kommunikativer Kompetenzen dialogisch ausgehandelt werden und führt zu gutem Selbst- und Kohärenzgefühl.
    3. Authentizität schließt die Idee der Autonomie ein (nicht umgekehrt) und gilt vor dem Hintergrund weniger vorgegebener und erprobter Identitäten, zunehmender Optionalität und der Notwendigkeit eines kreativeren, innovativeren und experimentelleren Umgangs mit den Chancen und Risiken der Lebensgestaltung als wichtiges Kriterium für eine gelungene Identität.
    4. Individuell-subjektive, soziale, materielle und kulturelle Ressourcen schließlich bestimmen über die Qualität der erreichbaren Handlungsfähigkeit im Hinblick auf Identitätsarbeit.

Darüber hinaus handelt es sich bei Berufswahlentscheidungen heute um einen biogra-phisch nicht abschließbaren Prozess (lebenslanges Lernen). Auf diesen gesellschaftlichen Umstand muss ein Identitätsmodell Rücksicht nehmen, weshalb es prozessual anzulegen ist.

  • Das vorliegende Konzept nutzt ferner das Instrument der „self-description“, in Anlehnung an Cohn (Cohn 2013). Als eine Schlüsselgröße fungiert die Bereitschaft in den Prozess der Personal- bzw. Identitätsentwicklung einzutreten. Im konkreten Workshop werden die Potentiale der Personalentwicklung im Rahmen einer Werkstattarbeit auf der Basis der “self-descriptions” erarbeitet. Hervorzuheben ist, dass für die heranwachsende Generation eine gesellschaftliche Situation entstanden ist, in der junge Menschen eher durch Defizite gemessen an vermeintlichen Standards charakterisiert werden, statt sie in ihren Potentialen zu begreifen. Die „Self-Descriptions“ sollen in Zusammenhang mit dem Identitätsmodell einen adäquaten Weg eröffnen, zuvorderst die Potentiale der jungen Menschen offen zu legen.
  • Berufsorientierung, die auch der Lebens- und Identitätsplanung Sinn geben soll, bedarf einer Darlegung, die es ermöglicht, den aktuellen und den künftig zu erwartenden Wandel in der Arbeitswelt zu erkennen und auf die eigene Situation zu beziehen. Aus diesem Grunde greift das Konzept auf die wissenschaftliche Expertise zurück. Weder Lehrerinnen noch Lehrer oder betriebliche Ausbilderinnen und Ausbilder erklären, wie sich Berufsorientierung im gesellschaftlichen Strukturwandel vollzieht. Die Instanz, die die gesellschaftliche Logik selbst verändern kann, nämlich das wissenschaftliche Wissen, wird im Konzept der Berufsorientierung selbst herangezogen. Ausdiesem Grundesind auch regelmäßige wissenschaftlich orientierte Vorträge und Weiterbildungen für die Akteure über den Strukturwandel und das Berufsbildungssystem Teil der Konzeption.
  • Den Besonderheiten der Individualisierung, der Pluralisierung und der Dezentrierung des Selbst sind im Konzept Rechnung zu tragen. Die Verantwortlichen für ein solches Konzept der Berufsorientierung stellt eine solche Entwicklung vor das Problem, mögliche Selbstverzerrungen, Fehlsichten auf sich selbst und systematischen Fehlidealisierungen entgegenzuwirken. Im Rahmen der vorliegenden Konzeption geschieht dies auf doppelte Weise. Dort, wo es um die situationale Selbstthematisierung mit Hilfe des Instrumentes der „Self-Descriptions“ geht, spiegeln die Peers die Glaubwürdigkeit der Selbstaussagen, und zwar ohne dass der Betroffene die Möglichkeit hätte, dazu Stellung zu nehmen (Interaktionselement „Heißer Stuhl“). Die Selbstcharakterisierung bzw. die Selbsteinschätzung der eigenen Potentialewirdnebendem „Peer-Review“ ferner durch deren Objektivierung überprüft. D.h., die Schülerinnen und Schüler müssen auch unter Beweis stellen, dass sie über diese Potentiale, von denen sie annehmen, dass sie „arbeitsmarktfähig“ sind, wirklich verfügen. Sie unterliegen damit der „Veröffentlichungspflicht“. Theoretisch handelt es sich bei diesem Vorgehen um die Nutzung dessen, was als „locus of control“ bezeichnet wird. Dessen Nutzung wird dadurch verstärkt, dass das Konzept selbst in ein Medium eingebettet wird, welches die Jugendlichen u.a. aus dem Fernsehen zur Genüge kennen: Castings. Die öffentliche Darbietung der eigenen Leistung und deren Unterwerfung unter ein Fremdurteil einer kompetenten Jury, bietet eine gute Gewähr für die Beurteilung der gezeigten Potentiale, respektive der Kompetenzen. Die Jury, die gebildet wird, besteht wiederum ausschließlich aus Arbeitgebern, um die arbeitsmarkt- und berufsrelevante Positionierung der gezeigten Potentiale zu beurteilen. Dieses spezifische Verfahren der vorliegenden Konzeption trägt dem oben als Hypothese postulierten Lebensweltbezug bzw. Realitätsbezug des Ansatzes in besonderer Weise Rechnung.
  • Der Prozess, in den sich die Jugendlichen konkret hineinbegeben, birgt immer auch das Risiko des Scheiterns. Im Casting kann eine Jury zu der Auffassung gelangen, dass die „offerierten“ bzw. im Projekt dargelegten Kompetenzen für eine Berufsausbildung als nicht ausreichend einzustufen sind. Dieses Risiko müssen die Schülerinnen und Schüler dann selbsttragen und selbst verantworten. Aus einer pädagogischen Perspektive muss diese Verantwortungsübernahme allerdings unbedingt moderiert werden. Deshalb enthält das Identitätsmodell einen Moratoriumsteil. Das Moratorium ist dann durch Entwicklungsaufgaben im Sinne Havighursts (vgl. Havighurst 1976) gekennzeichnet. Eine Entwicklungsaufgabe umfasst die Seite der objektiv gestellten Lernanforderungen, die Qualifikationsstruktur, die, curricular umgesetzt, das Lernen der Schüler anleitet. Und sie umfasst die Seite der subjektiv formulierten Lernansprüche der Schülerinnen und Schüler.
2.2.2 Didaktische Gestaltung

Den qualitativen Ausführungen entspricht die folgende didaktische Umsetzung. Dabei geht das angegebene Setting von ca. 12 Schülerinnen und Schülern sowie einer Aufteilung in drei Gruppen aus.

2.2.2.1 Vorlauf: 'Coaching' und 'Briefing'

Die innovative Charakter und die wissenschaftlichen Rückbezüge der Konzeption erfordern einen Vorlauf, der einerseits in Form von mittelfristigen Schulungen oder Coachings mit den beteiligten pädagogischen Akteure durchgeführt werden sollte. In den Coachings der Lehrkräfte sollten insbesondere die Themenkomplexe Potentialorientierung, Kompetenzbegriff (Roth), Identitätstheorie (Keupp), Themenzentrierte Interaktion (Cohn) sowie aktuelle Erkenntnisse der Jugend- und Arbeitsmarktforschung bearbeitet werden. Für die Vorbereitung der Arbeitgebervertreter in der Jury können u. Ust. eher kurzfristig angelegte Briefings in Workshop- bzw. Vortragsform ausreichend sein, in denen der Fokus insbesondere auf Aspekte der Potentialorientierung gelegt werden sollte.

2.2.2.2 Erste Potentialrunde - Self-Description:

Die Potentialrunde setzt an der Erkenntnis des Passungsproblems an und fordert die Schülerinnen und Schüler auf, sich zu fragen, über welche Potentiale sie verfügen, dieses Passungsproblem zu reduzieren. Die Potentiale werden in Form von Kompetenzen (vgl. Lisop/Huisinga 2004, 38 ff.) beschrieben. Sie entstammen dem berufs- und wirtschaftspädagogischen Feld. Die Schülerinnen und Schüler beschreiben ihre eigenen Potentiale in den Dimensionen Selbstkompetenz, Sozialkompetenz, Fach-/Sachkompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Handlungsfähigkeit', Gestaltungsfähigkeit, Urteilsfähigkeit und/oder Reflexionsfähigkeit. Da diese Form der Erfassung von Kompetenzen noch relativ „abstrakt“ ist und die Schülerinnen und Schüler wahrscheinlich eher nicht gewohnt sind, sich selbst in dieser Weise zu thematisieren, wird in einem zweiten Schritt eine Konkretisierung im Medium einer Objektivation vorgenommen. Diese Objektivationen werden in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Lehrerinnen und Lehrern erstellt. Die Objektivationen orientieren sich an der nichtschulischen Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Die Schülerinnen und Schüler erhalten eine Matrix (Abbildung 1: Potentialmatrix) als „Vehikel“ zur transparenten Sicherung und Auswertung der Potentialanalyse. Da nicht davon ausgegangen werden darf, dass den Schülerinnen und Schülern die Dimensionen der Matrix sofort geläufig sind, bedarf es einer einführenden Erläuterung. Die Erläuterung der Matrix wird durch die Lehrenden vorgenommen, welche hierfür wiederum auf didaktisch für die jeweilige Zielgruppe aufbereitete Anlagen zu den einzelnen Medien zurückgreifen können. Die ausgefüllten Matrizen erhalten die Jury-Mitglieder als Orientierung.

Abbildung 1: PotentialmatrixAbbildung 1: Potentialmatrix

In den einzelnen Feldern stellen die Schülerinnen und Schüler ihre konkreten Kompetenzen und Fähigkeiten dar. Ordnet man die diese Felder in einem Potential-Portfolio an, dann ergibt sich die relative Anordnung dieser Potentiale nach dem Grad ihrer „Ausprägung“.

Abbildung 2: Ausprägung von PotentialenAbbildung 2: Ausprägung von Potentialen

Das Portfolio (Abbildung 2: Ausprägung von Potentialen) zeigt beispielhaft, wie sich die Elemente aus der Potentialmatrix gruppieren lassen. So kann man auf einen Überblick erfassen, wie sich der einzelne Jugendliche selbst sieht und seine Potentiale verortet. Niedrig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass nur wenige Nennungen in der entsprechenden Spalten zu finden sind. Hoch bedeutet, dass vor allem die Anzahl der Kompetenzen und Fähigkeiten breit ausgeprägt erscheinen.

Abbildung 3: Mögliche Konkretionen von Medien der LebensweltAbbildung 3: Mögliche Konkretionen von Medien der Lebenswelt

Da anzunehmen ist, dass sich Jugendliche in dieser Art der systematischen und wissenschaftsorientierten Arbeit nicht so schnell zurechtfinden, wurde eine Liste von möglichen Konkretionen für die linke Spalte der „Medien der Lebenswelt“ realisiert. Die Tabelle (Abbildung 3: Mögliche Konkretionen von Medien der Lebenswelt) enthält mögliche Konkretionen, die aus der Lebenwelt der Schülerinnen und Schüler stammen könnten.

Um die Bedeutung dieser Konkretionen der lebensweltlichen Bezüge der Schülerinnen und Schüler für die Identitätsentwicklung, den Bildungsprozess sowie die Potentialanalyse herauszustellen, sei an einem Beispiel die Kette der Zusammenhänge (Abbildung 4: Beispiel der Zusammenhangskette Potentiale - Identität) dargestellt:

Abbildung 4: Beispiel der Zusammenhangskette Potentiale – IdentitätAbbildung 4: Beispiel der Zusammenhangskette Potentiale – Identität

Wir unterstellen, dass sich Schüler mit Rap beschäftigen, und dies nicht nur sporadisch. In der Potentialrunde benennen Sie dies und können auch entsprechende RAP-Texte einbringen. Diese Texte können die Grundlage einer differenzierteren Potentialanalyse sein.

2.2.2.3 Zweite Potentialrunde -Peer-Review:

Das Peer-Review-Verfahren ist sozial- bzw. entwicklungspsychologisch begründet (vgl. z. B. Fend 2005, 168 ff. und 304ff. oder Ecarius 2011, 105ff.). In dieser Alterskohorte spielt das Urteil der Mitschülerinnen und Mitschüler eine weitaus größere Rolle als das Urteil von Lehrerinnen und Lehrern oder gar Eltern. Dies gilt in besonderem Maße auch dann, wenn sich die Kritik am Verhalten an der Defizitlinie orientiert. Die Akzeptanz von Kritik, welche von den Peers geäußert wird, ist daher viel nachhaltiger als die Akzeptanz von Urteilen, welche im Rahmen anderer Verfahren getroffen werden.

In der Peer-Review-Phase werden die einzelnen ausgefüllten und zu erklärenden Potentialmatritzen unter dem Gesichtspunkt Wahrheitsgehalt und Realitätsnähe durch die Peers, also durch die Mitschüler geprüft. Damit diese Runde wunschgemäß umgesetzt werden kann, ist es von Vorteil, wenn sich diejenigen Schülerinnen und Schüler, die gegenseitig Rückschau halten, bereits vorher kennen. Jeder einzelne Schüler trägt also seine Ergebnisse vor. Die Mitschülerinnen und Mitschüler fertigen ein Protokoll dieser Aussagen an. Dann beraten sie sich unter Ausschluss des Betroffenen. Anschließend findet die  jeweilige Feed-Back-Runde statt. Sie ist als "heißer Stuhl" organisiert, d.h. der Betroffene sitzt im Kreis auf einem Stuhl und muss sich das Feed-Back der Peers kommentarlos anhören, lediglich Verstehensfragen sind erlaubt. Organisatorisch ist für diese Runde ausreichend Zeit einzuplanen.

Abbildung 5: VerhaltenskodexAbbildung 5: Verhaltenskodex

Für die Zeit der Arbeit im Workshop gibt es einen Verhaltenskodex[2] (Abbildung 5: Verhaltenskodex). Er ist einfach  gehalten und  stellt vor allem wegen der Bedeutung der „self-descriptions“ auf eine innere Klarheit und Verantwortung ab.

Nachdem die Schülerinnen und Schüler per "self-description" und "peer-review" zu einer realistischen Einschätzung ihres "Potential-Pools" gelangt sind, ist es nun Aufgabe der Schülerinnen und Schüler in der ein-dreiwöchigen Pause zwischen den Workshop-Terminen Projekte herauszuarbeiten, die zweifelsfrei ihre Potentiale in den unterschiedlichen Medien belegen. Hausaufgabe für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Soweit Schülerinnen und Schüler Hilfen benötigen, müssen diese besprochen werden.

2.2.2.4 Dritte Potentialrunde - Objektivierung der Potentialmatrizen

Die dritte Potentialrunde dient der Objektivierung der Potentialmatrizen durch Belege/Beweise. Es werden die Hausaufgaben "sprachlich" vorgestellt und mit der Workshop-Leitung sowie den Peers besprochen. Auch werden mögliche Hinweise auf Realisation und die Verbesserung gegeben. Schülerinnen und Schüler können sich in dieser Phase des Workshops auch noch umorientieren, soweit die Potentialmatrizen dies nahelegen. Die Objektivierung in Form von konkreten Präsentationsangeboten oder Projekten können in den unterschiedlichsten Formen erbracht werden: Zeugnisse/Noten/Bewertungen/Praktikumsberichte/Selbst produzierte & ggf. bereits bewertete Produkte. Wesentlich ist, dass sie als Beweismaterial für die Potentiale herhalten können. Allerdings ist zu empfehlen, dass ein hoher Grad an Visualisierung und Wahrnehmbarkeit vorherrschen sollte. Die Potentiale müssen nachweisbar sein und für potentielle Arbeitgeber transparent gemacht werden können. Auch die Fähigkeit zur Präsentation und damit der Objektivierung der einzelnen Potentiale muss als denselben immanent betrachtet werden. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass bei einer mangelhaften Präsentation das Vorhandensein der entsprechenden Potentiale zumindest in Frage gestellt werden darf.

2.2.2.5 Präsentation der Potentiale am „Arbeitsmarkt“

Den Schülern wird jeweils eine kurze Vorbereitungsphase zur Vorbereitung ihrer Potentialpräsentation gewährt. Während dieser Zeit können sich die Schülerinnen und Schüler überlegen, auf welche(s) Potential(e) sie den Schwerpunkt während ihrer anschließenden Präsentation legen (prinzipiell muss diese Auswahl schon vorab getroffen worden sein, hier sind nur noch  kleinere „Nachjustierungen“ möglich) und wie sie die Präsentation gestalten.

Vor einer „Jury“ aus Arbeitgeber-Vertretern präsentieren die Schüler einzeln in einer festgelegten Zeit (5-10 Min.) ihre vorbereiteten Präsentationen. Der Jury liegen die Potential-Matrizen vor. Anschließend an den Vortrag können die Mitglieder der Jury auf den übrigen Inhalt der Matrizen eingehen und ggf. weitere Objektivierungen einfordern.

Da die Jury über fundiertes Hintergrundwissen aus der Arbeitspraxis verfügt, sollte ihre Hauptaufgabe darin bestehen, den Schülern Feedback zu ihren dargestellten Potentialen zu geben. Hierbei ist besonders darauf zu achten, dass die Mitglieder der „Jury“, sprich die Personalverantwortlichen offen mit der experimentellen und innovativen Ausrichtung der Workshops umgehen und sich auf die entsprechenden Konventionen einlassen. Weiterhin wäre es sinnvoll, wenn der berufsfachliche Hintergrund der „Jury“ breit gestreut wäre. Handwerk, Industrie, Gesundheits- und Sozialbereich sowie Wirtschaft und Verwaltung sollten vertreten sein.

Zwei Hauptformen des Feed-Backs sind hier zu denkbar:

  1. Affirmativ - objektbezogen: "Mit diesen Potentialen können Sie folgende Tätigkeiten in folgendem Bereich ausführen...."
  2. Affirmativ - subjektorientiert: "Um zukünftig folgende Tätigkeit X in folgendem Bereich Y ausführen zu können, müssen Sie Ihr Potential Z wie folgt verändern / variieren, etc...."

Zwischenformen oder Kombinationen der beiden Typen dürften den Alltag der Casting - Feedbackrunden bestimmen. Die Präsentationen der Schülerinnen und Schüler werden per Video aufgezeichnet. Sie erhalten nach einer angemessenen Zeit eine Aufnahme ihrer Präsentation für die eigene weitere Profilierung. Auch hier muss wieder der Paradigmenwechsel weg von der Orientierung an Defiziten hin zur Ausrichtung an Potentialen erkennbar sein.

2.2.2.6 Nachbereitung der Castings

Für die Workshopleitung besteht die Aufgabe, die Videos aufzubereiten und gemäß der Konzeption Entwicklungsaufgaben für die Schülerinnen und Schüler zu finden sowie zu formulieren. Diese Entwicklungsaufgaben sind in Einzelgesprächen zu besprechen. Sie können jedoch auch in den Unterricht integriert werden. Jugendliche, die nach dem Potentialworkshop einen weiteren Klärungsbedarf anmelden, erhalten die Möglichkeit, den Berufswunsch differenzierter zu steuern. Eine Reihe klassischer Maßnahmen kommen hier in Betracht, wie Bewerbungstrainings, Betriebspraktika, Herstellen von Kontakten zu Ausbildungsbetrieben oder Datenbank- und Informationsangebote. Alle diese Angebote können helfen, einen realistischen und chancenreichen Berufswunsch zu entwickeln. Auch die individuelle Einzelberatung von Eltern und ihren Kindern rund um das Thema Berufswahl kann die Maßnahmen weiter sinnvoll ergänzen. Dabei kann es z. B. um die Entwicklung eines realistischen und auf den Interessen beruhenden Berufswunsches gehen, oder es geht um konkrete Hilfe bei der Praktikums- oder Ausbildungsplatzsuche.

3 Reflexion und Fazit

Es sei an dieser Stelle zunächst zu betonen, dass das Projekt bisher keiner wissenschaftlich-systematischen Evaluation unterzogen wurde, da lediglich ein Pilot-Durchgang realisiert und dokumentiert werden konnte. Allerdings lassen sich trotz dieser explorativen Datenbasis bereits Erkenntnisse über Optimierungsbedarfe der Konzeption ableiten. Aus der Dokumentation des Pilotdurchgangs werden im Folgenden die Matrizen, Objektivierungen und Präsentationen zweier Schüler (S1 und S2) inklusive einer Beschreibung der Feedbacks durch die Jury aufgegriffen, anhand derer eine erste Einschätzung getroffen werden soll.

S1 - Die Orchesterprobe

Abbildung 6: Potentialmatrix von S1Abbildung 6: Potentialmatrix von S1

Der Schüler S1 arbeitete im Rahmen der ersten beiden Potentialrunden ('self-description' und 'peer-review') heraus, dass seine Potentiale sich insbesondere in den Dimensionen Handlungsfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit lokalisieren ließen, die Medien, die S1 dafür schwerpunktmäßig nutzte, ordnete er in der Potentialmatrix szenischem Ausdruck, Dramaturgie und Konfliktlösung zu (Abbildung 6: Potentialmatrix von S1). 

Im Rahmen der dritten Potentialrunde (Objektivierung) entschied sich S1 dafür, die Simulation einer Orchesterprobe auszuarbeiten und der Jury zu präsentieren. Die Präsentation verlief wie geplant, S1 erklärte der Jury zunächst den Aufbau des Orchesters und seinen einzelnen Teilen, erläuterte Details einer Partitur und stellte dar, zu welchen Handlungen, Aufgaben, Flexibilitätsspielräumen und Interpretationen die Partitur aus sowohl aus Perspektive des Dirigenten als auch aus Perspektive einzelner Orchestermitglieder habe.

S2 - Der Scooter

Der Schüler S2 arbeitete im Rahmen der ersten beiden Potentialrunden heraus, dass seine Potentiale sich insbesondere in den Dimensionen Fachkompetenz, Sozialkompetenz und Handlungsfähigkeit lokalisieren ließen, das Medium der Wahl benannte S2 mit Gestaltungsfähigkeit (Abbildung 7: Potentialmatrix von S2). 

Abbildung 7: Potentialmatrix von S2Abbildung 7: Potentialmatrix von S2

Im Rahmen der dritten Potentialrunde wählte S2 eine Präsentation zum Thema 'Rund ums das Zweirad' aus. In der Präsentation führte S2 der Jury ausführlich seinen Motorroller ('Scooter') vor, indem er die verschiedenen Baugruppen und Anbauteile zeigte, diese fachterminologisch benannte und auch indem er rudimentär auf deren Zusammenhang im Funktionsgefüge einging. Nachfragen seitens der Jury hinsichtlich der differenzierten Funktionsweise des Kfz konnte der Kandidat allerdings nicht zufriedenstellend beantworten.

Eine professionelle Einschätzung der dargebotenen Castingbeiträge ist auf systematische, wissenschaftliche Rückversicherung angewiesen. Es bedarf notwendigerweise Referenzbezügen, auf deren Basis begründet Performanz hinsichtlich der dahinter liegenden Kompetenz decodiert werden kann. Hilfreich erscheint in diesem Zusammenhang die Differenzierung unterschiedlicher Wissens- und Erkenntnisformen (vgl. Lisop/Huisinga 2004, 249), wie sie auch im bildungstheoretisch zur Begründung curricularer Codierungen genutzt wird (Abbildung 9: Formen und Funktionen von Wissen und Erkenntnis).

Abbildung 8: Formen und Funktionen von Wissen und Erkenntnis, Quelle: (Lisop/Huisinga 2004, 249)Abbildung 8: Formen und Funktionen von Wissen und Erkenntnis, Quelle: (Lisop/Huisinga 2004, 249)

Mit Hilfe dieser Differenzierung lassen sich nun die einzelnen, performativen Castingbeiträge systematisch auf Kompetenzen und deren 'Arbeitsmarktpotential' hin analysieren.

Der Kandidat S1 scheint durchaus dazu in der Lage zu sein, auf der Basis von Denominationen und operativen Wissens Zusammenhänge, Wirkungsweisen und Normengefüge analytisch zu durchdringen und so begründet autonome Entscheidungen zu treffen. Die Funktion entsprechender Kompetenzen in Arbeitsprozessen reichen von effizienten Routinevollzügen über Qualitätssicherung bis hin zu autonomen Entscheidungsprozessen. Die Präsentation von S2 offenbarte demgegenüber insbesondere die Fähigkeit mit denominativem Wissen erkennend und zuordnend umzugehen. Gemessen an seiner Präsentation erscheint der Kandidat S2 der Tendenz nach kaum in der Lage zu sein, mit operativem ~, Zusammenhangs-, Wirkungs- oder Normenwissen auch reflektierend oder gar analytisch-synthetisierend umzugehen. Die Arbeitsmarktpotentiale von S2 beschränken sich dementsprechend zum Erhebungszeitpunkt im günstigsten Fall auf einfache Routinevollzüge, entsprechende Entwicklungsaufgaben wären zu formulieren und ggf. pädagogisch moderierend in spezifisch zugeschnittenen Lernfeldern zu begleiten.

Die Feedbacks der Jury zu den beiden Kandidaten fielen ebenfalls unterschiedlich aus, allerdings diametral zur wissenschaftsrückbezogenen Einschätzung. Die Arbeitgebervertreter artikulierten bezogen auf die Performanz von S1 (Simulation einer Orchesterprobe) insbesondere Entwicklungsbedarfe des Kandidaten hinsichtlich der Überlegung, wie denn die dargebotenen Potentiale in den jeweiligen Berufsbezügen eingebracht werden könnten und beurteilten die Darbietung daher eher skeptisch. Die Performanz von S2 (Rund um das Zweirad) schätzte die Jury sehr positiv ein, der Berufsbezug und die Eignung für mechatronische Berufe sei ohne Weiteres erkennbar und bereits relativ differenziert entfaltet.

In der Diskrepanz der wissenschaftlich rückvermittelten Beurteilung der Castings und den Urteilen der Jury zeigt sich eine strukturelle Problematik der Konzeption, welche vor zukünftige Durchführungsrunden gelöst werden muss. Es kann offensichtlich nicht davon ausgegangen werden, dass Arbeitgebervertreter allein auf der Basis umfangreichen, beruflichen Erfahrungswissens in den entsprechenden Feldern dazu in der Lage sind, unterschiedliche Performanzen im Hinblick auf die dahinter liegenden Kompetenzen zu decodieren.

Literatur

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Zima, P. V. (2009): Narzissmus und Ichideal. Psyche, Gesellschaft, Kultur. Tübingen.


[1] In Deutschland gibt es aktuell fast unzählige TV-Casting-Formate von ‚Deutschland sucht den Superstar‘ über ‚Das Supertalent‘, ‚The voice of Germany‘, ‚Unser Star für Baku‘ oder ‚Das perfekte Model‘, um nur einige wenige zu nennen.

[2] Der Verhaltenskodex orientiert sich insbesondere an den Axiomen der 'Themenzentrierten Interaktion', (vgl. Cohn 2013, 120ff.).

„Like a Boss!“ – Eine subjektzentrierte Perspektive auf verzögerte Übergänge bei Jugendlichen im Berufsgrundbildungsjahr

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1 Einleitung

Das Interesse am Übergangsgeschehen an der ersten Schwelle und die Zahl einschlägiger Publikationen ist seit der ersten Problematisierung der hohen Zuwachsraten des Übergangsbereiches im Bildungsbericht 2006 (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006) stark gewachsen. Dies ist auf eine Reihe miteinander interagierender gesellschaftlicher Trends zurückzuführen:

  • Die mit dem Projekt der Moderne einhergehende Freisetzung aus tradierten Entscheidungsräumen ist begleitet von einer sukzessiven Pädagogisierung der Biographie inkl. Lebens- und Berufsplanung. Die entsprechenden Prozesse unterliegen einer sukzessiven Akademisierung und Professionalisierung, z. B. im Bereich vertiefter schulischer Berufsorientierung.
  • Die Veränderung der Arbeitsbezüge in Richtung einer zunehmenden Subjektivierung von Arbeit hat zu einem erweiterten Interesse daran geführt, wie die betroffenen Subjekte mit den entstandenen biografischen und beruflichen Gestaltungs-Spielräumen, aber auch -Zumutungen umgehen.
  • Prognosen eines vermeintlichen Fachkräftemangels haben zu der Einschätzung geführt, dass die Einbindung der jeweils ganzen nächsten Generation in wirtschaftliche Wertschöpfungsprozesse notwendig ist, um den gesellschaftlichen Wohlstand zu sichern. Gescheiterte Wege in Ausbildung und Beruf gelten humankapitaltheoretisch als Verschwendung von Ressourcen. Hieraus hat sich ein stärkerer wissenschaftlicher und bildungspolitischer Fokus auf brachliegende Potenziale in vermeintlichen „Randzonen“ der Leistungsgesellschaft ergeben.
  • Politik, die in Zeiten rascher Veränderungen verstärkt Steuerungswissen nachfragt, hat ein Interesse an empirischer Forschung, die politische Richtungsentscheidungen in der Bildungslandschaft legitimieren hilft. Insbesondere vor dem Hintergrund neuerer bildungspolitischer Formeln wie „kein Kind zurücklassen“ in Nordrhein-Westfalen (http://www.kein-kind-zuruecklassen.de) wird der Blick seit einigen Jahren stärker auf sog. „Bildungsverlierer“ (Hurrelmann/Quenzel 2010) gerichtet.
  • Auch die Individuen fragen in Zeiten erlebter Selbst-Rationalisierungsansprüche Orientierungshilfen in Form von Beratungsangeboten, Lebensplanungsmodellen u. Ä. nach. Vermittelt z. B. über den Markt schulischer Berufsorientierung und andere Maßnahmen zur Arbeitsförderung, besteht ein Bedarf an Orientierungsangeboten zu beruflicher Entwicklung aus der Beratungswirtschaft, die ihrerseits Professionalisierungs- und Akademisierungszwängen unterliegt (vgl. z. B. die „Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung (AZAV)“, http://www.bmas.de/DE/Themen/Arbeitsmarkt/Arbeitsfoerderung/akkreditierung.html).

Eine bedeutsame Rolle bei der systematischen Erforschung des Übergangsgeschehens an der sog. ersten und zweiten Schwelle spielen insbesondere die großen Panelstudien des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) und des Deutschen Jugendinstituts (DJI), die in den vergangenen Jahren mit einer Vielzahl an Einzelerkenntnissen zur Aufhellung des Forschungsfeldes beitragen konnten. In diesem Bereich sind es insbesondere quantitative Analysen der (Berufs-)Bildungsverläufe großer Gruppen, die eine Vielzahl von Diagnosen insbesondere merkmalsspezifischer Chancenstrukturen und Gefährdungen ermöglicht haben (vgl. Braun/Geier 2013; Gaupp/Lex/Mahl 2013; Buchholz/Straßer 2007; Granato2013). Auch abgesehen von diesen Studien wird das Feld der Forschung zum Übergangsgeschehen dominiert von quantitativen und systemanalytischen Zugängen, während qualitative, subjektbasierte Forschung bislang die Ausnahme ist. Die vielfältigen Analysen zur Effektivität und Effizienz des Übergangsbereiches basieren vorwiegend auf der Auswertung von Vermittlungsquoten und der Verbleibdauer in diesem Segment (vgl. Braun/Geier 2013; Nickolaus 2012). Demnach gibt es eine konstant hohe Zahl an Jugendlichen und jungen Erwachsenen, denen es nicht gelingt, die Angebote des beruflichen Bildungssystems zu nutzen, um ihre Berufsaussichten zu verbessern. Besonders allochthone Jugendliche sehen sich zahlreichen biografischen Gefährdungen ausgesetzt, die eine berufliche Qualifizierung verhindern, zumindest aber erschweren bzw. verzögern. Dem Übergangsbereich, ursprünglich als Instrument zur Chancenverbesserung und Abfederung von Nachfrageschwankungen auf dem Ausbildungsmarkt eingeführt, wurde die Qualität eines „Systems“ mangels innerer und äußerer Kohärenz aberkannt (vgl. z. B. Bojanowski 2014, 162; Balz/Nüsken 2010, 183). Die unter diesem Begriff zusammengefassten Maßnahmen stehen in einer Gesamtwahrnehmung der Vergeblichkeit (Giese/Wittpoth 2009), die Teilnehmenden werden als Gescheiterte im Bemühen um eine Ausbildungsstelle und als Opfer dieses Bereiches beschrieben. Er gilt als „Warteschleife“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 82), als erste Stufe des bildungsbiografischen Abstiegs (vgl. Giese 2012, 290), als „Krisensymptom“ (Schmidt 2012), der konstant hohe Anteil des Übergangssystems an Neuzugängen im beruflichen Bildungssystems gilt als Indikator für Passungsprobleme an der Schwelle zwischen allgemeinbildenden Schulen und beruflicher Ausbildung (Kutscha 2010, 314). Die Teilnehmenden der entsprechenden Angebote gelten als Teil einer „»Bugwelle« unbefriedigter Nachfrage“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 82), die Teilnahme an einem Angebot des Übergangsbereiches mithin als Indikator biografischer Gefährdung.

Wenig bekannt  ist  über die subjektiven Gründe für die Teilnahme an Angeboten des Übergangsbereiches. Es wird angenommen, dass der Hauptgrund für ein Einmünden in ein Angebot des Übergangsbereiches im Scheitern der Bemühungen um eine Ausbildungsstelle besteht (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2014, 100). Die implizite Unterstellung, dass Jugendliche im Übergangsbereich sich in erster Linie einen reibungslosen Übergang in qualifizierte Erwerbsarbeit wünschen, verkennt die Befunde des DJI-Panels, nach denen es vielen Hauptschulabsolvent/inn/en nicht primär um einen schnellen Eintritt in Ausbildung und Erwerbstätigkeit geht (vgl. Braun/Geier 2013, 29f), sondern der weitere Schulbesuch unterhalb dualer oder vollschulischer Ausbildung als erste Wahl unabhängig von Erfolg oder Misserfolg der Bemühungen um einen Ausbildungsplatz unterstellt werden muss. Zu diesen Befunden trägt insbesondere die in Hauptschulen stark vertretene Gruppe Jugendlicher mit Migrationshintergrund bei, bei denen der erweiterte Schulabschluss und eine Hochschulzugangsberechtigung als besonders erstrebenswert gelten (vgl. Becker 2010, 16). Als Hauptgrund für ein Einmünden in den Übergangsbereich muss eher als das vielfach angenommene Scheitern der Lehrstellensuche eine Form von „Selbstselektion“ (Granato/Münk/Weiß 2011, 22) unterstellt werden. Empirische Forschung zur Selbstwahrnehmung von Hauptschüler/inne/n hat gezeigt, dass das gesellschaftliche Bild der Hauptschule ein starkes Erleben von leistungsbezogener Wertlosigkeit, eine Art „Hauptschul-Stigma“ bedingt (vgl. Wellgraf 2012). Jugendliche mit Hauptschulabschluss münden demnach auch deswegen in Angebote des Übergangsbereiches ein, um zunächst eine Form der Selbstbeziehung aufzubauen, die einen Eintritt in den Beruf erst richtig und legitim erscheinen lässt. Rahn (2005) verweist zudem darauf, dass eine Teilnahme an sog. berufsvorbereitenden Maßnahmen eine psychosoziale Entlastungsfunktion haben kann und folgert, „dass für die Bewertung des BVJ [...] nicht nur strukturelle Kategorien berücksichtigt werden können, sondern bei der Reflexion über die Maßnahme der Subjektebene ein Stellenwert eingeräumt werden muss." (Rahn 2005, 24).

Zur Klärung des Zusammenhangs zwischen dem Erleben leistungsbezogener Entwertung qua Bildungsinstitution und beruflichen Selbstselektionsprozessen werden im Folgenden Zwischenergebnisse einer Studie zu Bildungs- und Berufsorientierung bei Jugendlichen im Berufsgrundbildungsjahr zusammengefasst und als Grundlage einer anerkennungstheoretischen Theorie der Selbstselektion im Übergang Schule-Beruf angelegt.

Zunächst erfolgt eine Zusammenfassung der für diese Untersuchung bedeutsamen anerkennungstheoretischen Aspekte, insbesondere ihre Relevanz für Berufsbildungsprozesse (2). Danach erfolgt eine anerkennungstheoretische Analyse des Zusammenhanges von Anerkennungserleben und Selbstselektion anhand ausgewählter Gesprächssequenzen aus Gruppendiskussionen (3). Abschließend werden berufliche Selbstselektion an der ersten Schwelle bedingende Berufs- und Bildungsorientierungen ausblickhaft dargestellt und Konsequenzen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Übergangsbereich sowie für die institutionelle Arbeit im Kontext Übergang Schule-Beruf erörtert (4).

2 Anerkennung und ihre Relevanz für Berufs- und Bildungsorientierung

Berufsorientierungs- und Berufswahltheorien wurden in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive verfeinert und ausdifferenziert. Dominierten bis in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts noch Annahmen einer reinen Passung individueller Bedürfnisse und Erfordernisse des Arbeitsmarktes zur Erklärung von Berufswahl, so werden heute zum Einen sozial-kognitive Theorieansätze stark rezipiert, die die Entwicklung des Selbstkonzeptes als kognitive Ermöglichungsstruktur in den Mittelpunkt der Laufbahnforschung stellen (vgl. Hirschi 2013, 29), und damit eine Verbindung aus rein individualistischen, z. B. interessentheoretischen Ansätzen und der Berücksichtigung der sozialen Umwelt schaffen. Zum Anderen werden aktuell konstruktivistisch geprägte Berufswahltheorien stark rezipiert, die weniger die vermeintlich objektivierbaren Bedingungen der Berufswahl als die subjektiven Deutungsmuster beruflicher Möglichkeiten (vgl. ebd., 31) fokussieren. Beide Paradigmen stellen individuelle Kognitionen bzw. Konstruktionen in den Mittelpunkt der Erklärung von Berufsorientierung und Berufswahl. Selbstselektion und Vermeidung leistungsbezogener Vergleichssituationen als Ausdruck eines entwicklungshinderlichen beruflichen oder akademischen Selbstkonzepts indes sind ohne die Berücksichtigung von Anerkennung und Missachtung nicht erklärbar, da „biographische Missachtungserfahrungen oder das Ignorieren legitimer Anerkennungsansprüche den Prozess der Selbstbildung und -entwicklung behindern und die Akteure dazu führen, die entsprechenden sozialen Lebensformen als pathologisch zu empfinden“ (Stojanov 2006, 207). Der Analysefokus auf Anerkennung und Missachtung in Prozessen leistungsbezogener Subjektivierung betont die grundlegende Intersubjektivität aller beruflichen Entscheidungssituationen. Der Anerkennungsbegriff, der seit Fichte und Hegel paradigmatisch für das Subjektverständnis der Moderne steht, stellt somit die zentrale Kategorie eines intersubjektiven Verständnisses der Subjektivierungsbedingungen in formal arbeitsteiligen Gesellschaften dar. Erkenntnisse über die intersubjektive Verwobenheit institutionell bedingten Anerkennungserlebens mit Bildungs- und Berufsorientierung können zur Klärung der Frage beitragen, warum eine konstant große Gruppe Jugendlicher mit Hauptschulabschluss einen direkten Übergang in qualifizierende Ausbildung an der ersten Schwelle vermeidet und mit welchen Orientierungen und Bedürfnissen diese Jugendlichen in Angebote des Übergangsbereiches einmünden.

Der Anlass, Anerkennungstheorien für die Erklärung von Berufs- und Bildungsorientierung zu verwenden, liegt in der Möglichkeit ihrer Rekonstruktion als Bildungstheorie begründet (vgl. Brumlik 2002,13; Stojanov 2006). Hegel fasst den Kampf um Anerkennung als jenen praktischen Konflikt „in dem das Subjekt sich findet, sobald es zu einem Bewusstsein von sich selbst kommen will“ (Sitzer/Wiezorek 2002, 106). Es handelt sich also um einen unausweichlichen Prozess der Auseinandersetzung von Subjekt und Welt, der sich nur im Modus des Erkennens eigener und fremder Geltungsansprüche vollziehen kann. Auf diesem Wege gelangt das Individuum zu einer Selbstbeziehung als autonomes Subjekt mit Bedürfnissen und Ansprüchen: „Was Anerkennungshandlungen im unendlichen Universum sozialer alltäglicher Geschehnisse auszeichnet, ist ihre Rolle, als die Grundlage für individuelle Autonomie zu dienen. Damit wird die Anerkennungskategorie tendenziell zu einer der zentralen Signaturen der Moderne [Hervorhebung im Original, UW]“ (Stojanov 2006, 210). Die Bedeutung intersubjektiver Anerkennungsdynamik für Berufsorientierung in funktional arbeitsteiligen Gesellschaften der (Spät-)Moderne besteht darin, den Imperativ autonomer Lebensführung inklusive vermeintlich freier Berufswahl als intersubjektives Paradigma zu skizzieren, indem Fragen der beruflichen (Selbst-)Lokalisierung als zentral mit der individuellen Historie der Gewährung und des Entzuges von Anerkennung verbunden verstanden werden. In diesem Sinne sind auch die institutionellen Formen der beruflichen Bildung in ihrer historischen Entwicklung weniger als Ergebnis notwendiger inhaltlicher Veränderungen der Arbeitsbezüge in Folge des industriellen Wandels zu verstehen, denn als Ergebnis sich verändernder „Rangordnungen, Anerkennungsbeziehungen, Distributionslinien des Wissens und formale[r] Karrieremuster“ (Harney 2010, 163). Für Angebote des Übergangsbereiches muss konstatiert werden, dass eine Anbindung an diese Anerkennungsbeziehungen zwar seit einigen Jahrzehnten immer wieder Gegenstand bildungspolitischer Bemühungen ist, in der Umsetzung aber an den je spezifischen Akteursinteressen scheitert, wie z. B. im Falle des Widerstandes der Betriebe gegen die Anrechnung des Berufsgrundbildungsjahres auf das erste Ausbildungsjahr (vgl. Brändle 2012). Eine tiefer gehende Analyse des Zusammenhangs von Partikularinteressen und bildungspolitischen Entscheidungen, die sich nicht an Entwicklungsbedarfen Jugendlicher im Übergangsbereich orientieren, sprengt den Rahmen dieses Beitrages. Es spricht indes einiges dafür, dass es sich beim Übergangsbereich gleichsam um ein „Stiefkind der Anerkennungsbeziehungen“ der beruflichen Bildung handelt, die nur vordergründig einer meritokratischen Logik folgt, in der tatsächlich aber, wie im allgemeinen Bildungssystem auch, „kulturelle Passung und der Schülerhabitus“ (Kramer 2014, 187) so aufeinander bezogen sind, dass „die doppelte Willkür des pädagogischen Handelns (...) den herrschenden (privilegierten) Schichten entspricht, sich aber auch an Angehörige anderer, (unterprivilegierter) Schichten wendet und darin ihren Partikularismus als universelle Anforderung und Anerkennung verschleiert“ (ebd).

Der Kern der anerkennungstheoretischen Überlegungen Axel Honneths als theoretische Basis der vorliegenden Untersuchung besteht darin, Anerkennungstheorie als bildungstheoretische Gesellschaftstheorie für einzelwissenschaftliche Untersuchungen empirisch anschlussfähig zu machen. Honneth zerlegt den Anerkennungsbegriff analytisch in drei Dimensionen; (1) emotionale Anerkennung (Liebe), (2) rechtliche Anerkennung (als Staatsbürger) und (3) soziale Wertschätzung (als Individuum mit spezifischen Eigenschaften und Leistungen). Hierbei entwickelt er emotionale Anerkennung als Anerkennungsverhältnis, das als „jene Grundschicht einer emotionalen Sicherheit nicht nur in der Erfahrung, sondern auch in der Äußerung von eigenen Bedürfnissen und Empfindungen, zu der die intersubjektive Erfahrung von Liebe verhilft, die psychische Voraussetzung für die Entwicklung aller weiteren Einstellungen der Selbstachtung [bildet]“ (Honneth 1992, 172). Diese Analyse, die Honneth mit Rückgriff auf die Hegelsche Anerkennungslehre und auf Basis der Psychoanalyse Donald Winnicotts und Jessica Benjamins entwickelt, stellt das Anerkennungsverhältnis, das sich in der Liebe darstellt, gleichsam als konstitutiven Ausgangspunkt menschlicher Bildsamkeit und den „Kern aller Sittlichkeit“ (ebd., 174) dar. Die Anerkennungsform der Liebe fasst Honneth damit als quasi-anthropologische Konstante auf, berücksichtigt aber, im Unterschied zur späthegelianischen Auffassung der Vernunft als zentralem Regulativ bürgerlicher Gesellschaften (vgl. Habermas 1985, 67ff), die Historizität der Subjektivierung und stellt der basalen Anerkennungsform der Liebe die des Rechts gegenüber, die sich historisch und damit komplementär zur Entwicklung moderner Gesellschaften entwickelt hat und weiter entwickelt. Die Anerkennungsdimension des Rechts ist nach Honneth durch die reziproke Anerkennung als moralisch zurechnungsfähige Subjekte in modernen Gesellschaften geprägt (Honneth 1992, 178). Die modernen Rechtsverhältnisse unterscheiden sich von traditionellen Rechtsverhältnissen in erster Linie dadurch, dass in letzteren die rechtliche Anerkennung, die ein Rollenträger genießt, graduell mit der jeweiligen Wertschätzung, d. h. dem angenommenen Wert des Individuum für das Gemeinwesen, abgestuft ist. Erst im Zuge historischer Neuordnungsprozesse des Rechtsgefüges entwickelt sich eine Form von Anerkennung im Medium des Rechts, die jedem Mitglied der Gesellschaft ungeachtet von Rang und Eigenschaften gleichermaßen gelten soll (vgl. ebd. 179). Gleichzeitig spalten sich damit die Vergabepraktiken sozialer Wertschätzung von der Vergabe von Rechtstiteln ab und müssen in der Folge als eigene Anerkennungsform, basierend auf individueller Leistung, gesondert analysiert werden (vgl. ebd.).

Die dritte Anerkennungsform, die der sozialen Wertschätzung, ergänzt die frühe Anerkennungslehre und die Rechtsphilosophie Hegels mit Rückgriff auf die Sozialpsychologie Meads zu der Theorie, anhand derer sich die „moralische Grammatik sozialer Konflikte“ (Honneth 1992) verstehen lässt. Soziale Wertschätzung unterscheidet sich von der Anerkennungsform der Liebe, die als basale Anerkennungsform das soziale Handeln als Subjekt erst ermöglicht und von der des Rechts, die unabhängig von personalen Zuschreibungen besteht, dadurch, dass in sie normative Wertsetzungen der Gesellschaft darüber, unter welchen Umständen Subjekte Anerkennung verdienen, eingeschrieben sind. Sie stellt damit die Grundlage einer Subjektivierungsform dar, die sich von traditionellen, vormodernen Wertvorstellungen abhebt und die soziale Inwertsetzung der Subjekte in erster Linie anhand ihrer sozialen Leistung, also ihres Beitrags zum Gelingen des Gemeinwesens, vollzieht. Damit unterliegt die Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung, ähnlich wie die der Anerkennung als Rechtsperson, einer ständigen Verhandelbarkeit und historischem Wandel. Anders als diese wiederum vollzieht sich im Medium der sozialen Wertschätzung, so Honneth, jenes Ringen sozialer Gruppen um positive Wertschätzung ihrer spezifischen Eigenschaften und Leistungen, die Honneth im Anschluss an Hegel als Kampf um Anerkennung bezeichnet (ebd. 205f). Mit diesem Kampf sind also jene Aushandlungsprozesse gemeint, anhand derer sich über die Verhandlung sozialer Leistungskriterien gesellschaftlicher Fortschritt vollzieht. Honneth skizziert die Verteilung sozialer Wertschätzung in nachtraditionellen Gesellschaften als auf Prozesse von Leistungsevaluation beruhend, „denn wie auch immer die gesellschaftlichen Zielsetzungen bestimmt sind, ob in der einen, scheinbar neutralen Idee der »Leistung« zusammengefaßt [sic] oder als ein offener Horizont pluraler Werte gedacht, stets bedarf es einer sekundären Deutungspraxis, bevor sie innerhalb der sozialen Lebenswelt als Kriterien der Wertschätzung in Kraft treten können“ (ebd. 205).

Die Sphäre der Arbeit ist in funktional arbeitsteiligen Gesellschaften das zentrale Medium der Vergabe leistungsbezogener sozialer Wertschätzung und der zugehörigen Aushandlungsprozesse. Wie stark die Verwobenheit von Leistung und sozialer Wertschätzung im kollektiven Bewusstsein moderner Gesellschaften verwurzelt ist, zeigt sich in parteipolitisch angestoßenen gesellschaftlichen Diskussionen um Leistungsgerechtigkeit, etwa unter der Losung „Leistung muss sich wieder lohnen“. Auch wiederkehrende Diskussionen um die Ausnutzung sozialstaatlicher Leistungen, also der Leistungen der Mehrheit, durch eine als faul, träge oder asozial markierte Minderheit sind als Aushandlungsprozesse des Zusammenhangs unterstellter (Minder-)Leistung und sozialer Wertschätzung bzw. Missachtung zu verstehen. Diese Zuschreibung hat sich seit der Bankenkrise um das Jahr 2008 – unter Verwendung des Vorwurfs der Gier anstelle der Leistungsverweigerung – gegen andere Gruppen gewendet, die sich im Medium des Berufs vermeintlich am Gemeinwesen bereichern (dies als Ausdruck eines  gesellschaftlichen Bedarfs der Markierung von Leistungsparias). Nicht zuletzt das Ringen um einen flächendeckenden Mindestlohn ist anerkennungstheoretisch interpretierbar, insbesondere das Detail, dass Jugendliche vom Mindestlohngesetz ausgenommen sind (vgl. MiLoG, Abschnitt 4, §22 (2), http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/milog/gesamt.pdf). Sie werden, altersbedingt im (Aus-)Bildungsprozess begriffen, nicht als vollwertige Mitglieder des Gemeinwesens adressiert, sondern von ihnen wird erwartet, den gesellschaftlichen Entwicklungsimperativen zu folgen und sich diesen Status und die damit verbundene soziale Wertschätzung durch Bildungsabschlüsse erst zu erarbeiten.

Kinder treten spätestens mit der Einschulung in das „umkämpfte Feld der sozialen Wertschätzung“ (Honneth 1992, 202) ein und sind im Verlauf ihrer Bildungsbiografie zahlreichen Erfahrungen der Gewährung und des Entzuges sozialer Wertschätzung im Kontext institutioneller Bildungs- und Selektionsprozesse ausgesetzt. In diesem Sinne begründet Sandring die Übersetzung von Bildungsbiografie als „Anerkennungsbiografie“ (Sandring 2013, 35). Diese Anerkennungsbiografien spitzen sich an den spezifischen Wegmarken des Bildungssystems jeweils zu als erlebter Möglichkeitsraum beruflicher Entscheidungen und nicht zuletzt von den Anerkennungsbiografien und -erwartungen hängt es ab, welche Wege als begehbar bzw. attraktiv oder versperrt bzw. unattraktiv eingeschätzt werden.

Die Entscheidung für einen Eintritt in qualifizierende Ausbildung stellt eine der bedingungsreichsten biografischen Entscheidungen dar. Entsprechend nachvollziehbar ist das Bestreben Jugendlicher, diese Entscheidung, die gleichzeitig das vorläufige Ende eines adoleszenten Bildungsmoratoriums markiert, hinauszuzögern. Dies gilt besonders, wenn auf Basis der eigenen Anerkennungsbiografie ein Reüssieren in Bewerbung, Ausbildung und Beruf als unwahrscheinlich antizipiert wird. Im  Folgenden soll daher der Grundstein für ein erweitertes Verständnis des Zusammenhangs zwischen Anerkennungserfahrungen und verzögerten Übergängen in qualifizierende Ausbildung gelegt werden.

Eine Bedeutungsbestimmung der Honneth´schen Anerkennungskonzeption für schulische Bildungsprozesse wurden in den vergangenen Jahren im Kontext des Forschungsverbundes Desintegrationsprozesse (vgl. Heitmeyer/Imbusch 2005), insbesondere im Forschungsprojekt „Politische Orientierungen von Schülerinnen und Schülern im Rahmen schulischer Anerkennungsbeziehungen“ (Helsper/Sandring/Wiezorek 2005) vorgenommen.

Helsper, Sandring und Wiezorek werfen die Frage auf, inwiefern die Honneth´sche Anerkennungstheorie als umfassende Gesellschaftstheorie überhaupt geeignet ist, die „professionellen und institutionellen pädagogischen Beziehungen und Verhältnisse“ (ebd., 179) zu reformulieren und zu fassen. Insbesondere stellen sie infrage, wie sich die Anerkennungstheorie auf schulisch-pädagogische Beziehungen übertragen lässt, die durch Asymmetrie und Ungleichheit gekennzeichnet sind, wie die verschiedenen Dimensionen des Anerkennungsbegriffs miteinander interagieren und wie „die Bildungsgeschichte von Individuen als Anerkennungsgeschichte zu rekonstruieren“ (ebd., 180) ist. Sie betonen in ihrer empirischen Forschung die Interdependenzen zwischen den Dimensionen der Anerkennung. So seien die Modi der Anerkennung zwar analytisch voneinander zu trennen, griffen aber empirisch, z. B. in den Spätfolgen entzogener emotionaler Anerkennung in der frühen Kindheit in späteren Prozessen sozialer Interaktion, ineinander (vgl. ebd., 203). In der Schule seien die Anerkennungsmodi der moralischen Anerkennung (als Rechtsperson) und der sozialen Wertschätzung quasi programmatisch miteinander verwoben, da individuell erbrachte schulische Leistungen einer universalistischen Leistungsbewertung unterliegen (Sandring 2013: 250).

3 Kampf um Anerkennung im Berufsgrundbildungsjahr

Die vorliegende Untersuchung ist eingebettet in eine Studie zur Berufs- und Bildungsorientierung Jugendlicher im Berufsgrundbildungsjahr (BGJ). Das BGJ an einem großstädtischen nordrhein-westfälischen Berufskolleg, an dem die erste Teiluntersuchung im Frühjahr 2013 stattfand, richtet sich an schulpflichtige Jugendliche mit Hauptschulabschluss. Es werden zwei unterschiedliche Schwerpunkte im BGJ angeboten, Gastronomie/Hauswirtschaft und Pflege-/Sozialberufe, die klassenweise organisiert sind. Die Teiluntersuchung fand in einer Klasse mit dem Schwerpunkt Gastronomie und Hauswirtschaft statt.

Die Studie war ursprünglich als Praxisforschungsprojekt angelegt mit dem Ziel, das Potenzial internetgestützter Unterrichtsszenarien, die sich auf lebensweltliche situierte Problemstellungen beziehen, für die Förderung fach- und berufsbezogener Lernmotivation zu untersuchen. Hierzu wurde, in Zusammenarbeit mit zwei Lehrkräften des BGJ, ein WebQuest, also ein internetbasiertes Lernszenario (vgl. Moser 2008) entwickelt. Dieses WebQuest zum  Thema Existenzgründung im Berufsfeld Gastronomie forderte die Schüler/innen auf, sich der Frage zu stellen, welche Tätigkeitsbereiche sie attraktiv finden, woher sie notwendige Informationen bekommen können, welche Kooperationsformen beim Bemühen um den Aufbau einer beruflichen Existenz in Frage kommen u. Ä.. Außerdem waren die Jugendlichen aufgefordert, als Projektziel des WebQuests, einen rudimentären Geschäftsplan für ein Unternehmen ihrer Wahl zu entwerfen und auf diesem Wege mathematische Problemstellungen in ihre Überlegungen einzubeziehen. Das WebQuest wurde in einem Umfang von vier Unterrichtseinheiten, inklusive der Ergebnispräsentation, unter didaktischer Mitwirkung der Projektleitung, umgesetzt (vgl. Weiß 2013). Im Nachgang des Unterrichtsprojektes wurden mit den Jugendlichen Gruppendiskussionen durchgeführt um ein Bild davon zu erhalten, welche Themen im Kontext Übergang Schule-Beruf für die Jugendlichen eine besondere Relevanz haben.

Die Fallgruppe bestand ausnahmslos aus Jugendlichen mit Hauptschulabschluss, die diesen an unterschiedlichen Schulformen – vornehmlich an Hauptschulen, einige an Gesamtschulen und ein Schüler an einem Gymnasium – erworben hatten. Die Schüler/innen waren zum Zeitpunkt der Materialerhebung zwischen 16 und 18 Jahren alt.

Die Gespräche mit den Jugendlichen wurden als Reflexionsgespräche des WebQuests zum Thema Existenzgründung geführt und so Anlass und Möglichkeit geschaffen, ein Gespräch über sowohl berufsbezogene Themen als auch Themen schulischer Leistungsaspiration zu führen. Die Auswertung des Materials erfolgt nach der dokumentarischen Methode im Sinne Bohnsacks (Bohnsack 2011, Asbrand 2011). Zunächst wird im Rahmen der formulierenden Interpretation analysiert, was die Schüler sagen und welche Themen relevant sind. Danach wird im Rahmen der reflektierenden Interpretation, also der Analyse, wie etwas gesagt wird, den „konjunktiven Erfahrungsräume[n]“ (Bohnsack 2011, 43) der Jugendlichen und dem darin eingelagerten „handlungsleitenden Wissen“ (ebd., 40) interpretativ nachgespürt.

Die formulierende Interpretation der Gruppendiskussionen offenbart ein sehr gering ausgeprägtes Interesse der Jugendlichen an Fragen zügiger Übergänge in qualifizierende Ausbildung, insbesondere nicht in Ausbildung im Schwerpunkt ihres BGJ, Gastronomie und Hauswirtschaft. Auf interessen- oder kompetenztheoretische Zugänge zum Selbsterleben der Jugendlichen im BGJ ließen sich diese Interpretationen nicht beziehen, da das Erleben spezifischer Kompetenzen oder Interessen im Zusammenhang mit beruflichen Aspirationen in keiner Situation zum Ausdruck kam. Die für die Auswertung von Gruppendiskussionen nach Prinzipien interpretativer Sozialforschung zentrale „metaphorische[..] Dichte“ (Schäffer 2012, 358) zeigt sich vielmehr in solchen Sequenzen, die als Ausdruck einer geringen Selbstschätzung bzw. als Reaktion auf schulische Missachtungserfahrungen interpretierbar sind. Daher wurde im Fortgang der Studie der Schwerpunkt auf Anerkennungs- und Missachtungserleben im Zusammenhang mit Berufs- und Bildungsorientierung Jugendlicher im BGJ gelegt.

Die zentralen Ergebnisse der ersten Teiluntersuchung werden anhand von vier Themenbereichen nachvollziehbar gemacht; (1) Übertragung der Reputation der Schulform Hauptschule auf die Individuen als kollektives Stigma, (2) affektiver Gehalt des mittleren Abschlusses, (3) Wunsch nach sozialer Wertschätzung als BGJler, (4) Verwobenheit von Anerkennungsdimensionen und Rechtspositionen als Rückzugsraum. Komparative Analysen unterschiedlicher „kollektive[r] Sinnstrukturen“ (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2009, 17) ehemaliger Hauptschüler/innen und ehemaliger Schüler/innen anderer Schulformen werden in den folgenden Teiluntersuchungen vorgenommen und auf diese Weise genauer analysiert, welche Formen handlungsleitenden Wissens auf welche institutionenspezifischen Anerkennungs- und Missachtungserfahrungen beziehbar sind.

3.1 Übertragung der Reputation der Schulform Hauptschule auf die Individuen als kollektives Stigma

Die Verflechtung von institutionellen Zuschreibungen und mangelnder „Selbstschätzung“ (Honneth 1992, 209) formuliert ein Schüler während einer Gruppendiskussion recht drastisch. Ein anderer Schüler, der in der Oberstufe zwei mal die Versetzung verpasst hatte und daraufhin mit Hauptschulabschluss das Gymnasium verlassen musste, hatte dargestellt, wie intensiv an seinem Gymnasium Computer im Unterricht genutzt wurden, indem z. B. im Rahmen eines Zeitzeugenprojektes mit Einbindung von Videokonferenzen u. Ä. gearbeitet wurde. Der erwähnte ehemalige Hauptschüler reagiert auf diese Ausführungen mit einem Ausdruck der Scham (alle Interviewsequenzen sind aus Gründen besserer Lesbarkeit in leicht geglätteter Form wiedergegeben):

m1: Irgendwie ist das voll beschämend, Hauptschüler zu sein.

Interv.: Wie bitte?

m1: Es ist beschämend ein Hauptschüler zu sein, wenn man neben ihm sitzt.

Interv.: Warum?

m1: Weil der so mit gutem Deutsch kommt und naja (...) weil bei uns ist ja der Unterrichtsstoff ein bisschen vereinfacht und so. Und der hat ja besseres Deutsch gelernt als ich. Und der redet (…)┌m4┐ Ja, genau, also mit Fachwörtern.

m4: In Fachwörtern

 

Dem Schüler ist bewusst, dass er als Hauptschulabsolvent mit deutlich weniger elaborierten Artikulationsformen in Kontakt gekommen ist, als sein Mitschüler, der bis in die Oberstufe das Gymnasium besucht hat. Er verallgemeinert diese Betroffenheit für alle Hauptschüler/innen, da er unterstellt, als Hauptschüler schlichtweg nicht den Zugang zum distinguierten Artikulationsformen erhalten zu haben. Gleichzeitig bindet er mit der Wahrnehmung von Scham eine individuelle Wahrnehmung ein, die vermeintlich für alle Hauptschulabsolventen gilt. Es kommt zum Ausdruck, dass der Schüler der Institution Schule eine zentrale Bedeutung für das Eröffnen erweiterter Artikulationsräume zuschreibt. Vor diesem Hintergrund ist der weitere Schulbesuch zum Zweck der Überwindung von Scham nachvollziehbar. Die Bedingung „wenn man neben ihm sitzt“ verweist darauf, dass die Scham in der Situation am stärksten wird, in der der ehemalige Hauptschüler mit der offensichtlichen schulischen Überlegenheit des Gymnasiasten konfrontiert wird. Die Situation am Ausbildungsmarkt, in der ehemalige Hauptschüler/innen mit Abiturient/inn/en um Ausbildungsstellen konkurrieren, stellt eine solche Vergleichssituation dar und die Verzögerung des Übergangs in reguläre Ausbildung spiegelt das Empfinden der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss, diesem Konkurrenzkampf schlichtweg nicht gewachsen zu sein.

Eine Ursache der Scham scheint zudem das Erleben zu sein, als Hauptschüler für geistig unterlegen gehalten zu werden, da der Unterrichtsstoff vermeintlich künstlich vereinfacht wird. Auch hier steht der Besuch des BGJ für den Versuch ehemaliger Hauptschüler/innen, sich von der Scham durch eigene Leistung zu befreien und den Gegenbeweis anzutreten, dass auch sie zu höheren Bildungsleistungen in der Lage sind.

Dass andererseits mit dem bloßen Besuch des BGJ bereits ein Teilerfolg im Kampf Selbstschätzung erzielt wird, zeigt die Konklusion der dargestellten Sequenz. Nachdem eine leichte Betretenheit angesichts der vorangegangenen Selbstoffenbarung herrscht, entlastet ein anderer ehemaliger Hauptschüler die Situation mit einer weiteren Erkenntnis:

m2: Tja.

Interv.: Mmh.

m3: Trotzdem seid ihr beiden hier. >Schmunzelnd<

Der ehemalige Gymnasiast wird zwar als in schulischen Leistungssituationen deutlich überlegen anerkannt, dennoch befindet er sich gemeinsam mit den ehemaligen Hauptschüler/inne/n im BGJ, was als eine Art Nivellierung der andererseits offensichtlichen Unterschiede aufgefasst wird. Die gesamte Sequenz zeigt somit, dass ehemalige Hauptschüler sich als soziale Gruppe innerhalb des BGJ begreifen und spezifische kollektive Erfahrungen dieser sozialen Gruppe die Selbstwahrnehmung im BGJ prägen.

3.2 Der affektive Gehalt der mittleren Reife

Eine weitere Sequenz, die an die Frage anschließend entstanden ist, warum die Jugendlichen in der Diskussionsrunde gerne die Fachoberschulreife (FOR) erreichen möchte, zeigt diese kollektive Selbstwahrnehmung noch deutlicher:

m5: Es gibt sogar Leute, die mit keinem Abschluss ┌Interv.┐ eine Ausbildung bekommen haben.

Interv.: Aber sie sagen, mit FOR...

m1: Kommt´s besser rüber. Sagen wir mal so.

m2: Man fühlt sich auch besser irgendwie.

m4: Ja, man fühlt sich dann so, ja so…

m3: Like a boss.

>Lachen<

m2: Like a boss. >Lachend<

m1: Man möchte auch die Eltern stolz machen. ┌m4┐ Verstehen sie, was ich meine? Wenn man nichts hat, kommt man auch ┌Interv.┐  voll blöd rüber.

┌m4┐ : Ja.

┌Interv.┐:  Mmh. 

Auf die Proposition, die Fachoberschulreife sei gar nicht zwingend notwendig für den Beginn einer Berufsausbildung, folgt die Elaboration, dass es bei den Bemühungen um die FOR nicht allein um berufliche Chancen geht, sondern dass mit der Fachoberschulreife eine andere Form affektiver Selbstwahrnehmung einhergeht, die in gesellschaftlichen und familialen Leistungsvorstellungen begründet ist. Der Anreiz eines erweiterten Abschlusses liegt damit nicht ausschließlich in der Erweiterung von beruflichen Entscheidungsspielräumen, sondern darin, die individuelle Selbstwahrnehmung, gemessen an gesellschaftlichen Wertschätzungskriterien, aufzuwerten. Die Formulierung „wenn man nichts hat“ spiegelt zudem die Übernahme der gesellschaftlich weit verbreiteten Einschätzung, dass der Hauptschulabschluss das beinahe wertlose Zertifikat einer „Restschule“ ist. Die affektive Aufladung der Fachoberschulreife stellt ein Aggregat aus Anerkennungsbedürfnissen durch primäre Bezugspersonen, im Beispiel die Eltern, und der gesellschaftlichen Wertschätzung dar, ausgedrückt in der Konklusion, nicht „voll blöd rüber [kommen]“ zu wollen. Diese Interpretation stützt die Einschätzung, dass die unterschiedlichen Anerkennungsmodi auf der analytischen Ebene zwar gut zu trennen sind, empirisch aber vielfältigen Verflechtungen unterliegen (vgl. Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, 189).

Die Formulierung „Like a boss“ bezieht sich möglicherweise direkt auf einen parodistischen Rap-Song („Like a boss“, Lonely Island feat. Seth Rogers auf YouTube: http://www.youtube.com/watch?v=NisCkxU544c) wahrscheinlicher aber auf eine aus diesem Song basierende jugendsprachliche Wendung, nach der Dinge „like a boss“ zu tun bedeutet, sie mit besonderer Lässigkeit und Unverfrorenheit zu tun. Die Phrase findet sich als entsprechende kommentierende Bildunterschrift vielfach in sozialen Medien im Internet (vgl. Langenscheidt, 100% Jugendsprache 2014, epub-Version, http://www.gutefrage.net/frage/like-a-boss----). Die Äußerung beinhaltet in dieser Lesart im Vergleich zur wörtlichen Übersetzung eine ironische Wendung, denn der Modus „like a boss“ entlehnt die statusintensive Position des „boss“ aus ihrer arbeitsweltlichen Konnotation, in der Macht und Verantwortung immer austariert werden müssen und reduziert sie auf einen schrankenlosen Möglichkeitsraum, der dem untergebenen Arbeitnehmer vorenthalten bleibt. Ohne einen möglicherweise aus purer Freude am Zitat ausgesprochenen pop- oder jugendkulturellen Verweis interpretativ überhöhen zu wollen, lässt sich die Äußerung dann so verstehen, dass die FOR in der Wahrnehmung der Jugendlichen Freiräume eröffnet, die der Status des Hauptschulabsolventen nicht vorhält. Die Schüler/innen beschreiben gerade auch den Status des Schülers bzw. der Schülerin, im Sinne eines Bildungsmoratoriums als Raum der Freiheit im Vergleich zu den Zwängen des Berufslebens. Ein Beispiel aus der anderen Gruppendiskussion, in der es ebenfalls um die Gründe für einen weiteren Schulbesuch geht, mag diese Interpretation dokumentieren:

W2:Wiederrum lernt man, also an, von einer Seite lernt man und ähm, man muss nicht arbeiten. Von der anderen Seite, dann ist man auch nicht so ausgepowert am Abend.

In dieser Sichtweise spiegelt sich ein Orientierungsrahmen von Arbeit als etwas, das nicht primär gesellschaftliche Wertschätzung verspricht, sondern – insbesondere unter den Beschäftigungsbedingungen, die viele Hauptschüler/innen möglicherweise aus Erzählungen im privaten Umfeld kennen – den Zwang, sich vielfältigen Zumutungen und Anforderungen auszusetzen, von denen man im Schulkontext weitgehend befreit ist. „Like a boss“ könnte demnach für einen Raum der selbstbezogenen Nutzung von Freiheit stehen, den Schule und höhere Bildung vorhält, Ausbildung und Beruf vermeintlich aber nicht. In Verbindung mit dem vorangegangenen Textbeispiel lässt sich eine Berufsorientierung Jugendlicher im BGJ entwerfen, die zwar Vorstellungen von gesellschaftlicher Anerkennung im Medium Beruf beinhaltet, die die Jugendlichen aber in ihrer lebensweltlichen Realisierung mit ihrem derzeitigen Status für außer Reichweite halten.

3.3 Der Wunsch nach sozialer Wertschätzung als BGJler

Weitere Verflechtungen unterschiedlicher Anerkennungsmodi, insbesondere des Rechts und der sozialen Wertschätzung, verweisen auf Unsicherheiten der Jugendlichen mit unterschiedlichen Dimensionen gesellschaftlicher und statusbezogener Erwartungen. Diese Unsicherheit zeigt sich insbesondere in einer Gesprächssequenz, in der die Bewertung von Schüler- bzw. Lehrerverhalten wiederholt in Argumentationsmuster münden, die sich auf Rechtstitel oder Kriterien der moralischen Integrität als gesellschaftliches Subjekt mit Rechten beziehen.

Es wird beispielhaft eine Sequenz wiedergegeben, die durch eine besondere interaktive Dichte gekennzeichnet ist und aus Platzgründen nur ausschnittweise abgebildet werden kann.  Die lebhafte Diskussion entwickelt sich anschließend an die Frage, warum BGJler im Unterschied zu Schüler/inne/n anderer Bildungsgänge am Berufskolleg keine Unterstützung nach BAföG beziehen können. In der Sequenz vermischen sich Empörungsäußerungen mit Ansätzen formal-rechtlicher Erklärungsversuche.

w4: Wir kriegen kein BAföG, das wollt ich auch noch fragen.

w1: Nicht im Berufsgrundschuljahr, ne?

w3: Janine kann so was bekommen.

w4: Warum Janine und warum nicht wir?

w2: Weil die Quali macht.

w3: Weil die Ausbildung glaube ich macht.

w4: Warum bekommen die anderen Schüler BAföG, aber wir nicht?

w6: Frag ich mich…

w1: Weil wir Berufsgrundschuljahr sind.

w3: Berufsgrundschuljahr.

w4: Eine Freundin macht auch Berufsgrundschuljahr, nur mit Sozial- und Ernährung - kriegt BAföG. 216 Euro im Monat.

w1: Ja.

w4: Wir kriegen nichts! >Entrüstet<

An der Sequenz zeigt sich einerseits ein Bewusstsein für die Regelhaftigkeit sozialstaatlicher Leistungen, weil das Ausbleiben der BAföG-Berechtigung über die Art des Bildungsganges begründet wird, andererseits aber auch das Bedürfnis, dass die eigenen Bildungsanstrengungen als unterstützungswürdig und damit gesellschaftlich wertvoll anerkannt werden. Die Schüler/innen bemühen sich um die Aufwertung des eigenen Sozialstatus im BGJ, machen aber die Erfahrung, dass ihre Bemühungen nicht den gleichen sozialen Rang wie andere (Aus-)Bildungsgänge genießen. Über die formal-rechtlichen Erklärungsversuche erfolgt einerseits ein Rückzug auf die Anerkennungsform des Rechts, weil in diesem Anerkennungsmodus individuelle Zuschreibungen und Inwertsetzungen nicht greifen, gleichzeitig dringt aber eine Empörung über die entzogene soziale Wertschätzung qua nicht gewährter finanzieller Unterstützung durch. In der ergänzenden Elaboration der öffnenden Frage anhand verschiedener, als taxonomisiert begriffener Qualifikationsarten, zeigt sich das geteilte Bewusstsein der Jugendlichen, sich in der Rangordnung der beruflichen Bildung weit unten zu bewegen und deswegen von der Wertschätzung, die sich in einer Ausbildungsvergütung zeigt, abgeschnitten zu sein.

3.4 Verwobenheit von Anerkennungsdimensionen und Rechtspositionen als Rückzugsraum

Eine ausladende Diskussion entspinnt sich entlang der Frage, in welchem Verhältnis wahrgenommenes Fehlverhalten seitens der Schule bzw. einzelner Lehrpersonen und Fehlverhalten seitens der Schüler/innen zueinander stehen. (w3) bezeichnet die Schülerin, die in einen Konflikt mit einer Lehrerin geraten war. Die jeweilige Verantwortung für den Konflikt und seine Klärung seitens der Schülerin bzw. der Lehrerin wird in der Sequenz ausführlich und teilweise kontrovers diskutiert. Dennoch kommt es zu einer Konklusion, die hier wiedergegeben wird. In dieser stellt eine andere Schülerin rückblickend dar, wie es ihr gelungen ist, den Hauptschulabschluss trotz als massiv empfundener persönlicher Entwertung zu erreichen.

w4:      „Wenn die (w3) super Noten schreibt, das war bei mir in [westdeutsche Großstadt] auf der Schule. Haben die Lehrer mich gehasst. Mein Lehrer wollte mich rauskicken, ich schwöre, der hat mich drei Monate lang aus dem Unterricht suspendiert. Ich konnte nichts machen. Aber ich hab das so schlau gemacht in den anderen Unterrichtsstunden, ich war so super. Ich war die beste von den Schülerinnen. Ich hab meinen Abschluss bekommen. Ich hatte null Fehlstunden und der konnte nix machen, weißte wie der mich gehasst hat? Zum Schluss habe ich den so fertig gemacht, ich hab, ich wollt den, das war schlimm. Ist wie gesagt und (w3), wenn du super Noten schreibst, können die nix machen.“

 Der Ausschnitt spiegelt eine grundlegende Unterstellung der Missachtung durch das Lehrpersonal wieder. Der schulische Anerkennungsapparat wird als das feindliche Andere konstruiert, das die Vernichtung der persönlichen Integrität zum Ziel hat. Dieser Feindseligkeit und Missachtung auf Ebene der sozialen Wertschätzung kann aus Sicht der Betroffenen nur durch Anpassung an die vermeintlich überindividuellen Bezugsnormen der Institution Schule, die Noten, begegnet werden. Rechtspositionen übernehmen hier die Funktion eines Schutzraumes (vgl. Honneth 2012, 152), der genutzt wird, um dem kontingenten Raum sozialer Vergabe von Wertschätzung vorübergehend zu entkommen. Anpassung und gute Noten werden als eine Art Trick dargestellt, indem man sich quasi verstellt, zeigt, dass man auf der überindividuell gültigen Ebene des Rechts unangreifbar ist und macht sich auf diese Weise gleichsam immun gegenüber Missachtung auf der Ebene sozialer Wertschätzung. In dieser Orientierung erscheinen Noten nicht als das gerechte Resultat schulischer Bemühungen, sondern als etwas, das vorübergehend benötigt wird, um dem schulischen Repressionsapparat standhalten zu können. Schule als Institution, in der die Vergabe von Anerkennung potentiell in einem transparenten und dynamischen Aushandlungsprozess von Schüler/innen und Lehrer/innen erfolgt und damit zu einer Form von Selbstschätzung als Basis zukünftiger Leistungssituationen beiträgt, hat in dieser Orientierung der trickreichen und vorübergehend selbstverleugnenden Anpassung ihre Bedeutung verloren.

Andererseits wird vom Lehrpersonal ein machtsensibler im Umgang mit dem Rechtstitel der Notenvergabe, basierend auf einer grundlegenden sozialen Anerkennung von Schülerbedürfnissen und -eigenschaften, erwartet:

w2:      „Lehrer, die zum Beispiel auch irgendwo an ihre Mit… . Also an ihre Schüler und ihre Zukunft denken. Zum Beispiel, die steht zwischen Vier und Fünf. Dass sie dann eher die Vier gibt, statt die Fünf. Obwohl sie kann genauso, sie hat das Recht, auch die Fünf zu geben. Aber Lehrer die zum Beispiel auf jemanden einen Tick oder so haben die nicht abhaben können wegen irgendwelchen Gründen. Die geben einfach eine Fünf. So die denken gar nicht so, dass sie ihr Leben zerstören. Das sind für mich falsche Lehrer. Und Lehrer die trotz allem, auch wenn die Schülerin mal so ist, mal so ist, die müssen trotzdem so irgendwo wissen, OK da ist ne Schülerin, die ist jetzt vielleicht so, aber wenn die sich ändert, dass sie trotzdem irgendwie immer versuchen die Noten zu verbessern.“

 Auch diese Konklusion einer längeren Sequenz, in der die Frage, was eine gute Lehrperson ausmacht, verhandelt wird, spiegelt eine Orientierung wieder, in der die Jugendlichen sich nicht als Gestalter/innen ihrer Anerkennungsbiographie erleben, sondern als dem Wohlwollen der sie beurteilenden Lehrer/innen ausgeliefert, die sie lediglich um Milde anrufen können. Schüler/innen stehen in der Gefahr, dass ein Lehrer „einen Tick“ entwickelt, man also „wegen irgendwelchen Gründen“ in den Fokus der Abwertung durch die Lehrperson gerät. Leistungsbewertung wird dann verstanden als das Machtinstrument, mit dem die soziale Missachtung übertragen wird auf die Anerkennungsdimension des Rechts, indem Lehrer die Macht besitzen, die Schülerin als ganze Person zu entwerten und gleichsam ihr Leben zu zerstören. Von Lehrer/inne/n wird die professionelle Wertschätzung erwartet, die es ermöglicht, eine jugendliche Person als im ständigen Wandel begriffen aufzufassen und ihr eine ständige Chance der Verbesserung einzuräumen. Die Schülerin beschreibt an dieser Stelle recht genau, wie Personen im Status des Schülers adressiert werden, nämlich nicht als vollwertige Person, sondern als Person, die diesen Status qua Bildung erst noch zu legitimieren hat. Nicht das Kind, sondern der zukünftige Erwachsene ist Adressat der allgemeinen Schulpflicht (vgl. Helsper/Sandring/Wiezorek 2005, 181). Im Material zeigt sich ein Ringen um Anerkennung als Teil eines adoleszenten Subjektivierungsprozesses, zu dem alle Schüler/innen sich im Rahmen schulischer Selektionsprozesse aufgefordert sehen und in den Spannungen und Kontingenzen nahezu programmatisch eingeschrieben sind. Gleichzeitig zeigt sich aber auch eine besondere Brüchigkeit des Anerkennungserlebens, da schulische Leistungs- und Selektionssituationen nicht primär als etwas durch selbstbezogene Vorstellungen von Leistungsfähigkeit – z. B. in Form von passenden Lern-und Arbeitsstrategien – Gestaltbares erlebt wird, sondern als etwas, das nicht zuletzt durch trickreiche Anpassungsformen bearbeitbar ist. Im BGJ finden diese Orientierungen ihre Fortsetzung, da die Anerkennungsbiografie die Auffassung der Rolle als Schüler/in im BGJ vorstrukturiert. Diese Subjektivierungsmodalitäten im Modus eines Kampfes um Anerkennung sind keine, die eine zielgerichtete, an individuellen Zielen und Vorstellungen von Leistungsfähigkeit ausgerichtete Berufsorientierung wahrscheinlich machen. Das BGJ steht angesichts solcher Bildungsorientierungen nicht zuletzt für ein soziales Setting, das deswegen gewählt wird, weil hier weitere Entwertungen der persönlichen Integrität unwahrscheinlicher sind als in anderen „Leistungsumwelten“ und das deswegen für von Entwertung jedweder Art Betroffene die Übergangsentscheidung der Wahl an der ersten Schwelle ist.

4 Zusammenfassung und Ausblick

Es konnte gezeigt werden, dass Berufs- und Bildungsorientierungen Jugendlicher im BGJ deutliche Zeichen eines Kampfes um Anerkennung tragen in dem Sinne, dass sich in den konjunktiven Sinnstrukturen insbesondere ehemaliger Hauptschüler/innen das Bedürfnis erkennbar ist, gruppenbezogene Statuszuweisungen individuell positiv zu wenden und das BGJ als Vehikel für die Aufwertung der leistungsbezogenen Selbstbeziehung zu verwenden. Ferner konnte gezeigt werden, dass nicht in erster Linie spezifische Bildungsziele oder das Scheitern der Bewerbung um eine Ausbildungsstelle der Grund für das Ziel eines erweiterten Abschlusses sind, sondern das Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung, einer positiven Selbstbeziehung im Medium der Leistung und die Konfundierung emotionaler Anerkennung durch die Erfüllung elterlicher Bildungserwartungen.

Strategien der Selbstselektion, verstanden als Verzögerung des Übergangs in qualifizierte Ausbildung, stehen hierbei für ein Bündel an Berufs- und Bildungsorientierungen, die der weiteren Explikation und Erforschung bedürfen und die je spezifisch auf verschiedene Anerkennungsdimensionen beziehbar, aber auch auf Orientierungen, die außerhalb eines Kampfes um Anerkennung liegen, zurückführbar sind.

Die analytische Dreiteilung des Anerkennungsbegriffs der Honneth´schen Anerkennungskonzeption hat sich als hilfreich erwiesen. Die Unterscheidung und reziproke Bezogenheit insbesondere der Anerkennungssphären des Rechts und der sozialen Wertschätzung hat dazu beigetragen, Einzelaspekte der Beziehung von Schüler/inne/n im BGJ zum Lehrpersonal und zur Institution Schule sichtbar zu machen.

Ausgehend von dieser Anerkennungskonzeption konnten Berufs- und Bildungsorientierungen im BGJ analysiert werden, in die das intersubjektiv entwickelte Anerkennungsgefüge der Gesellschaft eingeschrieben ist, das in Formen von Selbstselektion an der ersten Schwelle zur Geltung kommt. Beispielhaft zu nennen sind:

1) Das vielfach beschriebene Bedürfnis der Aufwertung der (affektiven) Selbstbeziehung durch die Fachoberschulreife.

2) Das Bedürfnis, elterliche Zuneigung, die als an Bildungserfolg gekoppelt erlebt wird, zu legitimieren. Insbesondere in Familien mit Migrationshintergrund liegen teilweise sehr hohe Bildungsaspirationen bei gleichzeitig tendenziell schwach ausgeprägten Unterstützungsstrukturen vor (vgl. Becker 2011, 30). Viele Jugendliche würden gerne dem elterlichen Wunsch, das Abitur zu erreichen um ein Studium aufnehmen zu können, entsprechen und nutzen das BGJ entweder, um diese Möglichkeit als reale Chance aufrecht zu erhalten oder um den Eltern gegenüber den Moment der Offenbarung aufzuschieben.

3) Eine Anerkennungsbiografie, die von Misserfolgserfahrungen gekennzeichnet ist und die weitere Herabsetzungserfahrungen durch Ablehnung in einem Bewerbungsverfahren als nicht zumutbar für die persönliche Integrität erleben lässt.

4) Ausprägungen sozialer Pathologien der rechtlichen Freiheit (Honneth 2012, 157ff), in denen intersubjektive Freiheit, mithin Berufswahl, nicht mehr als etwas reziprok Verhandelbares erlebt wird, sondern als belastendes Spannungsfeld, das Sprachlosigkeit erzeugt. Unterschiedliche Leistungserwartungen ziehen derart an den Jugendlichen, dass die Teilnehme am BGJ als von intersubjektiven Begründungszwängen befreiter Rechtsraum für eine temporäre Flucht aus berufsbezogenen Kommunikationsräumen genutzt wird.

Weitere Aspekte von Selbstselektion sind im BGJ wirksam, aber nicht primär auf Anerkennungsdynamiken beziehbar, z. B.:

5) Ein individuelles Attributionsverhalten des schulischen Misserfolgs, das zu der Einsicht führt, dass die Unreife der früheren Jugend und nicht Unvermögen die Ursache für schulischen Misserfolg war und die Selbstwahrnehmung, dass man mit erfolgter persönlicher Reifung auch zu höherwertigen schulischen Leistungen in der Lage ist,

6) direkte oder indirekte Botschaften aus dem Arbeitsmarkt, man sei noch zu jung und hätte nach einem Berufsgrundbildungsjahr bessere Chancen auf eine Ausbildungsstelle.

Die Vielfalt der Berufs- und Bildungsorientierungen an der ersten Schwelle macht es notwendig, die Unterschiede in den Bildungs- und Berufsorientierungen ehemaliger Hauptschüler/innen systematisch mit denen ehemaliger Gesamtschüler/innen mit Hauptschulabschluss im BGJ zu kontrastieren.

Die Auswertungen zeigen, dass das BGJ den Jugendlichen sowohl psychosoziale Entlastung verschafft, sie aber gleichzeitig von den Anerkennungsbeziehungen, in die qualifizierende Ausbildung eingelagert ist, isoliert.

Zusammenfassend zeigt sich, dass subjektbasierte, anerkennungstheoretische Forschung zu den Berufs- und Bildungsorientierungen im BGJ das Potenzial hat, die Vielfalt der Berufs- und Bildungsorientierungen Jugendlicher im BGJ zu beschreiben, indem die Jugendlichen als Subjekte mit spezifischen Bedürfnissen ernst genommen und die Bedeutung einer reflexiven, hegemoniesensiblen Berufsorientierungsforschung in die Theorieentwicklung integriert wird. Indem der weitere Schulbesuch an der ersten Schwelle als biografisch legitimierte Entscheidung anerkannt wird eröffnet sich die Möglichkeit, Bedürfnisse, Geschichten und komplexe Subjektivierungskontexte auf Berufs- und Bildungsentscheidungen zu beziehen und Verzögerungen des Eintritts in qualifizierende Ausbildung als biografisch sinnvoll aufzufassen. Das Bildungsmoratorium als eigene Qualität der Zeit, die Kinder und insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene in institutionellen Bildungskontexten verbringen, ist derzeit ein Privileg der Erbringer bürgerlich gerahmter Bildungsleistungen. Abiturienten nutzen die Zeit in der Oberstufe nicht nur, um sich auf ein Studium vorzubereiten, sondern auch für diverse Formen des „Erwachsenseins im Schonraum“, kulturelle Selbsterprobung, tentative Suchbewegungen etc. Die Pluralisierung der Arbeitsbezüge und ein gesellschaftlicher Bedeutungszuwachs subjektiv bedeutsamer Bildungs- und Berufsentscheidungen haben dazu geführt, dass das Bedürfnis, sich Zeit für einen Prozess der Selbstfindung zu nehmen, gesellschaftliche Verbreitung auch in die Gruppen von Schülern gefunden hat, die traditionell nach der Schule in qualifizierende Ausbildung eingetreten sind (vgl. Bojanowski 2012, 129). Dieses Bildungsmoratorium als spezifische Bildungsphase auch für Jugendliche ohne Schulabschluss und mit niedrigen Schulabschlüssen ertragreich zu gestalten bei gleichzeitiger Fokussierung beruflicher oder schulischer Anschlussmöglichkeiten, d. h. ohne den Preis einer sozialpädagogischen Entschulung, ist eines der zentralen Kriterien für Gestaltungsentscheidungen im Übergangsbereich insgesamt. Aus anerkennungstheoretischer Sicht ist es sinnvoll, Jugendlichen im BGJ ihre Anerkennungsbiografie reflexiv verfügbar zu machen. Dies wäre eine Grundlage dafür, dass die Jugendlichen ihre biografisch begründeten Bildungsentscheidungen als Subjekte in den Rahmen eines emanzipierten Selbsterlebens stellen. Konzepte, die im BGJ zu einer positiven Selbstbeziehung als Grundlage einer ermöglichenden Berufsorientierung beitragen, ohne das BGJ dabei auf eine sozialpädagogische Reparaturwerkstatt zu reduzieren, sind auf der Basis dieser Untersuchung notwendig.

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Berufsorientierung im hessischen Pilotprojekt „Gestufte Berufsfachschule“

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1 Ausgangslage

Der Deutsche Ausbildungsstellenmarkt weist im Juli 2014 eine markante Konvergenz zwischen unversorgten Bewerbern und freien Ausbildungsplätzen auf. Trotz 161.841 unbesetzter Ausbildungsstellen ist gleichzeitig die Zahl der unversorgten Bewerbern mit 153.696 vergleichsweise hoch (Statistik der Bundeagentur für Arbeit 2014, 5). Dieses Phänomen wird seitens der Wirtschaft und der Bundesagentur für Arbeit u. A.. mit einem qualifikatorischen Mismatch (Bundesagentur für Arbeit 2014, 25) (Passungsproblematik) begründet, es wird konstatiert, dass für die vielen unbesetzten Ausbildungsplätze zu wenig geeignete BewerberInnen zur Verfügung stünden (DIHK-Deutscher Industrie und Handelskammertag e.V. 2013, 16). Dies führt dazu, dass gerade Jugendliche mit Hauptschulabschluss immer seltener eine geeignete Ausbildungsstelle finden können und den Umweg „Übergangsystem“ einschlagen müssen, um beispielsweise einen höheren Abschluss (mittlerer Bildungsabschluss) zu erwerben. Belegt werden kann dies mit dem jüngsten Berufsbildungsbericht, demzufolge 2012 42,7% der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss in das Übergangssystem einmündeten, während bei den Jugendlichen mit mittlerem Abschluss nur 16% und mit (Fach-)Hochschulreife nur 2,6% (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014) diesen Weg einschlugen. 2012 waren demzufolge auch nur 28,2% aller Neuzugänge des dualen Ausbildungsmarktes Jugendliche mit Hauptschulabschluss, während 44,9% der Neuzugänge Jugendliche mit mittlerem Abschluss und 23,3% Jugendliche mit (Fach-)Hochschulreife ausmachten (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014). Vor allem junge MigrantInnen mit Hauptschulabschluss haben es schwer, eine geeignete duale Ausbildungsstelle zu finden. Treten rund 47% der deutschen Jugendlichen unmittelbar nach dem Hauptschulabschluss eine duale Ausbildung an, schaffen dies nur 33,6% der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, sodass sich prozentual deutlich mehr dieser Jugendlichen (56,5%) im Übergangsystem befinden, als deutsche (40,6%) (Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014, 2014). Von den 133.474 Jugendlichen mit Hauptschulabschluss, die in das Übergangssystem einmünden, besuchen fast die Hälfte (61.849) eine Berufsfachschule, die zu keinem beruflichen Abschluss, sondern in aller Regel zu einem höheren allgemeinen Schulabschluss (mittlerer Bildungsabschluss) führt. Damit wird einmal mehr unterstrichen, dass das duale System seine ursprüngliche Stärke, bildungsbenachteiligte bzw. bildungsschwächere Jugendliche beruflich zu integrieren, deutlich eingebüßt hat (Weishaupt 2012, 27). Entsprechend ist es auch wenig verwunderlich, dass Jugendliche, die maximal über einen Hauptschulabschluss verfügen, häufig eine weitere schulischen Laufbahn, zum Beispiel zum Erwerb eines höheren Schulabschlusses (Eberhard et al. 2013) präferieren, um ihre Chancen auf dem Ausbildungsmarkt signifikant zu erhöhen, da innerhalb der Bewerbervorauswahl sowohl die Schulabschlüsse als auch die Noten für die Ausbildungsbetriebe, auch aufgrund fehlender zusätzlicher Informationen bezüglich der Stärken und Schwächen der Jugendlichen, als einzige Indizien für die Leistungsfähigkeit und im weiteren Sinne für das Arbeits- und Sozialverhalten herangezogen werden könnenEberhard et al. (2011): Perspektiven beim Übergang Schule-Berufsausbildung. Methodik und erste Ergebnisse aus der BIBB-Übergangsstudie 2011, 52.

Neben dem qualifikatorischen Mismatch wird als weiterer gewichtiger Grund für die aktuelle Problemlage seitens der Wirtschaft eine mangelnde Ausbildungsreife bei vielen Jugendlichen als großes Ausbildungshemmnis angeführt (DIHK-Deutscher Industrie und Handelskammertag e.V. 2013, 26). Diese drücke sich u. A. in einer geringen Motivation sowie defizitären Sozialkompetenzen aus, aber auch in Mängeln im Bereich der Allgemeinbildung (DIHK-Deutscher Industrie und Handelskammertag 2013). Gemäß der aktuellen Statistik der Bundeagentur für Arbeit gehen damit Defizite in der beruflichen Orientierung einher, welche sich an erster Stelle in rudimentären Kenntnissen über die Vielfalt interessanter und dabei auch erreichbarer Ausbildungsberufe niederschlagen. Als eine maßgebliche Folge wird hierbei festgestellt, dass sich die Bewerbungen bei einer geringen Zahl von bekannten Ausbildungsberufen ballen, während bei vielen unbekannten Ausbildungsberufen Bewerbermangel herrscht (Statistik der Bundeagentur für Arbeit 2014, 20). Geschlechterspezifisch verstärkt wird dieser Effekt im Bereich des Handwerkes bzw. der Technik, da junge Frauen im Vergleich zu jungen Männern an einer Ausbildung in beiden Bereichen deutlich weniger interessiert sind (Statistik der Bundeagentur für Arbeit 2014, 20), und daher diesem für die Gesamtkohorte der Hauptschulabgänger quantitativ größten Bereich des Ausbildungsmarktes kaum zur Verfügung stehen.

Wie die Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014 feststellt, wirkt sich mangelnde Ausbildungsreife nicht nur in der Akquise eines Ausbildungsplatzes aus, sondern in hohem Maße auch noch dann, wenn ein solcher definitiv angetreten wurde. Hierfür werden Defizite in der beruflichen Orientierung der Jugendlichen verantwortlich gemacht, explizit falsche Vorstellungen über die Tätigkeiten, deren Bedingungen und Kontexte. Häufig wird dann die Ausbildung schon in der Probezeit abgebrochen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014, 110ff). Die Abbrecherquote bei Jugendlichen mit Hauptschulabschluss in handwerklichen Berufen liegt mit ca. 30% fast doppelt so hoch wie bei Jugendlichen mit mittlerem Bildungsabschluss (ca. 13%) und fast drei mal so hoch wie bei Jugendlichen mit Fachhochschulreife (ca. 18%) (s. Abb. 1). Dies gilt insbesondere für Jugendliche mit Migrationshintergrund: Hier liegt der Dropout mit ca. 28% fast ein Drittel über dem Niveau der deutschen Auszubildenden (ca. 21%) (Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014, 111). Für die Jugendlichen bedeutet eine Vertragsauflösung nicht nur eine berufsbiografische Stagnation und das Zurückfallen ins Übergangssystem; sie ist ein klares Misserfolgserlebnis, verbunden mit Ängsten, Zweifeln und Demotivation (Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014, 110). Aus betrieblicher Perspektive bedeutet ein Ausbildungsabbruch – unabhängig ob Großbetrieb oder kleines und mittelständisches Unternehmen (KMU) – in jedem Falle einen Verlust von Ressourcen im Sinne einer „Fehlinvestition“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014, 110). Zudem hinterlässt er (temporär) eine unbesetzte Ausbildungsstelle und erhöht damit das stetig anwachsende  Defizit im Bereich des Fachkräftenachwuchses, verbunden mit der Gefahr eines Rückzugs der betroffenen Betriebe vom Ausbildungsmarkt (DIHK-Deutscher Industrie und Handelskammertag e.V. 2013, 16).

Der aktuell feststellbare beinahe bundesweite Fachkräftemangel (Fachkräfteengpass) in den Bereichen Mechatronik, Automatisierungstechnik, Energietechnik sowie Sanitär-/Heizungs- und Klimatechnik steht absehbar in Zusammenhang mit den vorausgehend angeführten Ursächlichkeiten (Bundesagentur für Arbeit 2014, 13ff). Er muss gesamtgesellschaftlich im Hinblick auf die demografische Entwicklung als Indiz für einen mittelfristigen Trend (Geburtendefizit im Bundesdurchschnitt -2,4%, Quelle: Statista GmbH) sehr ernst genommen werden. Die alternde Belegschaft vieler Betriebe tritt sukzessive in die Nacherwerbsphase ein, wodurch dem Arbeitsmarkt erfahrene Fachkräfte verloren gehen. (Autorengruppe Bildungsberichterstattung zum Bildungsbericht 2014, 4).

Eine verbesserte Integration bildungsbenachteiligter Jugendlicher in die Ausbildung ist damit für die kommenden Jahre aus zwei zentralen Gründen dringend erforderlich: Zum einen, um den Rückbau des Übergangssystems voran zu treiben und damit die Gefahr eine Präkariats im Vorfeld des Erwerbslebens junger Menschen zu verringern. Die Gefahr in ihrem Leben von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein ist mit 19% bei Jugendlichen ohne Beruf fast 4 mal so hoch, wie bei Personen mit beruflichen Bildungsabschluss (5%). (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2013, 3). Zum anderen gilt es, den bereits eintretenden Fachkräftemangel möglichst weit einzugrenzen und damit einhergehende negative Folgen für die Wirtschaft zu verringern. Letztlich gilt es, unsere „Warteschleifen“ an der I. Schwelle im Übergang Schule-Beruf abzubauen und gleichzeitig viel Energie darauf zu verwenden, möglichst viele Jugendliche beruflich zu orientieren, ihre Ausbildungsreife zu fördern und sie in eine passende Ausbildung zu vermitteln.

Ein diesbezüglicher Ansatz der Hessischen Landesregierung bezieht sich auf eine Reform der zweijährigen Berufsfachschule und wurde 2013 auf den Weg gebracht. Zentrale Intention ist hier, den Warteschleifen-Effekt dieses Bildungsformats zu reduzieren und über ein Stufen-Modell möglichst viele BerufsfachschülerInnen ohne den „Umweg“ über den Mittleren Bildungsabschluss und den damit verbundenen schulischen Dropout in die duale Berufsausbildung zu integrieren (Hessisches Kultusministerium, 2013). Dieser Pilotansatz einer Gestuften Berufsfachschule, in dem die Zulassungsvoraussetzungen gegenüber dem bisherigen Konzept reduziert wurden (Hauptschulabschluss unabhängig vom Notendurchschnitt), ist modular aufgebaut, und adressiert schwerpunktmäßig die Ausbildungsvorbereitung. Die beiden Schuljahre entsprechen nicht mehr der bisherigen Abfolge relativ homogener Curricula mit überwiegend allgemein bildenden Inhalten, sondern unterscheiden sich in ihrer Zielorientierung grundlegend: der planmäßige Ausstieg soll für die Mehrzahl der SchülerInnen bereits während oder nach dem ersten Schuljahr (Stufe 1) in eine duale Ausbildung vollzogen werden, mit der Perspektive, den Mittleren Bildungsabschluss ausbildungsbegleitend zu erreichen (Hessisches Kultusministerium 2013) (Abb. 1). Das zweite Schuljahr (Stufe 2) soll jenen SchülerInnen vorbehalten sein, die entweder eine Ausbildung anstreben, für die ein Mittlerer Bildungsabschluss formelle Grundvoraussetzung ist, oder ein Studium.

2 Pilotansatz einer Gestuften Berufsfachschule in Hessen

Auf Grundlage der Vorgaben des hessischen Kultusministerium unter der Kultusministerin Nicola Beer (2012-2014) wurde in Zusammenarbeit mit der TU-Darmstadt, Arbeitsbereich Technikdidaktik, ein Konzept zur Umsetzung der Gestuften Berufsfachschule erarbeitet, welches seit dem Schuljahr 2013/2014 an drei hessischen Pilotschulen erprobt und bis zum Schuljahr 2015/2016 evaluationsgestützt weiterentwickelt wird. Dabei vertritt die Eduard-Stieler-Schule in Fulda die Fachrichtung „Gesundheit und Soziales“, die Ludwig-Geißler-Schule in Hanau die Fachrichtung „Technik“ und die Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Schule in Fritzlar die Fachrichtung „Wirtschaft und Ernährung“.

2.1 Stufe I

Gemäß den Vorgaben gelten als neue Zielgruppe für die Gestufte Berufsfachschule alle Jugendliche mit Hauptschulabschluss, unabhängig vom Notenbild, da im ersten Jahr (Stufe I) nicht mehr der mittlere Bildungsabschluss zentrales Ziel ist, sondern die Chancen der noch unversorgten Jugendlichen auf dem Ausbildungsmarkt zu steigern. Daher wird in der Stufe I in erster Linie die Ausbildungsreife der Jugendlichen gefördert, welche (wie bereits dargestellt) als größtes Hemmnis für die Akquise einer Ausbildung gilt. Ausbildungsreife wird in Anlehnung an den Kriterienkatalog des Expertenkreises (Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland) wie folgt definiert: „Eine Person kann als ausbildungsreif bezeichnet werden, wenn sie die allgemeinen Merkmale der Bildungs- und Arbeitsfähigkeit erfüllt und die Mindestvoraussetzungen für den Einstieg in die berufliche Ausbildung mitbringt“ (Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs 2009, 13).  In Umsetzung dieses Kriterienkatalog werden an der Gestuften Berufsfachschule zentral die Merkmalsbereiche 1. der schulischen Basiskenntnisse, 2. der psychologischen Merkmale des Arbeitsverhaltens und 3. der Berufswahlkompetenz ( s. Ratschinski & Steuber, 2012) in unterschiedlicher Ausprägung und angepasstem Design fokussiert und entsprechend weiterentwickelt.

Abbildung 1: Konzept der Gestuften BerufsfachschuleAbbildung 1: Konzept der Gestuften Berufsfachschule

2.1.1 Umfassende Individualisierung in den allgemeinbildenden Fächern

Im Merkmalsbereich der schulischen Basiskenntnisse werden die Jugendlichen in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch gemäß Modellkonzept in leistungsdifferenzierten Gruppen zu je ca. 13 Schülerinnen und Schülern  entsprechend ihres individuellen Leistungsstandes unterrichtet und somit zunächst der Abbau von Defiziten fokussiert. Den Schülerinnen und Schülern soll durch auf den „Einzelnen“ abgestimmte Methoden, welche unterschiedliche Lernzugänge und -geschwindigkeiten berücksichtigen, ein individueller Kompetenzzuwachs ermöglicht werden. Dabei werden Inhalte thematisiert, „die es den Schülerinnen und Schülern ermöglichen sollen, sich in einer äußerst heterogenen Gesellschaft sowie leistungsorientierten Arbeitswelt zu orientieren und positionieren“ (Bergmann/Tenberg 2014).

Insbesondere im Fach Englisch erfolgt im Rahmen der leistungsdifferenzierten Aufteilung der Lernenden eine verbesserte Vorbereitung auf einen ausbildungsbegleitenden Erwerb des Mittleren Bildungsabschlusses. SchülerInnen, welche im Fach Englisch die dafür erforderlichen Voraussetzung gemäß §9 Absatz 2 der  „Verordnung über die Berufsschule“ (vom 09. September 2002 zuletzt geändert durch die Verordnung vom 11. Juli 2011) bisher nicht erfüllen konnten, haben damit eine verbesserte Chance, dies durch einen am Schuljahresende abschließenden Test nachzuholen.

Die drei Pilotschulen haben im Bereich der schulischen Basiskenntnisse unterschiedliche Differenzierungsansätze bzw. Differenzierungskonzepte erarbeitet, im Laufe des Schuljahres 2013/2014 erprobt und weiterentwickelt. Im Schuljahr 2014/2015 gilt es die unterschiedlichen Ansätze und Konzepte der Pilotschulen maßgeblich zu vereinheitlichen und – soweit erforderlich und möglich – auf curricularer Ebene anzugleichen.

2.1.2 Konkretisierung und Rückmeldung überfachlicher Kompetenzen

Im Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife (Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs 2006, 11) werden folgende Aspekte als psychologische Merkmale des Arbeitsverhaltens angeführt: 1. Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz, 2. Kommunikationsfähigkeit, 3. Konfliktfähigkeit, 4. Kritikfähigkeit, 5. Leistungsbereitschaft, 6. Selbstorganisation/Selbstständigkeit, 7. Sorgfalt, 8. Teamfähigkeit, 9. Umgangsformen, 10. Verantwortungsbewusstsein und 11. Zuverlässigkeit. Innerhalb der Pilotstudie werden alle hier erwähnten Faktoren adressiert, die auf psychischer Ebene auf ein berufliches Leben vorbereiten, insbesondere jedoch die Aspekte 2., 6., 7., 8., 9. und 10. Dies erfolgt mit Hilfe des Einsatzes einer stufenbasierten überfachlichen Kompetenzmatrix (Abb. 2), in welcher die einzelnen Kompetenzbereiche jeweils mit spezifische Verhaltensankern so weit präzisiert sind, dass SchülerInnen ebenso wie LehrerInnen in der Lage sind, den individuellen Entwicklungsstand für jeden Teilaspekt zu klären. Schülerinnen und Schüler macht diese überfachliche Kompetenzmatrix häufig zum ersten Mal transparent und nachvollziehbar, was von Ihnen im Hinblick auf eine berufliche Ausbildung erwartet wird. Den Lehrpersonen steht damit ein Instrument zur Verfügung, mit dem sie die kriterial ebenso wie kategorial unscharfe Taxierung solcher Kompetenzen mittels „Kopfnoten“ überschreiten können.

Abbildung 2: Überfachliche KompetenzmatrixAbbildung 2: Überfachliche Kompetenzmatrix

Das Verhalten der Schülerinnen und Schüler wird mit der überfachlichen Kompetenzmatrix in regelmäßigen Abständen von den einzelnen Lehrkräften  entsprechend der einzelnen Kompetenzbereiche eingestuft. Die von den unterschiedlichen Lehrkräften ausgefüllten Kompetenzmatrizen führen zunächst zu einem differenzierten Bild bzgl. der überfachlichen Kompetenzen jedes einzelnen Jugendlichen. Zudem bilden sie die Grundlage für individuelle Gespräche mit den Jugendlichen, um ihm persönliche Stärken und konkrete Entwicklungsräume aufzeigen zu können. In aggregierter Form gehen die abschließenden Bewertungen der überfachlichen Kompetenzen der SchülerInnen in die Zeugnisse ein.

2.1.3 Profilgruppen

Damit die Schülerinnen und Schüler trotz des modularisierten Unterrichts und den damit einhergehenden inkonsistenten Lerngruppen sowie den häufig wechselnden Lehrkräften verbindliche und tragfähige Beziehungen sowohl untereinander als auch zu einer Lehrkraft aufbauen können, sieht das Konzept der Gestuften Berufsfachschule sog. Profilgruppen vor. Diese kollektiven Einheiten sind feste Gruppen von ca. 13 SchülerInnen, welche sich ein mal pro Woche für 2 festgeschriebene Stunden treffen. Betreut werden diese von sog. ProfilgruppenlehrerInnen, indem sie sich allgemein allen individuellen Fragen und Problemen zuwenden, in der Entwicklung der überfachlichen Kompetenzen beraten und unterstützen, bei der Praktikums- bzw. Ausbildungsplatzsuche behilflich sind. Jede Pilotschule hat diesbezüglich ein eigenes Curriculum erarbeitet, welches im Jahr 2013/2014 erprobt wurde. Im Schuljahr 2014/2015 werden diese Konzepte integriert und übergreifend curricular verankert.

2.1.4 Berufswahlkompetenz

Die Entwicklung von Berufswahlkompetenz kann als eine komplexe Anlage-Umwelt-Interaktion verstanden werden, die aktiv vom Heranwachsenden zu gestalten ist (Ratschinski & Steuber 2012). Die Prämisse „aktiv“ beinhaltet hierbei zwei bedeutsame Facetten, zum einen die Reduzierung bzw. Überwindung einer Außenorientierung in der Berufswahl (Einfluss der Eltern oder Peers), zum anderen die Aufnahme von konkreten Handlungen an Stelle abstrakter Überlegungen. Davon ausgehend, wird im Konzept der Gestuften Berufsfachschule in hohem Maße auf vielfältige und dabei einschlägige praktische Erfahrungen gesetzt, welche die Jugendlichen in entsprechenden fachrichtungsspezifischen Schwerpunkten der Berufsfachschule sammeln können. Im unmittelbaren Vollzug berufstypischer Tätigkeiten können sie eigene Interessen, Potentiale und Ressourcen kennenlernen bzw. entwickeln. Die beruflichen Erfahrungsräume werden dabei so authentisch wie möglich ausgestattet, die dabei umzusetzenden Aufgaben und Tätigkeiten entsprechen nicht den im Bereich der Ausbildungsvorbereitung üblichen „Grundübungen für Anfänger“ sondern sind berufstypisch ausgewählt. Dabei wird bewusst ein Mangel an Basisbefähigungen in Kauf genommen, mit dem Gewinn eines authentischen Einblicks in die Berufe. Die drei Pilotschulen haben in diesem Bereich entsprechend der unterschiedlichen Fachrichtungen sehr divergente Ansätze entwickelt. Dabei wird zusätzlich (moderat), entlang der praktischen Einblicke und Erfahrungen in angemessenem Umfang und Schwierigkeitsgrad fachspezifisches Wissen vermittelt.

Im Bereich Technik durchlaufen die Jugendlichen seit dem Schuljahr 2014/2015 beispielsweise sechs Schwerpunkte (Elektrotechnik, Metalltechnik, Chemietechnik, Holztechnik, Datentechnik und Anlagentechnik) und lernen dort im vierwöchigem Turnus die (beruf-) typischen Kontexte der unterschiedlichen Schwerpunkte mit Hilfe von integrativen Projekten kennen. Flankierend begleitet werden die Schülerinnen und Schüler aller Pilotschulen in der Phase der beruflichen Orientierung durch individuelle Gespräche, in denen die Jugendlichen über ihre berufsbezogenen Erfahrungen berichten und sich mit diesen reflexiv auseinandersetzen können. Dazu stehen neben den Fachlehrern auch die ProfilgruppenlehrerInnen oder erfahrene BerufsberaterInnen zur Verfügung, die die Jugendlichen dabei unterstützen, eigene Interessen wahrzunehmen, eine eigene Selbstwahrnehmung aufzubauen und zu stärken, Selbstwirksamkeit zu erfahren und letztlich Selbstvertrauen zu gewinnen, was für die Entwicklung einer Berufswahlkompetenz als entscheidend erachtet wird (Bergmann/Tenberg 2014). Um die Schülerinnen und Schüler individuell beraten und unterstützen zu können, wird in diesem Bereich auf die Bewertung mittels Noten verzichtet und stattdessen mit einer stufenbasierten (in Anlehnung an das VQTS (Vocational Qualification Transfer System)-Modell) Kompetenzmatrix auf Basis eines technikdidaktischen Kompetenzmodells gearbeitet (Abb. 3). Diesem Instrument liegen detaillierte Kompetenzbeschreibungen zu Grunde, die dem Unterricht auch als curriculare Basis dienen, indem sie die spezifischen Zusammenhänge von Wissen und Können konkretisieren (Tenberg 2011).

Abbildung 3: Fachliche Kompetenzraster-Fachrichtung Technik-Schwerpunkt MetalltechnikAbbildung 3: Fachliche Kompetenzraster-Fachrichtung Technik-Schwerpunkt Metalltechnik

Im Schuljahr 2014/2015 wird auch innerhalb der beiden anderen Fachrichtungen „Gesundheit und Soziales“ sowie „Wirtschaft“ die Bewertung mittels stufenbasierter Kompetenzmatrix implementiert. Wie die überfachliche Kompetenzmatrix sind auch die fachlichen Kompetenzmatrizen Bestandteil des Zeugnisses.

Das Konzept der Gestuften Berufsfachschule sieht generell ein vierwöchiges Praktikum für die Stufe I vor, welches an den drei Pilotschulen jedoch in sehr unterschiedlicher Art und Weise organisiert ist. Z. B. wird an der Schule mit dem technischen Schwerpunkt das Praktikum in 2 zweiwöchige Abschnitte aufgeteilt, um zwischen diesen betrieblichen Phasen eine Schwerpunktbildung zu ermöglichen. Nach dem 1. Teil des Praktikums haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit sich in einem Schwerpunkt der Fachrichtung Technik  zu „spezialisieren“ und bis zum Ende des Schuljahres einschlägige berufliche Basiskompetenzen zu erwerben, um deren Chancen auf dem Ausbildungsmarkt steigern. Innerhalb dieser Zeit findet ein weiteres zweiwöchiges Praktikum statt und dient damit zur Überprüfung der bisherigen Berufswahlentscheidung. Seit dem Schuljahr 2014/2015 ist ein erfolgreich absolviertes vierwöchiges Praktikum versetzungsrelevant.

Die Gestufte Berufsfachschule hält eine gesicherte Infrastruktur in Form von Betriebskontakten bereit, welche es den SchülerInnen leicht macht, angemessene Praktikumsplätzen zu akquirieren. Wenn ein Betrieb schon während des Praktikums Ausbildungsambitionen bezüglich einer/s PraktikantIn signalisiert, kann diese/r für zwei Tagen pro Woche freigestellt werden und ein „Langzeitpraktikum“ antreten; Grundbedingung ist dabei der Abschluss eines Vor-Ausbildungsvertrags, um die Jugendlichen vor Ausnutzung zu schützen. Gelingt ein Langzeitpraktikum, ergeben sich für die Jugendlichen und die Betriebe gleichermaßen Vorteile. Den Jugendlichen fällt der Übergang in die Ausbildung leichter, wenn sie den Ausbildungsbetrieb und die Kollegen bereits kennen und sich langsam an das „Arbeitsleben“ gewöhnen können. Die Betriebe haben so die Chance, die Jugendlichen „im Alltag“ längerfristig zu beobachten, sie dabei in die betrieblichen Strukturen einzuarbeiten und auf die bevorstehende Ausbildung vorzubereiten.

2.1.5 Portfolio an Stelle eines Zeugnisses

Gemäß einer DIHK-Unternehmensbefragung (DIHK-Deutscher Industrie und Handelskammertag e.V. 2013) wünschen sich viele ausbildende Betriebe mehr Informationen über die Stärken und Schwächen der Bewerber und Bewerberinnen. Um die Chancen der Schülerinnen und Schüler der Gestuften Berufsfachschule auf dem Ausbildungsmarkt zu erhöhen, wurde dieser Wunsch der ausbildenden Betriebe umgesetzt und das sogenannte Qualifikationsportfolio eingeführt. Dieses Portfolio dient zur Sammlung aussagekräftiger Materialien, welche die SchülerInnen selbst zusammenstellen können, z. B. durch Dokumentation gelungener „praktischer Arbeiten“ oder Belege für außerschulische Aktivitäten (soziales Engagement, ehrenamtliche Tätigkeiten, Übungsleitertätigkeiten, Bewerbungstraining). Von schulischer Seite werden für das Qualifikationsportfolio die bewerteten fachlichen Kompetenzmatrizen incl. Kompetenzbeschreibungen bereit gestellt, die aggregierte Form der überfachlichen Kompetenzmatrizen sowie Zeugnisse und Praktikumsbeurteilungen.

2.2 Stufe II

In der Stufe II der Gestuften Berufsfachschule steht – anders als in Stufe I – der mittlere Bildungsabschluss im Fokus. Daher werden im Bereich Deutsch, Mathematik und Englisch im Vergleich zur Stufe I doppelt so viele Stunden gegeben, um die für den Mittleren Abschluss benötigten Inhalte anstelle von zwei Jahren in einem Jahr zu vermitteln. Der Unterricht findet in Stufe II nicht mehr in sehr kleinen differenzierten Lerngruppen zu ca. 13 Jugendlichen statt, sondern in Lerngruppen zu ca. 25 Schülerinnen und Schülern.

Als Novum des Schuljahres 2014/2015 werden nur die Jugendlichen in Stufe II versetzt, die gemäß Abschlusszeugnis der Stufe I in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch ein Notenbild von 3/3/4 oder besser aufweisen. Dies ist notwendig, um die Jugendlichen vor unerfüllbaren Erwartungen und Hoffnungen auf einen erfolgreichen Erwerb des Mittleren Abschlusses in der Berufsfachschule zu schützen. Es hat sich im Schuljahr 2013/2014 gezeigt, dass viele Schülerinnen und Schüler, die aufgrund der gelockerten Zugangsvoraussetzungen den Weg in die Berufsfachschule einschlagen konnten, keineswegs intendierten nach der Stufe I in Ausbildung zu gehen und sich entsprechend auch nicht um einen Ausbildungsplatz bemühten. Stattdessen sehen viele Jugendliche eine (unrealistische) Chance den Mittleren Bildungsabschluss mit dem erfolgreichen Abschluss der Stufe II zu erreichen. Leider verkennen viele Jugendliche dabei, dass die Inhalte, die zum Mittleren Abschluss führen, fast ausschließlich in der Stufe II vermittelt werden, während Stufe I überwiegend zum Abbau der Defizite dient.

Im beruflichen Bereich, der im Vergleich zur Stufe I nur halb so viel Unterricht umfasst, erwerben die Jugendlichen in einem selbst gewählten Schwerpunktbereich Grundqualifikationen, die in einer z. T. gestreckten Abschlussprüfung geprüft und zertifiziert werden. Diese erworbenen beruflichen Qualifikationen sollen den Jugendlichen gegenüber „normalen“ Realschülern einen Vorteil bei der Ausbildungsplatzsuche bringen und ihnen den Übergang in eine hochwertige duale Ausbildung erleichtern. In diesem Bereich ist für den Fall, dass die Gestufte Berufsfachschule in den Regelbetrieb übergeht vorgesehen, die bereits bestehenden Qualifikationsbausteine des Handwerkes zu implementieren.

3 Wissenschaftliche Begleitung

Die für die Pilotphase der Gestuften Berufsfachschule in Hessen einbezogene wissenschaftliche Begleitung verfolgt den Grundansatz einer gestaltungsorientierten Forschung (vgl. Euler 2011). Das Hessische Kultusministerium intendiert in Verantwortung für die Implementationsstudie ein hochwertiges Evaluationskonzept, welches vielfältige Daten aus den Pilotschulen für die laufenden Modifikationen und Optimierungen des Gesamtansatzes sowie dessen vielfältiger Teilbereiche liefern soll. Die wissenschaftliche Begleitung intendiert zudem Befunde, welche über den spezifischen Einzelzusammenhang hinaus wissenschaftlich tragfähig sind, also in theoriefundierten Zugängen unter den Standards der empirischen Sozialforschung erhoben und analysiert werden. „Forschung und Entwicklung werden als zirkulärer, iterativer Prozess konzipiert; Bildungsforschung und -praxis wirken kooperativ zusammen, wobei die Interessen und Ziele klar getrennt bleiben und die Handlungsschwerpunkte variieren können“ (Euler/Sloane 2014, 8).

3.1 Design

Die Evaluation der Pilotstudie ist rein introspektiv angelegt und erfolgt in Form von vielfältigen Befragungen aller Beteiligten. Insbesondere die involvierten Lehrpersonen und SchülerInnen der drei Pilotschulen werden hier bezüglich ihrer Wahrnehmungen, Einschätzungen, Bewertungen und Prognosen schriftlich aber auch mündlich befragt. Ergänzt wird dies mit Fragebogenerhebungen oder auch Interviews bei direkt beteiligten Betrieben (Praktika, Ausbildungsverträge) sowie bei den regionalen zuständigen Stellen (Kammern, Innungen, ...) und einschlägigen Behörden (Beratungsstellen, Arbeitsagenturen, ...). Über die Evaluation hinaus erfolgt eine Erhebung des soziodemographischen Querschnitts aller beteiligten SchülerInnen als Monitor über die gesamte Pilotphase mit 3 Querschnitten, wobei hier Teilaspekte (Berufswunsch, Eigenverantwortlichkeit) über die letzten beiden Pilotjahre als Längsschnitt (fallspezifisch) erhoben werden. Zudem ist geplant, Wirkungsaspekte wie die Berufswahlkompetenz, fachliche und überfachliche Kompetenzen in hypothesenfundierten, Ansätzen zu erheben. Diese Tests können jedoch erst im letzten Pilotjahr zu überzeugenden Ergebnissen führen, da bis zu diesem Zeitpunkt das Gesamtkonzept sowie alle didaktisch-methodischen Teilsegmente weiterentwickelt werden. Im Hinblick auf die große Heterogenität der Versuchskohorte (Schulen mit unterschiedlichsten beruflichen Profilierungen, unterschiedliche Bildungsregionen und Ausbildungsinfrastrukturen, erheblicher Gradient in den allgemeinen Schulabschlüssen) kann diesen Befunden jedoch nur eine untergeordnete Bedeutung beigemessen werden. Die im Folgenden referierten Zugänge und Befunde beziehen sich ausschließlich auf das erste Projektjahr und damit ausschließlich auf die Stufe I.

3.2 Evaluation

Alle Instrumente der Evaluation werden in enger Kooperation der beteiligten Pilotschulen, des Hessischen Kultusministeriums sowie der wissenschaftlichen Begleitung entwickelt. Sie werden so angelegt, dass sie schulübergreifend eingesetzt werden können, um in jedem Falle Vergleiche möglich zu machen.

3.2.1 Herangehensweise in der SchülerInnenbefragung

Die SchülerInnenbefragung erfolgte mittels eines standardisierten Fragebogens, in welchem (neben soziodemographischen Grunddaten) folg. Aspekte geklärt wurden: Die Intentionen der Schülerinnen und Schüler die Gestufte Berufsfachschule zu besuchen, die Bewertung der verstärkten Förderung von Berufswahlkompetenz, die Bewertung der Einführung von überfachlichen und fachlichen Kompetenzmatrizen, die Bewertung der Differenzierungskonzepte im allgemeinen Unterricht, die Bewertung des Profilgruppenkonzepts und die Bewertung der Qualifikationsportfolios. Zum Halbjahr des Schuljahres 2013/2014 wurden diesbezüglich an den drei Pilotschulen insgesamt 193 Schülerinnen und Schüler der Gestuften Berufsfachschule befragt. Die Ergebnisse dieses ersten Zugangs können zusammenfassend als positiv festgestellt werden, indem sie das Grundkonzept und seine charakteristischen Merkmale weitgehend bestätigen:

3.2.2 Ausgewählte Ergebnisse in der SchülerInnenbefragung

Anhand der Befunde der Schülerbefragung an den drei Pilotschulen lässt sich feststellen, dass trotz der geänderten Ausrichtung die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler im Schuljahr 2013/2014 den Mittleren Abschluss durch den Besuch der Berufsfachschule intendiert. Dies ist allerdings wenig verwunderlich, da sich die Jugendlichen im Schuljahr 2013/2014 aufgrund der Anmeldefrist (31. März) nicht zur Gestuften Berufsfachschule angemeldet haben, sondern zur ursprünglichen Berufsfachschule. Unabhängig davon, ob die Jugendlichen den Mittleren Bildungsabschluss mit dem Besuch der Gestuften Berufsfachschule verfolgen oder aber eine Vermittlung in eine Ausbildung anstreben, sind die Jugendlichen mehrheitlich davon überzeugt, dass die Berufsfachschule sie sicher an ihre individuellen beruflichen Ziele bringen wird und dabei helfen, fachrichtungsspezifische Erfahrungen zu sammeln, eigene Fähigkeiten bzw. Fertigkeit zu erkennen und in Folge dessen eine geeignete Berufsrichtung zu finden.

Die Betriebspraktika empfinden die befragten Jugendlichen als wichtigen Rahmen, sich beruflich zu orientieren. Dabei stellen sie fest, dass die einzelnen Praktika sich erkennbar an den Fachunterricht anschließen, was als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass einige der durchgeführten fachrichtungsabhängigen Projekte berufstypische und realitätsnahe Prozesse und Arbeitsweisen abbilden und damit zur beruflichen Orientierung beitragen können. Zudem sind die meisten Jugendlichen davon überzeugt, dass sie in den Praktika gute Möglichkeiten haben, die eigenen Fähigkeiten und Potentiale offenzulegen und damit auch bessere Chancen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.

Bezüglich der überfachlichen Kompetenzmatrix gaben 67% der befragten Schülerinnen und Schüler an, dass diese ihnen dabei hilft zu erkennen, was von ihnen im Betrieb bzw. der Schule diesbezüglich erwartet wird. 50% der Befragten stellen zu diesem Zeitpunkt fest, ihr persönliches Verhalten bereits zum Teil geändert zu haben. 68% der befragten Schülerinnen und Schüler schätzen die Bewertung mittels überfachlicher Kompetenzmatrix als weitgehend fair bzw. hochgradig fair ein. Bezüglich der fachlichen Kompetenzmatrix empfindet die Mehrheit der befragten Schülerinnen und Schüler die mit ihr durchgeführte Bewertung im Fachunterricht besser als mit Schulnoten, da auch hier wiederum besser erkannt werden würde, was im Einzelnen erwartet wird und zudem die Leistungen differenzierter abgebildet werden könnten.

Den Einsatz und das Handling der fachlichen Kompetenzmatrizen wird von den Schülerinnen und Schülern gut angenommen. Sie empfinden die Bewertung mittels Kompetenzmatrizen gegenüber traditionellen Noten als transparenter und nachvollziehbarer und bevorzugen dieses neue Verfahren.

Die umfassenden Differenzierungsmaßnahmen im allgemeinen Lernbereich werden von den Jugendlichen überwiegend positiv bewerten. Dies bezieht sich dabei sowohl auf den individuellen Kompetenzzuwachs als auch auf die Notengebung. Das Konzept der Profilgruppen findet bei den befragten Schülerinnen und Schüler ebenfalls mehrheitlich Zustimmung, was zeigt, dass die Jugendlichen die ehemaligen Klassenstrukturen nicht dezidiert vermissen und ihre Ansprüche an eine Bezugsperson hier weitgehend erfüllt werden. Im Qualifikationsportfolio sieht die Mehrzahl der befragten Schülerinnen und Schüler eine gute Möglichkeit unabhängig von Zeugnisnoten das individuelle Profil und die persönlichen Stärken abzubilden, um die Ausbildungsplatzsuche zu unterstützen.

3.2.3 Herangehensweise in der LehrerInnenbefragung

Die LehrerInnenbefragung erfolgte z.T. in mündlicher als auch in schriftlicher Form mittels standardisierter Fragebögen, in welchen folg. Aspekte geklärt wurden: Die Bewertung des fachlichen Niveaus gegenüber der ursprünglichen BFS, die Bewertung der verstärkten Förderung von Berufswahlkompetenz, die Bewertung der Einführung von überfachlichen und fachlichen Kompetenzmatrizen, die Bewertung der Differenzierungskonzepte im allgemeinen Unterricht. Zum Halbjahr des Schuljahres 2013/2014 wurden diesbezüglich an den drei Pilotschulen insgesamt 76 LehrerInnen der Gestuften Berufsfachschule befragt.

3.2.4 Ausgewählte Ergebnisse in der LehrerInnenbefragung

Die befragten Lehrkräfte stellen übergreifend fest, dass den mit dem Gestuften Konzept veränderten Zugangsvoraussetzungen zur Gestuften Berufsfachschule und damit der reduzierten Leistungsfähigkeit der SchülerInnen durch eine Reduktion des fachlichen Niveaus Rechnung getragen wurde.

Durchweg positiv wird von den Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit der engen Verzahnung von Theorie und Praxis sowie die flexibel handhabbare Verknüpfung von Theorie und Praxis empfunden, die durch die gleichzeitige Besetzung mit Theorielehrern und Praxislehrern konzeptionell vorgegeben ist und in Verbindung mit kleinen Lerngruppen nach Auffassung der Lehrkräfte ein unerlässlicher Aspekt innerhalb der Kompetenzvermittlung auch in Hinblick auf die Heterogenität der Adressaten darstellt.  Zudem sind die befragten Lehrkräfte überwiegend der Meinung, dass durch die Neustrukturierung innerhalb des Fachunterrichtes realitätsnahe Inhalte und fachliche Kernkompetenzen schülernah und interessant vermittelt werden können.

Der Einsatz der fachlichen Kompetenzmatrizen, sowie deren Erarbeitung und Handhabung hat zunächst dazu geführt, dass interne Diskrepanzen über Lernziele und -inhalte reduziert wurden. Die zu vermittelnden Fachkompetenzen mussten genau definiert werden, d. h. welche diesbezüglichen Tätigkeiten einschlägig sind und welches Wissen damit korrespondiert. Von Vorteil sehen die Lehrkräfte ebenfalls die Tatsache, dass durch die Kompetenzmatrix eine inhaltliche Unterrichtsstruktur vorgegeben ist, die es den Jugendlichen im Rahmen ihrer Möglichkeiten erlaube, eigenständig und selbstverantwortlich zu planen, da sie wüssten, was innerhalb der vier Unterrichtswochen von ihnen erwartet werden würde. Positiv wurde ebenfalls bewertet, dass aufgrund der Struktur der Matrix früh ein optischer Eindruck bzgl. der Fähigkeiten der Jugendlichen entstünde und auf den ersten Blick festgestellt werden könne, in welchen Bereichen die Fähigkeiten und Ressourcen des Jugendlichen besser bzw. schlechter ausgeprägt sind. Ebenfalls als positiv wird von den Lehrkräften festgestellt, dass durch den regelmäßigen Einsatz der Kompetenzmatrizen eine detaillierte Bewertung des Einzelnen durch ein Lehrerteam möglich werde und der aktuelle Kompetenzstand eines Schülers/einer Schülerin besser, gerechter, transparenter und nachvollziehbarere abgebildet würde, als dies mit einer Note möglich wäre, was nach Meinung der meisten Lehrkräfte zu einer größeren Objektivität führe. Trotzdem setzen noch nicht alle Lehrpersonen die fachlichen Kompetenzmatrizen sicher und überzeugt ein. Als Schwäche dieses Instruments wird der Zusatzaufwand angeführt, welcher als ungewohnt und nicht unerheblich beschrieben wird, die Praxistauglichkeit und Reliabilität des Bewertungsinstrumentes aber dennoch nicht negiert.

Die Einführung einer überfachlichen Kompetenzmatrix wird im Allgemeinen sehr positiv bewertet. Sie wird als Ergänzung empfunden, die die bereits vorhandenen überfachlichen Kompetenzen der SchülerInnen besser dokumentiert und eine genauere, differenziertere und konkretere Betrachtung des Einzelnen ermöglicht. Die Lehrkräfte gaben an, dass die überfachliche Kompetenzmatrix überwiegend als Gesprächs- und Argumentationsgrundlage genutzt wird und dabei helfen soll, die Entwicklung der überfachlichen Kompetenzen in den einzelnen Bereichen sichtbar zu machen. Zudem stellt die Matrix die Bewertung der überfachlichen Kompetenzen durch die unterschiedlichen Lehrkräfte auf eine gemeinsame Grundlage. Bei richtiger Handhabung wird die überfachliche Kompetenzmatrix überwiegend als praxistauglich und geeignet eingestuft, obwohl sie einen hohen Arbeits- bzw. Verwaltungsaufwand mit sich bringt.

Die Einteilung in leistungsdifferenzierte Lerngruppen in den allgemeinbildenden Fächern empfindet die Mehrheit der Lehrkräfte als positiv, da diese das Lernklima positiv beeinflussen und dem einzelnen Schüler bzw. der einzelnen Schülerin besser gerecht werden. Dem entgegen stehen jedoch auch einige Lehrkräfte, welche die heterogenen Lerngruppen bevorzugen würden. Dies wird teilweise mit dem hohen und ungewohnten kollegialen Koordinationsaufwand begründet, den das leistungsdifferenzierte Konzept in Vorbereitung und Organisation mit sich bringt. Die Lehrpersonen sehen die Zusammenarbeit im Kollegium zwar grundsätzlich als bereichernd an, nehmen sie aber trotzdem auch als zusätzliche Belastung wahr.

3.2.5 Herangehensweise in der Betriebsbefragung

Die Befragung der Betriebe erfolgte im Rahmen des Praktikums. Insgesamt wurden 101 Betriebe mittels eines standardisierten Fragebogens zu folgenden Aspekten befragt: Die Bekanntheit des Gestuften Berufsfachschulmodells, die Erwartungen durch Praktikum geeignete Auszubildende zu finden, die Bewertung der neuen Konzeption in Bezug auf Berufsorientierung, die Bewertung der neuen Konzeption in Bezug auf einen ausbildungsbegleitender Erwerb der Mittleren Reife, die Bewertung der neuen Konzeption in Bezug auf die Bewertung mittels Kompetenzmatrizen und die Bewertung der Einführung eines Qualifikationsportfolios.

3.2.6 Ausgewählte Ergebnisse in der Betriebsbefragung

Nach Auswertung der Daten wird deutlich, dass die ausbildende Wirtschaft bisher wenig Kenntnis von dem Modell der Gestuften Berufsfachschule hat. Von den befragten Betrieben gaben lediglich 23% an, Kenntnis von der neuen Ausrichtung der Gestuften Berufsfachschule zu haben. Zudem wünschten sich rund 44% der Betriebe (weiterführende) Informationen.

Unabhängig davon bewerten 80% der befragten Betriebe die berufliche Orientierung und 88% die Vermittlung von beruflichen Basiskompetenzen in einer Fachrichtungen (z. B. Technik) anstelle eines Berufsfeldes (z. B. Elektrotechnik) als positiv. Auch die neue Ausrichtung bezogen auf den ausbildungsbegleitenden Erwerb des Mittleren Bildungsabschlusses empfinden ca. 65% der Betriebe als wünschenswert. Die Bewertung der SchülerInnen mittels Kompetenzmatrizen wird mehrheitlich (60%) positiv eingeschätzt, sowie die Einführung des Qualifikationsportfolios.

3.2.7 Interpretation der Evaluation und Konsequenzen

Innerhalb dieser zusammenfassend dargestellten Befunde zeigt sich ein übergreifend befürwortender Trend bzgl. des neuen Ansatzes der BFS. Unabhängig davon wurden mit diesem Zugang vielfältige und bzgl. der einzelnen Schulen und der darin arbeitenden Kollektive sehr differenzierte Rückmeldungen eingeholt, welche inzwischen in vielfältige Modifikationen zum Beispiel in den schulspezifischen Differenzierungsansätzen, bei der Handhabung der Kompetenzmatrizen oder bei der Ausgestaltung der Profilgruppenstunden überragen wurden. Ziel dieser Evaluation ist auch nicht – wie im Qualitätsmanagement – einen „Optimalzustand“ zu erreichen, sondern schnelle und direkte Rückmeldungen kurzzyklisch in den Prozess einspeisen zu können. Der nun anstehende 2. Evaluationsdurchgang wird zeigen, ob sich der positive Trend bestätigt und, ob die Modifikationen gegriffen haben.

3.3 Soziodemografische Erhebung

Im Schuljahr 2013/2014 wurde mittels eines theoriebasierten Instruments ein soziodemografischer Querschnittes der Schülerschaft erhoben. Dies erfolgte zum einen, um genauere Kenntnisse über die Schülerschaft zu gewinnen (Querschnitt), zum anderen, um diesbezügliche Veränderungen im Verlaufe der 3 Pilotjahre feststellen zu können (Monitor). Dabei wurden allgemeine Daten wie Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund, aber auch Daten zum „sozialen Kapital“ erhoben (genau und umfassend dargestellt in Tenberg 2014).

Zusammengefasst belegen die Daten, dass die Profile der SchülerInnen aller 3 Pilotschulen deutlich der Gruppe der Bildungsbenachteiligten zuzuordnen sind. Dies wird sowohl durch die überproportional hohe MigrantenInnen-Quote (zwischen 39% und 65%) deutlich, als auch durch das geringe soziale Kapital. 16% der Familien sind ohne Erwerbseinkommen, 1/3 der Jugendlichen wird von nur einem Elternteil erzogen, 11% der Eltern verfügen über keinen Schulabschluss. Die dabei erkennbaren deutlichen Schwankungen an den drei Pilotschulen können sehr schlüssig mit den von ihnen jeweils adressierten Berufsbereichen, sowie deren regionalem Kontext begründet werden. Insgesamt können die soziodemographischen Befunde dieses ersten Querschnitts als nachträglicher Beleg für die Notwendigkeit der Reform der zweijährigen Berufsfachschule festgestellt werden. Sie zeigen deutlich, wie weit entfernt viele dieser SchülerInnen von den ehemaligen Adressaten dieses Schultyps sind, und damit gleichermaßen wie wenige von ihnen das Potenzial für den unmittelbaren Erwerb des Mittleren Bildungsabschlusses haben.

4 Diskussion

Im Call for Papers dieser Ausgabe der bwp@ werden drei zentrale Gründe für die große Bedeutung der Berufsorientierung in unserer Gesellschaft angeführt: 1. Der Einzelne soll Einblicke in Anforderungen und Aufgaben von Arbeit und Beruf erhalten um eine seinen Neigungen und Interessen entsprechende Berufsentscheidungen treffen zu können. 2. In Wahrnehmung einer sozialstaatlichen Verantwortung sollen Zugänge zu Arbeit und Beruf eröffnet werden, um soziale Teilhabe zu ermöglichen. 3. Der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt soll mit beruflich qualifiziertem Nachwuchs versorgt werden. Diese Prämissen sind auch die Ausgangspunkte der hier beschriebenen Reform der zweijährigen Berufsfachschule in Hessen. Im Weiteren wird in diesem Call for Papers vertieft auf die Berufsorientierungsproblematik im Übergangssystem sowie auf vielfältige diesbezüglich ausgerichtete Forschungsprogramme der zurückliegenden Jahre hingewiesen. Die hier vorliegende Studie bezieht sich auf ein schulorganisatorisches Konzept mit komplexen didaktischen und methodischen Spezifika, welches sich in hohem Maße auf die wissenschaftlichen Befunde und Erkenntnisse dieser Programme stützt. Dies zeigen nicht zuletzt seine Kernelemente „Stufenkonzept“, „Ausbildungsvorbereitung und –anbahnung“, „Differenzierung und Modularisierung“, „Kompetenzorientierung in Didaktik und Diagnostik“ und „Qualifikationsportfolio“. An dieser Aufzählung erkennt man zum einen, welche Ansprüche sich das Konzept der Gestuften Berufsfachschule gesetzt hat, zum anderen aber auch, welcher umfassende Wandel damit verbunden ist.

Dieser Wandel wirkt sich insbesondere auf die involvierten Lehrpersonen aus, denn zum einen wurde nicht weniger als das Gesamtziel der Schulart korrigiert, von einem allgemeinen Abschluss auf eine erfolgreiche Aufnahme einer Berufsausbildung. Zum anderen gilt es, in veränderten äußeren und inneren Strukturen einen Unterricht ausgestalten, der sich an neuen didaktischen und methodischen Prämissen orientiert. Durch den Versuchsstatus kommt hinzu, dass die Lehrpersonen zwar experimentell arbeiten, dabei jedoch in jedem Falle verantwortlich gegenüber den SchülerInnen handeln. Ressourcen, um die Lehrpersonen ein wenig zu entlasten, sind minimal. Hinzu kommt die Unsicherheit darüber, ob dieses Konzept in der geplanten (und damit von ihnen ausgestalteten) Form flächendeckend umgesetzt wird und damit ihre konzeptionelle Arbeit zumindest nicht umsonst war und weiter geführt werden kann.

Die bisherigen Befunde bestätigen bislang deutlich sowohl das Grundkonzept, als auch dessen Ausgestaltung in den drei schulischen Varianten. So zeigen die Ergebnisse der soziodemographischen Erhebung, dass es sich über alle beteiligten Schulen nur zu einem geringen Prozentsatz um potenzielle RealschülerInnen handelt, die Reform der zweijährigen Berufsfachschule also dringend erforderlich ist. Mit jedem weiteren Querschnitt der hier erhoben wird, können diese Daten verbreitert, präzisiert und schließlich auch längsschnittlich analysiert werden. Zudem werden in den kommenden 6 Monaten Vergleichsdaten sowohl im Ausbildungsvorbereitungssektor als auch in Haupt- und Realschulen erhoben, welche die Aussagekraft dieses Monitors noch verbessern werden.

Die Ergebnisse der Evaluation bestätigen die vielfältigen Maßnahmen, welche im Zuge der Umsetzung des neuen Konzepts erfolgten bzw. geben Anhaltspunkte für weitere Modifikationen. Besonders bedeutsam sind dabei die Einschätzungen der Schüler sowohl in Fragen der Differenzierung und Berufsorientierung, als auch in der neuen Kollektivierung und Diagnostik. Bei den Lehrpersonen gibt es diesbezüglich einen ähnlichen Tenor, jedoch deutlich schwankender und differenzierter. Dies erscheint im Hinblick auf den hier zu vollziehenden umfassenden Wandel nachvollziehbar, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die geringen Ressourcen, mit welchen dieses Gesamtvorhaben ausgestattet ist. Im kommenden Jahr stehen zentral zwei Prozesse an: zum einen müssen jene Aspekte konsolidiert werden, die von allen Protagonisten befürwortet werden, dabei jedoch noch von Effizienzproblemen behaftet sein können. Zum anderen müssen durch gemeinsame Überlegungen, gegenseitigen Austausch an den Pilotschulen und Know-How-Transfer die unterschiedlichen Entwicklungsstände der Pilotschulen angeglichen werden, ohne diese dabei aber zu nivellieren. Parallel dazu sind bereits aus ganz Hessen assoziierte Schulen involviert, die sich über die Pilotstudie informieren, um bei einer Gesamtimplementierung der Gestuften Berufsfachschule schnell handlungsfähig zu sein.

Der eigentliche Prüfstein für die Gestufte Berufsfachschule wurde jedoch bislang noch nicht erörtert: die Quote der Vermittlung von BerufsfachschülerInnen in eine Ausbildung während bzw. zum Ende der 1. Stufe. Aus den bisherigen Erhebungen gibt es dazu nur unzuverlässige jedoch durchaus positive Daten – die Bilanz der einzelnen Schulen wird aktuell eingebracht. Angesichts der (u. A. durch die Evaluation festgestellten) geringen betrieblichen Wahrnehmung dieser Reform würden hier hohe Quoten jedoch erstaunen. Obwohl in den zurückliegenden Monaten vielfältige Versuche unternommen wurden, diese Innovation bei der Wirtschaft publik zu machen, (Infoflyer per e- Mail an alle potenziellen Ausbildungsbetriebe einer Region, Informationsabende mit personalisierten Einladungen an alle Handwerksbetriebe, Informationsstand am Tag des Handwerkes, Werkstattleitertreffen, Obermeistertreffen...) äußert sich hier ein typisches Schnittstellen-Problem des Wandels. Die Betriebe haben sich über Jahrzehnte auf wenige spezifischen Zugangsmodi ihrer Auszubildenden eingestellt (typischerweise Initiativbewerbungen im Schuljahr vor dem Abgang an Haupt- und Realschulen, zudem noch über Vermittlung der Arbeitsagenturen aus dem Maßnahmenbereich, in Mangelbereichen durch aktives Marketing an Schulen und in Ausbildungsvorbereitungsklassen). In diesen Modi spielte die zweijährige Berufsfachschule bislang keine Rolle. Sie nun in diesen aktuellen Strukturen des Ausbildungsmarketings und Recruitings zu verankern, ist daher zum einen ein Problem der Information, zum anderen auch eines der Überzeugung. Dies erfordert noch weiteren Aufwand, aber auch Zeit und Geduld, mit der Folge, dass die Gestufte Berufsfachschule sicher noch einige Jahre benötigen wird, um ihr volles Wirkungspotenzial zu entfalten. Ist dies einmal der Fall, könnte sie jedoch den Jugendlichen und den Betrieben gleichermaßen helfen und damit einen erheblichen Teilbeitrag leisten, den demographischen Wandel für unsere Gesellschaft und Wirtschaft produktiv zu gestalten.

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Berufsorientierung im Netz. Wie rezipieren Jugendliche berufswahlrelevante Informationen im Internet?

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1 Internetnutzung bei der Berufs- und Studienwahl als Forschungsgegenstand

Das Internet hat zweifelsohne die Art und Weise, wie wir heute unseren Informationsbedarf befriedigen, revolutioniert. Für die jüngeren Altersgruppen gilt schon, „dass die Informationsbeschaffung über das Internet gegenüber der Recherche in Printmedien eine herausragende Stellung einnimmt und vielfach als exklusiver Weg eingeschlagen wird“(Gapski/Tekster 2009, 30). , Die Im Internet Informationen recherchieren zu können ist damit „zu einer zentralen Kulturtechnik geworden“ (Schetsche et al. 2005. 17). Dass diese Medienrevolution nicht ohne Einfluss auf den Informationsprozess im Vorfeld einer Studien- und Berufswahlentscheidung (Berufsorientierungsprozess) geblieben ist, liegt nahe und bildet Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags. Wie greifen Jugendliche auf die online verfügbaren Informationen zu, wenn sie für sich die Frage nach dem passenden Ausbildungsberuf oder Studiengang beantworten möchten? Welche Erwartungen tragen sie an die angebotenen Informationen heran? Zeigen sich spezifische Vorteile der Informationsquelle Internet gegenüber klassischen Medien wie beispielsweise die unkomplizierte Verbreitung wichtiger Informationen über Soziale Netzwerke?

Obwohl Jugendliche seit Jahren eine stetig wachsende Zeit pro Woche online verbringen und die multimedialen Angebotsformen von berufswahlrelevanten Informationen im Internet weit verbreitet sind, lässt sich eine nachhaltige Verringerung von Orientierungsschwierigkeiten bei der Studien- und Berufswahl nicht beobachten. In Studien zum Informationsverhalten bei der Studien- und Berufswahl wird von den Studienberechtigten ein halbes Jahr vor Erwerb der Hochschulreife das Internet als die häufigst genutzte Informationsquelle genannt (Heine/Willich/Schneider 2010). Die fortschreitende Ausdifferenzierung des digitalen Informationsangebots beheben die Informationsdefizite bei Studienanfängern aber nicht und trotz verbesserter Informationsinfrastruktur bleiben Defizite in der subjektiv empfundenen Informiertheit. „Lediglich ein gutes Drittel, nämlich 35 % der angehenden Studierenden, 37 % der Schüler_innen mit Berufsausbildungsabsicht sowie 44 % derjenigen mit Doppelqualifikationsabsicht fühlen sich umfassend auf die anstehende Entscheidung vorbereitet“ (Heine/Willich/Schneider 2010, 18). Indem der Beitrag versucht die Alltagspraktiken der Informationssuche verschiedener Schülergruppen aufzuzeigen, geht er wesentlich über diesen klaren Befund hinaus und will Ansatzpunkte liefern, diesen zu erklären. In den Blick geraten so die Problematik des Matching zwischen nachgefragten und angebotenen Informationen, der Qualität letzterer sowie der Medien- und Informationskompetenz der Schülerinnen und Schüler.

Das Nutzerverhalten von Jugendlichen und der Nutzen digitaler Medien für die Studien- und Berufsorientierung ist bereits in einigen Studien wissenschaftlich untersucht worden (vgl. Beinke 2008, Heinke/Ehrenthal/Ulrich 2003, Struwe 2010). Es zeigt sich, dass Mediennutzung und Medienkompetenz Jugendlicher in Abhängigkeit zu sozialen Merkmalen, wie Alter, Geschlecht oder Schulform stark differieren (vgl. Kommer 2010), die Verfügbarkeit und die individuelle Nutzung digitaler Medien bei jüngeren Nutzern tägliche Praxis ist und die Online-Netzwerke von Jugendlichen vorwiegend zur privaten Kommunikation genutzt werden (vgl. BITKOM 2013a). Analysen, die nach bereichsspezifischem Nutzen fragen, stehen auf der Agenda und die Effekte beruflicher Karriereplanung bei dauernder medialer Ko-Präsenz geraten stärker in den Blick (vgl. Gehrau/Jo vom Hofe 2013).

Unter Berufsorientierung wird idealtypisch der Prozess bezeichnet, in dem Jugendliche die Aufgabe der Berufswahl oder der Entscheidung für eine Ausbildung oder Studienrichtung kognitiv und biografisch antizipieren, sich um dafür relevante Informationen bemühen und ein der schlussendlichen Entscheidung zugrundeliegendes Präferenzsystem ausbilden, bzw. ein solches bereits Grundlage des Orientierungsverhaltens darstellt. „Berufsorientierung ist ein Prozess der Annäherung und Abstimmung zwischen Interessen, Wünschen, Wissen und Können des Individuums auf der einen und Bedarf und Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt auf der anderen Seite“ (Famulla 2007, 231). Berufsorientierung ist demnach ein „lebenslanger Prozess“ (Butz 2008, 50), in dem Berufswahl, Karriereplanung und flexible Anpassung an die Veränderungen der Arbeitswelt zur Daueraufgabe werden. Merkmale der Studien- und Berufswahl und individuelle Präferenzbildungen von SEKII­Schüler_innen sind bisher wenig untersucht (vgl. Kracke et al. 2013), aber hinsichtlich neu zu gewichtender Einflussfaktoren, wie gegenwärtigen Wertorientierungen, einer digitalisierten Berufswelt, regionale Ungleichgewichte in der Berufsausbildung, u.v.m. von besonderem Interesse.

Wie Jugendliche nun das erweiterte Angebot digital verfügbaren Informationen nutzen, ist in einer Studie der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA) in den zwei Bundesländern Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern nachgegangen worden. Wie beeinflussen Online-Angebote das Studien- und Berufswahlverhalten? Werden Entscheidungskriterien durch die Rezeption digitaler Medien entwickelt und worin bestehen eventuelle Limitierungen?

2 Methodisches Vorgehen

Obwohl Medien- und Medienkompetenz sowie die Internetnutzung Jugendlicher in den letzten Jahren Forschungsgegenstand in unterschiedlichen Disziplinen ist, bleiben eine Reihe methodischer Fragen offen, wie z.B. wo genau der Forschungsraum zu lokalisieren ist, eher online oder offline. In der genannten Studie ist der Fragestellung nach der Mediennutzung in der Berufs- und Studienorientierung von SEKII-Schüler_innen offline und mit einer Mixed-Method-Strategie nachgegangen worden. Mit Schüler_innen der SEK II sind Gruppendiskussionen durchgeführt worden, um Nutzerverhalten und Nutzerbewertung während der Berufs- und Studienwahl zu erheben. Außerdem wurden Gruppendiskussionen mit Studierenden im ersten Fachsemester unterschiedlicher Fachrichtungen an Hochschulen in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern durchgeführt, um die Nutzungspraxis retrospektiv zu erfassen. Desweitern wurde im Zeitraum von Oktober 2013 bis Mai 2014 eine Befragung Studierender zur Nutzungspraxis digitaler Medien und des Internets bei der Studien- und Berufsorientierung online gestellt (https://www.soscisurvey.de/), an der sich insgesamt 860 Studierende unterschiedlicher Fachgruppen in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern beteiligten. Ausgewählte Schüler_innen der SEK II wurden zudem mit einem paper- und pencil-Fragebogen zu ihren Nutzungsgewohnheiten befragt.

Die Auswahl der Gruppendiskussionsmethode lag nahe, da diese den Diskussionsteilnehmer_innen den Aufbau eines eigenen Bedeutungsrahmens in Abhängigkeit von den Vorgaben des Diskussionsleiters gestattet (vgl. Bohnsack 2008, Przyborski 2004, Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008). Dominante Darstellungsmodi, Diskussionsablauf, Themenbearbeitung, die Thematisierung beruflicher Zukunftsvorstellungen und die darauf bezogenen Nutzungsgewohnheiten digitaler Medien in den Gruppendiskussionen konnten so beobachtet und im Audio-Format zur Auswertung aufgezeichnet werden. Varianten der in den Diskussionen entwickelten dominanten Darstellungslinien in den Diskussionsgruppen zeigen das Entscheidungsverhalten während der Berufs- und Studienorientierung.

Die Kombination quantitativ-standardisierter und qualitativ-interpretierender Verfahren ergab einen guten Überblick über die Praxis der Handhabung digitaler Medien zur Studien- und Berufswahl. Mittels der schriftlichen Online-Befragung der Studierenden und der Schüler_innen der SEK II konnten häufig genutzte Internetplattformen identifiziert werden, die Hinweise zu alters- und geschlechtsspezifischen wie auch fachspezifischen Präferenzen enthalten. Da in der Online-Befragung immer auch gefragt wurde, welche Informationen nützlich waren, kann auf erfahrungsbasierte Haltungen rückgeschlossen werden, die in Bezug auf spezifische Merkmale auch generalisierbar sind, so z.B. der Bekanntheits- und Nutzungsgrad bestehender Online-Angebote und die Erfahrung im Umgang damit.

Die Auswertung der verbalen Daten in den Gruppendiskussionen erfolgte entsprechend der grounded theory (vgl. Strauss/Corbin 1996), d.h. die Datenauswertung begann unmittelbar nach Start des Projekts und es erfolgte eine Inhalte explizierende und ordnende Analyse (vgl. Flick 2007). Die Wissensbestände zu digitalen Medien, der praktische Umgang damit und die subjektive Bewertungen der Schüler_innen konnten so herausgearbeitet werden. Stärker selbstläufige Diskussionspassagen wurden gesondert ausgewertet, um die analytischen Kategorien zu sättigen (vgl. Bohnsack 2008, 2010a, 2010b).

Im Folgenden werden Ergebnisse aus Gruppendiskussionen mit SEK II-Schüler_innen an Berufsgymnasien in den Mittelpunkt gestellt. In dieser Untersuchungsgruppe wurden elf Gruppendiskussionen an Berufsgymnasien durchgeführt, von denen neun ausgewertet worden sind - sechs Schüler_innen-Gruppendiskussionen der Jahrgangstufen 11 und 13 (Sachsen) und drei Schüler_innen-Gruppendiskussionen der Jahrgangstufe 12 (Mecklenburg-Vorpommern). Berufsgymnasien gehören zu den Beruflichen Schulen und werden in einigen Bundesländern als berufliches Gymnasium (z.B. Sachsen), in anderen als Fachgymnasium (z.B. Mecklenburg-Vorpommern) bezeichnet. Der dreijährige vollzeitschulische Bildungsgang (Kl. 11-13) beinhaltet neben den allgemeinbildenden Fächern ein berufsbezogenes Profilfach, das die Schüler_innen auf dem Weg zum Abitur vor Beginn der 11. Klasse bereits gewählt haben (Profilfächer Gesundheit und Soziales, Pädagogik und Psychologie). Anders als Schüler_innen an gymnasialen Oberstufen an allgemeinbildenden Schulen haben diese Schüler_innen also bereits einen ersten fachlichen oder beruflichen Orientierungsprozess durchlaufen, der die Fachspezifik der gewählten Oberstufe begründet. Welche digitalen Informationsquellen nutzen diese Schüler_innen zur weiteren beruflichen Orientierung?

3 Informationsbedarf und Mediennutzung

Wenn Berufsorientierung und die folgende Berufs- und Studienwahl unter dem Blickwinkel der Informationssuche und -verarbeitung betrachtet werden, wird die Vielzahl unterschiedlicher Quellen, aus denen Jugendliche berufswahlrelevante Informationen beziehen, deutlich: Printmedien, Berufsinteressentests, Homepages, Praktika und Gespräche mit Familienangehörigen sind die am häufigsten genannten. Digitale Medien sind weder die alleinige noch die dominierende Informationsquelle, dennoch zeigen auch andere Studien, dass vor allem von den Studienberechtigten fast alle in irgendeiner Form das Internet im Rahmen der Berufsorientierung nutzen (vgl. Beinke 2008; Heine/Willich/Schneider 2010). Das Internet nimmt unter den Informationsquellen wegen seiner ubiquitären Verbreitung und leichten Zugänglichkeit eine Sonderstellung ein, auch weil Printmedien, Einzeldaten und auch personengebundene Informationen im Netz (z. B. in Foren) zur tieferen Recherche abgerufen werden können.

3.1 Das Internet als catch all-Medium

Drei Aspekte sind hinsichtlich der Einbindung des Internets in den Berufsorientierungsprozessen herauszuheben. Erstens ein quantitatives Wachstum und die Differenzierung der Informationsangebote: Es gibt nicht nur immer mehr Übersichtsseiten über Studiengänge oder Ausbildungsberufe, sondern gleiches auch für spezielle Berufsfelder und Brancheninformationen oder Seiten auf denen ausgewählte Studiengänge präsentiert werden, wie u.a. der intensiv umworbene Bereich der MINT-Berufe. Inzwischen ist jede Hochschule, auch jedes private Bildungsinstitut mit einer, die jeweiligen Aus- oder Weiterbildungsangebote aufweisenden, Homepage online vertreten. Zweitens ist das Internet ein Medium für Informationsangebote, die oftmals auch offline existieren, die dort aber nicht gebündelt zur Verfügung stehen.Im Internet sind Textinformationen, Videos, Interessentests verknüpft und per Klick abrufbar. Drittens stellt das Internet dieses Wissen zentralisiert auf jedem internetfähigen PC, Notebook, Tablet oder Smartphone jederzeit und überall zur Verfügung und bietet so die Möglichkeit zeitlich und örtlich entgrenzter Informationssuche. Effekte im Berufsorientierungsprozess ergeben sich u.a. durch die Art und Weise der Produktion und der Darbietung der Informationen sowie aus deren Auffindbarkeit mittels der genutzten Suchmaschine und durch die individuell-technische Kompetenz der Nutzer_innen, die Informationen zu strukturieren.

Über alle Altersgruppen hinweg schält sich ein deutliches Profil der Internetnutzung zur Berufs- und Studienorientierung heraus: Im Mittelpunkt steht die Suche nach Sachinformationen, d. h. die Inhalte von Studiengängen, an welchen Universitäten kann was studiert werden, wie hoch ist der Numerus Clausus. Es werden gezielt Internetseiten angesteuert, die einen breiten Überblick über Ausbildungsberufe und Studiengänge bieten, wie der Online-Auftritt der Bundesagentur für Arbeit.

Informationen zum Berufs- oder Studienalltag, welche in den Augen der Schüler_innen Einblicke in jene Alltagswirklichkeit hinter den formalen Beschreibungen von Berufsbildern und Studiengängen ermöglichen und die üblicherweise in Face-to-face-Interaktionen vermittelt werden, sind besonders geschätzt, werden aber im Internet wenig recherchiert. Um Einblicke in die Studien- und Ausbildungsrealität zu gewinnen, werden eher Bildungsmessen oder Tage der offenen Tür aufgesucht, wo persönliche Gespräche mit Berufstätigen, Auszubildenden und Studierenden über deren Erfahrungen möglich sind. Das Internet bietet eine ähnliche Informationsvermittlung in Foren, in denen persönliche Erfahrungen berichtet und konkrete Anfragen beantworten werden sowie auch mittels Videos, die Arbeitsabläufe in Werkshallen, bei der Bundeswehr oder im Handwerk zeigen. Diese Angebote werden aber selten genutzt und der Verbreitungsgrad scheint noch relativ gering zu sein. Die Foren und Informationen, die einen Blick in alltagsnahe Abläufe des Studiums und in den Betrieb bieten, werden in der Regel sehr positiv bewertet. Foren, in denen Studierende über ihre Erfahrungen in den jeweiligen Studiengängen berichten, finden sich jedoch nicht an jeder Hochschule und zu jedem Studiengang. Zudem besteht die Überzeugung, dass die Aufbereitung der Informationen durch das Medium begrenzt ist.

„Ich glaube, manche Berufe kann man auch gar nicht filmen“(GD 4:216).

Mehrfach machen die Schüler_innen deutlich, dass Internetangebote, verknüpfend und ergänzend zu Hochschultagen und Bildungsmessen oder Printmedien, wiederholt genutzt werden, mit dem entscheidenden Vorteil, diese Suchzeiten flexibel in den Alltag einbauen zu können.

„Also ich hab das immer so gemacht, dass ich am Wochenende immer abends so wenn ich im Bett liege oder so einfach mal mit dem Handy geguckt habe oder so. Einfach mal überall rum und wenn du das jedes Wochenende machst, dann kommt schon was bei raus“ (GD 13:138-140).

Das Potential des Internets, unterschiedliche Informationsarten in den jeweiligen Medienformaten gebündelt zu vermitteln und zur individuellen Nutzung anzubieten, wird als Vorteil geschätzt, obwohl systematische Suchvorgänge wenig belegt werden können - wenn dann häufig im Zuge von Bewerbungen oder vor der unmittelbaren Entscheidung für einen spezifischen Studiengang.

3.2 Handlungsleitende Orientierungen in Bezug auf digitale Medien

Die Schüler_innen unterscheiden nicht nur zwischen den Informationsformaten, sie haben auch klar artikulierte Ansprüche an die Qualität der Informationen. Aktualität wird dabei eher vorausgesetzt. Kritisch hinterfragt werden die Authentizität, die Neutralität und die Individualität der online verfügbaren Informationen.

Authentizität

Die Nutzung digitaler Medien zur Rezeption berufs- oder studienwahlrelevanter Informationen wird häufig zu einer direkten, d.h. Face-to-face-Darstellung erlebter Berufstätigkeit kontrastiert. Einen hohen Stellenwert besitzt die Authentizität der Information.

„… also es kann nach außen hin immer alles ganz schön wirken und dann geht man hin und sagt‚oh Gott, hätte ich das bloß nicht gemacht!“ (GD 1:155-156).

In den Gruppendiskussionen wird das persönliche Gespräch als besonders wichtig eingestuft, da der direkte Kontakt Urteilsmöglichkeiten über die Authentizität der berichteten Erfahrungen, wie auch konkrete Nachfragemöglichkeiten, bietet. Nicht nur aus der Werbewelt ist den Jugendlichen ganz offenbar die Divergenz zwischen medialem Schein und der Wirklichkeit vertraut; auch im Berufsorientierungsprozess selbst machen sie die Erfahrungen, dass Informationen zu einseitig und zu positiv dargestellt werden, bzw. aus den Textinformationen auf Homepages (oder auch Printmedien) nicht auf die damit beschriebene Alltagswirklichkeit in einem Studiengang oder Ausbildungsbetrieb geschlossen werden kann.

„Man weiß jetzt aber gar nicht, ob das so richtig gut ist. Also welche Seite die beste ist. (…) Ja. Und dass man da irgendwie reinfällt“(GD 13:16-20).

Mehrheitlich besteht die Auffassung, dass es zur Studien- und Berufsorientierung besser sei, durch Personen informiert zu werden, die von ihrer Tätigkeit und aus ihrem Berufsalltag berichten oder über ihre Ausbildung bzw. Studium erzählen.

„Ich finde, das hilft einem viel mehr als wenn man jetzt so vor dem Computer sitzt und der spuckt dann irgendwelche Ergebnisse aus“(GD 1:252-254).

Die Informationen aus dem Netz scheinen demgegenüber diffus und dekontextualisiert. Daher werden – neben den in Praktika gewonnenen persönlichen Erfahrungen – Einblicke in die Arbeits- und Studienwirklichkeit, die durch Dritte bezeugt werden, besonders geschätzt, wenn auch häufig vermisst.

„Ich finde auch, dass die Uni-Seiten, wo richtig die Uni vorgestellt wird, dass da auch mehr so zu jedem Studiengang sollte ma irgendwie ein Student das sagen, wie er das findet was so passiert. B: Das wäre gut“ (GD 13:71-73).

Erfahrungen aus der Arbeitswelt und Beispiele aus dem Berufs- und Studienalltag fehlen in den Studienprofilen häufig, so dass Informationen nicht nachvollzogen werden können.

Neutralität

Ein zweites wichtiges Kriterium zur Handlungsorientierung bei der Nutzung digitaler Medien ist die Neutralität der berufs- und studienwahlrelevanten Information. Ganz generell besteht zwar Interesse an den aktuellen Entwicklungen des regionalen Arbeits- und Ausbildungsmarktes, aber die Schüler_innen wünschen sich hierzu neutrale Informationen.

Ganz offenbar besitzen die Schüler_innen ein ausgeprägtes Gespür dafür, wenn Informationsangebote auch als Werbebotschaften zu dekodieren sind, d. h. es sich um intentional gesteuerte und damit auch selektive Informationsvermittlung handelt.

„Ich glaube, da wird auch viel aufgehübscht da (…) dass Vieles halt dann gestellt wird, dass es halt nicht wirklich () und ich denke, dass dann nur die schönen Seiten gezeigt werden und nicht unbedingt so das, was halt alltäglich ist und knallhart abläuft“ (GD 4:201-205).

Das gilt auch für das Online-Angebot der Bundesagentur für Arbeit. Dementsprechend werden institutionelle Vertreter_innen in Schulveranstaltungen zur Berufsorientierung und Gruppenberatungen auf ihre Neutralität hin hinterfragt. Artikuliert werden bestehende Zweifel an der Neutralität der Berater_innen dahingehend, dass in den Schulveranstaltungen und Gruppenberatungen der Bundesagentur für Arbeit die individuellen Interessen des Ratsuchenden nicht im Mittelpunkt stehen. Mit Blick auf die Informationsangebote in der Sekundarstufe Iwird der Eindruck thematisiert, bestimmte Berufe und Berufsfelder seien prioritär behandelt worden, andere nicht und das Angebot hätte sich zu stark an den als beschränkt wahrgenommenen Möglichkeiten des regionalen Arbeitsmarktes orientiert. In den Gruppendiskussionen lässt sich u.a. beobachten, dass eine positive Bewertung dieser Angebote diskursiv nicht durchsetzungsfähig ist. 

Interessanterweise wird dieses geforderte Objektivitätsgebot nicht in gleichem Maße an persönliche Erfahrungsberichte in Face-to-face-Kommunikationen herangetragen; es konzentriert sich vielmehr auf Text- und Videoformate. Offenbar bieten diese keine hinreichende Möglichkeit, Authentizität und Neutralität hinreichend zu prüfen, wie dies ersichtlich für direkte Kommunikation möglich zu sein scheint.

Individualität

Individualität der Information ist ein drittes zentrales Kriterium, an welchem die digitalen Informationen gemessen werden. Jegliche weitergehende Informationssuche in der Berufsorientierung erfolgt auf einem gegebenen Stand individueller Orientiertheit. Die Informationssuche folgt subjektiven, teils situationsspezifischen Präferenzmustern und zielt jeweils auf eine als „passend“ empfundene Informationen, die als Fortschritt, interessante Anregung etc. erfahren werden kann. Hier wird deutlich, wie wenig letztlich die Informationssuche von der Identitätsfindung innerhalb des Berufsorientierungsprozesses loszulösen ist. Der rein sachliche Informationsgehalt über Studiengänge oder Ausbildungsberufe stellt immer nur eine Ebene dar, die sich hauptsächlich auf individuelle Passung zu den wahrgenommen Fähigkeiten und Interessen bezieht. Die hohe Wertschätzung persönlich vermittelter Erfahrungen von Auszubildenden oder Studierenden ist hingegen eng mit Identitätsbildungsprozessen gekoppelt und erklärt das hohe Interesse am Einblick in das soziale Miteinander im Ausbildungsbetrieb oder an Hochschulen und den typischen Kommunikations- und Handlungsformen dort. Immer geht es um die Fragen: Passt das zu mir? Will ich auch dazugehören?

Mit antizipierten Interessen- und Fähigkeitsprofilen sind diese Überlegungen zwar eng verwoben, dennoch zeigt sich unabhängig davon, dass bei vielen Schüler_innen vor jedem spezifischen Interesse für ein Fachgebiet oder für einen Studiengang, oftmals eine apodiktische Entscheidung für oder gegen ein Hochschulstudium postuliert wird. Diese Entscheidungen sind teils bereits beim Wechsel von der Realschule auf das berufliche Gymnasium getroffen worden und werden in der Oberstufe weiterverfolgt. Von daher erschließt sich auch die zentrale Bedeutung der Authentizität und Neutralität der Informationsangebote. Von fremden (Be-)Wertungen und Vorselektionen befreit sollen sie nur Material liefern für Verarbeitungsprozesse, in denen nach subjektiven Kriterien Pläne entworfen und letztlich Entscheidungen getroffen werden, meist explizit mit dem Anspruch verbunden, durch „richtige“ Entscheidungen, Ausbildungs- oder Studienabbrüche zu vermeiden.

„Na ja, also ich hätte gerne eine richtig intensive Berufsberatung (…) ich hätte gern jemanden, der sich meinem Problem annimmt, weil das ist ja schon ein echt großes Problem (…). Und ich denke, das wäre der direkteste Weg und der hilfreichste“ (GD 5:129-135).

Besonders deutlich wird das Individualitätskriterium bei den angebotenen Interessen- oder Berufsorientierungstests, die sowohl online im Internet als auch durch die Bundesagentur für Arbeit oder in Schulen durchgeführt und in den Gruppendiskussionen häufig thematisiert werden, ohne dabei explizit zwischen Online- und offline-Interessenstest zu differenzieren. Die Erfahrungen mit Interessenstests haben eine langandauernde Wirkung und werden meist kritisch diskutiert.

„Ich hatte auch schon mal so einen Test gemacht, aber das war noch in der Mittelschule, aber da hab ich schlechte Erfahrungen damit gemacht (), ich sollte dann Maurerin werden –das ist doch ein bisschen abwegig gewesen, dass ich seit dem, also seit gut drei Jahren, sowas nicht mehr gemacht hab“ (GD 5:101-104).

Es ist interessant zu sehen, dass gerade die hohe Validität der Tests und der Anspruch der Wissenschaftlichkeit in den Testverfahren, die paradoxe Wirkung erzielt, dass die Test selten wiederholt werden, wenn die Ergebnisse als zur Person unpassend erlebt worden sind.

„Komischerweise kam bei mir immer Berufskraftfahrer raus und seitdem habe ich da ein bisschen Abstand von genommen“ (GD 4:120-121).

Die erzielten Ergebnisse der Interessentests werden in den Gruppendiskussionen auch insofern kritisch thematisiert, dass z.B. die dargebotenen Informationen dekontextualisiert erscheinen und Verknüpfungen von Interesse und Ergebnis der Tests in vereinfachender Weise vorgenommen werden

„Ich mag Tiere, will aber kein Tierarzt werden“ (GD 1:305).

Zum einen regen die Ergebnisse der Tests zu Reflexionen an, zum andere können Ergebnis mit den individuellen Präferenzen nicht in Einklang gebracht werden oder individuelle Präferenzen nicht erkannt werden.

„Weil einfach in jeder Spalte ‚geeignet‘ stand“ (GD 1:240).

Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen bereits, wie wenig von den genutzten Informationsangeboten auf Orientierungseffekte, Wissensakkumulation und Entscheidungsfindung geschlossen werden kann. Güte und Nützlichkeit aber auch die Limitierungen und Schwierigkeiten von Online-Angeboten werden an subjektiven Kriterien bzw. individuellen Voraussetzungen und Erfahrungen der Informationssuche gemessen.

4 Grenzen der Online-Berufsorientierung

Die Medienkompetenz von Schüler_innen im Berufsorientierungsprozess erfordert eine differenzierte Betrachtung.So wie Lesen nicht heißt, Buchstabenfolgen als Wörter und Sätze zu entziffern, sondern Textinhalte zu verstehen, so kann Medienkompetenz nicht auf das Einschalten des PCs und Aufrufen des Browsers reduziert werden. Aber anders als Lesen zu lernen, ist Informatik bis heute nicht deutschlandweit ein Pflichtfach in den allgemeinbildenden Schulen (ausgenommen Sachsen und Bayern). Kenntnisse von Programmiersprachen und der Umgang mit Software- und Internetanwendungen ist noch nicht in dem Maße Bestandteil des Allgemeinwissens, wie es der Branchenvertreter BITKOM angesichts steigender Bedeutung dieser Kompetenzen in Beruf und Alltag seit längerem fordert (vgl. BITKOM 2013b). Zwar gewinnt die Online-Informationssuche mehr und mehr Raum im Schulunterricht (vgl. Feierabend 2012), aber Schüler_innen aller Altersgruppen nutzen das Internet jedoch hauptsächlich zur Kommunikation (Chatten, E-Mail, Soziale Netzwerke) und zur Unterhaltung (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2012).

4.1 Vom Suchen und Finden

In den Gruppendiskussionen wird der Umgang mit den online verfügbaren Informationsangeboten vielfältig thematisiert. Besonders positiv wird meist implizit zum Ausdruck gebracht, dass das Internet eine leicht handhabbare, zielführende, d. h. den individuellen Informationsbedarf hinreichende Suche ermöglicht. Als Einstiegsportal für Informationen zu Studium und Beruf wird am häufigsten der Online-Auftritt der Bundesagentur für Arbeit genannt. Die Website verfügt über einen hohen Bekanntheitsgrad.

Online-Quellen genießen einen gewissen Vertrauensvorschuss hinsichtlich der Präzision und der Aktualität der Informationen.

„Ja also die Aufnahmeprüfung ist erst mal in Köln und von da aus kann man dann halt an jede Uni wo man dann Sport studieren kann. Und das war jetzt halt übers Internet. Da gibt es so ne Seite, da sind alle Schulen aufgelistet und Unis“ (GD 12:92-94).

Der Suchvorgang kann dabei sehr unterschiedlich vor sich gehen: zum einen werden gezielt Homepages von Universitäten und Fachhochschulen aufgerufen, ebenso jene von Unternehmen, zum anderen aber auch Informationsportale, welche einen Überblick über sämtliche Studiengänge oder Ausbildungsbereiche bieten.

„Und hätte ich jetzt das Internet zum Beispiel nicht genutzt, hätte ich zum Beispiel auch gar nicht erfahren, dass bei meinen Studienfächern auch Aufnahmeprüfungen dabei notwendig sind. (…) Sowas steht in dem Studienkompass einfach nicht drin. Deswegen nutze ich eigentlich das Internet vorrangig“ (GD 5:66-70).

Die Qualität des Studiums oder das Renommee einer Hochschule oder Universität sind zumindest für die Teilnehmer_innen an diesen Gruppendiskussionen keine relevanten Suchkriterien.

Ist insgesamt die Einschätzung des Internets als Informationsmedium sehr positiv, so gibt es jedoch auch eine nicht geringe Anzahl kritischer Thematisierungen, die allerdings nur zum Teil auf das Medium selbst zurückzuführen sind. In erster Linie bezieht sich die Kritik auf die Selektion der Informationsfülle, vor allem wenn Suchmaschinen genutzt werden und diese eine lange Trefferliste generieren.

„Aber das finde ich sowieso nervig, dass es da 100 verschiedene Internetseiten gibt. Da habe ich für mich noch nicht so die perfekte gefunden, die mir da so super Auskunft gibt und die mir da am übersichtlichsten erscheint“ (GD 6:407-409).

Auch Informationsportale werden als zu überladen wahrgenommen und es werden fachbereichsspezifische Überblicksseiten gewünscht.

„Also ich würd mir halt wünschen, dass es ne Internetseite gibt, die komplett oder wenigstens ne Internetseite, wo denn wenigstens ein Abteil ist wo man wirklich speziell nach pädagogischen und psychologischen Berufen suchen kann (GD 14:238-240).

Entsprechende Angebote werden online nicht gefunden. Dahinter steht die kaum zu durchdringende Vielzahl an möglichen Studiengängen der Hochschulen in Deutschland. Eines der bekanntesten Portale, www.hochschulkompass.de, erarbeitet und betreut von der Stiftung zur Förderung der Hochschulrektorenkonferenz, listet allein 9.642 grundständige Studiengänge auf (zusammen mit den weiterführenden sind es 17.454 unterschiedliche Studienangebote). Hier bildet das Internet die Angebotsfülle direkt ab. Zwar bieten Suchmasken und Filterfunktionen anders als vergleichbare Printmedien Möglichkeiten, die Suchanfragen zu präzisieren bzw. Suchergebnisse selektiv auszuwerten, die Grundproblematik der Unübersichtlichkeit bleibt aber bestehen. Viele Studiengänge haben bei unterschiedlicher Bezeichnung ähnliche Inhalte, die Differenzen liegen im Detail, zum Beispiel in den Kombinationsmöglichkeiten mit einer begrenzten Fächerauswahl, was von den Schüler_innen kritisch registriert wird. Offensichtlich orientiert sich die Suche sehr stark an den Bezeichnungen der Studiengänge bzw. deren Kurzbeschreibung, so dass wichtige Unterschiede nicht klar hervortreten. Die Verarbeitungsleistung medialer Informationen kann im Einzelfall nur mit Hilfe Dritter geleistet werden.

Suchmaschinen werden in den Gruppendiskussionen selten erwähnt. Welche Rolle einzelne Suchmaschinen wie Googleim Online-Informationsprozess spielen, wird insofern nicht deutlich, im Unterschied zu direkten Zugriffen auf Homepages und die Erfahrung damit. Zur erfolgreichen Suche ist eine Suchstrategie erforderlich, d. h. die Handhabung der Suchbegriffe oder die Auswahl der Art der gewünschten Informationen.

Also ich find´s auch irgendwie total den schlechten Weg einfach zu googeln. Ich google meinen Studiengang und find da, ja, da findet man halt nichts“ (GD 13:93-94).

Es kann jedoch auch nicht davon ausgegangen werden, dass unter den Schülern ein mehrheitlich geteiltes Wissen über Informationsportale existiert.Außer dem Online-Auftritt der Bundesagentur für Arbeit werden relativ wenige Portale direkt genannt. Häufig kann der Name der genutzten Internetseiten nicht erinnert werden. Dennoch stellt der Einstieg über Suchmaschinen eine Zugangsweise zum Online-Informationsangebot dar oder es wird darüber die Suche nach aus anderen Quellen gewonnenem Wissen fortgesetzt oder spezifiziert.

„Also ich hab in diesem Berufe-Buch nachgeguckt, aber ich weiß jetzt nicht wie das heißt. Und hab mir dann die Studienbezeichnungen angesehen und diese dann gegoogelt und dann halt geguckt, wo man das studieren kann und halt ja genau“ (GD 13:5-7).

Viele Schüler_innen in Mecklenburg-Vorpommerns antizipieren, für eine Ausbildung oder ein Studium die Region zu verlassen, weil entweder das gewünschte Studienfach regional nicht angeboten wird, oftmals jedoch ganz bewusst als Entscheidung für die Fremde oder unter dezidierter Abkehr von der regionalen Hochschullandschaft. Lassen sich die Studienangebote der Universitäten und Hochschulen online sehr gut recherchieren, gelingt es über Google kaum, einen ‚authentischen‘, bzw. hinreichend informativen Eindruck von den Universitätsstädten selbst zu gewinnen.

„Ich wüsste, wenn ich jetzt zum Beispiel nach Bayern gehen würde, wüsste ich gar nicht wo ich da anfangen soll zu gucken nach irgendwas. Auch Internet find ich da nicht so hilfreich“ (GD 13:86-87).

Hieran wird deutlich, dass unspezifische Informationsanfragen online nicht erfolgreich umgesetzt werden können. Suchmaschinen verlangen ein ‚Wissen-Wollen‘ buchstäblich auf den Begriff zu bringen. Zusätzlich von Bedeutung ist die gezielte Suche nach bestimmten Medienformaten: wird ein Eindruck von einer Universität oder Großstadt gewünscht, sind Textinformationen wenig aufschlussreich und es werden Videos oder interaktive Rundgänge über den Campus oder durch das städtische Zentrum gewünscht.

4.2 Social Media

Die interaktiven Potentiale des Web 2.0 werden zumindest auf Anbieterseite in immer stärkerem Ausmaß genutzt. Immer mehr Homepages sind mit Tags versehen, welche zur jeweiligen Präsenz in Facebook, Google+ oder anderen Sozialen Netzwerken führen, bzw. über die ein Besuch der Webseite auf der eigenen Profilseite sichtbar gemacht werden kann. Hochschulen, Unternehmen und teilweise auch öffentliche Arbeitgeber erweitern dadurch ihre Webpräsenz und ermöglichen es innerhalb der privaten Strukturen der Sozialen Netzwerke auch in Kommunikationen über berufs- und studienwahlrelevante Themen eingebunden zu werden. Gerade Facebook, gegenwärtig quasi Monopolist unter den Sozialen Netzwerken macht zumindest technisch einen umfangreichen Austausch von Informationen, hilfreichen Homepages oder Portalen sowie Veranstaltungshinweisen zwischen den Schüler_innen möglich. Die Nutzungsquoten von Facebook liegen in den entsprechenden Altersgruppen bei beiden Geschlechtern deutlich über 80%.

Umso erstaunlicher ist der Befund, dass bezogen auf die Studien- und Berufsorientierung offenbar nahezu keine Kommunikation über Soziale Netzwerke stattfindet. Was nicht heißt, dass Jugendliche dieses Thema nicht intensiv mit Freunden, Mitschüler_innen, Geschwistern und Eltern besprechen: sie tun es aber primär offline.

„Wenn dann, dann unterhalten wir uns darüber und die sagen dann, die und die Seite ist gut oder so. Aber es ist nicht so, dass die mir dann einfach mal so einen Link schicken“ (GD 6:358-360).

Gilt dieser Befund mit einzelnen Ausnahmen für die meisten Beteiligten an den Gruppendiskussionen, so legen die nur vereinzelten Thematisierungen folgende Erklärung dafür nahe. Facebook wird beinahe ausschließlich dazu genutzt, Nachrichten zu versenden und andere an den Aktivitäten teilhaben zu lassen. Durchgesetzt wird dabei die Norm der strikten Trennung zwischen persönlichen und privaten Informationen und der beruflichen Sphäre. Aufgrund der deutlichen Akzentuierung der Persönlichkeitsdarstellung und Freizeitausgestaltung weicht eine Thematisierung der Studien- und Berufswahl z.B. über Facebook von dieser Norm ab. .

„In sozialen Netzwerken macht man das ja eigentlich nicht so“ (GD 14:174).

Implizite Normen regulieren, wie in Peergroups und im Freundeskreis über die Berufsfindungsproblematik kommuniziert wird. Dabei werden auch Grenzen gezogen.

„Also ich glaube, es ist eher so ein kleines Tabuthema, wenn man sich jetzt noch nicht so richtig auf einen Zweig wenigstens festgelegt hat. (…) Also ich habe da Probleme damit. Wenn mich jemand fragt, was ich denn mal machen möchte und ich muss sagen, dass ich es noch nicht weiß, dann ist das für mich schon eher unangenehm“ (GD 5:240-245).

Die Schüler_innen untereinander informieren sich nicht über den jeweiligen Stand der Berufs- und Studienorientierung, es sei denn Mitschüler_innengehören zur Kategorie Freundin oder Freund. Es dominieren in der allgemeinen Wahrnehmung diejenigen, die bereits fest konturierte Berufswünsche äußern können. All jene, die diesbezüglich noch wesentlich uninformierter oder unsicherer sind, kommen eher in eine Position der diskursiven Unterlegenheit. Zu wissen, was man (beruflich) im Leben will, kann als Statusposition in der Oberstufe angesehen werden.

Das ist natürlich immer schöner, wenn man schon einen konkreten Plan hat, den man dann darlegen kann. Und ich denke, dass es auch genug von meinen Freunden gibt, die schon seit einem Jahr oder zwei auch oder schon seit der Kindheit wissen, was sie machen wollen. Dass man da halt ein bisschen abgestempelt wird“ (GD 5:252-255).

Unsicherheit und Orientierungslosigkeit wird demgegenüber als Schwäche erlebt, weshalb diese Thematik eher in vertraulichen Freundschafts- und Familienbeziehungen angesprochen wird. So zeigt sich, dass Soziale Netzwerke wie Facebook auch Plattformen des Identitätsmanagement sind (vgl. Goffman 2003), d. h. einer bewusst selektiven Enthüllung privater Informationen, orientiert am normativen Erwartungshorizont des potentiellen Publikums.

5 Fazit

Wie lässt sich die Nutzung des Internets im Rahmen der Berufsorientierung durch Jugendliche an Beruflichen Gymnasien insgesamt einschätzen? Den größten Nutzen bringen Online-Quellen bei der Suche nach Sachinformationen. Aus der Logik der Suchmaschinen ergibt sich: ohne Suchbegriff kein Ergebnis. Je präziser Suchbegriffe gehandhabt werden können, umso leichter sind Informationen auffindbar. Zumindest bei den älteren Schüler_innen ist das Internet konkurrenzlos das bevorzugte Medium, während bei jüngeren (11. Klasse und früher) Printmedien, wie die kostenlos verfügbaren Handbücher über Ausbildungsberufe und Studienmöglichkeiten, intensiv genutzt werden. Besonders bei dieser Altersgruppe wird deutlich, dass das Internet kaum zur Exploration möglicher beruflicher Entwicklungswege genutzt wird und bei fehlender Einweisung und Übung kaum sinnvoll genutzt werden kann. Das gilt in gleichem Umfang auch für online zugängliche Interessen- oder Eignungstests.

Das größte Potential besitzt das Internet in der Verknüpfung verschiedener Medienformate in einem Zugriff (Videos, Grafiken, Interessen- oder Eignungstests zusätzlich zu Textangeboten und Suchfunktionen). Ein exploratives Suchen wird so erleichtert. Für die Studien- und Berufsorientierung und die Entwicklung beruflicher Zukunftsentwürfe sind direkte Einblicke in den Arbeits- oder Studienalltag hoch bedeutsam und werden für einen emotionalen Zugang zur Berufswelt häufig unterschätzt.

Neben den Printmedien rangieren bei Schüler_innen der Vorabschlussklassen der Oberstufe Praktika und der Besuch von Bildungsmessen bzw. Angebote der Berufsberatung an erster Stelle. Digitale Medien fügen sich in die bestehende Informationslandschaft ein; es gibt keine Ansatzpunkte zu vermuten, dass eine Face-to-face-Unterstützung der Berufs- und Studienorientierung durch Online-Informationsquellen ersetzt werden kann. Neben den unbestreitbaren Vorteilen von Online-Informationen hinsichtlich ihrer Aktualität, Vollständigkeit und Differenziertheit werden klassische Printmedien ihre Bedeutung behalten. Zum einen, weil in den Schulen digitale Medien in der Berufs- und Studienorientierung im Unterricht (noch) wenig eingesetzt werden und didaktische Konzepte weitgehend fehlen. Zum anderen aber sicherlich auch, weil die SchülerInnen im Rahmen institutionalisierter Berufsorientierungsangebote in den Schulen und in der Bundesagentur für Arbeit mit Printmedien in Kontakt kommen. Empfohlen werden kann, das Training und die Unterstützung der Informationssuche in digitalen Medien weiter auszubauen.

In den Gruppendiskussionen wird deutlich, dass die Informationsfülle des Internets mit besseren Suchstrategien effektiver genutzt werden könnte. Defizite in der Medienkompetenz zeigen sich hier primär wenn auch nicht ausschließlich bei Schülern der 11. und 12. Klasse. Wer sich aus dieser Altersgruppe nicht bereits vor dem Wechsel auf das Berufliche Gymnasium intensiv über Ausbildungsberufe informiert hat, verfügt noch über kein oder wenig Wissen zur Arbeitswelt. Weitestgehend noch unbekannt ist auch der Bereich der akademischen Bildung. Für eine effektive Nutzung der zahlreichen Informationsmöglichkeiten im Internet ist dagegen ein gewisses Vorwissen, d. h. eine Vororientierung, unabdingbar. Insofern finden gegenwärtig alle Internet-Angebote der Berufsorientierung eine deutliche Beschränkung darin: wer ohne wenigstens in Ansätzen spezifizierte Vorstellung von einem passenden Ausbildungsberuf oder Studiengang online recherchiert, wird vergleichsweise wenig Informationen finden, die ihm oder ihr bei der Entdeckung oder Spezifizierung von Interessen und Fähigkeiten weiterhelfen. Berufsinteressentests im Internet stellen dann meist das einzige Angebot zur Orientierung dar, mit den oben beschriebenen ambivalenten Effekten. Die Initialzündung für einen Berufswunsch ist online also kaum zu finden. Umgekehrt kann aber auch festgestellt werden, dass digitale Medien Orientierungsschwierigkeiten weder erzeugen noch die Berufs- und Studienwahl signifikant erschweren.

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Transnationale Mobilität in der beruflichen Erstausbildung – Beeinflussende Faktoren in der Phase der Berufsorientierung für eine grenzüberschreitende Mobilität

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1 Ausgangslage und Fragestellung

Im Übergang von der Schule in die berufliche Ausbildung und später von dort in die Arbeitswelt (erste und zweite Schwelle) haben die jungen Menschen Entscheide zu treffen, bei denen neben persönlichen Interessen, Stärken und Neigungen im Hinblick auf einen Wunschberuf bzw. Wunscharbeitsplatz auch ihre privaten Lebensplanungen bzgl. Lebens- und Arbeitsort abgewogen werden müssen. Insbesondere letztere spielen dabei eine wesentliche Rolle (Kalisch 2012, 228f.). Aktuell besteht wenig gesicherte Klarheit darüber, in wie weit Aspekte vorwiegend geographischer Mobilität in der Phase der Berufsorientierung von Jugendlichen in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Auch in bisherigen Modellen und Berufswahltheorien wurde der Aspekt der Mobilität zu beruflichen Ausbildungszwecken kaum berücksichtigt.

Die meisten Jugendlichen entscheiden sich für eine berufliche Ausbildung bzw. schulische Anschlusslösung im eigenen Land und trotz hoher Ausbildungsqualität eher selten für Möglichkeiten im Nachbarland. Dies trifft insbesondere auch für Jugendliche zu, die in unmittelbarer Grenznähe wohnen und für die der geographische Weg in einen Betrieb im Nachbarland nicht länger sein muss, als zu einem Ausbildungsbetrieb im eigenen Land.

In diesem Zusammenhang berichtet das Bundesinstitut für Berufsbildung BIBB in einer Pressemitteilung vom August 2014 von einer selber durchgeführten Betriebsbefragung. Demnach würden kleine und mittlere Unternehmen (KMU) ein großes Interesse am Thema „Ausbildungsmobilität“ zeigen. Sie schätzen die räumliche Mobilität von Jugendlichen als wichtig ein und sehen in der Rekrutierung von Auszubildenden aus entfernteren Regionen ein zunehmend an Bedeutung gewinnendes Instrument zur Deckung ihres Fachkräftebedarfs. 82.5 % von etwa 1'200 Befragten meinen, dass Mobilität in fünf Jahren ein wichtiges Instrument zur Fachkräftesicherung sein wird (BIBB 2014).

Weil zu erwarten ist, dass sich aufgrund demographischer Entwicklungen der Konkurrenzkampf zwischen Betrieben um Auszubildende verschärfen wird und sich deshalb der Suchradius nach Auszubildenden räumlich und in Grenzregionen auch grenzüberschreitend erweitern wird, ist es von Bedeutung, mehr über die Motive und Kriterien in Bezug auf (transnationale) Mobilität im Rahmen der Berufsorientierung von Jugendlichen mit Wohnsitz in Grenznähe zu wissen.

Es bestehen bereits jetzt in Europa und in der Schweiz Strategien, die Mobilität in der beruflichen Bildung auch international zu fördern. Eine Zielgruppe solcher Mobilitätsförderungsprojekte stellen Grenzpendler/-innen dar. Wie spezielle bilaterale Austauschprogramme sowie regionale Ausbildungs- und Arbeitsmarktprojekte aktuell zeigen, können Schulen und Unternehmen in Grenzregionen ein gemeinsames Interesse an Markttrends und Grundlagenwissen haben.

Grenzüberschreitende berufliche Erstausbildung bildete zwar bereits mit unterschiedlichen Interessensschwerpunkten den Inhalt von Untersuchungen. Dabei wurden allerdings die Jugendlichen nicht zur grenzüberschreitenden Mobilität und allfälligen Motiven dazu befragt (z.B. Hitzelsberger et al. 2002; Geppert 2004; Frommberger et al. 2005). Bisherige empirische Studien zur Thematik fokussieren vorwiegend auf beeinflussende Faktoren im Zusammenhang mit Berufspraktika im Ausland, die während einer beruflichen Ausbildung durchgeführt werden (z.B. WSF 2007; van Brakel et al. 2007; Friedel et al. 2003; Geppert/Schiffmann 2003) bzw. auf die Mobilität zwischen verschiedenen Bundesländern in Deutschland (z.B. Wolf et al. 2004; Schaade 2007; Kropp et al. 2007).

Betrachtet man die große und aktuelle Aufmerksamkeit sowie die hohen finanziellen Beiträge, die der Förderung beruflicher Mobilität ganz allgemein und insbesondere zu Lernzwecken in Europa zukommen, so stellt sich die folgende Frage, die in diesem Beitrag behandelt wird:

  • Welche personalen Faktoren von Jugendlichen haben einen Einfluss in der Phase der Berufsorientierung, sich für oder gegen eine berufliche Ausbildung im benachbarten Ausland zu entscheiden?

2 Theoretische Grundlage

Als theoretische Basis für die hier vorliegende Forschungsarbeit dienen das Rahmenmodell von Bußhoff (1989), das mehrere Berufswahltheorien aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Blickwinkeln zusammenfasst, das Modell von Ng et al. (2007) und die Korrelate zur Mobilität von Otto (2004) aus der Arbeits- und Organisationspsychologie sowie Modelle, die die Berufswahl in Phasen beschreiben (z.B. Herzog et al. 2006; Neuenschwander/Hartmann 2011).

In Anlehnung an Hirschi (2007) wird hier bei Faktoren, die den Berufsorientierungsprozess beeinflussend, zwischen Faktoren der Umwelt und Faktoren der Person unterschieden. Zu den Faktoren der Umwelt werden gezählt: Wirtschaftsbedingungen, gesellschaftliche Besonderheiten, Branchenunterschiede und die Personalpolitik in der Organisation (Ng et al. 2007) sowie Demographie, Kultur, Sprache, Bildungssystem, Erreichbarkeit, geographische Lage, soziales Umfeld etc.

In der Folge findet eine Fokussierung auf die Faktoren der Person und den Entscheidungsprozess statt. Dabei werden in Anlehnung an Hirschi (2007) und Ng et al. (2007) die drei Bereiche Personale Eigenschaften, Berufswahlkompetenz und Kenntnisse vertieft betrachtet. Diese prägen den eigentlichen Entscheidungsprozess wesentlich.

2.1 Faktoren der Person

2.1.1 Personale Eigenschaften

Physische und psychische Merkmale eines Menschen lassen sich kaum vollständig erfassen und beschreiben. Bestimmte personale Eigenschaften beeinflussen maßgeblich den Entscheid für einen Beruf bzw. für eine berufliche Ausbildung oder einen Ausbildungsbetrieb (Kalisch 2012, 224). In der Folge werden physische und psychische Merkmale sowie die Herkunft und intellektuellen Fähigkeiten vertieft betrachtet.

Körper und Alter

Das erste äußerlich erkennbare personale Eigenschaftsmerkmal ist der Körper eines Menschen. Körperbau und spezifische Merkmale wie Gesundheit, Beherrschung (Motorik) und Belastbarkeit (z.B. Wetterresistenz) prädestinieren eine Person für einen Beruf oder können einen bestimmten beruflichen Weg erschweren bzw. verhindern.

Im Hinblick auf das Mobilitätsverhalten haben Studien gezeigt, dass das Alter auf das Mobilitätsverhalten und –interesse einen Einfluss hat. Krewerth/Bökmann (2011) stellen beispielsweise fest, dass ältere Bewerber/-innen sich eher über Ausbildungsmöglichkeiten im Ausland informieren als jüngere. In der Befragung von Betriebsakteuren der Région Alsace (2010, 18f) zeigte sich, dass für sie Mobilitätsprogramme mit jungen Auszubildenden mit mehr Aufwand verbunden sind, weil das Publikum jung, nicht vollständig autonom und manchmal noch sehr unreif ist.

Offenheit, Haltungen

Ein wichtiges Merkmal, ob sich Jugendliche beruflicher transnationaler Mobilität zeigen oder sich dafür interessieren, hängt mit ihrer Offenheit gegenüber dem Ausland zusammen. So stellen z.B. Friedel et al. (2003) fest, dass Jugendliche, die Europa als Chance sehen, mobiler sind als solche, die das nicht ausgeprägt tun. Auch Otto (2004, 38) beschreibt in ihrer Untersuchung positive Zusammenhänge zwischen Offenheit für Erfahrungen, Ungewissheitstoleranz sowie Selbstwert und der Bereitschaft, geografisch mobil zu sein: Je stärker die Auszubildenden die wirtschaftliche Globalisierung befürworten, je höher ihre Unwissenheitstoleranz ausgeprägt war und je positiver sie die Einstellung des Umfelds zu geographischen Mobilität wahrnehmen, desto eher waren sie bereit, geographisch mobil zu sein.

Geschlecht

Verschiedene Untersuchungen zur Mobilität von jungen Erwachsenen innerhalb Deutschlands kommen zum Schluss, dass weibliche Jugendliche mobiler sind als ihre männlichen Kollegen (Wolf et al. 2004; Kotte/Stöckmann 2008; Kotte 2007; Kropp et al. 2007). Demgegenüber stehen die Ergebnisse anderer Studien, in denen sich junge Männer als bundeslandübergreifend mobiler erweisen (z.B. Kotte 2008; Otto 2004, 38) äußert nach der Berücksichtigung verschiedener Studien die Erwartung, dass Männer über eine höhere geographische Mobilitätsbereitschaft und Frauen über eine höhere berufliche Mobilitätsbereitschaft verfügen. Sie unterstreicht damit die Ambivalenz der Zusammenhänge zwischen den Geschlechtern und Mobilität, die auch Krewerth/Bökmann (2011) in Bezug auf Mobilitätsinteresse feststellen.

Intellektuelle Leistungsfähigkeit

In Bezug auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit hat sich in Studien im Zusammenhang mit beruflichen Auslandpraktika während der Ausbildung weitgehend einheitlich gezeigt, dass Jugendliche mit höheren Schulabschlüssen überproportional häufig daran teilnehmen (z.B. Friedrich/Körbel 2011; Friedel et al. 2003). Zudem informieren sich Jugendliche mit guten Schulnoten eher über Ausbildungsmöglichkeiten im Ausland als ihre Kolleg/-innen mit tiefen, wie Krewerth/Bökmann (2011) festgestellt und beschrieben haben.

Herkunft

Friedel et al. (2003) haben die Mobilitätsbereitschaft nach ausländischer bzw. deutscher Herkunft untersucht, aber dabei keinen relevanten Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen festgestellt. In der Studie von WSF (2007) wird aufgeführt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund, die an beruflichen Mobilitätsprojekten partizipieren, keine repräsentative Gruppe darstellen, da sie von ihrer Herkunft her, eher zu privilegierten Gruppen gehören. Dies wird als Erklärung beigezogen, weshalb es in der Studie zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund keine signifikanten Unterschiede im Hinblick auf die Teilnahme an Mobilitätsprojekten gibt.

2.1.2 Kenntnisse

In der Vorstellung, dass Entscheidungsprozesse vorwiegend rational ablaufen, sind solche an Kriterien, Alternativen und mit Strategien für einen Entscheid verbunden. Bußhoff (1989, 58) nennt diese Aspekte Entscheidungsprämissen. Sie bilden die Grundlage für Handlungspräferenzen und Realisierungserwartungen im Hinblick auf einen Berufswahlentscheid. Im Verlaufe des Berufsorientierungsprozesses werden schrittweise neue Kriterien berücksichtigt mit dem Ziel, eine möglichst große Passung zwischen Individuum, Beruf und Betrieb zu erreichen (Herzog et al. 2006). Damit alle diese prüfenden, vergleichenden und abschätzenden Prozesse durchlaufen werden können, müssen die Jugendlichen über Wissen verfügen. Dieses kann sowohl (berufs-)praktischer als auch theoretischer Natur sein. Dieses Wissen wird hier mit dem Begriff Kenntnisse bezeichnet und als immaterielles Gut gesehen, das durch ausgebildete Berufswahlkompetenzen (vgl. 2.1.3) beschafft, beurteilt, verglichen und eingeschätzt werden kann. Frommberger et al. (2005, 8) zeigen sich überzeugt, dass Menschen relativ wenig über Europa und die Nachbarländer wissen und im Rahmen ihrer Bildung- und Ausbildungswege sowie der beruflichen Biographie wenig Erfahrungen mit dem Ausland erwerben können. In diesem fehlenden Wissen sehen die Autoren u.a. eine Erklärung für die verhältnismäßig geringe Mobilität und Mobilitätsbereitschaft selbst in grenznahen Regionen.

2.1.3 Berufswahlkompetenz

Rosen & Schubiger (2013, 41) bezeichnen in Anlehnung an Weinert (2001, 27f) Kompetenzen als „Dispositionen, die Personen befähigen, bestimmte Arten von Problemen erfolgreich zu lösen. Sie sind auf komplexe Anforderungssituationen bzw. Aufgaben bezogen und umfassen kognitive, motivationale, volitionale und sozial-kommunikative Elemente.“ Diese Definition passt zur Vorstellung von Busshoff (1989), der davon ausgeht, dass im Zusammenspiel von individuellen Selbst- und Umweltkonzepten Problemlösungsmethoden reifen. Dies sind erlernte Handlungsfähigkeiten und emotionale Dispositionen, die im beruflichen Entscheidungsprozess angewendet werden.

In der Phase der Berufsorientierung und der Entscheidung für eine berufliche Ausbildung haben Berufswählende sechs Lern- und Entwicklungsaufgaben zu leisten (Egloff/Jungo 2009; Hirschi 2007) und müssen sich in den folgenden Bereichen entwickeln bzw. in diesen Kompetenzen erlangen: Ich-Bildung oder Persönlichkeitsbildung, Aufbau Selbstbild zur Erkennung persönlicher Entscheidungskriterien, Erkundung des Arbeits- und Berufsfelds, Zuordnung der Person zur Berufswelt, Entscheidung aufgrund von Vergleichen und Bewertungen sowie Realisierung durch Bewerbungsverhalten und Bewältigen von Widerständen und Konflikten. Berufswahlkompetent sind Jugendliche, die Strategien zur Beschaffung von Informationen über die Berufswelt und Ausbildungsmöglichkeiten anwenden und diese zur Analyse der persönlichen Situation einsetzen.

Zusammenfassend werden hier Berufswahlkompetenzen als die Fähigkeiten und Voraussetzungen gesehen, den Entscheidungsprozess (erfolgreich) zu durchlaufen.

2.2 Entscheidungsprozess

Im Prozess zu einer Berufswahlentscheidung geht es für Jugendliche also darum, die erlangten Berufswahlkompetenzen anzuwenden. So ist es für die Berufswahl Voraussetzung, die eigene Person in einen Berufskontext versetzen zu können und dabei eigene Stärken, persönliche Interessen und Werte erfüllt zu sehen. Zudem braucht es die Weitsicht, Einschätzungen über mögliche Situationen in der Zukunft und deren Auswirkungen auf die eigene Befindlichkeit und Kompetenzen tätigen zu können (Neuenschwander et al. 2012).

Es wird hier davon ausgegangen, dass der Berufsorientierungsprozess in der Regel nicht rein linear im Sinne einer eindeutigen Reihenfolge von Prozessschritten vom ersten Entscheid für einen Beruf bis zur eigentlichen Umsetzung verläuft. Er findet ihn Phasen statt, die durchaus mehrmals durchlaufen werden können, wenn z.B. Jugendliche Rückschläge zu verarbeiten haben bzw. sich neuorientieren (Herzog et al. 2006; Neuenschwander/Hartmann 2011). Es wird Herzog et al. (2005, 23) gefolgt, die sich ebenfalls überzeugt zeigen, dass Berufswahl von irrationalen Momenten geprägt und nach dem Zufallsprinzip erfolgen kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn keine Bemühungen unternommen werden, die eigene Interessen zu klären, erforderliche Informationen einzuholen, Alternativen abzuwägen, Risiken und Chancen zu prüfen und die Meinung anderer anzuhören.

Am Ende dieses Vergleichs- und Abwägungsprozesses steht idealerweise ein Entscheid für einen Beruf bzw. eine Ausbildungsstelle.

2.3 Zusammenfassung

Die Phase der Berufsorientierung und schließlich der Abschluss des Berufswahlentscheidungsprozesses werden von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Es handelt sich dabei um Faktoren der Umwelt (Wirtschaftsbedingungen, Kontakte, gesellschaftliche Besonderheiten, Branchenunterschiede, soziales Umfeld, Kultur, Sprache etc.) sowie Faktoren der Person. Bei letzteren handelt es sich um personale Eigenschaften wie Körper, Alter, Geschlecht, Offenheit, Haltungen, intellektuelle Leistungsfähigkeiten, Kenntnisse praktischer und theoretischer Natur, die als Grundlage für rationale Entscheide Voraussetzung sind und als immaterielles Gut betrachtet werden. Damit ist es erst möglich Berufswahlkompetenz anzuwenden und z.B. Strategien zur Informationsbeschaffung zu entwickeln, die der Analyse der persönlichen Situation sowie der Beschaffung von Wissen über die Berufswelt und Ausbildungsmöglichkeiten dienen. Die Berufswahlkompetenz wird als die weitgefasste Fähigkeit gesehen, den Berufsorientierungsprozess erfolgreich zu durchlaufen und abzuschließen. Dieser Entscheidungsprozess wird allerdings nicht ausschließlich durch rational ablaufende Entscheide charakterisiert. Der Berufswahlprozess kann von irrationalen Momenten geprägt sein und nach dem Zufallsprinzip erfolgen.

3 Mobilität und deren Förderung

Bevor weiter in die Thematik eingetaucht wird, erfolgt hier eine Begriffsklärung zu Mobilität. Mit dem Wechsel vom Schüler/-instatus in den Status des/der Auszubildenden vollziehen Jugendliche verschiedene Formen von Mobilität. Sie wechseln den sozialen Status vom Kind zum jungen Erwachsenen, was hier und aus Sicht der beruflichen Entwicklung als vertikale soziale Mobilitätsbewegung gesehen wird. Geographische Mobilität ist deshalb verlangt, weil die Jugendlichen in der Regel für Ausbildungsstelle und Berufsschule neue Wege in Kauf nehmen müssen. Dabei ist vorwiegend von regionaler Mobilität (einfach erreichbare Distanzen) auszugehen. Mit dem Ende der obligatorischen Schulzeit und dem Beginn einer beruflichen Ausbildung vollziehen die Jugendlichen also immer soziale Mobilität und in der Regel geographische Mobilität. Dies ist unabhängig davon, ob die Jugendlichen ihre berufliche Ausbildung im In- oder Ausland absolvieren. Den Spezialfall des Grenzpendelns (tägliche Rückkehr ins eigene Land) zu Ausbildungszwecken wird auch als transnationale Mobilität I bezeichnet (Krewerth/Bökmann, 2011).

Wie in der Beschreibung der Ausgangslage erwähnt, werden berufliche Mobilität und die Mobilität zu Lernzwecken sowohl von der Europäischen Union als auch von der Schweiz gefördert. So hat z.B. die Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2009, 2) ein Grünbuch mit dem Titel „Die Mobilität junger Menschen zu Lernzwecken fördern“ verabschiedet. Der Mobilität zu Lernzwecken werden von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2009, 3) positive Eigenschaften zugesprochen. Die Teilnehmenden an (internationalen) Mobilitätsaktivitäten erhalten u.a. Zugang zu neuem Wissen, können ihre Sprachkenntnisse erweitern und interkulturelle Kompetenzen erlangen. Ferner erhöht internationale Mobilität zu Lernzwecken die Verbreitung von Wissen, welches der Schlüssel zu Europas wissensgestützter Zukunft ist. Sie darf demnach nicht die Ausnahme sein, wie dies gegenwärtig der Fall ist. So fordert die Kommission, dass sie vielmehr ein fester Bestandteil der europäischen Identität und eine Chance sein sollte, die allen jungen Menschen in Europa offensteht.

Auch der Bundesrat der Schweiz [Anm. Regierung] sieht die Notwendigkeit, transnationale berufliche Ausbildungen in den Grenzregionen zu ermöglichen. So werden beispielsweise spezifische Programme unterstützt und angelegt, Stipendien vergeben und die Mobilität durch Austauschaktivitäten und –projekte gefördert (Bundesrat 2010).

4 Methode

4.1 Stichprobe und Datenerhebungen

In der Folge werden Daten aus Fragebogenerhebungen bei 50 Lehrpersonen (Deutschland (D)=19, Österreich (A)=7, Schweiz (CH)=24) und 622 Schüler/-innen (D=255, A=35, CH=332) aus der Bodenseeregion ausgewertet. Die Lehrpersonen unterrichteten die befragten Schüler/-innen. Die Datenerhebungen erfolgten 2011 bis 2013 in den Bundesländern Baden-Württemberg und Bayern (D), Vorarlberg (A) und in den Schweizer Grenzkantonen St. Gallen, Thurgau und Zürich. Die Jugendlichen wurden zweimal befragt. Die erste Befragung (t1) erfolgte ein Jahr vor Abschluss der Schulzeit, die zweite Befragung (t2) ein Jahr später kurz vor Ende der obligatorischen Schulzeit. Bei der ersten Datenerhebung hatten sich die Jugendlichen in der Schule mehrheitlich mit Aspekten der Berufsorientierung auseinander gesetzt. Zum zweiten Zeitpunkt stand für den größten Teil der Jugendlichen die Anschlusslösung an die Sekundarstufe I fest. Die Lehrpersonen wurden einmal befragt und zwar zum Zeitpunkt der zweiten Schüler/-innenbefragung.

In Ergänzung zu den quantitativen Schüler/-innendaten wurden 22 Interviews mit Jugendlichen (D=5, A=5, CH=12) durchgeführt, die kurz vor Abschluss ihrer obligatorischen Schulzeit standen. Im Zentrum standen jeweils beide Seiten der Grenzen Deutschland-Schweiz und Österreich-Schweiz. Auf eine Untersuchung der Grenze Deutschland-Österreich wurde verzichtet, weil für diese Arbeit vor allem die beiden typischen Übergänge für Grenzgänger im Bodenseeraum (D-CH; A-CH) interessieren und diese materiell exemplarisch für andere Grenzregionen behandelt werden.

Zudem wurden 28 freiwillige Lehrpersonen (D=12, A=5, CH=11) interviewt, die allesamt bereits in die Fragebogenerhebung einbezogen waren.

4.2 Beschreibung der quantitativen Instrumente

Fragebögen Jugendliche

Die für die vorliegende Untersuchung relevanten Fragen im Fragebogen wurden in allen Ländern grundsätzlich gleich aber begrifflich an die Länder adaptiert gestellt. Beispiele für solche Adaptionen sind die Auswahl des besuchten Schultyps oder die Aufzählung der Nachbarländer.

U.a. mussten die Jugendlichen die zwei folgenden Fragen einschätzen:

  • Ich kann mir sehr gut vorstellen, eine Lehre / schulische Ausbildung im benachbarten Ausland zu machen.
  • Ich werde mich auch im benachbarten Ausland nach einer Lehrstelle / einer weiterführenden Schule umsehen.

In einer weiteren Fragegruppe ging es um die Einschätzung und Nennung möglicher Hindernisse und Hemmnisse für eine berufliche oder schulische Ausbildung im benachbarten Ausland, auch wenn eine tägliche Heimkehr möglich wäre. Die Jugendlichen mussten im Hinblick auf die Faktoren der Person die folgenden sieben möglichen Hindernisse und Hemmnisse beurteilen:

  • Unbekannte Erwartung von Berufsschule: Ich weiß nicht, was eine Berufsschule / weiterführende Schule im benachbarten Ausland von mir erwartet.
  • Unbekannte Erwartung Ausbildungsbetrieb: Ich weiß nicht, was ein Lehrbetrieb im benachbarten Ausland von mir erwartet.
  • Familie & Freund/-innen: Ich möchte nicht zu weit weg von meiner Familie oder meinen Freunden arbeiten oder zur Schule gehen.
  • Unbekannte Umgebung: Ich würde mich in der unbekannten Umgebung nicht wohl fühlen.
  • Unterstützung: Ich weiß nicht, wer mir helfen könnte, eine Lehrstelle / weiterführende Schule im benachbarten Ausland zu suchen.
  • Weiter Weg: Ich wohne zu weit weg von der Grenze. Der Weg ist zu weit. 
  • Sprache/Dialekt: Ich verstehe den Dialekt nicht oder zu wenig gut.

Zudem konnte unter einem weiteren Punkt „Anderes“ eine individuelle Antwort abgegeben werden. Als Antwortkategorien standen bei allen bisher aufgeführten Fragen zur Verfügung: stimmt überhaupt nicht (1), stimmt eher nicht (2), stimmt (3), stimmt völlig (4), kann ich nicht beantworten.

Die aufgeführten Hindernisse und Hemmnisse begründen sich teilweise auf Erkenntnissen aus Studien z.B. von Wolf et al. (2004), Friedrich/Körbel (2011) und Friedel et al. (2003).

Weiter wurden die Jugendlichen gebeten, eine Einschätzung zur Qualität der beruflichen Ausbildung in den Nachbarländern im Vergleich zum eigenen Land abzugeben. Für jedes der Bodenseeländer (D/Fürstentum Liechtenstein (FL)/A/CH) musste eine Beurteilung erfolgen. Es wird hier nicht davon ausgegangen, dass diese Beurteilung von den Jugendlichen anhand weitgehend objektiver Kriterien erfolgte. Die Einschätzungen geben aber einen Eindruck, welches Bild die Jugendlichen von der Qualität der beruflichen Ausbildung im Nachbarland haben und ob dadurch Anreize geschaffen werden bzw. Hemmnisse bestehen.

Zudem wurden verschiedene Fragen zur Person und Lebenssituation gestellt, um allfällige Zusammenhänge zwischen persönlichen Verhältnissen und dem Verhalten in der Berufsorientierung herauszuarbeiten.

Fragebögen Lehrpersonen

Den Lehrpersonen wurde im Fragebogen u.a. die folgende Frage gestellt: „Welche Hindernisse oder Hemmnisse sehen Sie für eine Lehre/schulische Ausbildung im benachbarten Ausland (D/FL/A/CH), auch wenn die Schüler/-innen täglich nach Hause fahren könnten?“. Im Hinblick auf die Faktoren der Personen mussten die folgende Items eingeschätzt werden:

  • Unkenntnisse Beratungsangebote: Unkenntnisse über Unterstützungs- und Beratungsangebote für Lehrstellen / weiterführende Schule im benachbarten Ausland (D/FL/A/CH) zu suchen.
  • Unbekannte Erwartungen Berufsschule: Unbekannte Erwartungen von Berufsschulen / weiterführenden Schule im benachbarten Ausland (D/FL/A/CH)
  • Unbekannte Erwartungen Ausbildungsbetrieb: Unbekannte Erwartungen von Lehrbetrieben im benachbarten Ausland (D/FL/A/CH).
  • Geogr. Distanz zu Familie & Freund/-innen: Geographische Distanz zu Familie und Freund/-innen
  • Weiter Weg: Geographische Distanz zur Grenze. Der Weg ist zu weit
  • Unwohl in unbekannter Umgebung: Unwohlsein in unbekannter Umgebung
  • Sprache/Dialekt: Verständnisprobleme wegen unterschiedlichen Dialekten

Als Antwortkategorien standen ebenfalls zur Verfügung: stimmt überhaupt nicht (1), stimmt eher nicht (2), stimmt (3), stimmt völlig (4), kann ich nicht beantworten.

Interviews Jugendliche

Die Interviews mit den Jugendlichen erfolgten halbstandardisiert. Dabei war primäres Kriterium, dass die Jugendlichen noch keinen oder noch nicht lange einen Ausbildungsplatz in einer beruflichen Ausbildung hatten. Dabei war der angestrebte Beruf bzw. die gewünschte Ausbildungsbranche kein Auswahlkriterium. Die meisten Fragen wurden „offen“ gestellt, so dass die Interviewten Antworten oder Erklärungen mit ihren eigenen Worten formulieren konnten (Trautmann, 2010). Mit Hilfe von vier fiktiven Situationen (Stellenangebote im In- und Ausland) wurden Kriterien für oder gegen einen Entscheid zur beruflichen Ausbildung im direkt benachbarten Ausland erfragt.

Interviews Lehrpersonen

Die Befragung der Lehrpersonen erfolgte als standardisiertes Interview (Bortz/Döring 2009) nach einem exakten und verbindlichen Ablauf bzw. „Drehbuch“. Unter anderem wurden den Lehrer/-innen die folgenden Fragen gestellt: „Wie stehen Sie zur Möglichkeit, dass Jugendliche als Grenzgänger eine Berufsausbildung im Ausland absolvieren? Und wo sehen Sie gegebenenfalls Probleme?“

Auswertung

Bei der quantitativen Befragung der Jugendlichen wurden die folgenden Kriterien detailliert ausgewertet: Land (D, A, CH), Geschlecht, Leistungsniveau der besuchten Klasse und Fremdsprachigkeit. Die Daten der Fragebogenerhebungen wurden auf ihre Normalverteilung hin überprüft und anschließend mit deskriptiven Analysen und Verfahren der schließenden Statistik (T-Test und Varianzanalyse) ausgewertet. Bei der Analyse im Ländervergleich wurde die Bonferronikorrektur angewandt, womit die Signifikanzniveaus der Situation mit drei Paarvergleichen (D-A, D-CH, A-CH) angepasst werden konnte.

Die Auswertung der Interviewdaten orientierte sich am Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010). Demnach wird aufgrund der Theorie deduktiv ein Kategoriensystem entwickelt. Dieses wird mit neuen Kategorien ergänzt, die bei der Analyse des konkreten Datenmaterials als sinnvoll erachtet wurden (induktiv). Beispiele deduktiver Kategorien sind personale Faktoren wie Geschlecht, Alter, intellektuelle Leistungsfähigkeit, Fremdsprachigkeit. Induktive Kategorien sind z.B. fremd fühlen im Ausland, Respekt vor zusätzlichem Aufwand für Bewerbungen im Ausland.

5 Ergebnisse

In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der Untersuchungen vorgestellt. Dabei werden zuerst die von den Jugendlichen und Lehrpersonen im Rahmen der Fragebogenerhebungen eingeschätzten Hemmnisse und Hindernisse für eine berufliche Ausbildung im benachbarten Ausland vergleichend dargestellt. Die quantitativen Ergebnisse werden mit Resultaten aus der mündlichen Befragung ergänzt. Dabei wird ein Schwerpunkt auf Aspekte der personalen Faktoren gelegt, die in der Folge vertieft behandelt werden.

Abbildung 1 stellt einen Vergleich der verschiedenen Items dar, die die Jugendlichen als Hemmnisse und Hindernisse zu beurteilen hatten (vgl. Kapitel 7.2). Werte in den Zeilen t1 und t2 sind Mittelwerte. „n“ steht für die Anzahl Antwortende (n=t1/t2; ntotal=622).

Abbildung 1:  Jugendliche: Vergleich Hemmnisse und HindernisseAbbildung 1: Jugendliche: Vergleich Hemmnisse und Hindernisse

Der direkte Vergleich der verschiedenen Items verdeutlicht, dass die Unkenntnisse über die Erwartungen von Berufsschule und Ausbildungsbetrieb sowie die geographische Distanz zu Familie und Freund/-innen die einzigen drei Bereiche darstellen, die von mehr als der Hälfte der befragten Jugendlichen als Hemmnis bzw. Hindernis erkannt werden. Das Dialektverständnis stellt die kleinste Hürde für eine Ausbildung im Ausland dar. Die Inhalte der anderen Items sind für die Mehrheit der Befragten keine relevanten Hemmnisse bzw. Hindernisse.

Die zweite Abbildung (Abbildung 2) stellt die Ergebnisse der Lehrpersonenbefragung vergleichend dar. Es wurden insgesamt 50 Lehrpersonen befragt.

Abbildung 2:  Lehrpersonen: Vergleich Hemmnisse und Hindernisse (nD=19, nA=7, nCH=24)Abbildung 2: Lehrpersonen: Vergleich Hemmnisse und Hindernisse (nD=19, nA=7, nCH=24)

Auch die Lehrpersonen schätzen mit hohen Werten die unbekannten Erwartungen von Berufsschule und Ausbildungsbetrieben als hemmend und hinderlich ein. Dazu kommt allerdings mit den höchsten Werten die Einschätzung zum Item Unkenntnisse Beratungsangebote (z.B. Berufsberatung). Weitere Items, die von der Mehrheit der Lehrpersonen als hemmend eingeschätzt wurden sind geographische Distanz zu Familie & Freund/-innen sowie weiter Weg.

Kenntnisse

Die Ergebnisse der beiden Fragebogenerhebungen bei den Jugendlichen zeigen, dass die unbekannten Erwartungen von Berufsschule und unbekannten Erwartungen von Lehrbetrieben als die beiden größten Hemmnisse im Hinblick auf eine transnationale berufliche bzw. schulische Ausbildung gesehen werden. Diese beiden Aspekte werden auch von den Lehrpersonen als wichtige Hemmnisse erkannt. So belegen die unbekannten Erwartungen der Berufsschule und der Ausbildungsbetriebe hinter den Unkenntnissen über Beratungs- und Unterstützungsangeboten die Plätze zwei und drei der abgefragten möglichen Hemmnissen und Hindernissen für eine berufliche bzw. schulische Ausbildung im Ausland.

Nicht nur über mögliche Erwartungen an die Jugendlichen seitens der Betriebe und Berufsschulen bestehen Unkenntnisse. Auch über den Ablauf von Ausbildungen im benachbarten Ausland wissen die meisten Jugendlichen und Lehrpersonen wenig. So geben in beiden Befragungen 10% (t1 und t2) der Jugendlichen und 11% der Lehrpersonen im positiven Bereich an, viel über die berufliche bzw. schulische Ausbildungen im benachbarten Ausland zu wissen.

In den Interviews präzisieren die Lehrpersonen, dass im Zeitmangel ein Grund darin liegt, sich vertieft mit dem Ausland und dessen (Berufs-)Bildungssystemen auseinanderzusetzen. Es wird als anspruchsvoll genug erachtet, im eigenen Land den Überblick über Entwicklungen im Angebot der beruflichen Ausbildung und weiterführenden Schulen zu behalten. Drei mündlich befragte Lehrpersonen stellen fest, dass Möglichkeiten von Ausbildungen im Ausland bei Jugendlichen und Erwachsenen zu wenig bzw. nicht bekannt seien. Wäre mehr Wissen zu diesem Thema vorhanden, könnte es den Schüler/-innen von Lehrpersonen, Eltern und Betrieben näher gebracht werden. Konkret nennen weitere Lehrpersonen Wissenslücken zu Berufsausbildungssystem, Ausbildungsstellensituation, weiterführenden Schulen und rechtlichen Gegebenheiten im Ausland.

In den Interviews mit den Jugendlichen zeigte sich, dass es fast allen Befragten an Kenntnissen bzw. genügend Informationen mangelt, um ihre persönlichen Entscheidungskriterien auf die Passung möglicher Angebote hin zu überprüfen. So erklären auch die meisten Interviewpartner/-innen, dass sie nichts über die berufliche Ausbildung im direkt benachbarten Land wüssten. Die Jugendlichen wussten aber um Differenzen zwischen den Schulsystemen und nennen folgende Unterschiede zwischen den Ländern: Schulnotensystem, unterschiedliche Entschädigung während und nach der Ausbildung, Dauer der Arbeitszeiten, Blockunterricht statt wöchentlicher Unterricht in der Berufsschule etc. Weiter nennen die Jugendlichen folgenden Bereiche, in denen ihnen Informationen und Kenntnisse fehlen: Erwartungen von Betrieben und Berufsschulen, Unkenntnisse über Berufsbilder, Bewerbungsverfahren, Örtlichkeiten sowie Dauer, Ablauf und Durchführung von beruflichen Ausbildungen. und keine eigenen Erfahrungen mit Praktika.

Alter, Reife, Kompetenz und Erfahrung

Die mündlich befragten Jugendlichen und Lehrpersonen bezeichnen das jugendliche Alter als Hinderungsgrund für eine Ausbildung im benachbarten Ausland. Damit verbunden wurden Aspekte wie mangelnde Reife, enge Bindungen an Familie und Freunde, eingeschränkte Mobilitätsmöglichkeiten (z.B. Autofahren) sowie intellektuelle Fähigkeiten. Diese Sichtweise wird durch das Ergebnis der schriftlichen Befragung der Jugendlichen gestützt. Die geographische Distanz zu Familie und Freund/-innen erweist sich in der Befragung als drittgrößtes Hemmnisse für eine Ausbildung im benachbarten Ausland.

Bei guten Schüler/-innen können sich die interviewten Lehrpersonen vorstellen, dass sie eine Ausbildung im benachbarten Ausland machen können, bei schwächeren weniger. Selbständigkeit und die Voraussetzung, sich von zu Hause „abnabeln“ zu können, werden dabei als wichtige Grundbedingungen gesehen.

Unbekannte Erwartungen und Wohlfühlen in unbekannter Umgebung

Bei der Auswertung des Items „Ich würde mich in der unbekannten Umgebung nicht wohl fühlen.“ zeigt sich, dass die unbekannte Umgebung für knapp mehr als die Hälfte der Jugendlichen kein bedeutendes Hindernis oder Hemmnis für eine Ausbildung im benachbarten Ausland darstellt;. Die fremdsprachigen Jugendlichen (MWt1=2.62; MWt2=2.64) gewichten die unbekannte Umgebung signifikant als größeres Hemmnis bzw. Hindernis als ihre deutschsprachigen Kolleg/-innen (MWt1=2.36, , MWt2=2.33; pt1=.014; pt2=.007).

In den Interviews sprechen die Jugendlichen von Heimatgefühlen und –verbundenheit, die sie daran hindern würden, im Ausland eine berufliche Ausbildung anzustreben. Das eigene Land gibt ihnen Sicherheit, denn sie sind sich an die bekannten Verhältnisse gewohnt. Zudem befürchten einzelne Befragte, sie würden im Nachbarland als Ausländer verstoßen werden. Hingegen zeigen sich auch mehrere Jugendliche gegenüber einer Ausbildung im Ausland aufgeschlossen.

Berufswahlkompetenz

Um einen Berufswahlentscheid im Zusammenhang mit transnationaler Mobilität fällen zu können, müssen die Jugendlichen die Qualität der beruflichen Ausbildung im benachbarten Ausland beurteilen können. Im Ländervergleich zeigt sich, dass die deutliche Mehrheit (ca. 85%) der Jugendlichen in allen Ländern der Überzeugung ist, ihr Land biete eine vergleichbar gute oder (eher) bessere berufliche Ausbildung als die Nachbarländer.

Ein ähnliches Bild zeigen die Befragungen der Lehrpersonen. Auch bei ihnen lässt sich zusammenfassend sagen, dass der größte Teil (ca. 90%) der Meinung ist, die berufliche Ausbildung im eigenen Land sei gleich gut oder (eher) besser als in den Nachbarländern.

Mehrere Jugendliche erklärten in den Interviews, dass sie im Ausland eine Alternative bzw. Lösung sehen, wenn sie im eigenen Land keinen Ausbildungsplatz erhalten oder diese vergleichsweise mehr Sinn macht als eine Ausbildung in der Heimat. Zudem nennen Jugendliche in den Interviews als hemmende Gründe: Faulheit, Unklarheit über die berufliche Zukunft bzw. geringe Attraktivität beruflicher Ausbildungen und der Eindruck im eigenen Land sei es einfach besser.

In den Interviews wird von Lehrpersonen im Hinblick auf Berufswahlkompetenz und transnationale Mobilität mehrfach die Metapher „Grenzen im Kopf“ bzw. „Grenze im eigenen Denken“ gebraucht. Obwohl die zwischenstaatlichen Grenzen im Bodenseeraum faktisch offen seien, bleibe der Fokus der Beteiligten auf Ausbildungsmöglichkeiten im eigenen Land. Diese Feststellung wird im Zusammenhang mit Grenzgebieten mit besonders offenen, grenzdurchlässigen bzw. besonderen geographischen Verhältnissen (z.B. Enklaven) anders gesehen. Vereinzelte Lehrpersonen erzählen von ihren Beobachtungen in solchen Gebieten, dass eine Entwicklung in Richtung Öffnung und Abbau von Vorbehalten geht.

Entscheidungsprozess und transnationale Mobilität

Insgesamt können sich rund zwei Fünftel („stimmt völlig / stimmt eher“; t1=41%, t2=39%) der befragten Jugendlichen vorstellen, im Ausland eine Ausbildung zu machen. Die weiblichen Jugendlichen (MWt1=2.45; MWt2=2.33) zeigen dabei eine signifikant höhere Bereitschaft (pt1=.000; pt2=.001) als ihre männlichen Kollegen (MWt1=2.16; MWt2=2.06). Ein signifikanter Unterschied besteht auch im Ländervergleich zwischen Jugendlichen aus Österreich (pA-CH-t1=.004, pA-CH-t2=.004) sowie Deutschland (pD-CH-t1=.001) im Vergleich zu ihren Kolleg/-innen aus der Schweiz zu. Die Schweizer/-innen können sich weniger häufig vorstellen, eine Ausbildung im benachbarten Ausland zu machen.

Etwa ein Fünftel der Jugendlichen gibt an, sich im benachbarten Ausland nach einer Ausbildungsstelle oder einer weiterführenden Schule umzusehen („stimmt völlig / stimmt eher“; t1=20%, t2=12%). Signifikant unterscheiden sich die deutschen und die schweizerischen Jugendlichen im Ländervergleich (pD-CH-t1=.001; pD-CH-t2=.008). Wiederum zeigen die Befragten aus Deutschland eine größere Bereitschaft, sich im Ausland nach einer beruflichen Ausbildungsstelle bzw. weiterführenden Schule umzusehen (MWD-t1= 1.98; MWD-t2= 1.65), als jene aus der Schweiz (MWCH-t1= 1.72; MWD-t2= 1.47).

Im Zusammenhang mit dem Berufsorientierungsprozess und transnationaler Mobilität interessiert, ob die Jugendlichen im Ausland eine „Schnupperlehre“, bzw. ein berufliches Praktikum absolviert haben. Vier deutsche Jugendliche stimmten dem zu. Zwei davon schnupperten in der Schweiz, je eine Person in Österreich und Frankreich. Von 29 Schweizer/-innen absolvierten zwei in Deutschland und 27 in Liechtenstein ein berufliches Praktikum. Eine Person aus Österreich hat in der Schweiz „geschnuppert“.

Nach der Vorstellung, eine Ausbildung im Ausland absolvieren zu können, der Absicht sich dort danach umzusehen und ein Praktikum zu absolvieren, ist es von Interesse, ob sich denn Jugendliche aus der Stichprobe im Ausland beworben haben. Von allen Befragten haben sich insgesamt 25 Jugendliche – alles Schweizer/-innen – auf eine berufliche Ausbildung im Ausland beworben. 24 davon wohnen grenznah zu Liechtenstein und haben sich dorthin um eine Ausbildung bemüht. Eine Jugendliche bewarb sich in Deutschland auf eine Ausbildungsstelle. Schließlich haben sieben männliche Jugendliche eine Ausbildungsstelle in Liechtenstein gefunden. Sechs Jugendliche absolvieren eine Ausbildung im technisch-mechanischen Bereich und einer in der Lebensmittelbranche.

Bei der Befragung der Lehrpersonen zeigen sich vergleichbare Ergebnisse wie bei den Jugendlichen. In Deutschland (MWD=3.72) und Österreich (MWA=3.83) können sich alle Lehrpersonen vorstellen, dass ihre Schüler/-innen im Ausland eine berufliche Ausbildung absolvieren. In der Schweiz liegt dieser Wert bei zwei Dritteln (MWCH=2.82). Bei der Frage, ob sich ihre Schüler/-innen nach einer Ausbildungsstelle oder einer weiterführenden Schule im Ausland umsehen, ist der Anteil in Deutschland (MWD=1.69) und der Schweiz (MWCH=1.71) deutlich kleiner. In Österreich – mit einer kleinen Stichprobe – liegt dieser Wert etwas höher (MWA=2.60). In den Interviews erkennt es eine deutsche Lehrperson als förderlich für berufliche Praktika, wenn bereits Verwandte im Nachbarland arbeiten.

6 Diskussion

In der abschließenden Diskussion wird betrachtet, welche Faktoren der Person in der Phase der Berufsorientierung Einfluss auf den Entscheid im Hinblick auf geographische Mobilität haben.

Kenntnisse

Die Untersuchungsergebnisse zeigen auf, dass eine berufliche Ausbildung im Ausland derzeit nur für eine kleine Minderheit von Jugendlichen im Grenzgebiet eine zu prüfende und zu verwirklichende Option darstellt. Somit bestätigt die vorliegende Untersuchung Ergebnisse von früheren Studien mit ähnlichen Themen. Zu stark beeinflussen von den Jugendlichen vermutete hemmende und hindernde Faktoren sowie auch Unkenntnisse über Möglichkeiten den Entscheidungsprozess. Zudem sind bei den Jugendlichen und Lehrpersonen zu wenig Kenntnisse zu Aspekten transnationaler Mobilität festzustellen. Woher das fehlende Wissen kommt bzw. das nötige Wissen eben nicht kommt, lässt sich nicht einfach lokalisieren. Es ist aber erkennbar, dass der Weg zu einer beruflichen Ausbildung im Ausland zu wenig häufig gewählt wird, um eine größere Menge von Beteiligten mit der Thematik zu konfrontieren und dadurch auf einen bedarfsgerechten Informationsstand zu bringen. Soll der Kenntnisstand erhöht werden, so sind Anstrengungen nötig. Einerseits müssen Informationen von Fakten gut zugänglich sein und allenfalls gezielt bei möglichen Akteuren verbreitet werden. Andererseits sollen auch im Bereich persönlicher und praktischer Erfahrungen Möglichkeiten und Angebote geschaffen werden. Doch wird hier die Meinung vertreten, dass reines Faktenwissen ergänzt mit Erfahrungen vermutlich nicht reichen, um deutlich mehr Jugendliche im Ausland eine berufliche Ausbildung zu bringen. Vielmehr nehmen auch schwer definierbare bzw. erkennbare Emotionen und Werthaltungen sowie das soziale Umfeld einen wichtigen und hemmenden Einfluss.

Alter und damit verbundene Einschränkungen der Mobilität

Als wichtiger personaler Einflussfaktor hat sich in der Untersuchung das jugendliche Alter (ca. 15 – 16 Jahre) der Befragten herausgestellt. Damit verbunden ist in der Regel eine enge Bindung an familiäre Bezugspersonen, was sich alleine schon durch die vorherrschende Wohnsituation bei den Eltern ausdrückt. Bis auf wenige Ausnahmen wohnen alle befragten Jugendlichen zu Hause. Somit steht die Ablösung bzw. der Schritt in die vollständige Selbständigkeit erst noch an. Mit dem Alter verbunden ist zudem das Fehlen von vertieften und selbständig erlangten Alltagserfahrungen im Ausland. Das Nachbarland wird auch in Grenznähe vorzugsweise im Familienkontext oder in der Freizeit und damit in ganz anderen Tätigkeiten als im Zusammenhang mit beruflicher Arbeit und Ausbildung besucht. Zudem sind die Jugendlichen in der Regel noch nicht volljährig und können über ihren beruflichen Weg rechtlich nicht selbständig entscheiden. Sie sind somit auch auf dieser Ebene an das Elternhaus gebunden. Auch in ihrer individuellen Mobilität (z.B. Autofahren) sind die Jugendlichen eingeschränkt. Dieser Nachteil ließe sich aber durch günstige Bedingungen bzw. einen ideal gelegenen Standort des Betriebs kompensieren. An dieser Stelle wird aber angezweifelt, ob Jugendliche der Sekundarstufe I auch unter angepassten und optimierten Rahmenbedingungen für eine berufliche Erstausbildung ins Ausland gehen würden. Eine Ausnahme bildet dabei vermutlich die Grenze zwischen der Schweiz und Liechtenstein, die für Jugendliche auf beiden Seiten des trennenden Rheins sehr durchlässig und eine Ausbildungsstelle im Nachbarland unkompliziert zu erhalten ist.

Berufswahlkompetenz und Umsetzung transnationaler Mobilität

Wie bereits beschrieben, brauchen Jugendliche entsprechende Berufswahlkompetenzen, um sich für eine berufliche Ausbildung im Ausland entscheiden zu können. Die Anforderungen an diese Kompetenz sind im Zusammenhang mit transnationaler Mobilität wesentlich höher als im eigenen Land. Es gilt zusätzliche Entscheidungskriterien (z.B. Arbeitsweg über die Grenze, unbekannte Bildungssysteme und soziales Umfeld) einzubeziehen. Um solche Kompetenzen aufbauen zu können, brauchen die Berufswählenden neben reinem Faktenwissen Erfahrungen und entsprechende persönliche Reife (Busshoff, 1989). Mit diesen Komponenten wird das Selbstbild geprägt, das einen entscheidenden Faktor im Zusammenhang mit der Berufswahlkompetenz darstellt. Zudem sollte den Jugendlichen für den Berufswahlkompetenzaufbau ein Feld eröffnet werden, in dem sie persönlich abwägen können, ob sie sich für oder gegen eine Ausbildung im Ausland entscheiden wollen. Es sollen ihnen verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt bzw. von ihnen ergründet werden können. Dies braucht Hinweise und Unterstützung aus der Erwachsenenwelt (Eltern, Lehrpersonen, Betriebsakteure, professionelle Beratungsangebote), denn ohne Hilfe können Jugendliche den Aufbau einer ausgeprägten Berufswahlkompetenz kaum leisten. Ist es seitens der Politik ein ernsthaftes Anliegen, die bestehenden strategischen Mobilitätsziele auch im Bereich der transnationalen beruflichen Erstausbildung zu erreichen, so steht auch sie in der Pflicht.

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„Ich muss mich noch informieren (lassen).“ Berufsorientierungsprozesse im Zusammenspiel von individuellem Handeln und institutioneller Unterstützung

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1 Einleitung

Nach wie vor spielt die Entscheidung für einen Beruf oder einen Tätigkeitsbereich eine wichtige Rolle in der Biographie junger Menschen. Über das Erwerbsleben werden für die Mehrheit der Bevölkerung Status sowie gesellschaftliche Teilhabe gesichert. Insofern hat eine getroffene Berufswahl oftmals langfristige und nicht selten lebenslange Konsequenzen. Sie hat eine identitätsstiftende Funktion und bestimmt mit über materielle Sicherheit und soziales Prestige. Damit erweist sich die Entscheidung darüber, welchen weiteren Bildungs- und Berufsweg Jugendliche einschlagen wollen, als eine zentrale Anforderung des Jugendalters. Dabei treffen junge Menschen auf eine komplexer gewordene Ausbildungs- und Arbeitswelt. Sie stehen einer schier unübersichtlichen Anzahl beruflicher Optionen und möglicher Zugangswege gegenüber. Zugleich unterliegen die Bildungswege einer gewachsenen Ausdifferenzierung. Auszeiten, Zwischenschritte und Umorientierungen werden zunehmend zur Normalität (Lex/Zimmermann 2011; Walther 2013; Stauber/Walther 2002).

Aus der Sicht der Jugendlichen lassen sich die Konsequenzen einer getroffenen Berufswahlentscheidung immer weniger absehen. Trotz der sich ändernden Rahmenbedingungen wird ihnen jedoch ein größeres Maß an Eigenverantwortlichkeit im Prozess der beruflichen Zukunftsplanung abverlangt. „Verschiedene Berufswahltheorien betonen, dass die Informationsgewinnung in einer sich vielfältig und rasch verändernden Arbeitswelt eine große Herausforderung für die Jugendlichen darstellt. Um zwischen ihren individuellen Voraussetzungen und der Vielfalt von Berufen und postobligatorischen Ausbildungsmöglichkeiten Entsprechungen erkennen zu können, sind die Jugendlichen sowohl auf personale wie auf soziale Ressourcen angewiesen“ (Wannack/Herzog/Neuenschwander 2005, 1).

Ob der gestiegenen Anforderungen bei der Planung des Ausbildungs- und Erwerbsweges ist das Thema der Berufsorientierung in den letzten Jahren ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt (Brüggemann/Rahn 2013; Mahl/Lippegaus-Grünau/Stolz 2010). Zum einen hat es in der praktischen Umsetzung von Prozessen der Berufsorientierung eine Reihe vielfältiger Entwicklungen gegeben. Es wurden beispielsweise Programme ins Leben gerufen, die insbesondere Schülerinnen und Schüler mit schlechteren Startchancen in diesem Prozess unterstützen sollen. Somit wird Berufsorientierung auch zu einer zentralen Aufgabe von Schulen und professionellen Akteuren[1]. Zum anderen hat auch die theoretische Auseinandersetzung mit Berufsorientierungsprozessen einen Aufschwung genommen (Hirschi 2013; Beinke 2012; Beinke 2013).

Analog zu jüngeren, am Agency-Konzept orientierten, Übergangstheorien (Schröer et al. 2013; Pohl/Stauber/Walther 2011; Furlong 2013) kann auch für die Prozesse der beruflichen Zukunftsgestaltung ein Verständnis von Jugendlichen als Akteure ihrer eigenen Berufsbiografie beobachtet werden, die im Rahmen struktureller Gegebenheiten und unter Einbindung externer Akteure unterschiedliche Entscheidungen treffen. Der vorliegende Beitrag möchte die Forschungslücke schließen helfen, die sich in der Verschränkung von selbstinitiierten und selbstbestimmten mit durch institutionelle, professionelle Akteure unterstützten Berufsorientierungsprozessen beobachten lässt. Auf der Basis einer qualitativen Längsschnittstudie sollen Berufsorientierungsprozesse sowie die tatsächlichen beruflichen Bildungs- und Ausbildungswege betrachtet werden, wobei die Wechselwirkungen von individuellem Handeln und institutionellen Einflüssen aus Sicht der Jugendlichen in den Blick genommen werden.

2 Hintergrund

Empirische Befunde haben gezeigt, dass das Vorhandensein beruflicher Zukunftsperspektiven sowie konkreter Berufswünsche am Ende der Schulzeit einen längerfristig wirkenden Einfluss auf den weiteren Bildungs- und Ausbildungsverlauf von Jugendlichen hat. So haben Schulabsolventinnen und -absolventen mit Hauptschulbildung ohne konkrete Berufswünsche oder berufliche Zukunftspläne ein deutlich größeres Risiko in prekäre Übergangsverläufe zu geraten (Gaupp et al. 2011). Dies unterstreicht noch einmal die wichtige Rolle beruflicher Orientierung. Allerdings ist festzustellen, dass trotz der gestiegenen Aufmerksamkeit, die Berufsorientierungsprozesse auch in theoretischen Auseinandersetzungen erfahren haben, sich kaum ein einheitliches Verständnis von beruflicher Orientierung ausmachen lässt. Zumeist werden jedoch beide Seiten, die der Jugendlichen und die der Arbeitswelt, in den Blick genommen, so auch in folgender Bestimmung: „Berufsorientierung lässt sich definieren als ein lebenslanger Prozess der Annäherung und Abstimmung zwischen Interessen, Wünschen, Wissen und Können des Individuums auf der einen und den Möglichkeiten, Bedarfen und Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt auf der anderen Seite“ (Butz/Deeken 2014, 101).

In der theoretischen Debatte um Berufsorientierungsprozesse wird das Verhältnis zwischen individuell bestimmten Entscheidungen und gesellschaftlich-strukturell bestimmten Einflussfaktoren (u. a. Ressourcenausstattung oder arbeitsmarktliche Rahmenbedingungen) immer wieder ausgelotet (Oechsle et al. 2009; Schober 1997). Dabei finden sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen (Müller 2009). So konzentrieren sich entwicklungspsychologisch ausgerichtete Ansätze auf die individuellen Interessen sowie die Ausprägung bzw. Entwicklung von Fähigkeiten, Bedürfnissen oder das Selbstkonzept. Soziologische Ansätze betonen die soziostrukturellen Faktoren (z. B. Geschlecht, soziale und ethnische Herkunft), die Berufsorientierungs- und Bildungsprozesse beeinflussen. Eine dritte – makrosoziologische – Ausrichtung sieht berufliche Orientierungsprozesse insbesondere durch die äußeren Rahmenbedingungen – v. a. des Arbeitsmarktes – geprägt. Ebenfalls finden sich Richtungen, die diese Ansätze miteinander zu kombinieren versuchen. Die Berufswahl wird sowohl von persönlichen als auch von ökonomischen und sozialen Determinanten beeinflusst. „Grundsätzlich betrachten wir die berufliche Orientierung somit als aktiven und konstruktiven Prozess, der aus den Lernerfahrungen und Wahrnehmungen Jugendlicher hervorgeht und sich in einem unterschiedlich offenen Raum von Möglichkeiten abspielt“ (Müller 2009, 37f.). Diesem „soziokognitiven Modell der beruflichen Orientierung“ (Müller 2009, 38) ist auch empirisch ein hohes Maß an Gültigkeit nachgewiesen worden.

Weitere Zugänge zum Thema der Berufsorientierung behandeln vor allem deren Prozesscharakter. Übereinstimmend wird dabei der Berufswahlprozess bei Jugendlichen als in verschiedenen Phasen und in zunehmender Fokussierung ablaufend bestimmt. Unterschieden werden etwa in den entwicklungstheoretischen Ansätzen aufeinander aufbauende Phasen der Exploration, der Kristallisation und der Spezifikation (Bulmahn 2007, 21). Andere Modelle unterscheiden die Phasen diffuse Berufsorientierung, Konkretisierung des Berufswunsches, Suche nach einem Ausbildungsplatz, Konsolidierung der Berufswahl, Berufsausbildung und Eintritt ins Berufsleben (Wannack/Herzog/Neuenschwander 2005, 2ff.).

Andere Untersuchungen zeigen, dass in verschiedenen Phasen der beruflichen Orientierung auch unterschiedliche Personen und Institutionen einen wichtigen Bezugspunkt und Einfluss darstellen. Aus Sicht der Jugendlichen werden innerhalb der Schulzeit vor allem die Eltern sowie weitere Familienmitglieder des Nahraums als wichtigste Personen benannt. Im weiteren Verlauf von Orientierungsprozessen übernehmen Peers, Lehrkräfte oder professionelle Akteure (z. B. Berufsberater der Bundesagentur für Arbeit oder Berufsbegleiter) Beratungsfunktionen. So werden Akteure unterschiedlichen Räumen zugeordnet: dem privaten Bereich, dem Nahbereich und dem öffentlichen Raum (Pelka 2010a und 2010b; Genrich/Pelka 2012). Aktives Suchen (beispielsweise über die Angebote der Bundesagentur für Arbeit oder direkt im Internet) wird oftmals erst in einer späteren Phase sowie stärker durch Jugendliche höherer schulischer Bildungsgänge praktiziert (Beierle 2013; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2011).

„Die soziologische Lebenslaufforschung bezeichnet Akteurlnnen, v. a. Institutionen und Fachkräfte sozialer und erzieherischer Berufe, die quasi als Pförtnerinnen an den zentralen Übergängen postiert sind, als ‚Gate-Keeper‘ (Heinz 1992; Behrens/Rabe-Kleberg 2000). Sie haben die Aufgabe, die Individuen durch diesen Übergang zu geleiten und gleichzeitig sicher zu stellen, dass sie dort landen, wo sie entsprechend der gesellschaftlichen Arbeitsteilung nach Alter, Geschlecht, Zugehörigkeit oder Bildung auch landen sollen“ (Walther 2013, 20). Gatekeeper können für junge Menschen im Prozess der beruflichen Orientierung sowie der Realisierung von Bildungs- und Ausbildungswegen Türen öffnen, aber auch verschließen. Die Rolle von Gatekeepern wird vorrangig in Bezug auf institutionelle Akteure diskutiert (vgl. v.a. Struck 2001). Zunehmend gerät aber auch die Gatekeeperrolle von Personen des sozialen Nahbereichs, vor allem von Familienmitgliedern, in den Fokus (Behrens/Rabe-Kleberg 2000; Gaupp 2013).

Im Prozess der Berufsorientierung sind Gatekeeper darauf angewiesen, „dass Individuen sie als Ko-Produzentlnnen für ihre subjektive Lebensbewältigung und Identitätsarbeit nutzen, die sie damit gleichzeitig beeinflusst und prägt“ (Walther 2013, 21). Bezüglich der Wahrnehmung und Beurteilung institutioneller Angebote durch Jugendliche wird allerdings eine Forschungslücke konstatiert (vgl. u. a. Oechsle 2009, 25f.).

Diesen Überlegungen folgend, steht die Rezeption und Verarbeitung institutioneller Einflussnahme im Mittelpunkt der folgenden Analysen. Es wird analysiert, wie Jugendliche selbst die Rolle von Institutionen vor dem Hintergrund der eigenen Funktionszuschreibung definieren und welchen Raum sie ihnen im eigenen Übergangsgeschehen geben. Folgende Fragestellungen sollen dabei betrachtet werden:

  • Welche Aufgabe weisen Jugendliche im Berufsorientierungsprozess Institutionen vor dem Hintergrund der wahrgenommenen Eigenrolle zu?
  • Wie wird die institutionelle Einflussnahme reflektiert?
  • In welcher Weise greifen Jugendliche auf institutionelle Unterstützung zurück und wie binden sie diese in ihren Orientierungsprozess ein?

3 Daten und Methode

Bei der vorliegenden Analyse wurde auf Daten einer laufenden qualitativen Längsschnittuntersuchung[2] zurückgegriffen, in der Haupt- und Realschulabsolventen einer westdeutschen Großstadt zu ihren Handlungsstrategien beim Übergang von der Schule in die Berufsausbildung befragt wurden.

In drei jährlichen Befragungswellen (2012: n=92; 2013: n=55 und 2014: n=33) wurden mit Jugendlichen problemzentrierte Interviews durchgeführt (Witzel/Reiter 2012; Witzel 2000). Die Befragungsteilnehmer mit und ohne Migrationshintergrund waren bei der ersten Befragung zwischen 16 und 20 Jahre alt. Die Wahl prozessbegleitender Interviews (vgl. Dimbath 2012) ermöglicht es, „einen mutmaßlichen Prozess aufeinander bezogener und ineinander verketteter Handlungen zu begleiten“ und Entwicklungsverläufe von Berufsorientierungsprozessen über den allgemeinbildenden Schulabschluss nachzuvollziehen.

In die vorliegende Analyse wurden 33 Jugendliche (14 weibliche und 19 männliche, 10 Haupt- und 23 Realschulabsolventen) einbezogen, die an allen Interviewwellen teilgenommen hatten. Die Auswertung der qualitativen Interviews erfolgte in Anlehnung an Hopf et al. (1995). Zunächst wurden deduktive und induktive Kodierkategorien entwickelt und das Datenmaterial computergestützt kodiert. Die Kodierkategorien orientierten sich am Kapitalienansatz von Bourdieu (1983) mit der Unterscheidung von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital sowie an einem in der Längsschnittforschung entwickelten heuristischen Handlungsmodell bestehend aus den Elementen Aspirationen, Realisierungen und Bilanzierungen (ARB-Modell, vgl. Witzel/Kühn 2000). Ergänzend wurden induktive Kategorien aus dem Material selbst entwickelt, die im Zusammenhang mit der Fragestellung standen (z.B. wahrgenommene eigene Handlungsmacht).In einem nächsten Schritt wurden in einer vergleichenden fallübergreifenden Analyse Muster in den Wahrnehmungen und Handlungsstrategien im Kontext von Berufsorientierungsprozessen herausgearbeitet, erneut am empirischen Material geprüft und schließlich anhand von vertiefenden Fallanalysen in ihrer biografischen Einbettung und längsschnittlichen Dynamik dargestellt.

4 Ergebnisse

In der Übergangsberatung „stehen die zum Teil noch unbestimmten individuellen Such- und Orientierungsprozesse Jugendlicher, die für den Übergang von der Schule ins (Berufs-)Bildungssystem charakteristisch sind, im Vordergrund und verlangen ein unterschiedlich hohes Maß an Begleitung, Unterstützung und Orientierungshilfe“ (Walter/Hirschfeld 2013, 115). Institutionelle Akteure übernehmen neben weiteren begleitenden Akteuren verschiedene Funktionen in diesen Prozessen. Gaupp hat sieben Funktionen von privaten und institutionellen Interaktionspartnern identifiziert: Türöffner und Türschließer, Motivierung und Demotivierung, sicherer Hafen, Ratgeber und Tandempartner (2013).

Im vorliegenden Kontext interessieren uns Institutionen, also im Sinne der von Behrens/Rabe-Kleberg vorgenommenen Typisierung Organisationsangehörige und -repräsentanten (Behrens/Rabe-Kleberg 2000, 110), die von den Jugendlichen als bedeutungsvoll für den eigenen Berufsorientierungsprozess reflektiert werden. Wie Institutionen diese Prozesse beeinflussen, hängt auch von der Art und Weise ab, wie Jugendliche Beratungsangebote und Entscheidungen institutioneller Akteure bewerten und damit umgehen. Bei der Analyse der diesbezüglichen Begründungszusammenhänge in den Interviewaussagen wird deutlich, dass Jugendliche korrespondierend mit der eigenen Rollenwahrnehmung bestimmte Funktionszuschreibungen an Institutionen und daraus resultierende Bewertungen institutioneller Aktivitäten zeigen, die sich in ihren Berufswahlstrategien in unterschiedlicher Weise niederschlagen.

Zunächst werden die für die Funktionszuschreibungen zentral verantwortlichen Dimensionen der Berufsorientierung auf Einstellungs- und Handlungsebene vorgestellt. In einem nächsten Schritt werden die Rollenerwartungen an Institutionen und die wahrgenommene Eigenrolle zu drei Formen korrespondierender Funktionszuschreibungen zusammengeführt und anschließend anhand zweier Fallanalysen illustriert.

4.1 Relevante Dimensionen der Berufsorientierung für die Entwicklung korrespondierender Funktionszuschreibungen

Die Jugendlichen unseres Samples haben im Zuge ihrer beruflichen Orientierung sehr divergierende Erwartungen an begleitende Institutionen. Diese Unterschiede lassen sich auf eine Reihe von Dimensionen auf Einstellungs- und Handlungsebene zurückführen (vgl. hierzu auch die von Bußhoff genannten persönlichen und Umweltfaktoren, ders. 1998), die die Grundlage für die Entwicklung von korrespondierenden Funktionszuschreibungen gebildet haben und hier zunächst vorgestellt werden sollen.

Auf der Einstellungsebene (Haltungen, Bewertungen, Motivationen) ist es zunächst die wahrgenommene eigene Handlungsmacht, vor deren Hintergrund Jugendliche Institutionen ihren Platz im eigenen Berufswahlprozess zuweisen. Die Bewertung der eigenen Spielräume offenbart sich unter anderem in der Einschätzung der Ausbildungsplatzlage, in der Bewertung der rahmenden Strukturen und der empfundenen Einflussmacht weiterer Akteure.

Eng verknüpft mit dieser Einschätzung des eigenen Aktionsraumes ist die Verantwortungszuschreibung für Übergangsereignisse. So führen manche Jugendliche beispielsweise das Scheitern eines Berufswunsches auf strukturelle Barrieren, Ausbildungsmarktbedingungen oder mangelnde Unterstützung zurück, während andere ihre Bildungsressourcen verantwortlich machen oder Handlungsbedarf beim Abgleich der eigenen Fähigkeiten und Wünsche mit den verfügbaren Optionen sehen. Ausgehend von diesen Zuschreibungen sehen die Jugendlichen für bestimmte Aufgaben vor allem sich selbst und für andere Aufgaben eher die Institutionen oder sonstige Akteure in der Pflicht.

Auf der Handlungsebene sind die Be- und Verwertungsmodi institutioneller Unterstützung zunächst eingebettet in Berufsorientierungsstrategien wie den Zeitpunkt der Berufswahl und die Reflektiertheit von Berufswünschen, die Einbindung von Praxiserfahrungen und Auswahlstrategien. Je nachdem, inwiefern beispielsweise Jugendliche selbst bereits klare Vorstellungen haben oder ob sie eher sich bietende Gelegenheiten wahrnehmen, sind sie für institutionelle Vorschläge verschieden empfänglich, nehmen sie an oder wenden sich von ihnen ab. Eine für die Frage nach der institutionellen Rolle zentrale Berufsorientierungsstrategie bezieht sich auf die Suche nach und den Umgang mit Informationen. Dazu gehört der Informationsstand zu beruflichen Möglichkeiten und deren Zugangsvoraussetzungen, aber auch das Wissen um die Verfügbarkeit und Einbindung verschiedener Informationsquellen und die Überprüfung von Informationen. Entsprechend werden Institutionen als Informationsinstanzen unterschiedlich wahrgenommen und genutzt.

Wie bedeutend Institutionen für individuelle Berufsorientierungsprozesse werden, hängt nicht zuletzt von den weiteren begleitenden Akteuren der Jugendlichen in dieser Phase ab. So sind Familienmitglieder und Peers zentrale Ansprechpartner und Referenzfiguren für die berufliche Verortung Jugendlicher. Inwiefern sie verfügbar sind und welchen Raum Jugendliche diesen Akteuren im eigenen beruflichen Orientierungsprozess geben, bestimmt institutionelle Spielräume entscheidend mit. „Je nachdem welche anderen Unterstützungsleistungen und Beratungen verfügbar sind, reiht sich die Übergangsberatung in dieses Netzwerk ein“ (Walter/Hirschfeld 2013, 127).

4.2 Eigene Rollenwahrnehmung und institutionelle Rollenerwartung:
Korrespondierende Funktionszuschreibungen

Mourad, ein Jugendlicher unseres Samples (siehe erstes Fallbeispiel unten) hat metaphorisch den Begriff des Puzzles verwendet, um das Zusammenspiel von eigenem Handeln und dem Handeln institutioneller Akteure zu illustrieren. Die Puzzlemetapher ist gut geeignet, um die Dualität der Funktionszuschreibungen zu verdeutlichen. In den Interviews kommt zum Ausdruck, dass die Jugendlichen unterschiedliche Vorstellungen davon haben, welche Puzzlestücke Institutionen zu liefern haben und für welche sie selbst zuständig sind. Entsprechend werden institutionelle Hilfepotenziale bewertet und verwertet. Im Folgenden werden die Funktionszuweisungen der Jugendlichen unseres Samples an die Institutionen entlang der zuvor beschriebenen Dimensionen charakterisiert und im Sinne von drei korrespondierenden Funktionszuschreibungen an der sich selbst zugewiesenen Rolle gespiegelt.

4.2.1 Institutionen als Informanten und anlassbezogene Unterstützer

Jugendliche, die sich hier verorten lassen, sehen sich selbst als handlungsmächtige Designer ihrer Wege. Sie haben (oft auf der Basis einer frühzeitigen Berufsorientierung) klare Vorstellungen von ihren beruflichen Zielen. Dabei greifen sie unter Nutzung eines breiten Informationspools gezielt auf das Wissen institutioneller und privater Akteure sowie das Internet zurück. Sie sehen sich primär in der Verantwortung, sich aktiv zu beruflichen Möglichkeiten zu informieren und ihre Wünsche mit ihren persönlichen Voraussetzungen und den sich bietenden Ausbildungsmarktchancen zu reflektieren. Wie der überwiegende Teil der Interviewpartner bewerten auch diese Jugendlichen die Ausbildungsplatzlage eher kritisch, aber nehmen die Vielfalt der heutigen Arbeitswelt auch als Chance wahr und sehen einen möglichen Platz darin für sich. Wenn die gewünschten Wege verschlossen sind, orientieren sie sich um und verfolgen einen häufig parallel existierenden Plan B.

Institutionelle Akteure werden als kompetente Informanten verstanden und frühzeitig und anlassbezogen (z. B. zu Beginn der Berufsorientierung, bei anstehenden Wechseln, Umorientierungen und drohenden Brüchen) eingebunden. Dabei verlassen sich diese Jugendlichen nicht auf institutionelle Ratschläge, sondern reflektieren sie mit eigenen Überlegungen, binden beruflich als kompetent bewertete Personen des privaten Netzwerks ein und nutzen die Wege anderer Jugendlicher als Referenzrahmen. Zu diesem Funktionspaar lassen sich auch einige Jugendliche zuordnen, die über begrenzte familiale Ressourcen verfügen, beispielsweise weil ihre Eltern eine Zuwanderungsgeschichte haben und dadurch nicht über eigene Erfahrungen mit dem deutschen Berufssystem verfügen. Hier nutzen die Jugendlichen Institutionen gezielt zur Kompensation dieser Ressourcenlücken. Darüber hinaus belegen Jugendliche dieses Funktionspaars oft zusätzlich zu den schulischen Pflichtpraktika freiwillige Praktika oder Probetage, um ihre Berufswünsche an der Arbeitsrealität zu überprüfen.

Großteils zeigen diese Jugendlichen stabile Verläufe und bleiben im gewählten Berufsfeld oder entwickeln sich dort beruflich weiter (beispielsweise durch ein einschlägiges Fachstudium). Teilweise werden aber auch nach erfolgtem Berufsabschluss noch einmal berufliche Veränderungen angestrebt, oder nach Abbrüchen (die oft in der mangelnden Passfähigkeit mit eigenen Vorstellungen begründet liegen) werden Umorientierungen nötig, bei denen Institutionen wieder verstärkt eingebunden werden.

4.2.2 Institutionen als Wegweiser und Begleiter

Jugendliche, die zu dieser Funktionszuschreibung an Institutionen tendieren, haben anfangs oft keine oder nur unspezifische, unausgereifte berufliche Vorstellungen. Entweder sind für sie zum üblichen Zeitpunkt schulischer Berufsorientierung entsprechende Fragen noch nicht relevant, oder sie sind überfordert mit den an sie gestellten Orientierungsanforderungen, wobei ihre Kenntnisse zu möglichen Wegen beschränkt sind und auf Peerbeobachtungen sowie auf den Aussagen privater und institutioneller Akteure basieren. Informationsdefizite werden eher im persönlichen Austausch und weniger durch eigene Recherchen zu schließen versucht. Teilweise kommt es auch vor, dass begleitende Problemlagen (Krankheit, Konflikte in der Familie) berufliche Fragen stören oder in den Hintergrund drängen.

Eigene Handlungsspielräume beurteilen diese Jugendlichen als eher eingeschränkt. Dazu trägt eine pessimistische Einschätzung der Ausbildungsmarktlage und der teilweise als unfair empfundenen (institutionellen) Verteilungsmechanismen sowie eine ungünstige Prognose der eigenen Platzierungschancen, vor allem angesichts von als unzureichend eingeschätzten eigenen schulischen Leistungen, bei.

Bei vielen dieser Jugendlichen zählt „Hauptsache Ausbildung“. Sie verlassen sich auf Gelegenheitsstrukturen im sozialen Nahraum oder treffen Ausschlussentscheidungen. Sie entwerfen und verwerfen verschiedene, teilweise inkonsistente Ideen und treffen oft erst unter dem Druck drohender Anschlusslosigkeit späte Entscheidungen. Der erstrebte Ausbildungsstatus stellt Fragen der Passfähigkeit beruflicher Wege mit eigenen Interessen in den Hintergrund. Andere Jugendliche entscheiden sich für den weiteren Schulbesuch, um Chancen zu verbessern, um den Bewerbungsbarrieren des Ausbildungsmarktes auszuweichen oder um sich im Sinne einer Verzögerungstaktik von Entscheidungsdruck zu entlasten.

Jugendliche, die sich hier verorten lassen, greifen Impulse von außen bereitwillig auf, wobei Hilfe oft erst spät und bei akutem Handlungsdruck angefragt wird. Sie sehen Institutionen als wissensmächtige Wegweiser, von denen sie sich konkrete berufliche Vorschläge erhoffen. Darüber hinaus erwarten sie Einmündungshilfen, wenn Eigenbemühungen keine berufliche Anschlussposition gebracht haben, sowie intensive Begleitung bei Problemen im Übergang. An Arbeitgeber richten sie den Appell, auch Jugendlichen mit schlechteren schulischen Startbedingungen einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen. Institutionen wirken teilweise als Korrektive unrealistischer Berufsvorstellungen und Berufsvorbereitungsmaßnahmen fungieren als Auffangmaßnahmen. Sich selbst sehen die Jugendlichen eher in der Rolle des Empfängers und darin, Vorschläge umzusetzen und sich dabei leistungsbereit zu zeigen.

Familienmitglieder sind auch für diese Gruppe sehr wichtig und übernehmen bei manchen Jugendlichen die dominierende Wegweiserrolle. Gleichzeitig kommt die bereits im vorigen Funktionspaar angesprochene kompensatorische Rolle von Institutionen für mangelnde familiale Unterstützungspotenziale auch hier wieder zum Tragen. Jugendliche, die zu diesen Zuschreibungsmodi tendieren, weisen Familienmitgliedern und Institutionen eine hohe Informationsmacht zu und tendieren zu stark unhinterfragter Übernahme von Vorschlägen im Vertrauen darauf, dass die Akteure für sie die passfähigen Optionen auswählen.

Die anschließenden, oft stark institutionengesteuerten Verläufe zeigen, dass diese Strategien teilweise zu prekären Situationen führen (z. B. Nichteinmündung, Abbrüche), weil spätestens anhand der Praxiserfahrungen in der Ausbildung unreflektiert beschrittene Wege korrigiert werden. Auch gefährdete Schulabschlüsse lassen bisherige berufliche Pläne scheitern. So kommt es häufig zu einer der Schulzeit nachgelagerten und erneuten Berufsorientierungsphase. Es zeigt sich, dass viele Jugendliche bei diesem zweiten Anlauf reflektierter entscheiden, vergleichbar mit dem ersten Funktionspaar ihr bereits erworbenes Wissen zu Ausbildungssystemen gezielt erweitern und externe Vorschläge kritischer spiegeln, wobei nun auch verstärkt das Internet als Quelle genutzt wird. Die Jugendlichen bleiben weiter in hohem Maße kompromissbereit und münden häufig in mit Arbeitsmarktvoraussetzungen kompatiblere Alternativwege ein. Von diesen „Spätstartern“ sind diejenigen Jugendlichen zu unterscheiden, die auch im zweiten Anlauf in einer passiven Rolle verbleiben. Dort verläuft die Neuorientierung unspezifisch, eine Einmündung in den Ausbildungsmarkt ist zum letzten Befragungszeitpunkt größtenteils nicht erfolgt.

4.2.3 Institutionen als marginale Akteure

In den bisherigen Funktionszuschreibungen werden Institutionen umfassende Aufgaben und Verantwortlichkeiten zugeschrieben. Das ist beim hier darzustellenden Funktionspaar anders. Hier liegt die Verantwortungswahrnehmung auf eigenen Bemühungen und privaten Akteuren, während an Institutionen keine oder nur sehr punktuell Unterstützungserwartungen formuliert werden, was sich aber nicht zwangsläufig auf alle Institutionen, sondern teilweise nur auf einzelne Akteure bezieht.

Die Gruppe dieser Jugendlichen ist sehr heterogen bezüglich der dargestellten Aspekte der Berufsorientierung. So gibt es Jugendliche, die angesichts einer sehr klaren Berufsorientierung und eines problemlosen Übergangs (beispielsweise Einstieg in den Familienbetrieb), oft gekoppelt mit kompetenten Unterstützern des privaten Umfelds, nicht auf Institutionen angewiesen sind. Gründe für eine Abwendung von Akteuren können aber auch enttäuschte Rollenerwartungen oder Negativerfahrungen mit Institutionen sein. Ein Beispiel sind Jugendliche, die zu Beginn des Übergangs im Sinne des zweiten Funktionspaars stark adaptiv waren und sich später ablehnend verhalten, wenn sich die Strategie des Verlassens auf Institutionen nicht als erfolgreich erweist. Die nachgelagerte Berufsorientierung erfolgt dann ohne Rückgriff auf Institutionen unter stärkerer Aktivierung persönlicher Ressourcen und Netzwerke. Eine schwer zu erfassende Gruppe sind diejenigen, die Hilfebedarf signalisieren, aber nicht wissen, an welche Adressaten sie ihn richten sollen und schon im Hilfesuchprozess an der „unübersichtlichen Vielfalt institutionalisierter beraterischer Antwortmöglichkeiten“ (Weinhardt 2013, 39) scheitern. Zudem lockern sich mit der biografischen Entfernung von Schule die Berührungspunkte zu Institutionen, die in nachgelagerten Orientierungsprozessen dann als potenzielle Unterstützungsinstanzen für Jugendliche weniger sichtbar oder schwerer greifbar sind. Jugendliche unseres Samples, die sich von Institutionen abwenden, haben teilweise auch Diskriminierungserfahrungen gemacht oder Institutionen als „Türschließer“ erlebt, z. B. durch Schullaufbahnempfehlungen von Lehrkräften.

Die dargestellten Funktionszuschreibungen spiegeln zunächst den Erwartungshorizont der Jugendlichen an Institutionen wider und entsprechen nicht zwangsläufig den im Berufsorientierungsprozess tatsächlich eingenommenen Rollen von Institutionen. Es zeigt sich, dass vor allem Jugendliche, die Institutionen gezielt und anlassbezogen einbinden, institutionelle Hilfe positiv einschätzen. Sie berichten von zielführender Berufsorientierung, die insbesondere die Information zu Optionen, Zugangsmodi und Chancen, die Vermittlung von Praxiserfahrungen und Kontakten, aber auch Möglichkeiten des Interessen- und Kompetenzassessments beinhaltet. Andere schätzen Institutionen als Impulsgeber, als Moderatoren zwischen eigenen Orientierungen und verfügbaren Optionen und als Auffangnetze (z. B. durch vorbereitende Maßnahmen).

Negative Beurteilungen von institutionellem Handeln finden sich vermehrt, aber nicht ausschließlich, bei den Jugendlichen des zweiten Funktionspaars, die aufgrund eigener diffuser Orientierungen umfassende Unterstützung einfordern. Hierbei ist zu beachten, dass sie die Rolle der Institutionen auch unter dem Eindruck der eigenen problematischen Verläufe betrachten. Sie berichten unter anderem von fehlgeschlagener oder unzureichender Berufsorientierung, von fehlenden Anlaufstellen, von Cooling-Out-Prozessen (vgl. u. a. Skrobanek/Kuhnke 2010), von institutionellen Barrieren und verwehrten Zugängen. Auch für die in der Literatur stark präsente Problematik institutioneller Diskriminierung (vgl. u. a. Neuenschwander/Grunder 2010; Hormel/Scherr 2010) finden sich in unserem Sample Beispiele.

Diese negativen Erfahrungen führen teilweise dazu, dass sich Jugendliche institutionellen Ratschlägen widersetzen oder sich im Sinne des zuletzt beschriebenen Funktionspaars sogar vollständig abwenden. Ein Teil der Jugendlichen setzt dennoch weiterhin auf institutionelle Begleitung und bleibt stark adaptiv.

Die in diesem Kapitel dargestellten drei Formen von Funktionszuschreibungen sind das Ergebnis einer systematischen, fallübergreifenden Annäherung an die Rolle institutioneller Akteure im Übergangsgeschehen. Sie sollen im Folgenden anhand von zwei vertiefender Fallanalysen veranschaulicht werden. Diese Einzelfallbetrachtungen ermöglichen es außerdem, die Haltungen und Bewertungen der Jugendlichen bezüglich begleitender Institutionen und daraus folgende Handlungsumsetzungen in ihren berufsbiografischen Kontext zu stellen und, insbesondere im zweiten Fallbeispiel, in ihrer längsschnittlichen Dynamik zu betrachten.

4.3 Fallanalysen

4.3.1 Mourad – „gibt man sozusagen das fehlende Puzzle-Teil immer dazu!“

Im folgenden Fallbeispiel von Mourad nehmen Institutionen im Sinne der ersten oben genannten Form korrespondierender Funktionszuschreibungen in der Berufsorientierungsphase eine ergänzende Rolle als Unterstützer ein, während der Jugendliche als Hauptakteur seiner Bildungsbiografie berufliche Orientierungsprozesse überwiegend selbst gestaltet.

Im Alter von drei Jahren zog Mourad mit seiner Familie von Marokko nach Deutschland. Nach der Zuwanderung ging sein Vater zeitweise einer ungelernten Erwerbsarbeit nach, während die Mutter Hausfrau war. Beim ersten Interview ist Mourad 18 Jahre alt und lebt zusammen mit seinen Eltern und mehreren jüngeren Geschwistern in einer deutschen Großstadt.

Mourad setzt sich bereits frühzeitig im 7. und 8. Schuljahr intensiv mit beruflichen Fragen auseinander und entwickelt konkrete Vorstellungen. „Also was mir dann auf jeden Fall klar wurde, also ich wollte auf jeden Fall so Richtung, also in die Wirtschaft rein, sprich: Bankkaufmann, Bürokaufmann, also in der Richtung. Ja, also war mir halt viel früher bewusst, also auch als bei meinen Freunden, […] die haben sich halt über ganz andere Dinge Sorgen gemacht“ (2476_1_7). An diese beruflichen Vorstellungen schließen sich erste Überlegungen zu den notwendigen Umsetzungsschritten an. „Ich will einen guten Beruf später haben. Ja. Und deswegen hab ich gesagt, um einen guten Beruf später zu haben, was mache ich da am besten? Ja, erst mal den Realschulabschluss natürlich sehr gut!“ (2476_1_189).

Mourad nimmt sich in der Gestaltung seines beruflichen Orientierungsprozesses als handlungsmächtig wahr und registriert vielfältige berufliche Möglichkeiten. Diese Vielfalt deutet er gleichzeitig als Chance auf einen maßgeschneiderten Beruf und als Herausforderung zur Information und Selbstreflexion: „Weil umso mehr Berufe, umso mehr kann sich jeder mit seinen Eigenschaften da hineinpassen! Und das find ich auch einerseits gut, aber andererseits ist es so, wenn man halt selbst noch nichts weiß, da muss man sich halt überlegen […], man muss sich halt sehr gut auskennen“ (2476_3_109).

Während der Realschulzeit absolviert Mourad zwei Betriebspraktika in unterschiedlichen Berufsbereichen, die ihn zur Revision seiner ersten Berufsvorstellungen veranlassen und ihm gleichzeitig neue berufliche Ideen liefern.

Mourad plant zunächst den direkten Übergang in eine berufliche Ausbildung im Anschluss an den Realschulabschluss. Als sich im Laufe des letzten Schuljahres abzeichnet, dass seine schulischen Leistungen dafür ausreichen, entschließt er sich jedoch für den vorgelagerten Besuch einer Fachoberschule. Davon verspricht er sich verbesserte Chancen auf dem Ausbildungsmarkt. Im Rahmen seines Jahrespraktikums im ersten Fachoberschuljahr erhält er vertiefte praktische Einblicke, die seinen Berufswunsch festigen. Der Besuch der Fachoberschule übernimmt aus seiner Sicht die Funktion eines  der die infrage kommende Berufslücke nach und nach verkleinert. „Ja, aber dann, wo ich halt das Fach-Abi dann genommen hab in Wirtschaft und Verwaltung, hat man dann natürlich so, sag ich mal, ist die Lücke kleiner geworden, und dann konnte man sich am Ende dann schon ein Ziel setzen“ (2476_3_105).

Obwohl Mourad das zweite Schuljahr der Fachoberschule aufgrund mangelnder schulischer Leistungen wiederholt, gelingt ihm ein guter Schulabschluss. Während seiner Bewerbungsphase im Anschluss an die Fachoberschule macht Mourad zum Teil negative Erfahrungen. Er kann bei betrieblichen Einstellungstests nicht immer überzeugen und erhält einige Absagen. Mourad bleibt jedoch zuversichtlich und zeigt sich offen für berufliche Vorschläge von institutioneller Seite. Durch den Hinweis seines Berufsberaters auf einen Ausbildungsberuf, der sich als passfähig erweist, gelangt er schließlich in eine Ausbildung im gewünschten Berufsfeld.

Der Berufswahlprozess gestaltet sich im Fall von Mourad sehr reflektiert und führt zu konsistenten Übergangsschritten. Der Jugendliche sieht sich selbst in der Verantwortung, Informationslücken durch eigene Bemühungen zu schließen, z. B. durch die Nutzung des Internets als Informationsquelle. Institutionen versteht er als ergänzende Akteure, die er bei beruflichen Fragen gezielt aufsuchen und einbinden kann. Die genutzte institutionelle Beratung bewertet als sehr hilfreich: „Ja, die [Lehrerin] war mir auch eine große Hilfe, die hat mir immer geholfen, von der hab ich auch mir einen Rat geholt! […] Hm, beim Arbeitsamt wurde mir auch geholfen; weil ich halt gesagt hab, ich bin auf Ausbildungssuche. Wurde mir auch geholfen. Wurden mir auch Ausbildungsstellen zugeschickt. Also ich bekam schon Hilfen von jeglichen Seiten, muss ich sagen“ (2476_3_63). Das über institutionelle Akteure dazu gewonnene Wissen nutzt er, um eigene Schlussfolgerungen für die berufliche Entscheidungsfindung zu ziehen. „Also die geben ja keine feste Zielrichtung an, sondern die geben einfach nur gute Tipps, sag ich mal!“ (2476_3_235).

Neben den institutionellen Akteuren sind Mourads Eltern wichtige Bezugspersonen bei der beruflichen Zukunftsplanung. Im Elternhaus findet ein häufiger Austausch statt, bei dem der Interviewte insbesondere die Lebenserfahrung seiner Eltern als wertvolle Beratungsressource schätzt: „Eltern sind ja halt erfahrene Personen, […] bei mir war es halt ein sehr großer Hilfsfaktor, der mir halt geholfen hat einfach die weite Welt mal mit etwas größeren Augen zu sehen, und im frühen Stadium halt zu überlegen: Was will ich schon später machen?“ (2476_1_111). Dennoch reflektiert Mourad bei konkreten beruflichen Fragen ein eher begrenztes familiales Hilfspotential. Er greift deshalb kompensatorisch auf institutionelle Informationen zurück und wird selbst aktiv „weil die Hilfe kann man sich heutzutage echt selbst beschaffen durchs Internet oder durchs Jobcenter oder… Es gibt so viele Möglichkeiten“ (2476_3_155). Auch im Peerumfeld orientiert sich Mourad beruflich. Insbesondere hinsichtlich der Auseinandersetzung mit alternativen Wegen dienen seine Freunde als wichtige Referenzpersonen.

Mourad nutzt in seinem Berufsorientierungsprozess kontinuierlich verschiedenste Informationskanäle, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Institutionelle und private Hilfestellungen ergänzen sich und werden von ihm gemeinsam mit eigenen Anstrengungen zu einem Gesamtbild zusammengefügt: „[…] gibt man sozusagen das fehlende Puzzle-Teil immer dazu!“ (2476_2_61).

4.3.2 Kerim – „Also erstaunlicherweise kam immer die Hilfe von alleine.“

Bei Kerim ist der Berufsorientierungsprozess gekennzeichnet von einer als eingeschränkt empfundenen Handlungsfähigkeit des Jugendlichen. Institutionen fungieren in seinem Übergangsverlauf zunächst als Lotsen im Sinne der zweiten oben vorgestellten Funktionszuschreibung. In einer nachgelagerten Berufsorientierungsphase wendet er sich zunehmend von ihnen ab (im Sinne der letztgenannten Funktionszuschreibung) und weist sich selbst eine aktivere Rolle zu. Seine Geschichte illustriert die Dynamik von Funktionszuweisungen in verschiedenen Phasen des Berufsorientierungs- und Einmündungsprozesses.

Kerim ist zu Beginn der Befragung 17 Jahre alt. Im Alter von vier Jahren zog er mit seiner Familie von Tunesien in eine deutsche Großstadt. Obwohl beide Elternteile einer Erwerbstätigkeit in Deutschland nachgehen, ist die Familie von Kerim, zu der auch ein jüngerer Bruder zählt, von finanziellen Einschränkungen betroffen.

Bis zum Ende der allgemeinbildenden Schule besitzt Kerim keine festen beruflichen Anschlusspläne. Sein Wunsch, den Schulbesuch fortzusetzen, scheitert an den nötigen Zugangsvoraussetzungen. Sein berufliches Interesse liegt zum damaligen Zeitpunkt im Kfz-Bereich, in dem er zuvor keine praktischen Arbeitserfahrungen gesammelt hatte. Kerim sieht den Realschulabschluss als wichtige Ausgangsvoraussetzung, einen betrieblichen Ausbildungsplatz zu finden. Mit beruflichen und schulischen Möglichkeiten, die ihm mit seinem Hauptschulabschluss offen stehen, scheint er überfordert. „Ich hatte es mir schon festgesetzt, Realschulabschluss zu machen, weil es ja damit dann viel einfacher ist, Berufe zu kriegen. Und da hab ich es nicht geschafft, ja, und dann erst mal überlegen, was mach ich jetzt, wie geht es jetzt weiter, welchen Beruf mach ich jetzt? Da hab ich mir den Kopf zerbrochen, (?), und ja, ich weiß nicht was. Ja, und danach haben sich die Wege halt so geleitet“ (2197_1_139).

Die fehlenden Alternativpläne und die Einschätzung, auf dem Ausbildungsstellenmarkt chancenlos zu sein, hemmen Kerim in seiner Handlungsfähigkeit. Eine berufliche Entscheidungsfindung bleibt vor diesem Hintergrund aus und er investiert keine Bemühungen, Anschlussmöglichkeiten zu suchen. Der weitere Weg nach der Hauptschule gestaltet sich für Kerim hauptsächlich institutionengesteuert. Um Unterstützung muss er sich nicht aktiv bemühen. „Also erstaunlicherweise kam immer die Hilfe von alleine“ (2197_1_153). Er absolviert zunächst ein Berufsgrundbildungsjahr, nutzt aber die dortigen Möglichkeiten einer schulischen Verbesserung sowie beruflicher Orientierung nicht aus.

Erst im Anschluss an das Berufsgrundbildungsjahr leitet sich für Kerim eine nachgelagerte Berufsorientierungsphase ein, in der er jedoch die Rolle als passiver Empfänger einnimmt: „Und ja, danach wurde ich erst mal in verschiedene Bereiche geschickt, […], da musste ich Produktionsschule machen, musste gucken so, wo gehe ich hin, was soll ich machen? Ja da hab ich dort so angefangen, etwas mit Werkzeugen eher zu lernen, und ja, die haben gekuckt halt, was für Leistungen ich habe, in was ich gut bin, in was ich schlecht bin. Und dann haben die gesagt: Ja, dafür bist du geeignet, und dafür solltest du noch mal eine Nacht drüber denken“ (2197_1_29).

Kerims Eltern können nur begrenzt Hilfestellung geben. Sie sind zwar wichtige Bezugspersonen bei beruflichen Fragen, jedoch fühlt sich der Jugendliche mit überzogenen Berufszielen konfrontiert, die er auf einen bildungsbezogenen Informationsmangel der Eltern zurückführt: „Also die wollen, dass man immer so irgendwie das Meiste vorhat. Und ja, die wissen aber selbst nicht, dass es so schwer ist“ (2197_3_231).

Eine konkrete berufliche Idee erhält Kerim erst durch den Rat eines Freundes. Schließlich beginnt er nach einem Probepraktikum eine außerbetriebliche Ausbildung im vorgeschlagenen Beruf. Obwohl Kerim zu Beginn seiner Ausbildung sehr zufrieden ist, nehmen seine Zweifel am gewählten Ausbildungsberuf über den Befragungszeitraum kontinuierlich zu: „Ja, also ich sag mal so, am Anfang wollte ich das ja unbedingt machen, den Beruf. Ja, und jetzt kommt irgendwie der Gedanke: Also hätte ich lieber was anderes gemacht. Also ich werde es auf jeden Fall fertig machen, die Gesellenprüfung dann schaffen, und dann aber auf jeden Fall was anderes weitermachen“ (2197_3_11). Als Hauptgrund für die berufliche Umorientierung nennt er den erwarteten geringen Verdienst im Beruf. Auch von der handwerklichen Tätigkeit, die er noch zu Beginn der Ausbildung positiv bewertet, wendet er sich ab. Er entwickelt berufliche Alternativvorstellungen, die im starken Kontrast zu seinem Ausbildungsberuf stehen, verwirft diese aber schnell wieder.

Beim Umgang mit der eigenen Berufsorientierung deuten sich bei Kerim im späteren Verlauf aktivere Handlungsansätze an. Seinen Handlungsspielraum erlebt Kerim bedingt durch einen Zuwachs an Kompetenzen deutlich erweitert: „Jetzt kann ich mich irgendwie, also wenn ich jetzt Sachen wissen will, irgendwie recherchieren, informieren, anrufen, fragen, irgendwie nachschauen, Internet, Freunde fragen. […] Viel einfacher jetzt als vorher“ (2197_3_255).

Während die Orientierung an Peers konstant bleibt, verändern sich Kerims Strategien bezüglich institutioneller Hilfe, die er später nicht mehr in Anspruch nimmt. Die Einschätzung der bisherigen institutionellen Unterstützung fällt zunehmend kritischer aus. „Und auf jeden Fall also eine Ausbildung, wo du, also auch dir selber eine Ausbildung suchen, wo du dann mehr Gehalt kriegst; weil wenn du dir eine vom Arbeitsamt suchen lässt, du dann fast nix kriegst, weil du selber keine gesucht hast“ (2197_3_377). Rückblickend sieht Kerim für seinen beruflichen Weg Handlungsspielräume, die er nicht ausgeschöpft hat. Die fehlende Handlungsfähigkeit bei der früheren Ausbildungssuche führt er auf mangelnde berufliche Vorstellungen zurück: „Weil im Endeffekt blieb mir nix anderes übrig als es zu machen. Ich wusste ja nicht, was ich sonst machen soll. Da wurde mir eine [Ausbildung] gesucht“ (2197_3_377).

5 Fazit

Im vorliegenden Artikel wurden auf der Datenbasis einer qualitativen Längsschnittstudie mit Haupt- und Realschulabsolventen unterschiedliche Funktionszuschreibungen Jugendlicher in der Berufsorientierung identifiziert. Diese Funktionszuschreibungen betreffen die Rollenerwartungen an Institutionen, die mit der wahrgenommenen Eigenrolle der Jugendlichen korrespondieren und Berufsorientierungsstrategien beeinflussen. Sie sind unter anderem davon abhängig, wie Jugendliche die Ausbildungsplatzlage im Bezug auf die eigene Positionierung bewerten, ob sie rahmende Strukturen als stützend oder hinderlich wahrnehmen und welche Einflussmöglichkeiten sie anderen Akteuren im Verhältnis zu eigenen Spielräumen unterstellen.

Jeweils korrespondierend mit der wahrgenommenen Eigenrolle werden Institutionen von einigen Jugendlichen als komplementäre Informanten und Unterstützer anlassbezogen eingebunden, während andere erwarten, dass Institutionen den eigenen Berufsorientierungsprozess einleiten, moderieren und problemlösend begleiten. Wiederum andere formulieren kaum Unterstützungserwartungen und weisen Institutionen maximal eine flankierende Rolle zu, beispielsweise weil sie auf ausreichende weitere Ressourcen zurückgreifen können, sich durch enttäuschte Rollenerwartungen von Institutionen distanzieren oder weil institutionelle Unterstützung nicht greifbar ist.

Die vorgestellten korrespondierenden Funktionszuschreibungen stellen kein statisches Konzept im Sinne eines Handlungskontinuums dar. Vielmehr berücksichtigen sie die Dynamik im Berufsorientierungs- und Einmündungsprozess. Wie die längsschnittliche Analyse gezeigt hat, erweitern Jugendliche im Verlauf individueller Übergänge berufsrelevante Wissensbestände, entwickeln auf der Basis von Praxiserfahrungen berufliche Ideen weiter, bestätigen oder revidieren sie und haben Erfahrungen mit begleitenden Akteuren gemacht. Entsprechend modifizieren sie möglicherweise Erwartungshaltungen an sich selbst und andere. So bewegen sich manche Jugendliche über verschiedene biografische Zeitpunkte zwischen verschiedenen Funktionszuschreibungen. Das passiert teilweise dann, wenn Rollenzuweisungen enttäuscht werden oder wenn Jugendliche mit ihren bisherigen Strategien gescheitert sind. Dazu kommt, dass Berufsorientierungsprozesse häufig nicht, wie in den eingangs genannten theoretischen Modellen idealtypisch dargestellt, linear verlaufen und mit dem Einstieg in eine Ausbildung oder einen schulischen Bildungszweig abgeschlossen sind. Bei manchen Jugendlichen finden sie erst nachgelagert in darauffolgenden Stationen statt und führen zu Umorientierungen. Auch Ausbildungen sind Teil dieses Orientierungsprozesses und münden gegebenenfalls im Abbruch, wenn sie mit Erwartungen inkompatibel sind.

Daraus ergeben sich differenzierte Ansprüche an die Präsenz und Unterstützungsweise durch Institutionen. Analog zu Weinhardt (2013, 42-44) zeigt sich der Bedarf an einer hoch reflexiven und zeitlich entgrenzten, abrufbereiten Unterstützung. So müssen Institutionen beispielsweise auch in nachgelagerten Berufsorientierungsphasen noch präsent und greifbar sein und mögliche Anlaufstellen bereits in der Pflichtschulzeit, in der alle Jugendlichen noch institutionell erreichbar sind, transparent machen. Denn auch wenn Systematisierungsbemühungen der Übergangsbegleitung erste Früchte getragen haben, zeigt sich an den nicht erfüllten Unterstützungswünschen einiger Jugendlicher unseres Samples, dass sich ihnen diese Systematik noch nicht ausreichend erschließt. Gleichzeitig sind die differenzierten Erwartungshorizonte Jugendlicher zu berücksichtigen. Damit geht auch die Forderung nach einer Reflexion des Rollenverständnisses pädagogischer Fachkräfte der Berufsorientierung einher (vgl. Butz/Deeken 2014, 109). Unsere Ergebnisse deuten weiterhin auf die frühzeitige Stärkung der biographischen Selbstkompetenz und damit der individuellen Handlungsfähigkeit Jugendlicher hin. Gleichzeitig sollten Korrekturen eingeschlagener beruflicher Wege nicht zwangsläufig als berufsbiografisches Scheitern, sondern vor dem Hintergrund vielfältigerer und ausdifferenzierterer (Aus‑)bildungsoptionen, deren unsicherer Verwertbarkeit und komplexerer Anforderungsprofile auch als Ausdruck zunehmend zeit- und raumintensiver heutiger Berufsorientierungsprozesse verstanden werden.

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[1] Im Sinne der besseren Lesbarkeit des Textes wird die männliche Form bei Berufs- und Statusbezeichnungen verwendet. Vertreterinnen dieser Gruppen sind selbstverständlich gleichermaßen gemeint.

[2] Das Forschungsprojekt „Die Bewältigung des Übergangs Schule-Berufsausbildung bei Migrantinnen und Migranten im Vergleich zu autochthonen Jugendlichen“ (2011–2014) wird gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

„Ich will mich eher konzentrieren Richtung Altenpflege und Sicherheitsdienst“. Berufsorientierung im Übergangssystem Einstiegsqualifizierung: Eine Fallstudie.

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1 Einleitung

Berufsorientierung umfasst viele Facetten; sie wird sowohl aus sozial- und arbeitsmarktpolitischer Sicht wie auch aus berufspädagogischer Perspektive betrachtet. Während der erste Fokus viel Aufmerksamkeit genießt, bleibt der zweite weitgehend unbeachtet - am ehesten wird hier das Scheitern von Berufsorientierungsprozessen beschreiben oder auch das schwierige Arrangement mit dem Beruf (Heinz 1984; Bohnsack 1989; Panke 2005). Eine differenzierte Betrachtung der Auseinandersetzung mit dem Beruf und der Rolle als Arbeitnehmer ist jedoch wichtig, denn sie hilft, Angebote der beruflichen Bildung zu verstehen und zu bewerten und verweist auf grundsätzliche gesellschaftliche Dynamiken (vgl. Gini 2000). Der folgende Beitrag analysiert die Entstehung von Berufsorientierung im Rahmen einer EQ-Maßnahme bei einem großen Unternehmen, das ca. 400 Plätze in 10 verschiedenen EQ anbietet. Dabei wird in vier ausgewählten Einsatzfeldern (Gartenbau, Gastronomie, Service, Sicherheit) mittels klassischer berufswissenschaftlicher Methoden der Experten-Workshops, Arbeitsprozessanalysen und Interviews rekonstruiert, wie die Maßnahme auf die an ihr teilnehmenden Jugendlichen wirkt. Unter Bezugnahme auf Entwicklungstheorien interpretieren wir, worin die Wirksamkeit der Maßnahme begründet ist und wie die EQ in diesem Sinne verbessert werden könnte.

2 Die Einstiegsqualifizierung als Übergangsmaßnahme

Seit dem Ölpreisschock Mitte der 70iger und dem folgenden signifikanten Anstieg der Arbeitslosenzahlen in Deutschland ist das Thema des sogenannten Übergangssystems in den berufsbildungswissenschaftlichen Diskurs gerückt. Autoren wie Christe konstatieren:

„Neben der dualen Ausbildung und dem Schulberufssystem ist das Übergangssystem die dritte Säule der beruflichen Bildung in Deutschland“ (Christe 2011, 5).

So ermittelte die Autorengruppe Bildungsberichterstattung für das Jahr 2011 rund 524.946 Menschen im regulären Beruflichen Bildungssystem (davon 210.054 im Schulberufssystem) und 294.294 Menschen im Übergangssystem (AG Bildungsberichterstattung 2012, 277).

Die Maßnahmen des Übergangsystems bereiten i.d.R. nicht auf einen Beruf, sondern auf einen Berufsbildungsgang vor. Dabei lassen sich drei Funktionen des Übergangssystems beschreiben:

  • Überbrückung bis zur Aufnahme einer regulären Ausbildung,
  • Aufwertung der (schulischen) Qualifikation und
  • Verbesserung der Voraussetzungen zur Aufnahme einer Ausbildung durch spezifische fachliche und soziale Förderung (vgl. Dionisius/Kregel 2013, 50).

Bei der Beurteilung des Erfolgs dieser zumeist schulisch organisierten Maßnahmen fallen jedoch häufig Schlagwörter wie „Warteschleifen“ oder „Sackgassen“ (vgl. z. B. Schroeder/Thielen 209, 67ff.). An dieser Stelle kann der einschlägige Diskurs nicht umfassend wiedergegeben werden, zwei zentrale Kritikpunkte sind jedoch unstrittig:

  • die Unspezifität: Die Maßnahmen bereiten nicht auf die Ausbildung in einem Beruf, sondern bestenfalls auf einen Sektor (z. B. Metall) vor – stellen also in gewisser Weise ein „Vorratslernen“ dar – mit entsprechenden negativen Konsequenzen für die Motivation;
  • der Lernort Schule: Obwohl die Schüler im Übergangssystem auch als „Schulversager“ bezeichnet werden (es sei dahingestellt, ob die Jugendlichen oder die Schule versagten), bleiben sie in dieser Lernumgebung verhaftet.

Eingedenk dieser Probleme sowie des Fachkräftemangels in wenig attraktiven Berufen wurde im Jahr 2004 die Möglichkeit einer betrieblich organisierten Übergangsmaßnahme eröffnet, die sog. Einstiegsqualifizierung (EQ). Die Einstiegsqualifizierung (EQ) eröffnet jungen Menschen, die Interesse an einer beruflichen Ausbildung haben, aber keinen Ausbildungsplatz erhielten, die Möglichkeit, ein durchschnittlich neunmonatiges Praktikum zu absolvieren. Im Gegensatz zu normalen Praktika, bei denen der Betrieb und der Praktikant die Tätigkeitsfelder frei aushandeln können, gibt es in dieser Maßnahme von den IHK verantwortete Curricula, die berufs- und nicht sektorpropädeutisch sind. Dies kann bei späteren Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz einen Mehrwert bedeuten. In der Tat gelingt 70% der erfolgreichen Absolventen der EQ der Einstieg in die Berufsausbildung, 50% lernen anschließend sogar bei dem Unternehmen, bei dem sie die Maßnahme durchführten (Popp et al. 2012, 43).  

3 Eine Untersuchung der Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben in der Einstiegsqualifizierung

3.1 Theoretischer Hintergrund

In diesem Artikel beschreiben wir die Berufsorientierung junger Menschen in der Übergangsqualifizierung unter dem Gesichtspunkt subjektiver Aneignung beruflicher Perspektiven. Viele junge Menschen bearbeiten dabei nicht nur den Übergang in die Berufswelt, entwickeln sich gleichzeitig in Hinblick auf die allgemeine Lebensführung. Eberhard Jung (2008) schlägt in diesem Zusammenhang den Begriff der Arbeits- und Berufsfindungskompetenz vor:

„Arbeits- und Berufsfindungskompetenz erfordern eine angemessene Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten, Interessen, Wertorientierungen und Lebensentwürfen sowie mit den Inhalten und Anforderungen, Chancen und Risiken von Arbeitstätigkeiten, Berufen und Arbeitsmärkten“ (Jung 2008, 137).

Jugendliche mit Arbeits- und Berufsfindungskompetenz haben konkrete Vorstellungen von der Arbeit und der Ausbildung, die sie erwartet. Sie lassen sich nicht durch Arbeitszeiten, monotone Anfangstätigkeiten oder niedriges Lehrlingsgehalt entmutigen.

Für sozial benachteiligte Jugendliche, die häufig im Übergangssystem unterkommen, gilt es, noch umfangreichere Kompetenzen zu erwerben, um einen erfolgreichen Übergang in den Beruf zu gestalten. So beschreibt Bojanowski (2006) als Konzept der beruflichen Förderpädagogik:

„Berufliche Förderpädagogik muss bei diesen Jugendlichen nicht nur die Übergänge in die Arbeitswelt thematisieren (Zielformel: employability), sondern auch Anregungen zur eigenständigen Lebensbewältigung geben (Zielformel: independent life)“ (Bojanowski 2006, 306).

Beruforientierung geht vor diesem Hintergrund weit über das sich Informieren über einen Beruf hinaus: mitgedacht sind hier im Sinne des Paradigmas der Entwicklungsaufgaben alle Veränderungen, die durch die Herausforderung „Beruf“ an ein Individuum gestellt werden. Entwicklungsaufgaben sind Herausforderungen, die aus dem Eintreten in eine neue Lebenssituation erwachsen; aus ihrer Bearbeitung resultieren neue, handlungsleitende Deutungsmuster. Sie stehen für ein Paradigma, das Sozialisation als Prozess beschreibt, in dessen Verlauf gesellschaftliche Ansprüche mit individuellen Vorstellungen vereinbart werden. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben geht auf den Psychologen Erik Erikson (z. B. 1973) zurück. Er formulierte eine Reihe von typischen Krisen bzw. Orientierungsprozessen, die aus der biologischen und psychologischen Reifung einerseits, veränderten gesellschaftlichen Erwartungen an den Einzelnen im Lebensverlauf andererseits, resultieren. Dieses Set an Herausforderungen konkretisierte Havighurst (1972) und fokussierte es auf das pädagogische Feld. Blankertz (1986) griff das Konzept der Entwicklungsaufgaben zur Evaluation doppelqualifizierender Bildungsgänge der Sekundarstufe II auf:

„[E]rst die Einbindung des Wissens in leitende Orientierungen, in beabsichtigte Handlungspläne und so fort erlaubt uns, von Kenntnissen als Kompetenz zu sprechen“ (Blankertz 1986, 19f.).

Als allgemeine psychosoziale Entwicklungsaufgaben der Jugend werden die Ablösung aus dem Elternhaus, die Individuation, Versöhnung mit Größenphantasien und der Übergang von der Selbstfixierung zur Fähigkeit, Objektbeziehungen einzugehen, definiert (King 2002, 29f. und 177). Den umfassendsten Beitrag zur Erforschung von Entwicklungsaufgaben in der beruflichen Bildung leistete Bremer (2004), der u. a. drei zentrale Entwicklungsaufgaben des Berufseinstiegs differenzierte: die Jugendlichen müssen tragfähige Lernkonzepte entwickeln, ein Konzept beruflicher Arbeit entfalten und sich in eine berufliche Praxisgemeinschaft integrieren. Als Entwicklungsaufgaben, die in Übergangsmaßnahmen bearbeitet werden (könnten), beschreibt Ecarius (2014) die

„Aufarbeitung von Lebensproblematiken, eine langsame Stabilisierung des Selbst, die sich in einer allmählichen alltäglichen Organisation des Lebens mit regelmäßigem Aufstehen, Verantwortlichkeiten, Respekt sich selbst und anderen gegenüber äußert“ (ebd., 88).

Die Jugendlichen sind motiviert sich diesen Entwicklungsaufgaben zu stellen, wenn sie deren Relevanz als Schwelle für die weitere gesellschaftliche Teilhabe wahrnehmen und die Möglichkeit sehen, dass ihr Engagement sich lohnt (Erikson 1973, Heinz 1984). Die Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben erfolgt individuell, doch stellt das Umfeld mehr oder weniger förderliche Bedingungen zur Unterstützung bereit. Neben einer allgemeinen Haltung der Generativität seitens Erwachsener (King 2002) ist das Aufgreifen der einzelnen Entwicklungsaufgaben im Sinne von Bremer (2004) oder Ecarius (2014) eine Möglichkeit, die Jugendlichen zu fördern (Burchert in Druck; Kratzer et al. in Vorbereitung). In ähnlichem Sinne unterstreicht Panke (2005) drei wesentliche Sinnbezüge von Arbeit aus Sicht der Jugendlichen:

  • die Erkenntnis, gebraucht zu werden und sich produktiv, auch körperlich einbringen zu können, wobei der individuellen Förderung eine wichtige Rolle zukommt;
  • die Möglichkeit, Erfahrungswissen zu sammeln und es mithilfe einer fachlichen Praxisgemeinschaft zu verorten;
  • Ordnung, Autorität und Hierarchie zu erfahren als Rahmen, die einengen, aber auch Chancen zur Bewährung und Anerkennung bieten.

Vor dem Hintergrund dieser Argumentation wird deutlich, dass die berufliche Praxis zentrale Chancen für die Entwicklung von Jugendlichen bieten kann. Eine Frage, die sich stellt, ist, ob alle Jugendlichen davon profitieren können oder lediglich solche, die bereits einen bestimmten Entwicklungsstand erreicht haben. Aus der Übergangsforschung (vgl. z. B. Beiträge in Ahrens 2014) ist bekannt, dass nicht nur Jugendliche, denen es an einer wie auch immer definierten Ausbildungsreife fehlt, sondern auch solche, die durch den Mangel an Ausbildungsplätzen benachteiligt sind, in das sog. Übergangsystem vermittelt werden.

Dieser Artikel konzipiert also Berufsorientierung als umfassendes Konzept, das die lebensweltliche Entwicklung ebenso einschließt wie berufsbezogene Haltungen. Der Fokus dieser Ausarbeitung liegt dabei auf der Frage: was motiviert die Jugendlichen; was muss aus ihrer Sicht erfüllt sein, damit sie erfolgreich die EQ absolvieren und den Wunsch entwickeln, sie als Ausbildung fortzusetzen? Welche Form der Berufsorientierung erfolgt in diesem Setting und welche Rolle übernimmt die Praxisgemeinschaft? Die Beantwortung der Frage, ob die EQ Berufsorientierung fördert, ist ein zentrales berufspädagogisches Kriterium für ihre Bewertung.

3.2 Methodisches Vorgehen

Es wurden Befragungen und Arbeitsprozessanalysen durchgeführt. Die Arbeitsprozessanalysen der Einsatzplätze dienten dem Verstehen der fachinhaltlichen Hintergründe und ihrer berufspädagogischen Bewertung (vgl. Saniter et al. in Vorbereitung). Das Ziel der Befragungen war es zu verstehen, in welchen Bereichen EQ-Teilnehmende im Betrieb eingesetzt werden und wie verschiedene Akteure ((ehemalige) Teilnehmende, betriebliche Betreuer, Sozialpädagogen, Management) diesen Einsatz bewerten. Als Befragungsformen wurden Experten-Workshops und Einzelinterviews gewählt:

  • der Fokus der Experten-Workshops lag in der Erfragung dessen, welche Tätigkeiten die Jugendlichen im EQ-Jahr übernehmen, wie sie dabei mit anderen kooperieren und welche Arbeitswerkzeuge sie nutzen;
  • zentrales Thema der Einzelinterviews war die Entwicklung der EQ-Teilnehmenden, v. a. die Fragen, wie sie selbst ihre Lernprozesse im EQ-Jahr wahrgenommen haben, welche Facetten der EQ dabei besonders wichtig waren und welche Unterstützung sich die Lernenden noch gewünscht hätten, z. B. in Form digitaler Medien.
  • Mit Sozialpädagogen, die die Maßnahmen flankieren, wurden Gruppendiskussion geführt, um Herausforderungen der Bildungsarbeit mit der Zielgruppe besser zu verstehen.

Insgesamt wurden etwa 100 Personen befragt. Die Auswertung der Befragungen erfolgte zum einen inhaltsanalytisch: so wurden Geschäftsfelder, Arbeitswerkzeuge und kollegiale Kooperationsbeziehungen ebenso herausgearbeitet wie die Bildungsbiographien der Jugendlichen, die von ihnen explizierten Motive und Gestaltungswünsche. Zum anderen erfolgte eine hermeneutische Analyse, um weitere Bedeutungsebenen der Interviews zu erkunden. Diese Analyse folgte den Grundideen der Grounded Theory: die Texte wurden zunächst zeilenweise kodiert, wobei die Kodierung zunächst deskriptiv erfolgte und zunehmend zu einer Bündelung in analytische Kategorien führte (vgl. Mey/Mruck 2011). Vergleiche innerhalb eines Interviews sowie zwischen den Befragten wurden gezogen, um differenziert die Lebenslagen der Interviewpersonen zu verstehen. Die Software Atlas.ti wurde eingesetzt, um den Überblick über das Material zu behalten, aber auch um gemeinsam im Auswertungsteam diskutierte Einsichten festzuhalten (vgl. Konopasek 2011). Das im Vor-Kapitel dargestellte theoretische Vorwissen der Autorinnen wurde in der Auswertung der Daten als Folie genutzt - nicht um bestehende Forschungsergebnisse zu replizieren, sondern um zu fragen, wo Lücken in der bestehenden Argumentation bestehen, wo Differenzierung angemessen ist und wie der Stand der Forschung vorangetrieben werden kann (vgl. Clarke 2011). Dies elaborieren wir im folgenden Kapitel.

3.3 Ergebnisse

3.3.1 Einstiegsqualifizierung als Vorbereitung auf die Ausbildung

Als Vorbereitung auf die Interviews analysierten wir die Arbeitsplätze der EQ-Teilnehmenden durch Experten-Facharbeiter-Workshops. Die Einsatzplätze in der EQ orientieren sich an dem Curriculum des 1. Lehrjahres von zwei- bis dreijährigen Ausbildungsberufen. Es haben sich, je nach Arbeitsbereich, 3 bis 5 Kompetenzfelder herauskristallisiert, in denen die Teilnehmenden der ca. 9-monatigen Einstiegsqualifizierung eingesetzt werden. Diese Kompetenzfelder können beschrieben und in Hinblick auf ihr Autonomieniveau eingeschätzt werden: Autonomie ist ein wichtiges Kriterium beruflicher Arbeit und wird z. B. als Voraussetzung für Kompetenzerwerb gedeutet (vgl. z. B. Bremer 2004, Lave/Wenger 1989). Für die Einschätzung eignet sich z. B. das im Modellversuch Move Pro Europe entwickelte vierstufige Bewertungsschema, das ursprünglich für den formativen Einsatz entwickelt wurde (vgl. Burger/Saniter 2009). So ergeben sich für die von den Interviewten erfüllten Aufgabenbereiche folgende Autonomieniveaus:

Tabelle 1:     Übersicht der Arbeitstätigkeiten in der EQ und ihrer Autonomiestufe

  Beobachtet und unterstützt Unter Anleitung mitgearbeitet Unter Aufsicht gearbeitet / mit erfahrenen KollegInnen Selbständig gearbeitet / als vollwertiges Teammitglied
Gärtnerischer Bereich
Freischneiden       X
Zaunbau       X
Baumpflege   X    
Gastronomischer Bereich
Mobiler Verkauf       X
Unterstützung der Gastronomie       X
Assistenz in der Logistik     X  
Service
Bereitstellung von Informationen       X
Weitere Serviceleistungen       X
Wartung und Kontrolle     X  
Sicherheit
Sicherheits- u. Ordnungsdienst X      
Prüfdienst X X    
Tor- und Empfangsdienst   X X  

Das hohe Niveau an Selbständigkeit bei der Arbeit, welches in den meisten Arbeitsbereichen erreicht wird, scheint aus berufspädagogischer Sicht für die Wirksamkeit der Maßnahme verantwortlich zu sein. Statt kurzen Lernepisoden in unterschiedlichen Betrieben, bei denen die Teilnehmenden nicht über das Stadium „unter Anleitung“ hinauskommen, bietet die Maßnahme mit ihrem gezielten Einsatz im Betrieb umfangreiche Entwicklungsmöglichkeiten für Fähigkeiten und Fertigkeiten. Bei der Betrachtung der Tabelle ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass einzelne Aufgaben aus rechtlichen Gründen nicht selbständig bearbeitet werden dürfen, da den EQ-Teilnehmenden Zertifikate bspw. für die Ausbildung an Kampfmitteln oder der Kletterschein fehlen.

Im Dienstleistungsbereich (sowohl Gastronomie wie auch Service) sind die Arbeitsaufgaben gezielt so gestaltet, dass selbständiges Arbeiten binnen kürzester Zeit möglich ist. In den Befragungen wurde deutlich, dass das Engagement der Auszubildenden stark dadurch gefördert wird, dass sie im Sinne einer „legitimate peripheral participation“ (Lave/Wenger 1989) die Gelegenheit erhalten, schrittweise einen Beruf kennenzulernen und bereits erste Aufgaben darin zu übernehmen. Daher wird auch das Autonomieniveau „unter Anleitung gearbeitet“ nur in wenigen Kompetenzfeldern als Endresultat angegeben, es ist im Sinne eines Hineinwachsens in die Praxisgemeinschaft ein notwendiger Zwischenschritt.

Diese Art der produktiven Tätigkeit ist ein weiterer Punkt, der die Einstiegsqualifizierung zentral von anderen, zumeist schulischen Programmen des Übergangssystems unterscheidet:

  1. Die Produkte oder Dienstleistungen werden für ein reales Unternehmen unter Marktbedingungen erbracht und nicht im Rahmen von „Schülerfirmen“.
  2. Die Zusammenarbeit erfolgt zumeist mit unterschiedlichen Erfahrungs- und Hierarchiestufen und nicht nur mit Gleichaltrigen und ein bis zwei Mitgliedern des Lehrpersonals.
  3. Der reale Arbeitsalltag mit Stress, aber auch mit Leerlauf, wird (soweit es im Rahmen des Jugendschutzes möglich ist) erfahren.

Dies korrespondiert bspw. mit den Ergebnissen von Panke (2005), die unterstreicht, dass die Möglichkeit, authentische Arbeitstätigkeiten auszuüben und in eine betriebliche Praxisgemeinschaft integriert zu werden, von besonderer Bedeutung sind. In den Interviews wurde die motivierende Wirkung der Praxis in Zitaten wie diesen deutlich:

“Für mich war’s erst komisch, ich dacht’ mir: ok [...]. Seitdem ich das erste Mal auf dem [Arbeitsplatz] war: ich find’s toll, das Team, das ist alles toll, ich könnt’ schwärmen” (P6, 37).

“Also ich merk' das schon, wenn ich morgens in meine Dienstkleidung sozusagen einsteige, ich fühl' mich dann irgendwie erwachsener halt, also dass es jetzt wirklich losgeht und die Schulzeit vorbei ist sozusagen. Und äh ja, von der Arbeit her, also mein Teamchef hat mir auch halt gesagt, dass ich mich auch gemacht hab',  in dem Jahr jetzt” (P2, 80).

3.3.2 Ein Happy Sample zwischen Abwechslung und Stabilisierung – die subjektive Perspektive der Teilnehmer

Die Interviewpersonen zeigten sich allesamt sehr zufrieden mit der EQ-Maßnahme. Dabei fanden wir zwei Typen von Entwicklung vor: Jugendliche, die “vom ersten Tag an” mit ihrem Praktikumsplatz einverstanden waren und solche, die die Maßnahme als Alternative oder Kompromiss zu nicht erfüllten Berufswünschen erleben, aber dennoch zufrieden mit ihrer jetzigen Situation sind. Es finden sich in Hinblick auf die Maßnahme oder den Beruf, auf den sie vorbereitet hat, keine Aussagen, die auf Enttäuschung oder Ernüchterung hindeuten, was in Kontrast steht zu den Beobachtungen z. B. von Bohnsack (1989) oder Panke (2005). Womit lässt sich dieser nahezu provokativ positive Befund erklären?

Obwohl die Praktikumsplätze in der als Fallbeispiel gewählten Einstiegsqualifizierung nicht komplex sind und vor allem einfache Aufgaben umfassen, erleben viele Jugendliche sie als abwechslungsreich. Die Abwechslung scheint dabei den Übergang zwischen dem psychosozialen Moratorium der Adoleszenz und der Verantwortungsübernahme im Erwachsenenalter zu erleichtern. Exemplarisch stehen dafür Aussagen wie:

“also mir macht der Beruf jetzt schon Spaß, auch immer noch und also ich denk' schon, dass das auch was für die Zukunft sein wird, weil es halt abwechslungsreich ist. Und in der Ausbildung sind wir ja auf Seminaren, wir sind an unterschiedlichen Standorten. Das wird immer Abwechslung sein, deswegen. Und das hab' ich bis jetzt... Seit 'm Praktikum, also Rechtsanwaltsfachangestellte hatte ich eins, als Floristin, und es war immer was unterschiedliches, und das war halt nicht so: es war immer das Gleiche, das war halt der Alltag, und auf der Arbeit, klar, ist manchmal auch, es wiederholt sich alles, aber halt nicht so regelmäßig, also es wiederholt sich jetzt nicht jeden Tag, weil man hat ja auch jeden Tag andere Menschen um sich, sei es vom Team her oder von den Kunden und andere  Aufgaben halt” (P2, 49).

Abwechslung entsteht in der untersuchten Einstiegsqualifizierung, in der vor allem Praktika im Dienstleistungsbereich angeboten werden, durch Kundenkontakt, Standortwechsel, eine Variation von Aufgaben, Teamwechsel und Zusammenarbeit mit verschiedenen Kollegen. Für viele Jugendliche ist es wichtig, auch körperlich nicht fixiert zu sein:

“Vorher wusst‘ ich das selber nicht, aber ich bin auch nicht so der Büromensch, also im Vertrieb hätt‘ ich nicht arbeiten können. Ich kann das einfach nicht, ich kann nicht sitzen, zwar arbeite ich auch mit den Kunden, aber ich muss mich bewegen, ich kann wirklich nicht den ganzen Tag sitzen. Ich kann das einfach nicht” (P6, 61).

Obwohl Abwechslung den Jugendlichen wichtig ist, schätzen sie auch ihren scheinbaren Widerspruch, die Stabilität und Stabilisierung, die sie im Verlauf der Maßnahme erleben. Dies zeigt sich auf mehreren Ebenen. Zum einen scheinen die Jugendlichen nach dem Schock, keinen regulären Ausbildungsplatz erhalten zu haben, darauf erpicht zu sein, in ihrer Einstiegsqualifizierung, die sie als Chance erleben, Engagement und Leistung zu zeigen:

“Dann musste ich schnell eine Ausbildungsstelle finden und da waren halt nicht viele Stellen frei und ich wollt dann halt unbedingt in [Betrieb] kommen. Dabei habe ich dieses [Einstiegsqualifizierungs-]Projekt gefunden, hab dann gesagt: ok, ich nehm’ dran teil und zeig halt dann mein Leistung, weil mein Abgangszeugnis das war ziemlich schlecht und die Leute haben dann direkt Absagen geschickt. Deshalb musste ich mich halt beweisen und dazu diente halt dieses  [Einstiegsqualifizierungs-]Projekt” (P3, 17).

Diese Perspektive nimmt nicht nur die klassischen Zielgruppe der EQ, die Hauptschulabsolventen, ein (zu der der oben zitierte P3 gehört), sondern sie wird auch von marktbenachteiligten Jugendlichen wie P4 vetreten, die Fachabitur hat:  

“Ja, ähm, ich bin durch, durch Arbeitsamt auf, ähm...Die haben mir da so ‘n Zettel gegeben, dass ich mich hier bewerben soll. Ich hatte vorher schon ziemlich viele Bewerbungen rausgeschickt, so über die 60 Stück und hab leider, also viele Absagen bekommen. Einige Bewerbungsgespräche und Einstellungstests waren mit dabei, aber ich hab‘ ‘n kleines Kind und dadurch war das ‘n bisschen schwierig für mich ‘ne Ausbildung zu finden, wodurch ich dann den Weg [Einsteigsqualifizierung] gegangen bin, weil ich mir dachte: ok, vielleicht ist das für mich ‘ne gute Möglichkeit, dann dort ‘ne Ausbildung zu finden” (P4, 5).

In Hinblick auf ihre beruflichen Interessen hatten viele Befragte dabei keine inhaltlichen Orientierungen sondern eher grobe Vorstellungen, die aus Gesprächen mit Familienmitgliedern und Freunden resultierten:

“Das war halt über mein, meine Berufsberaterin. Ich hab aber durch verschiedene Freunde schon gehört, weil die selber im Sicherheitsbereich arbeiten. Und, ja, mein bester Kollege halt, ähm, als Altenpfleger arbeitet, so. Und ich hatte halt Interesse an verschiedenen Jobs, wollte, ja, vieles, Neues kennenlernen halt. So, und dann meinte ich zur Berufsberaterin halt, ähm (.) ich will mich eher konzentrieren Richtung Altenpflege und Sicherheitsdienst” (P9, 2).

Viele Jugendliche berichten, dass sie sich durch Forderungen der betrieblichen Praxisgemeinschaft gefördert fühlen. So berichtet P10, der etwas anderes machen wollte, wie folgt von seinem Lernweg:

“Also ich bin... eigentlich alles nur gemacht, weil ich eigentlich woanders reinrutschen wollte und dann habe ich gesagt: ok, das ist eigentlich gar nicht so mein Ding. Bin halt öfter zu spät gekommen und irgendwann hat dann halt mein Vorarbeiter gesagt, ja so geht’s nicht weiter. Und dann war es auf einmal nach zwei, drei Wochen drinne, dass ich halt immer pünktlich war. [...] Man ist dann ja auch  ganz anders miteinander umgegangen. Vorher war’s immer nur so’n: Tach, Tschüss, Wie geht’s? Und jetzt ist es halt so richtiges Kommunikationsfeld geworden, wo man halt auch mal privat miteinander redet und sich trifft” (P10, 29).

Die Selbstdisziplinierung ist hier nicht nur eine Anpassung, sondern eröffnet auch durch eine Integration in die Praxisgemeinschaft neue soziale Anknüpfungspunkte und eine Stabilisierung im lebensweltlichen Bereich. Das Engagement geht bei einigen Interviewten so weit, dass sie einen deutlichen Mehreinsatz leisten. So nimmt P8 eineinhalb Stunden Fahrtzeit pro Richtung in Kauf und dies bei einer 10-Stunden-Schicht. Sie berichtet ebenfalls begeistert:

“Also die Ausbilder Herr Dietrich und Herr Brendel[1] sind das... die sind echt... Also: von 100 Punkten würde ich den’ wirklich 100 Punkte geben, weil die sind echt... Die haben auch Interesse an der Person, weißt du, die ähm, die fragen nach, wenn sie merken, da stimmt irgendwas nicht, die hat schlechte Laune” (P8, 105-107).

Mit dem Kontakt in die Praxisgemeinschaft konkretisieren sich auch die Vorstellungen für die darauffolgende Ausbildung. Die Teilnehmer berichten häufig davon, dass sie die Gelegenheit nutzen, Auszubildende nach ihren Erfahrungen in Berufsschule oder am Arbeitsplatz zu fragen. Die Interviewten entwickeln sukzessive eine klare Vorstellung darüber, was nach Beendigung der Maßnahme kommt; ein Faktor, der entscheidend für die erfolgreiche Bewältigung von Ausbildung ist. In diesem Zusammenhang erscheint die Tatsache problematisch, dass Einstiegsqualifizierungen auch von Unternehmen angeboten werden, die keine Ausbildungsplätze bereitstellen. Auch die von uns untersuchten Geschäftsbereich stellen nicht alle erfolgreichen EQ-Absolventen ein: Von den 15 Interviewten, die noch in der EQ sind, hatten sechs noch keine endgültige Zu- oder Absage in Hinblick auf eine Ausbildungsplatzes. Obwohl die Teilnehmenden wissen, dass sie mit externen Bewerbern konkurrieren, finden sich in keinem der Interviews Zukunftsentwürfe jenseits der Ausbildung in dem EQ-Betrieb. Das 9-monatige Engagement sowie die positive Rückmeldung aus der Praxisgemeinschaft sorgen für eine Stabilisierung der Lebensentwürfe, die gleichzeitig zu einer Beschränkung der Optionen führt. Der persönliche Einsatz für das Unternehmen, so die Erwartung der Jugendlichen, soll sich auch in einem konkreten Ausbildungsplatz niederschlagen. Die durch die Maßnahme erworbene Qualifizierung (durch ein IHK-Zertifikat bestätigt) wird nicht als ein Schritt auf dem Weg zum Wunschberuf angesehen; die Orientierung bleibt auf den konkreten Arbeitsplatz, den konkreten Betrieb verhaftet.

3.3.3 Konzentration auf Qualifizierung anstelle von Qualifikation – ergänzende Perspektive der Sozialpädagogen

Die hier untersuchte Einstiegsqualifizierung wird einerseits von schulischen Kursen (Deutsch, Mathe, Englisch) flankiert, andererseits von sozialpädagogischen Maßnahmen begleitet. Damit wird in dieser spezifischen Maßnahme eine Art duales Modell aus Schulungen und Praxisphasen abgebildet. Mit den betreuenden Sozialpädagogen wurde eine Gruppendiskussion geführt. Die aus den Teilnehmerinterviews herausgearbeitete Fokussierung auf den konkreten Arbeitsplatz spiegelt sich auch in den Einschätzungen des sozialpädagogischen Bildungspersonals wieder. Es kristallisieren sich jedoch berufsspezifische Unterschiede heraus. So ist Bm für die Teilnehmer im Bereich Sicherheit zuständig, Am für Reinigung und Gartenbau, Ff für Service und Gastronomie.

Im Bereich des Service und der Gastronomie berichtet Ff von dem typischen Teilnehmer:

„Zwischen 17 und 18, das ist so das Hauptalter, auch so Haupt- oder Realschulabschluss. Anfangs motiviert, … nachher so in den letzten Monaten wird’s immer ‘n bisschen uninteressanter, aber so an sich… von Anfang bis zum Ende dann begeistert“ (Ff, 56).

Ff berichtet hier von Phasen der Ernüchterung am Ende der Qualifikation, wie sie so in unseren Interviews mit den Teilnehmenden nicht zu Tage traten, bestätigt aber die grundsätzlich positive Einschätzung. Die hier angebotene Einstiegsqualifizierung im Bereich Gastronomie kann zu zwei Ausbildungsberufen führen: einmal im Bereich Gastronomie und zum anderen im Bereich Service. Im Gegensatz zu den anderen Arbeitsbereichen sind hier Tätigkeiten geschaffen worden, die sich nicht in der Ausbildung wiederholen, sondern speziell von den Teilnehmern erledigt werden. Die eingangs zitierte Begeisterung von P6 über „das Team“ zeigt dennoch, wie es der Praxisgemeinschaft gelingt, diese Teilnehmer zu integrieren. Die Begeisterung für die Tätigkeit erstreckt sich daher, wie bereits herausgearbeitet, nicht auf den konkreten Beruf (den die Teilnehmer ja noch nicht ausfüllen), sondern auf ihre Hilfstätigkeiten, die sie trotzdem als in die Praxisgemeinschaft mit eingebunden erleben.

Der Interviewte Am betreut den Bereich Gartenbau und Gebäudereinigung. Den typischen Teilnehmer an der EQ beschreibt er wie folgt und bestätigt den Hinweis auf die körperliche Betätigung als ein positives Kriterium für die Arbeit

„das sind eigentlich in der Regel relativ erst mal Robuste… die dann auch so ‘n Stück körperlich sich das zutrauen, die auch bestimmte Vorerfahrungen haben, teilweise sehr viel Bewegungsdrang. Hab‘ da schon viele Sachen erlebt, dann auch die müssen natürlich körperlich auch richtig dran, ran“ (Am, 66).

Bm wiederum berichtet:

„Der typische Teilnehmer im Sicherheitsbereich hat Hauptschulabschluss, mit Glück Realschulabschluss. Hat die Vorstellung, dass es irgendwo was mit Personenschutz zu tun hat, was er aber dann doch nicht weiter verfolgt. Hat irgendwie Interesse dran, ist fasziniert davon und sucht einen sicheren Arbeitgeber […]. Das ist so der typische Teilnehmer, der wird dann in die Ausbildung übernommen, der schafft dann eigentlich auch die Ausbildung“ (Bm, 52).

Die Teilnehmenden im Bereich Sicherheit treten zumeist mit einer klaren Berufsorientierung an. Mit dem § 34 A Schein, der zu Beginn der Maßnahme erworben werden muss, erhalten diese Teilnehmer auch bereits die Möglichkeit, ohne Ausbildung im Sicherheitsgewerbe zu arbeiten, stehen demnach dem Ausbildungsmarkt zur Verfügung. Diese klare Berufsorientierung hat sich auch in unseren Interviews widergespiegelt: die Teilnehmenden haben sich alle gezielt auf die Einstiegsqualifizierung in diesem Bereich beworben. Mit dem § 34 A werden auch bereits erste fachliche Inhalte vermittelt, die dann in der anschließenden Ausbildung vertieft werden. Eine solche aufbauende Vorbereitung fehlt in der Regel in den anderen Einsatzbereichen. Auf die Frage, ob sie vorbereitenden Fachunterricht für die Teilnehmenden begrüßen würde, antwortet Ff:

„Zum Beispiel, ich weiß, dass wenn die […] in die Berufsschule gehen nachher, Ernährung und was weiß ich wie die heißt, die, die setzen sich da tagelang hin und äh, besprechen sämtliche Käse- und Wurstsorten. Und, ähm, die … sagen dann: äh, ja, interessiert mich jetzt doch noch nicht, keine Ahnung. Und die haben mit ihrem [mobilen Verkauf] jetzt auch noch nichts mit diesen Sachen zu tun, von daher“ (Ff, 112).

Am sieht es ähnlich skeptisch:

„Fachtrainer, hier den Hans, der dann auch Elektronik, Elektrotechnik, der das mal versucht hat so ‘n bisschen, aber in… Ich glaube, da ist auch die Bereitschaft jetzt auch von den Teilnehmern her nicht unbedingt so schon gut. Sobald sie wissen, wenn ‘ne Ausbildungsplatzzusage da ist, ‘ne, und das ist ja meist erst schon, wenn die Unterrichte abgeschlossen sind, dann ist vielleicht das Interesse dann da, ‘ne, aber vorweg, ‘ne, so nach dem Motto, warum soll ich mich da jetzt schon mit diesen Sachen beschäftigen, ich weiß ja sowieso noch nicht, ob ich in ‘ne Ausbildung geh, das ist dann immer nochmal schwer zu vermitteln. Aber ich denk‘ mal so als Vorbereitung, was wir leisten, ist zumindest einhalten der Regeln, also Pünktlichkeit, da sein, Durchhaltevermögen vielleicht auch“ (Am, 101).

Die Sozialpädagogen schätzen die Jugendlichen als noch nicht motiviert für die Auseinandersetzung mit Fachinhalten ein. Dies scheint zum einen der Schulmüdigkeit vieler EQ-Teilnehmenden geschuldet, die sich zwar für praktische Arbeiten begeistern können (s.o.), aber schulische Lern-Formen ablehnen. Die Skepsis von Am geht darüber hinaus: für die Jugendlichen stellt aus seiner Sicht ein Fachtraining ein Investment dar, das sie im Angesichts noch unklarer Ausbildungs- und Zukunftsperspektiven nicht bereit sind einzugehen. Das Engagement erstreckt sich auf die aktuelle Maßnahme, auf die Qualifizierung, es scheint kein Schritt in eine stabile Berufsorientierung zu sein, die eine breite Qualifikation vor Augen hat.

4 Schlussfolgerungen

Die Fallstudie verdeutlicht die Bedeutung von Abwechslung und Integration in den betrieblichen Alltag als zwei Faktoren, die jungen Menschen die Berufsorientierung erleichtern, wobei in der untersuchten Gruppe aus Sicht der Betroffenen nicht lediglich eine Orientierung, sondern bereits der Einstieg in die Beruflichkeit erfolgte. Dabei sehen die Jugendlichen nicht die Inhalte des Berufes als Motivation an, sondern die Integration in eine berufliche Praxisgemeinschaft, genauer: in diese eine betriebliche Praxisgemeinschaft. Diese Orientierung an der konkreten Arbeitgruppe ist durch die Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe und das niedrige Komplexitätsniveau der Arbeitsaufgaben motiviert, muss aber auch vor dem Hintergrund erlebter Zurückweisung und Unsicherheit (s. o.) interpretiert werden.

Eine Ausnahme bildet die Gruppe der Sicherheitskräfte. Hier findet schon vor dem Einstieg in die Maßnahme eine klare Berufsorientierung statt, die dann auch durch die Maßnahme führt und zumeist auch die erfolgreiche Bewältigung der Ausbildung befördert. Weitere Untersuchungen der EQ sind notwendig, um den hier vorgestellten Befund differenziert einzuschätzen – es mag sein, dass besondere Charakteristika des Arbeitgebers die vorliegende Einschätzung prägen.

Das Risiko betrieblicher Orientierung liegt in der faktischen Brüchigkeit von Erwerbsbiographien; auch ist strukturell eine Übernahme nach der EQ nicht immer gewährleistet. So entspricht die Zahl der zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätze nicht immer den angebotenen Plätzen in der Einstiegsqualifizierung: die Personalplanung erfolgt teilweise von Jahr zu Jahr, so dass es zu einer Art „Überrekrutierung“ kommen kann. Diese Überrekrutierung macht im Hinblick auf potenzielle Abbrecher Sinn, sie führt aber dazu, dass Jugendliche, die erfolgreich das Praktikum absolviert und sich für den Betrieb engagiert haben, miteinander und z.T. mit externen höherqualifizierten Bewerberinnen um Ausbildungsplätze konkurrieren müssen. Dies erscheint als grundsätzliches Dilemma des Übergangssystems und der Einstiegsqualifizierung: Gesetzlich ist nicht vorgeschrieben, dass Betriebe in der Einstiegsqualifizierung auch Ausbildungsplätze und damit einen möglichen Übergang anbieten müssen (Popp et al. 2012). In den Interviews unterstrichen die Jugendlichen, dass für sie ein Scheitern beim Übergang in die Ausbildung einer persönlichen Tragödie gleich käme. Untersuchungen, die Auswirkungen eines solchen Rückschlags auf die psychosoziale Stabilisierung sozial benachteiligter Jugendlicher beschreiben, stehen noch aus. Hier wäre z. B. zu fragen: suchen die Jugendlichen im selben Tätigkeitsfeld oder orientieren sie sich ganz neu? Orientieren sie sich überhaupt neu oder steigen sie aus dem traditionellen Lohnerwerbssystem aus?

Die in der Literatur geschilderte Ernüchterung bei der Berufsorientierung ist in unserem Sample nicht zu finden. Dies liegt sicherlich zum einen an der Auswahl der Interviewpartner, die alle die Maßnahme erfolgreich durchlaufen haben sowie an dem Fokus der Fragestellung, der sich auf die Erfahrungen und Bewertungen der Maßnahme konzentriert und nicht auf die Suche davor. Es scheint untersuchenswert, ob die Ernüchterung während der Ausbildung noch eintritt - zumal sich begeisternde Arbeitsaspekte wie die Abwechslung im Laufe der Zeit relativieren können. Gleichzeitig ist die Frage zu stellen, ob sich und ab wann sich eine Berufsorientierung herausbildet, die von der lokalen Praxisgemeinschaft abstrahiert.

Die Berufsorientierung in der von uns untersuchten Einstiegsqualifizierung ist somit teilweise als Chance, teilweise als Risiko zu bewerten. Einerseits erleben die Jugendlichen, dass sie produktiv in einer betrieblichen Praxisgemeinschaft  wirken können, was grundlegende psychosoziale Entwicklungen anzuregen scheint (z. B. zunehmende Verbindlichkeit und Verantwortungsübernahme). Andererseits fokussieren sie sich so stark auf den EQ-Betrieb, dass ein Wechsel in ein anderes Unternehmen für sie schwer vorstellbar und potentiell zu einem weiteren Bruch in ihrer schwierigen Erwerbs(such)-Biographie wird. Wünschenswert ist daher, die allzu betriebliche Orientierung der Jugendlichen aufzufangen - oder bessere Bedingungen für die Übernahme in die Ausbildung sicherzustellen.

Literatur

Blankertz, H. (Hrsg.). (1986): Lernen und Kompetenzentwicklung in der Sekundarstufe II. Soest.

Bohnsack, R. (1989): Generation, Milieu, Geschlecht: Ergebnisse aus Gruppendiskussionen mit Jugendlichen. Opladen.

Bojanowski, A. (2006): Auf der Suche nach tragenden Theoremen—zur Programmatik einer „beruflichen Förderpädagogik". In: Spies, A./ Tredop, D. (Hrsg.) "Risikobiografien" : Benachteiligte Jugendliche zwischen Ausgrenzung und Förderprojekten. Wiesbaden, 297-314.

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Mey, G./Mruck, K. (Hrsg.) (2011): Grounded theory reader. Wiesbaden.

Panke, M (2005): Arbeiten lernen. Erfahrungen junger Arbeiter im Prozess der Qualifizierung. Wiesbaden.

Popp, S./Grebe, T./Becker, C./Dietrich, H. (2012): Weiterführung der Begleitforschung zur Einstiegsqualifizierung im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Abschlussbericht. Berlin.


[1] Namen sind zur Anonymisierung gewählt worden.

Berufsorientierung in einer inklusiven Schule

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1 Einleitung

Der ‚Erfolg‘ einer Schule zeigt sich nicht zuletzt daran, dass allen Jugendlichen ein Übergang von der Schule in die weiterführende allgemeine oder berufliche Bildung (vgl. Preuss-Lausitz 2014; Brüggemann/Rahn 2013) gelingt. Ein Ausbildungsabschluss ist eine zentrale Voraussetzung für Erwerbsarbeit, die wiederum wesentlich die Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bestimmt (vgl. Meyer et al. 2012). Jugendliche auf den Übergang vorzubereiten und in der Situation des Übergangs zu unterstützen, ist somit eine zentrale Aufgabe der allgemeinbildenden Schule (vgl. Meyer et al. 2012). In einer inklusiven Schule steht die Berufsorientierung allerdings aufgrund der zunehmend heterogen zusammengesetzten Lerngruppen vor besonderen Herausforderungen: (1) die Vielfalt möglicher Anschlüsse nimmt zu, (2) individuelle Informations-, Orientierungs- und Reflexionsprozesse während des Berufsorientierungsprozesse der Jugendlichen unterscheiden sich stärker sowie (3) Unterstützungsbedarfe, die jeweils für jede Schülerin bzw. jeden Schüler festgestellt und erfüllt werden sollten, variieren mehr. Trotz dieser Herausforderungen sollte es Ziel einer inklusiven Berufsorientierung sein, SchülerInnen so zu unterstützen, dass sie Anschlüsse wählen, die ihren Potenzialen entsprechen (vgl. Koch/Textor 2015). SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wählen hingegen oftmals Anschlüsse die hinter ihren Möglichkeiten liegen (vgl. Nigges-Gellrich/Schmidt 2013). Ein Grund hierfür ist die Neigung unterstützender professioneller Akteure außerbetriebliche Qualifizierungswege zu empfehlen (vgl. Ginnold 2008), ohne angemessen zu berücksichtigen, dass die Chance für den Jugendlichen an Ausbildung und Arbeitsmarkt teilhaben zu können, damit eher verringert wird (vgl. Bylinski/Rützel 2011, 15). Inklusive Lerngruppen benötigen somit ein differenziertes und individualisiertes Angebot an Unterstützung (vgl. Koch/Textor 2015), welches die vielfältigen Möglichkeiten weiterer allgemeiner und beruflicher Bildung thematisiert. Dazu gehören berufsorientierende Maßnahmen, die Jugendlichen die Möglichkeit bieten sich zu informieren, zu orientieren und über das Verhältnis zwischen eigenen Interessen und Fähigkeiten sowie Anforderungen in neuen Lernumwelten zu reflektieren. Ziel des berufsorientierenden Prozesses der Jugendlichen ist es, sich schließlich für einen Weg fundiert entscheiden zu können.

Angesichts der skizzierten Anforderungen wird in diesem Beitrag die Frage aufgeworfen, in welchem Umfang bestehende Konzepte zur Berufsorientierung – konkretisiert an zwei Beispielen – diesen Herausforderungen angemessen begegnen können. Zur Klärung der Fragestellung werden Merkmale aus Theorien zur inklusiven Pädagogik (vgl. Sander 2004; Hinz 2009) und aus dem Index für Inklusion (vgl. Booth/Ainscow 2003) abgeleitet, die für eine Analyse bestehender Konzepte herangezogen werden. Die folgende Betrachtung richtet sich auf zwei Konzepte: der Berufswahlpass und die Individuelle Förderplanung Berufliche Integration. Sie sind für die Analyse ausgewählt worden, weil sie für unterschiedliche Schulformen entwickelt worden sind, sie über einen relativ hohen Verbreitungsgrad verfügen und sie weitgehend maßgebliche qualitative Maßstäbe der Berufsorientierung erfüllen. Mit dem Beitrag werden folgende Ziele verfolgt: (1) Es sollen strukturelle und qualitative Merkmale einer inklusiven Berufsorientierung herauszuarbeitet werden. (2) Es soll mit diesen Merkmalen geprüft werden, ob vorhandene Konzepte eine Grundlage für eine inklusive Berufsorientierung bilden können. (3) Es sollen Ansatzpunkte für weitere Transitionsforschung bestimmt werden.

Hierzu werden zunächst wesentliche Kennzeichen des bildungspolitischen Wandels zu einer inklusiven Schule beschrieben aus denen sich unterschiedliche Rahmenbedingungen für die Umsetzung einer schulischen Berufsorientierung ergeben. Zentraler Aspekt dieses Kapitel ist die Darstellung struktureller Merkmale einer inklusiven Berufsorientierung. Es folgt eine Aufführung zentraler Qualitätsmerkmale bisheriger schulischer Berufsorientierung und eine Skizzierung der beiden ausgewählten Konzepte Berufswahlpass und Individuelle Förderplanung Berufliche Integration, die für die exemplarische Analyse herangezogen werden. Danach werden zentrale Merkmale inklusiver Settings auf der Ebene der einzelnen Schule erläutert, um daraus Indikatoren für eine inklusive Berufsorientierung zu entwickeln. In diesem Kapitel werden qualitative Maßstäbe schulischer Berufsorientierung mit denen einer inklusiven Pädagogik verknüpft. Es schließt die Analyse an, die sowohl auf die strukturellen Merkmale einer inklusiven Berufsorientierung als auch auf die entwickelten Indikatoren zurückgreift. Im Fazit werden zentrale Ergebnisse der Analyse nochmals aufgegriffen und in Forschungsbedarfe überführt.

2 Die inklusive Schule

Aus einer längerfristigen Perspektive zeichnen sich mit Blick auf die Sekundarstufe für die Zukunft folgende zwei zentrale Entwicklungsstränge der Schulstruktur ab: Erstens verweisen Ergebnisse der Schulstrukturforschung darauf, dass aufgrund des Elternwahlrechtes am Übergang von der Primarstufe zur Sekundarstufe und des demographischen Wandels das Schulsystem über alle Bundesländer hinweg langfristig voraussichtlich zweigliedrig wird (vgl. Rösner 2010). Dies ist beispielsweise bereits in Hamburg der Fall. Das zweigliedrige System sieht das Gymnasium und eine weitere Schulform (in Hamburg ist dies z.B. die Stadtteilschule) vor, die ebenfalls gymnasiale Standards bietet. Zweitens ist erkennbar, dass beide Schulformen inklusiv werden können. Jugendliche mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf können zumindest theoretisch in beide Schulen aufgenommen und ggf. zieldifferent unterrichtet werden. Die Eltern sollen darüber entscheiden, ob sie ihr Kind an einem Gymnasium oder in der anderen Schulform anmelden. Gegenwärtig bleibt allerdings das Förderschulsystem in den einzelnen Bundesländern in unterschiedlichem Ausmaß erhalten (vgl. Preuss-Lausitz 2010). Die Eltern entscheiden derzeit, auf welche Schule ihr Kind gehen soll: entweder in eine Förderschule oder in eine Regelschule. Eine besondere Rolle spielen die Förderschwerpunkte Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache, da für diese Förderschwerpunkte am ehesten eine Integration in das Regelschulwesen zu erwarten ist. Somit wird zurzeit in den einzelnen Bundesländern in unterschiedlichem Maße eine Parallelstruktur aufgebaut: Zum einen bleibt die separative Schulstruktur erhalten. Zum anderen werden inklusive Schulen eingerichtet. Fraglich ist, ob die einzelnen Bundesländer durch ihre sowohl inklusiven als auch exklusiven Rahmenvorgaben unterschiedliche Spielräume für eine Umsetzung inklusiver Praxis bieten. Aktuelle empirische Studien greifen diese Fragestellung auf und untersuchen die Wirksamkeit inklusiver vs. exklusiver Modelle (vgl. Wild et al. im Druck). Zur Analyse von Unterschieden in der Umsetzung inklusiver Bildung sind folgende Dimensionen (Koch/Textor 2015, 112ff.) hilfreich:

Art der Ressourcenzuweisung

Die Ressourcenzuweisung kann mit SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf verknüpft sein oder der Schule pauschal zugewiesen werden. Eine pauschale Zuweisung von Ressourcen ist mit einer inklusiven Praxis eher zu vereinbaren (vgl. Koch/Textor 2015). So kann auf eine für die Schülerin bzw. den Schüler stigmatisierende Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs verzichtet werden. Zudem sind die Schulen nicht dazu gezwungen, solche Verfahren einzuleiten, um die erforderlichen Ressourcen zu bekommen. Darüber hinaus können sie mit den bereits vorhandenen Ressourcen auf die Probleme in der Schule zeitnah reagieren (vgl. Koch/Textor 2015). In Hamburg (vgl. Freie und Hansestadt Hamburg 2015) wird beispielsweise ein Mischmodell gefahren. So erhalten Grundschulen und Stadtteilschulen eine pauschale Zuweisung. Bei bestimmten Förderschwerpunkten (z.B. geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Sehen, Hören und Kommunikation, Autismus, Krankheit) erfolgt eine Zuweisung der Ressourcen an eine Hamburger Schule über die gutachtliche Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs einer Schülerin bzw. eines Schülers. In Niedersachsen (Niedersächsisches Kultusministerium 2012) beispielsweise werden bei der Ressourcenvergabe noch die Besonderheiten des Standortes berücksichtigt (z.B. bei einem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund).

Verortung sonderpädagogischer Ressourcen

Sonderpädagogische LehrerInnen können an zwei Stellen verortet sein: zum einen an der inklusiven Einzelschule (z.B. in Hamburg) und zum anderen in übergeordneten sonderpädagogischen Förderzentren (z.B. in Niedersachsen). Trifft ersteres zu, sind die sonderpädagogischen LehrerInnen Teil des Kollegiums. In dem anderen Fall bleiben die sonderpädagogischen LehrerInnen am Förderzentrum verortet und die Regelschule erhält ein bestimmtes Stundenkontingent. Förderlich für eine inklusive Praxis ist vermutlich die Verortung der sonderpädagogischen LehrerInnen an der Einzelschule, weil dies im Sinne einer inklusiven Pädagogik eher Möglichkeiten bietet, den Unterricht gemeinsam für die inklusive Lerngruppe zu planen, durchzuführen und zu reflektieren. Die bereits zitierte Studie von Wild et al. (im Druck) untersucht u.a., ob verschiedene Verortungen der sonderpädagogischen Ressourcen unterschiedliche Wirkungen zeigen.

Konzeptionell bedingtes Ausmaß der Segregation

Diese Dimension bezieht sich auf das Ausmaß der konzeptionell bedingten äußeren Differenzierung. Hierbei werden drei Modelle unterschieden (vgl. Koch/Textor 2015): Kooperationsklassen, Pullout-Modelle und gemeinsamer Unterricht. Kooperationsklassen sind an der Regelschule eingerichtete Förderschulklassen. Das Konzept sieht eine Kooperation zwischen Regelschulklasse und der Förderschulklasse vor. Das Ausmaß der Kooperation und damit auch das Ausmaß an Segregation werden von der Schule bestimmt. Pullout-Modelle beinhalten, dass in einem Teil der Lernzeit die Kinder bzw. Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Gruppen oder einzeln unterrichtet werden. Im gemeinsamen Unterricht wird dann auf jegliche Formen äußerer Differenzierung verzichtet. Formen äußerer Differenzierung erfüllen nicht die Bedingungen einer inklusiven Pädagogik (vgl. Koch/Textor 2015), weil das Anregungspotenzial einer heterogenen Gruppe dann nicht mehr für Lernprozesse genutzt werden kann (vgl. Hinz 2009). In Niedersachsen (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium 2012) beispielsweise sind alle drei Formen zu finden. Hamburg (vgl. Freie und Hansestadt Hamburg 2015) hingegen arbeitet nur mit dem gemeinsamen Unterricht und Pullout-Modellen.

Die hier geschilderte Vielfalt der Umsetzung inklusiver Bildung, die durch die föderalistische Struktur bedingt ist, ist für eine inklusive Pädagogik hinderlich (vgl. Powell 2013). Bezogen auf eine schulische Berufsorientierung ergibt sich angesichts dieser Situation folgendes Konglomerat: Erstens ist Berufsorientierung eine Aufgabe für die verbleibenden Förderschulen, für Gymnasien, die Kinder bzw. Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf zieldifferent unterrichten und für alle anderen Schulen der Sekundarstufe I und II neben dem Gymnasium, die sich aufgrund der unterschiedlich heterogen zusammengesetzten Lerngruppen jeweils anders stellt. Zweitens kann aufgrund fehlender Erfahrungen und Kompetenzen seitens der professionellen Akteure nicht ausreichend geregelt sein, wer für die Berufsorientierung die Verantwortung übernehmen soll: die sonderpädagogischen LehrerInnen für die SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf oder die zuständigen LehrerInnen in einem multiprofessionellen Team auf der Basis eines schulischen Berufsorientierungskonzeptes, welches die heterogen zusammengesetzten Lerngruppen als Ausgangspunkt für die Planung nimmt. Drittens können bis auf die verbleibenden Förderschulen, alle Schulen mit allen möglichen Förderschwerpunkten in Berührung kommen und damit alle Anschlüsse relevant werden, die das berufliche und das allgemeinbildende Bildungssystem vorhält: wie Regelausbildung, Benachteiligtenförderung, berufliche Rehabilitation und gymnasiale Oberstufe. Die ersten drei berufsbildenden Segmente sind jeweils durch eine starke und unübersichtliche Ausdifferenzierung gekennzeichnet und verändern sich stetig. Für Jugendliche ist besonders schwerwiegend, dass mit den jeweiligen Anschlüssen unterschiedliche Chancen der langfristigen Teilhabe an Erwerbstätigkeit verbunden sind (vgl. Doose 2007; Bojanowski 2008). Vor diesem Hintergrund sind frühe Zuordnungen der Jugendlichen zu den einzelnen Segmenten problematisch. Zudem ist viertens zu beachten, dass das berufliche Bildungssystem  als überwiegend nicht inklusiv bezeichnet wird (vgl. Biermann/Bonz 2011). Insofern besteht die die zentrale Aufgabe für sonderpädagogische und schulpädagogische LehrerInnen sowie andere Professionen (z.B. SchulsozialarbeiterInnen) in einer inklusiven Schule darin, SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu unterstützen, sich in einem nicht inklusiven System zu platzieren, um an beruflicher Ausbildung und Arbeitsmarkt teilhaben können. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass ein Konzept zur inklusiven Berufsorientierung ein Angebot für alle SchülerInnen zur Verfügung stellt. Eine Konzentration auf Jugendliche, die Schwierigkeiten bei der erfolgreichen Bewältigung des Übergangs haben, birgt die Gefahr „curricularer und organisatorischer Fehlsteuerung“ (Baethge 2014, 230).

3 Berufsorientierung als schulisches Konzept

Baethge (2014, 233) plädiert für ein Konzept der schulischen Berufsorientierung als integrativen Bestandteil der Curricula allgemeinbildender Schulen der Sekundarstufe I und II, um Übergangsprobleme zu verringern. Die Berufsorientierung hat sowohl in der Forschung als auch in der Praxis in den letzten 15 Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen (vgl. Brüggemann/Rahn 2013, Bührmann/Wiethoff 2013). Dies ist auch aus der Erkenntnis erwachsen, dass die Vergabe von Schulabschlüssen allein nicht ausreicht, Jugendliche bei ihrer Entscheidung über den weiteren beruflichen oder schulischen Werdegang angemessen zu unterstützen.

Qualitätsmerkmale schulischer Berufsorientierung

Die in diesem Beitrag skizzierten Qualitätsmerkmale schulischer Berufsorientierung sind überwiegend eine Verdichtung von unterschiedlichen Erfahrungsberichten, die zu unterschiedlichen Aspekten ähnliche Aussagen treffen (vgl. z.B. European Agency 2002). Darüber hinaus werden Ergebnisse der wenigen gegenwärtig vorliegenden empirischen Studien in die Auflistung integriert (vgl. z.B. Bührmann/Wiethoff 2013). Das Programm „Schule-Wirtschaft/Arbeitsleben“ des BMBF hat einen wesentlichen Beitrag zur konzeptionellen Entwicklung der Berufsorientierung geleistet (vgl. z.B. Famulla et al. 2008). Die einzelnen Konzepte sind in der Regel im Modus der Praxisforschung entwickelt worden (vgl. Koch 2011): Erkenntnisse aus dem Prozess der Entwicklung, Erprobung und Evaluation werden in die Konzepte aufgenommen und entsprechend dokumentiert. Vor diesem Hintergrund sind für eine erfolgreiche schulische Berufsorientierung u.a. folgende Merkmale relevant (siehe auch Koch/Textor 2015):

  • Die Berufsorientierung ist ein fächerübergreifendes (Famulla et al. 2008) und über mehrere Jahre angelegtes schulisches Konzept (vgl. Rahn et al. 2011). Sie beginnt spätestens in der 7. Jahrgangstufe und wird, wenn ein Bedarf seitens der SchülerInnen besteht, in Form einer „nachgehenden Betreuung“ (Koch/Kortenbusch 2009) nach dem Ende der Schulzeit mindestens noch über ein halbes Jahr fortgesetzt.
  • Individualisierung ist ein wesentliches didaktisches Prinzip eines berufsorientierenden Curriculums, um auf die Heterogenität der Ausgangslagen hinsichtlich Interessen, Bedürfnissen, Fähigkeiten und Stand im Orientierungsprozess der SchülerInnen angemessen reagieren zu können (vgl. Rahn et al. 2011, 309).
  • Der Lernortwechsel in den Betrieb oder in andere Lernumwelten ist zentraler Bestandteil eines berufsorientierenden Konzeptes (vgl. Bührmann/Witthoff 2013). Damit der Betrieb für SchülerInnen als Lernort fungieren kann, ist es Voraussetzung, dass LehrerInnen mit den beteiligten Akteuren in den Betrieben kontinuierlich kooperieren. Ergebnisse empirischer Forschung zeigen, dass hohe betriebliche Praxisanteile Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnen (vgl. Ginnold 2007, 187; Baethge 2014), beispielsweise im Rahmen von Langzeitpraktika (vgl. Koch/Kortenbusch 2009). Jugendliche sollten ihre Erfahrungen aus den neuen Lernumwelten in den Unterricht einbringen können. LehrerInnen unterstützen SchülerInnen dabei, diese Erfahrungen für eigene Orientierung-, Reflexions- und Entscheidungsprozesse nutzbar machen zu können (vgl. Famulla et al. 2008, Driesel-Lange et al. 2011, 317).
  • Beratung in Form von Reflexionsgesprächen ist ein fester Bestandteil des gesamten berufsorientierenden Curriculums in der allgemeinbildenden Schule. Instrumente zur kontinuierlichen Begleitung der Jugendlichen (z.B. Förderpläne bzw. Bildungspläne) können zur Professionalisierung des Beratungsprozesses beitragen. Die Verantwortung für die Beratung der Jugendlichen liegt in der Regel bei KlassenlehrerInnen oder bei BetreuungslehrerInnen.
  • Berufsorientierende Konzepte setzen die systematische und kontinuierliche Vernetzung mit außerschulischen Akteuren (Betriebe, Agentur für Arbeit, Integrationsfachdienst etc.) voraus (vgl. Thielen 2011, 9).
  • Eltern sind eine zentrale Ressource zur Unterstützung ihrer Kinder im Prozess der Berufsorientierung und sind von daher in das schulische Konzept aktiv einzubeziehen (vgl. Ginnold 2007, 187).
  • Berufsorientierung kann nur gelingen, wenn LehrerInnen sie als Teil des Bildungs- und Erziehungsauftrages von Schule anerkennen (z.B. Famulla et al. 2008). Die Grundlage für die Umsetzung bildet das vom Kollegium gemeinsam getragene schulische Konzept zur Berufsorientierung. Um in diesem Zusammenhang ihre Aufgaben kompetent wahrnehmen zu können, benötigen sie grundlegende Kenntnisse über das berufliche Bildungssystem (z.B. Famulla et al. 2008).

Die hier auf der Grundlage von Erfahrungsberichten und Forschungsergebnissen herausgefilterten Faktoren spielen für Transitionsprozesse von Jugendlichen eine zentrale Rolle. Aus subjektbezogener Sicht bedeutet eine Transition eine Veränderung von eingelebten Zusammenhängen, die als neue Anforderung erlebt wird. Um diese zu bewältigen ist Lernen erforderlich, welches sich in einem Prozess vollzieht (vgl. von Felden 2010, 33). Studien, die das subjektive Erleben in der Situation des Übergangs, die individuellen Bewältigungsmuster und die Handlungsstrategien in einem qualitativen Zuschnitt untersuchen, sind selten (vgl. z.B. Heckl/Dorr/Sheikh 2004). Es fehlt auch an Studien, die untersuchen, wie schulische Unterstützungsangebote erlebt und eingeschätzt werden. Von daher sind auch wenige Erkenntnisse aus der Sicht der Betroffenen vorhanden, die Rückschlüsse auf eine ‚gute‘ schulische Berufsorientierung zuließen. Insgesamt betrachtet, steht die Forschung noch am Anfang das Verhältnis dieser Faktoren zueinander und ihre Wirkung auf die Transitionsprozesse der Jugendlichen zu klären (siehe auch Bührmann/Wiethoff 2013).

Im Folgenden werden zwei Konzepte zur schulischen Berufsorientierung vorgestellt, die eine Integration in eine „Allgemeinbildungsdidaktik“ der Sekundarstufe I und II (Baethge 2014, 233) anstreben. Wird eines der beiden Konzepte im Sinne seiner Zielsetzungen implementiert, ergeben sich daraus Schulentwicklungsprozesse (vgl. Koch 2011). So werden durch die Implementierung der Konzepte Entwicklungsprozesse auf der Ebene der beteiligten Akteure, des Unterrichts, der Schule als Organisation und der Beziehung zu außerschulischen Akteuren in Gang gesetzt (Koch 2011, 89). Die beiden Beispiele sollen für Konzepte stehen, die die oben aufgeführten Qualitätsmerkmale weitgehend erfüllen. Zu beachten ist hierbei, dass beide Konzepte viel Programmatik enthalten. Das heißt mit den beiden Konzepten werden durchaus Qualitätsansprüche einer gelungenen Berufsorientierung erfüllt. Inwieweit es in den einzelnen Schulen tatsächlich im Sinne der Konzepte zu einer qualitativ anspruchsvollen Umsetzung kommt, ist aber eine andere Frage. Empirische Forschung hierzu gibt es kaum (vgl. Koch 2011). Die beiden im Folgenden skizzierten Konzepte sind relativ stark verbreitet und haben unterschiedliche Zielgruppen im Blick.

Beispiel 1: Individuelle Förderplanung Berufliche Integration

Individuelle Förderplanung Berufliche Integration (vgl. Koch/Kortenbusch 2007, 2009) ist ein Konzept für Schulen, die am BUS-Programm des Landes Nordrhein-Westfalen (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2014) teilnehmen, für Berufskollegs und für Förderschulen. Zentrale Zielsetzung des Konzeptes ist die Anbahnung von Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt bereits während der Schulzeit. Eine erfolgreiche Umsetzung des Konzeptes misst sich somit vorrangig daran, ob SchülerInnen nach ihrer Schulzeit in eine berufliche Ausbildung einmünden. Anlass zur Entwicklung des Konzeptes war die Beobachtung, dass viele Förderschulen den Beginn einer Ausbildung für ihre SchülerInnen nicht mehr in Betracht gezogen haben. Dies hatte wiederum zur Folge, dass sich die schulische Berufsorientierung im Wesentlichen auf die Segmente der Benachteiligtenförderung und der beruflichen Rehabilitation als mögliche Anschlüsse beschränkte. Die betriebliche Ausbildung als berufsbiographischer Weg wurde somit nicht mehr systematisch unterstützt.

Die Individuelle Förderplanung Berufliche Integration umfasst folgende Konzeptelemente: Das Förderplangespräch findet einmal pro Schulhalbjahr statt. In einer Förderschule würden in einem Zeitraum von drei Schuljahren entsprechend sechs Förderplangespräche durchgeführt. Wesentliches Kennzeichen ist der Beratungscharakter: Berater – in der Regel sind dies die KlassenlehrerInnen – und SchülerInnen gelangen zu einer gemeinsamen Einschätzung der Übergangssituation und vereinbaren weitere Ziele und Maßnahmen. Der Bogen zur Selbst- und Fremdeinschätzung unterstützt den Beratungsprozess als diagnostisches Instrument. SchülerInnen schätzen ihre Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen ein. LehrerInnen geben unabhängig davon eine Fremdeinschätzung ab. Abweichungen und Übereinstimmung können als Gesprächsanlass genutzt werden. Das Förderpraktikum geht über ein Jahr. Es beginnt in der Regel mit einem Block und wird dann an ein bis zwei Tagen fortgesetzt. Das Ziel des Förderpraktikums ist die Anbahnung von Ausbildung. Um die Lernorte Schule und Betrieb miteinander zu verknüpfen, werden Erfahrungen im Betrieb durch den Unterricht aufgegriffen. Um den individuellen Bedürfnissen und Lernausgangslagen der SchülerInnen gerecht werden zu können, ist ein geöffneter Unterricht notwendig. Das gesamte Konzept erstreckt sich in Förderschulen über mehrere Jahre (8., 9. und 10. Jahrgang.). Die bestehende Förderplanung wird mit dem Konzept zur Berufsorientierung bzw. zur beruflichen Integration verknüpft. Gelingt der Beginn einer Ausbildung, wird die Anfangsphase durch eine nachgehende Betreuung begleitet. Der gesamte Prozess und seine Ergebnisse sowie die vereinbarten Maßnahmen – in Form von Unterstützung durch die professionellen Akteure und ggf. durch die Eltern als auch in Form von Verantwortungsübernahme für den eigenen Lern- und Orientierungsprozess – und die Ziele werden systematisch im Rahmen der Individuellen Förderplanung dokumentiert.

Beispiel 2: Berufswahlpass

Der Berufswahlpass wird in 16 Bundesländern eingesetzt. Zentrale Zielsetzung ist es, dass jede Schülerin bzw. jeder Schüler durch seine Nutzung den „individuell richtigen Weg" (Bundesarbeitsgemeinschaft Berufswahlpass (BAG) 2012, 6) von der Schule in die weiterführende Bildung findet. Mit dem Berufswahlpass sollen Kompetenzen entwickelt werden, die eigene Berufsbiographie zu gestalten (vgl. BAG 2012, 7). Dazu gehört es, eine begründete Entscheidung für den weiteren nachschulischen Werdegang zu treffen. Mit dem Instrument soll besonders die Selbständigkeit der Jugendlichen in diesem Prozess gefördert werden. Der Berufswahlpass ist für die Jugendlichen und „als Arbeitsmaterial für mehrere Jahre angelegt“ (BAG 2012, 10). Er besteht aus sechs Teilen: Einführung, Angebote zur Berufsorientierung in der Schule, Mein Weg zur Berufswahl, Dokumentation, Lebensplanung und Zusatzmaterial für die Sekundarstufe II. Voraussetzungen für den Einsatz des Berufswahlpasses in der Schule sind ein ausgereiftes berufsorientierendes Konzept, welches die bereits beschriebene Qualitätsmerkmale erfüllt, die Unterstützung der Einführung des Passes durch Steuergruppen und die Schulleitung sowie ein professioneller Akteur, der die übergreifenden Angebote koordiniert (vgl. BAG 2013, 12). Durch die Verknüpfung des Berufswahlpasses mit dem Konzept zur Berufsorientierung ist der Berufswahlprozess über mehrere Jahre angelegt. Die Implementierung des Berufswahlpasses in der Schule soll eine fächerübergreifende Arbeit an dem Thema Berufsorientierung bewirken. Das Konzept zur Implementierung soll festlegen, in welchen Fächern und mit welchen Themen mit dem Berufswahlpass gearbeitet wird. Mit dieser Vorgehensweise soll erreicht werden, die Berufsorientierung als Aufgabe von Schule in die Verantwortung unterschiedlicher LehrerInnen mit unterschiedlichen Fächern zu legen. Die Ausgestaltung des Konzeptes zur Förderung der Berufsorientierung in der Schule bestimmt, ob Kooperation gepflegt, Praxisphasen durchgeführt und Reflexionsanlässe systematisch geschaffen werden.

Durch skizzenhafte Darstellung der beiden Beispiele konnte gezeigt werden, dass es durchaus berufsorientierende Curricula gibt, die dem „Bildungsraum Übergang“ (vgl. Baethge 2014, 238) Konturen verleihen könnten (vgl. Koch/Kortenbusch 2009). In den Konzepten werden zentrale Qualitätsaspekte einer gelungen Berufsorientierung weitgehend berücksichtigt. Allerdings verlangen beide Konzepte im Zuge ihrer Implementation umfassende Veränderungsprozesse in der Schule, das heißt, die einzelne Schule entscheidet darüber, mit welcher Qualität die Konzepte umgesetzt werden (vgl. Koch 2011). Ein Forschungsdesiderat besteht darin, die Wirkungen solcher Konzepte zu untersuchen und deren Gelingensbedingungen empirisch fundierter als bisher herauszufiltern. Baethge (2014) beschreibt den „vergessenen Bildungsraum“ als institutionelles Problem, dem durch Institutionswandel begegnet werden kann. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Allerdings gibt es – wie Baethge (2014) unzutreffend kritisiert – keine Lücke im curricularen Bereich. Es liegen unterschiedliche Programme (vgl. z.B. Famulla et al. 2008, Doose 2013) vor, die konzeptionelle Ansätze hervorgebracht haben. Die Entwicklung der Qualität der Berufsorientierung geschieht jedoch über die Entwicklung von Schule (vgl. Koch 2011). Somit ist die Umsetzung einer schulischen Berufsorientierung im Sinne einer inklusiven Pädagogik ein Schulentwicklungsproblem, welches sich im Kontext differenter bildungspolitischer Rahmenbedingungen (siehe Kapitel 2) unterschiedlich stellt.

4 Merkmale inklusiver Settings

Inklusive Pädagogik meint das „pädagogische Willkommenheißen“ (Hinz 2009, 241) von Heterogenität, welches eine pädagogische Grundhaltung für Prozesse des Lernens und der Teilhabe bildet (vgl. Hinz 2009, 241). Eine inklusive Pädagogik umfasst alle Dimensionen von Heterogenität wie unterschiedliche Fähigkeiten, Geschlechterrollen, ethnische Herkünfte, Behinderung. Aus der Sicht von Hinz (2009) verbietet es sich, Gruppen nach bestimmten Merkmalen zu unterteilen, wenn gemäß den Vorstellungen einer inklusiven Pädagogik das Anregungspotenzial einer heterogenen Gruppe genutzt werden soll. Unterschiedlichkeit ist in dieser Vorstellung zugleich Ausgangslage und Zielvorstellung der pädagogischen Praxis (vgl. Sander 2004, 242). Die Akzeptanz der Unterschiede ist eine zentrale Voraussetzung für eine gelungene inklusive Praxis. Aus der Perspektive der beruflichen Rehabilitation wird das Konzept „Leben mit Unterstützung“ (Hinz 2006, 4ff.) als einer inklusiven Pädagogik am nächsten beschrieben. Mit Blick auf den Übergang von der Schule in den Beruf werden Menschen mit Behinderung dabei unterstützt, in „üblichen Betrieben oder Behörden“ zu arbeiten und in „üblichen Gruppierungen ihre Freizeit“ zu verbringen (Hinz 2006, 5). Sie werden individuell, im Sinne von Assistenz, begleitet. Ein wesentliches Instrument hierfür sind gemeinsame persönliche Zukunftsplanungen (vgl. Doose 2011). Qualitatives Merkmal dieses Instrumentes ist es, dass Entscheidungen von den Betroffenen im Kontext ihrer persönlichen Unterstützerkreise getroffen werden. „Selbstbestimmung in sozialer Kohäsion“ ist das grundlegende Prinzip dieser Unterstützung (Hinz 2006, 6). Mit diesem Perspektivwechsel soll die Anerkennung als BürgerInnen in der Gemeinde vollzogen werden (vgl. Hinz 2006).

Es gibt nur wenige inklusionspädagogische Beiträge, die sich mit dem allgemeinbildenden Teil des Bildungsraums Übergang befassen (vgl. z.B. Hinz 2009; Doose 2013). Auffällig ist, dass die vorhandenen Beiträge in der Regel in dem Segment der beruflichen Rehabilitation und deren Entwicklungserfordernissen zu verorten sind (vgl. Doose 2013). Für SchülerInnen in einer inklusiven Schule sind im Sinne eines kompetenzorientierten Zugangs (vgl. Hinz 2006) alle Anschlüsse (siehe Kapitel 2) als Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

In einer inklusiven Schule wird in der Regel zusätzliche sonderpädagogische Unterstützung zur Verfügung gestellt. Im Sinne einer inklusiven Pädagogik sollte sich diese Unterstützung nicht auf die SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf begrenzen, sondern auf die gesamte Lerngruppe beziehen (vgl. Sander 2004, 241). Ziel ist es, die Unterstützung für die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse aller SchülerInnen zu nutzen (vgl. Sander 2004, 241).

Neben diesen generellen Beschreibungen einer inklusiven Pädagogik kann der Index für Inklusion für die Gewinnung von Kriterien herangezogen werden. Der Index bietet für Akteure in der Schule die Möglichkeit mit Hilfe von Indikatoren „eine mit der Heterogenitätsprogrammatik kompatible Vorstellung von Qualität“ zu entwickeln (Boban/Hinz 2012, 73). Der Index definiert drei Entwicklungsschwerpunkte für die einzelne Schule: „inklusive Kulturen schaffen“, „inklusive Strukturen etablieren“ und „inklusive Praktiken entwickeln“ (Boban/Hinz 2011, 11ff.). Die einzelnen Schwerpunkte enthalten jeweils zwei Bereiche, in denen die Indikatoren aufgeführt werden. ExpertInnen für eine inklusive Pädagogik entwickelten die Indikatoren, die angesichts der gewonnenen Erkenntnisse aus der Anwendung des Schulentwicklungsinstruments mehrfach überarbeitet wurden. Für diesen Beitrag werden Indikatoren für „inklusive Praktiken entwickeln“ und für „inklusive Strukturen etablieren“ (vgl. Booth/Ainscow 2003) herangezogen, die für eine inklusive Berufsorientierung relevant erscheinen. Indikatoren des Index (Booth/Ainscow 2003, 17) werden in der nachstehenden Tabelle in Beziehung gesetzt zu den qualitativen Merkmalen einer schulischen Berufsorientierung. Diese Vorgehensweise ist erforderlich, weil auffallend wenig explizite Bezüge in dem Index zum Übergang von der Schule in den Beruf zu finden sind (vgl. Booth/Ainscow 2003).

Tabelle 1:     Indikatoren für eine inklusive Berufsorientierung

Relevante Indikatoren aus dem Index (Booth/Ainscow 2003, 17) Eine inklusive Berufsorientierung …
„Der Unterricht wird auf die Vielfalt der SchülerInnen hin geplant.“ nimmt als curriculares und didaktisches Konzept die Unterschiedlichkeit der Schüler als Ausgangspunkt und als Zielvorstellung für die Planung in den Blick.
„Die SchülerInnen sind Subjekte ihres eigenen Lernens.“ unterstützt SchülerInnen, selbstständig ihren beruflichen Werdegang zu planen, zu reflektieren und dann auch zu verfolgen.
„Bewertung erfolgt für alle SchülerInnen in leistungsförderliche Form.“ ist ein bewertungsfreier Raum. Eingesetzte Instrumente zur Selbst- und Fremdeinschätzung werden dazu genutzt, dass SchülerInnen ihre Fähigkeiten und Interessen klären, um daraus wiederum schulische Unterstützungsbedarfe zu formulieren und umzusetzen.
„Alle Formen der Unterstützung werden koordiniert.“ koordiniert den festgestellten Unterstützungsbedarf in der Situation des Übergangs.
„Fortbildungsangebote helfen den MitarbeiterInnen, auf die Vielfalt der SchülerInnen einzugehen.“ stellt angesichts der vielfältigen Anschlüsse (z.B. berufliche Ausbildung, Benachteiligtenförderung, berufliche Rehabilitation, gymnasiale Oberstufe) und deren Ausdifferenzierung regelmäßig Fortbildungsangebote für alle beteiligten Akteure bereit.
„‚Sonderpädagogische‘ Strukturen werde inklusiv strukturiert.“ vermeidet, dass ausschließlich sonderpädagogische LehrerInnen für die berufliche Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf zuständig sind.
„Die LehrerInnen planen, unterrichten und reflektieren im Team.“ wird von einem multiprofessionellen Team getragen, welches die Qualität der Prozesse und Ergebnisse regelmäßig reflektiert. Dies gilt sowohl für das schulinterne Team (z.B. schulpädagogische und sonderpädagogische LehrerInnen, ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen) als auch für Teams im Übergang (z.B. Akteure aus Betrieben, VertreterInnen der Agentur für Arbeit, Integrationsfachdienst, verantwortliche Akteure aus den Schulen etc.).
„Die Ressourcen im Umfeld der Schule sind bekannt und werden genutzt.“ nutzt die Ressourcen im Umfeld der Schule. Eine Zusammenarbeit mit der Agentur für Arbeit, mit Betrieben in der Region, mit dem Integrationsfachdienst, mit der Berufsschule, mit den Eltern etc. ist selbstverständlicher Teil ihrer Arbeit.
„Die Fachkenntnis der MitarbeiterInnen wird voll ausgeschöpft.“ verankert konzeptionell, dass neue MitarbeiterInnen systematisch in das Bestehende eingearbeitet werden.
„Das Kollegium entwickelt Ressourcen, um das Lernen und die Teilhabe zu unterstützen.“ nutzt interne Ressourcen, um Barrieren in Ausbildung und Arbeitsmarkt abzubauen. Dazu gehört es beispielsweise auch, Kooperationen zwischen den beteiligten Akteuren im abgebenden und aufnehmenden System entlang des beruflichen Werdegangs der Jugendlichen zu initiieren.

Die einzelnen Indikatoren zu einer inklusiven Berufsorientierung erheben nicht den Anspruch der Vollständigkeit. In der Logik des Index hat eine Schule im Bereich der Berufsorientierung inklusive Strukturen etabliert und inklusive Praktiken entwickelt, wenn die Indikatoren erfüllt werden. Stellt eine Schule hingegen fest, dass bestimmte Aspekte noch nicht umgesetzt sind, markiert dies einen Entwicklungsbedarf, der im Rahmen von Schulentwicklungsprozessen bearbeitet werden sollte.

5 Kriteriengeleitete Analyse

Die oben aufgeführten Indikatoren und die strukturellen Merkmale einer inklusiven Berufsorientierung bilden in diesem Kapitel die Grundlage für die Prüfung, ob Konzepte vorliegen, die im Sinne ihrer Zielsetzungen implementiert, inklusiv sind. Da eine Prüfung nicht an allen vorliegenden Konzepten zur Berufsorientierung vorgenommen werden kann, wurde eine begründete Auswahl getroffen (siehe Kapitel 3).

In den beiden skizzierten Konzepten zur Berufsorientierung ist die Unterschiedlichkeit der SchülerInnen zugleich Ausgangslage als auch Zielvorstellung der Planung. Die Individuelle Förderplanung Berufliche Integration geht von den Orientierungs- und Lernbedürfnissen des Einzelnen aus. Ziele und schulische Maßnahmen werden an diesen individuellen Bedürfnissen ausgerichtet, ohne das Lernen in Gruppen aufzugeben. Bei diesem Konzept wird davon ausgegangen, dass der erforderliche Unterstützungsbedarf erheblich ist. Fraglich ist, ob dieses Konzept auch für SchülerInnen geeignet ist, deren Unterstützungsbedarf deutlich geringer ausgeprägt ist. Die Grundzüge des Konzeptes müssten somit zunächst in einer heterogeneren Gruppe erprobt und evaluiert werden, um deren Tragfähigkeit für heterogenere Gruppen zu ermitteln. Der Berufswahlpass richtet sich an Lerngruppen, die mit seinem Material im Unterricht arbeiten. Es wird allerdings deutlich mehr die Selbstständigkeit der Jugendlichen gefördert bzw. gefordert. Einen Transfer auf den eigenen Orientierungs- und Lernprozess muss der Jugendliche selbst leisten. Es ist somit schwer zu beurteilen, in welchem Ausmaß die individuelle Ausgangslage tatsächlich Berücksichtigung findet und alle Unterstützungsbedarfe erkannt werden. Die Unterschiedlichkeit der Zielvorstellung als Grundlage der Planung ist bei beiden Instrumenten eindeutig zu identifizieren. Am Ende dieses Prozesses soll jeder Jugendliche den individuell ‚richtigen‘ Weg eingeschlagen haben.

Ein weiterer Aspekt einer inklusiven Pädagogik nimmt besonders die Gemeinde, in der Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf leben, in den Blick. So soll der Übergang von der Schule in Ausbildung und Arbeitsmarkt in diesen Gemeinden realisiert werden. Für eine schulische Berufsorientierung bedeutet dies, dass bereits während der Schulzeit mit Betrieben und anderen Unterstützungssystemen (vgl. Doose 2013) kooperiert wird. Die Individuelle Förderplanung Berufliche Integration sieht solche Kooperationen explizit vor. Das Langzeitpraktikum ist beispielsweise ein zentrales Element zur Anbahnung von Ausbildung (in der Gemeinde). Beim Berufswahlpass kommt es darauf an, ob das Konzept zur Berufsorientierung in der Schule dieses Element enthält. Erst dann würde es bei der Umsetzung des Berufswahlpasses in der Schule auch Berücksichtigung finden.

Beim Berufswahlpass wird die Förderung der Selbstständigkeit der Jugendlichen besonders hervorgehoben. Sie sollen befähigt werden, ihre eigene Berufsbiographie kompetent zu gestalten. Das Arbeitsmaterial ist so angelegt, dass vor allem die Entwicklung von Selbständigkeit im Fokus steht. Auch in dem Konzept zur Individuellen Förderplanung Berufliche Integration werden Jugendliche dabei unterstützt, selbstständig zu planen und zu reflektieren. Aufgrund der stärkeren Unterstützung ist es für die professionellen Akteure schwieriger, gegenüber den Jugendlichen die Bedeutung der Übernahme von Verantwortung für den eigenen Orientierungs- und Lernprozess herauszuarbeiteten.

Selbst- und Fremdeinschätzung sind obligatorischer Teil beider Instrumente. Bei der Individuellen Förderplanung Berufliche Integration werden diese Instrumente systematisch genutzt, um Unterstützungsbedarfe gemeinsam mit den Jugendlichen zu definieren. Beim Berufswahlpass wird auch an dieser Stelle stärker auf die Selbstständigkeit der Jugendlichen gesetzt. Die eingesetzten Instrumente werden nicht zur Leistungsbewertung in der Schule herangezogen.

Gerade bei Jugendlichen mit besonderen Unterstützungsbedarfen ist die Koordination zwischen den unterschiedlichen Akteuren (z.B. Agentur für Arbeit, Betriebe, Integrationsfachdienst etc.) von hoher Bedeutung. Die Individuelle Förderplanung Berufliche Integration nutzt den Förderplan als unterstützendes Instrument der Koordination, wobei sein Einsatz in der siebten Jahrgangsstufe beginnt und mindestens noch ein weiteres halbes Jahr nach Abschluss der allgemeinbildenden Schulzeit fortgesetzt wird. Beim Berufswahlpass hängen Fragen der Koordination des Unterstützungsbedarfs von dem zugrundeliegenden Berufsorientierungskonzept ab. Auch hier gilt, dass die Koordination von Unterstützungsbedarf eher nicht individualisiert wird und solche Aufgaben sehr viel stärker in die Verantwortung der einzelnen Schülerin bzw. des einzelnen Schülers gelegt werden.

Wenn man davon absieht, dass die systematische Einführung der beschriebenen Konzepte bereits fortbildend ist, ist die Planung von und Teilnahme an Fortbildung auf einer anderen Ebene von Schule zu verorten. Dazu gehört auch, dass es eine Vorstellung darüber gibt, wie neue Kollegen an das bestehende schulische Konzept herangeführt werden. Diese Aspekte werden in beiden Konzepten nicht explizit angesprochen.

Um eine inklusive Praxis zu realisieren, ist die Verantwortung für die Berufsorientierung in einem multiprofessionellen Team zu verorten. Das heißt die sonderpädagogischen LehrerInnen sind für alle SchülerInnen zuständig und nicht nur für die SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Beide Konzepte verlangen die Kooperation der unterschiedlichen Akteure. Sie verantworten gemeinsam das Konzept. Voraussetzung hierfür sind regelmäßige Sitzungen, die die bisherige Arbeit reflektieren und Ansatzpunkte für Verbesserungen liefern. Um diesen Prozess zu unterstützen, gibt es für beide Instrumente Vorschläge zur Selbstevaluation. Zu bedenken ist, dass in Abhängigkeit von der Verortung der sonderpädagogischen Ressourcen das Arbeiten im Team erschwert wird. Sind die sonderpädagogischen LehrerInnen nicht Teil des Kollegiums, sondern nur stundenweise in einer Lerngruppe tätig, erschwert dies voraussichtlich eine inklusive Praxis im Bereich der Berufsorientierung (siehe Kapitel 2).

Die Qualität der Umsetzung beider Konzepte lebt davon, dass die externen Ressourcengenutzt werden. Mit Blick auf eine inklusive Pädagogik ist es von Bedeutung, alle relevanten Akteure in der Gemeinde einzubeziehen.

Vor allem das Konzept zur Individuellen Förderplanung Berufliche Integration kann nicht ressourcenneutral realisiert werden. Für eine erfolgreiche Umsetzung des Konzeptes wäre vermutlich eine pauschale Ressourcenzuweisung zuträglicher als eine Zuweisung von Ressourcen, die an einem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf ausgerichtet ist.

Im Sinne einer inklusiven Pädagogik sollte auf jegliche Form einer äußeren Differenzierung verzichtet werden. Im Rahmen einer inklusiven Berufsorientierung geht es darum, Unterstützungsbedarfe festzustellen und diese sachkundig zu bedienen. Die Art und das Ausmaß der Unterstützung können für jede Schülerin bzw. jeden Schüler sehr unterschiedlich sein. Für die Individuelle Förderplanung Berufliche Integration bedeutet dies, dass nicht nur SchülerInnen in das Konzept einbezogen werden, die voraussichtlich Schwierigkeiten haben werden, den Übergang von der Schule in Ausbildung und Arbeitsmarkt erfolgreich zu bewältigen (siehe Kapitel 2). Für den Berufswahlpass stellt sich dieses Problem in der Form nicht, weil jede Schülerin bzw. jeder Schüler einen Pass erhält, mit dem selbstständig gearbeitet werden soll.

6 Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Beitrag wurden zunächst die bildungspolitischen Rahmenbedingungen für die Umsetzung einer inklusiven Berufsorientierung beschrieben. Es wurde deutlich, dass es eine inklusive Schule, die über alle Bundesländer hinweg überwiegend gleiche Merkmale aufweist, nicht gibt. Die Umsetzung inklusiver Bildung erfolgt in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich. Angesichts dieser Ausgangslage ist Berufsorientierung ein zentraler Bildungsauftrag von Schule, den es in diesen differenten Situationen umzusetzen gilt. Hierbei sind angesichts der heterogen zusammengesetzten Lerngruppen alle Anschlüsse und Kooperationsmöglichkeiten für Jugendliche in den Blick zu nehmen, die das allgemeinbildende und berufsbildende System im Bildungsraum Übergang vorhält und die eine längerfristige Teilhabe an Erwerbstätigkeit ermöglichen. Entscheidend ist, dass keine vorzeitige Zuordnung der Jugendlichen zu den unterschiedlichen berufsbildenden Segmenten stattfindet. Ziel ist es vielmehr, dass sie dabei unterstützt werden, eine Wahl zu treffen, die ihren Potenzialen entspricht. Fraglich ist, ob diese Entwicklungen sowohl in der Lehrerausbildung als auch in der Lehrerfortbildung bereits angemessen Berücksichtigung finden. Die Ergebnisse der Analyse verweisen auf mögliche Zusammenhänge zwischen den bildungspolitischen Rahmenbedingungen (inklusiven und exklusiven Settings) und den schulinternen Umsetzungsmöglichkeiten einer inklusiven Berufsorientierung. Diese Zusammenhänge und ihre Wirkungen sollten empirische Studien aufklären. Es wurde deutlich, dass es durchaus Konzepte gibt, die als Grundlage für eine inklusive Praxis im Bereich der schulischen Berufsorientierung genutzt werden können. Allerdings wurde auch herausgearbeitet, dass sich die Qualität der Umsetzung als Schulentwicklungsproblem darstellt und somit sich weniger auf der Ebene des Konzeptes, sondern mehr auf der Ebene der Qualität seiner Implementation, die sich an inklusiven Maßstäben orientiert, entscheidet. Forschung zu Gelingensbedingungen schulinterner Entwicklung ist in diesem Zusammenhang von Interesse. Angedeutet wurde durch die Analyse, dass es eine Herausforderung ist, die Konzepte für alle SchülerInnen angemessen umzusetzen. An dieser Stelle ist ersichtlich, dass noch weitere Entwicklungs-, Erprobungs- und Evaluationsbedarfe bestehen, die an den in diesem Beitrag skizzierten inklusiven Maßstäben ausgerichtet sein sollten. Der vorliegende Beitrag zeigt, dass dementsprechend weitere Innovationsforschung betrieben werden sollte. Darüber hinaus stehen Studien aus, die Transitionsprozesse von Jugendlichen sowie einflussnehmende Faktoren auf diese Prozesse und deren Wirkungen, im Übergang von der inklusiven Schule in den Beruf und die weiterführende Bildung, untersuchen.

Literatur

Baethge, M. (2014): Der vergessene Bildungsraum: Übergang von der allgemeinbildenden Schule in Ausbildung und Arbeitsmarkt. In: Unterrichtswissenschaft, 42, H. 3, 224-243.

Biermann, H./Bonz, B. (2011): Annäherung an eine inklusive Berufsbildung. In: Biermann, H./Bonz, B. (Hrsg.): Inklusive Berufsbildung. Didaktik beruflicher Teilhabe trotz Behinderung und Benachteiligung. Baltmannsweiler, 220-226.

Boban, I./Hinz, A. (2011): Der Index für Inklusion. Eine konkrete Hilfe für inklusive Schulentwicklung. In: Schulmagazin 5-10, H. 12, 11-14.

Boban, I./Hinz, A. (2012): Auf dem Weg zur inklusiven Schule – mit Hilfe des Index für Inklusion. In: Moser, V. (Hrsg.): Die inklusive Schule – Standards für die Umsetzung. Stuttgart, 71-76.

Bojanoski, A. (2008): Benachteiligte Jugendliche. Strukturelle Übergansprobleme und soziale Exklusion. In: Bojanowski, A./Mutschall. M./Meshoul, A. (Hrsg.): Überflüssig? Abgehängt? Produktionsschule: Eine Antwort für benachteiligte Jugendliche in den neuen Ländern. Münster, 33-46

Booth, T./Ainscow, M. (2003): Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Übersetzt von Boban, I./Hinz, A., Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg.

Brüggemann, T./Rahn, S. (Hrsg.) (2013): Berufsorientierung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Münster.

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Berufsorientierung im Spannungsfeld von Bildung und Marketing

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1 Einleitung

Die schulischen und außerschulischen Angebote zur Berufsorientierung haben die Aufgabe, junge Menschen am Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt zu unterstützen. Das meint zum einen, dass junge Menschen Beruf und Erwerbsarbeit als Teil menschlicher Biografie kennenlernen. Zum anderen geht es darum, die Berufswahl junger Menschen durch Information, Beratung und Vermittlung (Niemeyer 2013) zu fördern. Eine besondere Herausforderung sind dabei die Jugendlichen, die am Übergang in die Arbeitswelt zu scheitern drohen (GEW 2009). Darüber hinaus war es z. B. im Kontext der Diskussionen zur fehlenden Ausbildungsreife von Schulabsolventen und im Hinblick auf die hohe Anzahl von Ausbildungsabbrechern eine zentrale Forderung von Politik und Wirtschaft, die schulischen Angebote zur Berufsorientierung weiter auszubauen bzw. die bestehenden Angebote zu verbessern (Bertelsmann Stiftung et al. 2009). Der Berufsorientierung geht es demnach in erster Linie um die Anbahnung und Gestaltung von Bildungsprozessen, bei denen die Entwicklung einer beruflich-biografischen Perspektive im Vordergrund steht. Dabei sollten die individuellen Interessen und Entwicklungswünsche des Einzelnen, genauso die Bedingungen und die Möglichkeiten des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes berücksichtigt werden.

Vor allem das duale Ausbildungssystem zeichnet sich aktuell durch rückläufige Bewerberzahlen und eine sinkende Zahl neu abgeschlossener Ausbildungsverträge aus. Als wichtigste Ursache dafür gilt der demografische Wandel. Zudem werden die Ursachen in den Bildungsvoraussetzungen und im Bildungsverhalten junger Menschen gesehen. Einerseits wird von einer zunehmenden Studienorientierung und der zunehmenden Bedeutung vollzeitschulischer Ausbildungsgänge ausgegangen. Andererseits wird immer wieder die geringe Ausbildungsreife von Ausbildungsplatzbewerbern bemängelt (BiBB 2014 und 2013a; DIHK 2013; kritisch dazu Dobischat/Kühnlein/Schurgatz 2012). Die weiterführende Analyse des Problems der sinkenden Neuabschlüsse macht deutlich, dass die Ausbildungsbereiche, Berufe und Unternehmen davon in unterschiedlichem Maße betroffen sind. Dies wird u.a. in den Bewerberzahlen der verschiedenen Ausbildungsbereiche deutlich. Im Handwerk sinken diese Zahlen bereits seit über 20 Jahren, wohingegen andere Ausbildungsbereiche, wie z. B. Industrie und Handel, noch steigende oder zumindest vergleichsweise stabile Bewerberzahlen verzeichnen konnten, wie der öffentliche Dienst. Ein anderer Indikator ist die Angebots-Nachfrage-Relation in den verschiedenen Berufsgruppen. Während einige Berufe immer noch einen Bewerberüberhang haben, weisen andere, wie z. B. die Gastronomie und das Lebensmittelhandwerk, eine besonders hohe Anzahl unbesetzter Lehrstellen auf (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 102; Eberhardt/Scholz/Ulrich 2009). Die Befunde weisen schließlich darauf hin, dass diese Entwicklung in hohem Maße durch die Attraktivität und das Image der Berufe beeinflusst wird (dazu Eberhardt/Scholz/Ulrich 2009). Die Berufe, die ihren Inhabern geringe Verdienstmöglichkeiten und geringe berufliche Entwicklungschancen bieten oder die ein geringes soziales Ansehen genießen, sind von diesem Bewerberrückgang in besonderem Maße betroffen.

Diese Entwicklung wird durch den demografiebedingten Rückgang der Bewerberzahlen im dualen Ausbildungssystem verschärft. Dies hat zur Folge, dass sich der Ausbildungsmarkt, der bisher ein Anbietermarkt war, zumindest in bestimmten Bereichen, in einen Nachfragermarkt wandelt. Auf diesem Anbietermarkt trat der Ausbildungsplatzbewerber faktisch als Bittsteller auf, der – so spitzt es bereits Kutscha (2001, 43) zu – mehr oder weniger von der Gunst des Ausbildungsplatz-Anbieters abhängig war. Ähnlich formulierte Dietl (2003a), der Bewerber werde als Bittsteller gesehen, „der kniend seine Bewerbung abgeben soll“. Demografischer Wandel, ein verändertes Bildungsverhalten junger Menschen, aber auch Imageprobleme verschiedener Berufe, der Attraktivitätsverlust der dualen Berufsausbildung und der daraus resultierende Bewerberrückgang sowie die damit einhergehende steigende Zahl unbesetzter Lehrstellen haben dazu geführt, dass sich der Ausbildungsmarkt nun tendenziell zu einem Nachfragemarkt entwickelt. In Folge dessen, kommen Branchen und ihre Unternehmen zunehmend in die Situation, für ihre Ausbildung werben zu müssen, um ausreichend geeignete Ausbildungsplatzbewerber zu gewinnen.

In diesem Wettbewerb wird das Ausbildungsmarketing zunehmend zu einem zentralen Instrument der Personalentwicklung (Kutscha 2001). Damit und mit dem Einfluss des Ausbildungsmarketings auf die Berufsorientierung junger Menschen wird sich der vorliegende Beitrag befassen. Untersucht wird, wie sich die Berufe im Rahmen von Marketingstrategien darstellen und dadurch die Berufsorientierung bzw. die Berufswahl junger Menschen möglicherweise beeinflussen. Wie präsentieren sich die Berufe bzw. wie stellen sie sich dar? Welches Berufsimage wird dem Berufswählenden dadurch vermittelt? Welche möglichen Konsequenzen hat das für die Berufsorientierung? Dies wird am Beispiel des Berufs Friseur/-in untersucht.

2 Berufsorientierung als individueller Bildungs- und Entwicklungsprozess

Die verschiedenen Angebote zur Berufsorientierung haben in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen. Zum einen haben sie die große Zahl Jugendlicher im Blick, die am Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt zu scheitern drohen. Zum anderen erfordert der Wandel der Berufs- und Arbeitswelt berufsorientierende Lern- und Bildungsangebote, die die Berufswahl junger Menschen unterstützen. Die Entstehung neuer Berufe und Qualifikationsformen und technischer Fortschritt unter den „Bedingungen globaler Wirtschaftsbeziehungen“ (Kutscha 2001, 41) führen zu einem Anstieg der Anforderungen der Berufsausbildung an die kognitive Leistungsfähigkeit junger Menschen (Bertelsmann Stiftung et al. 2009; Kracke 2004). Damit einhergehend verändern sich die Bedingungen des Arbeitsmarktes. Gemeint sind die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, die Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie die Zunahme sog. prekärer Beschäftigungsformen. In dieser Entwicklung wird das Risiko für die Erosion des Berufs als sozialstrukturelle Kategorie gesehen (z. B. Baethge/Baethge-Kinsky 2004). Dadurch verliere er für (berufs-)biografische Planungsprozesse (ebd.) und als gesellschaftliches Ideal seine Orientierungsfunktion für Individuum und Gesellschaft (Kupka 2005; Rosendahl/Wahle 2012). Jungen Menschen falle es deshalb zunehmend schwerer, sich beruflich zu orientieren und eine reflektierte Berufswahl zu treffen. Umso wichtiger werden berufsorientierende Lern- und Bildungsangebote, die diese Orientierung unterstützen.

Die Berufsorientierung, so Kracke (2004, 35), sei ein Lernprozesse, der ähnlich wie andere Lernprozesse im Jugendalter den Charakter der Vorbereitung für die Erwachsenenwelt hätte. Durch den raschen gesellschaftlichen, sozialen Wandel würde das Ziel der Erwachsenenwelt für Jugendliche jedoch zunehmend unberechenbarer werden. Die Jugendphase laufe dadurch Gefahr, ihren in der Erwachsenenwelt liegenden klaren Zielbezug zu verlieren. Demnach reiche es nicht mehr aus, Ordnungen zu verinnerlichen und Institutionen anzuerkennen, um eine Handlungsfähigkeit nach Maßgabe der Erwachsenenwelt zu entwickeln. Der Berufsorientierung müsse es vielmehr darum gehen, Fähigkeiten zu entwickeln, durch die Jugendliche dazu befähigt werden, eigene Wege nach eigenen Zielvorgaben zu verwirklichen. Dies erfordere ein hohes Maß an Selbststeuerung und Selbstreflexivität (ebd., 36). Damit werde die Befähigung „zur eigenständigen Entwicklung eines Sinns für das eigene Leben“ zum zentralen Entwicklungs- und Sozialisationsziel Jugendlicher. Das beinhalte Aktivitäten zur Berufsorientierung und zur Vorbereitung der Berufswahl, wie z. B. das Explorieren der Berufs- und Arbeitswelt. Allerdings kann es dabei nicht darum gehen, bereits allgemeine, beruflich anwendbare Qualifikationen zu erwerben, wie Kracke schreibt (ebd.), und es kann erst recht nicht darum gehen, dass Jugendliche lernen, ihre Wünsche und Interessen den Gegebenheiten des Arbeitsmarktes unterzuordnen. Es muss vielmehr darum gehen, die jungen Menschen zur kritischen Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt und ihren Gegebenheiten zu befähigen und sie in die Lage zu versetzen, diese im Hinblick auf die eigenen Voraussetzungen, Wünsche und Interessen zu reflektieren, vorliegende Informationen zu bewerten und eigene, umsetzbare biografische Entwürfe zu entwickeln. Das setzt selbstverständlich eine gewisse Kompromissbereitschaft voraus, die eigenen Wünsche im Hinblick auf die Gegebenheiten und Möglichkeiten der eigenen Person sowie des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes zu relativieren.

Porath (2013, 14 ff.) formuliert, dass die Arbeits- und Berufsorientierung zwei Ebenen aufweist. Ausgangspunkt ihrer Argumentation sind die Begriffe Arbeit und Beruf. Arbeit wird zum einen verstanden als ziel- und zweckgerichtete, planvolle Tätigkeit, die – zum anderen – der Persönlichkeitsentfaltung und Selbstverwirklichung des Menschen diene. Während der Arbeitsbegriff jede gesellschaftlich honorierte Arbeit meint, meine der Beruf hingegen eine spezifische Form der Arbeit, die durch Gesellschaft „in einer bestimmten Konfiguration organisiert“ ist (ebd., 16). Bereits Werner Sombart (1903) formulierte, dass der Beruf der Arbeit ihre qualitative Färbung verleihe. Er kritisierte jedoch, dass diese im Zuge der Modernisierung der Arbeitswelt scheinbar verloren gehe. Der Beruf meine in erster Linie Erwerbsarbeit, deren Ausübung abhängig sei von Regeln, Positionszuweisungen und Rollenerwartungen. Er orientiere sich an Eignungen und Neigungen seines Inhabers. Es handle sich dabei um eine auf Dauerhaftigkeit angelegte, auf Qualifikationen beruhende Erwerbsarbeit (Porath 2013, 16; zusammenfassend auch bei Driesel-Lange 2011, 52). Die Ausübung eines Berufs, die Bewältigung beruflicher Anforderungen und Tätigkeiten, erfordere besondere individuelle Qualitäten: Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse, die in einer Ausbildung erworben werden. Aus ökonomischer Sicht gehe es dabei zwar um die Verwertung erworbener Qualifikationen zur Erreichung betrieblicher Zielsetzungen (Porath 2013, 16). Allerdings sei der Beruf nicht nur ein „objektives Phänomen spezialisierter Erwerbsarbeit“, sondern auch eine „pädagogische Leitidee“. Kurtz (2002, 123) formuliert dazu, dass der Beruf damit eine strukturelle Kopplung zwischen den Systemen Erziehung und Wirtschaft erzeuge. Deshalb beziehe sich auch die Berufsorientierung zwar auf den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt als objektiven Aspekt, an dem berufliche Qualifikationen mit dem Ziel des Einkommenserwerbs verwertet werden, sie nimmt aber auch Bezug zu den Wünschen und Interessen des Individuums (Porath 2013, 18).

Aus entwicklungspsychologischer Perspektive stellt die Berufswahl eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben des Jugendalters dar (Havighurst 1972, 62 ff.). Dabei geht es nicht nur um die Befähigung zur Wahl eines Berufes, sondern insbesondere um die damit einhergehenden Entwicklungsprozesse im Jugendalter. Damit sind vor allem die Loslösung vom elterlichen Haushalt, das Erlangen der ökonomischen Unabhängigkeit und der Entwurf einer eigenen (Berufs-)Biografie gemeint (auch Dreher/Dreher 1985). Kracke (2004, 35) spricht von einer Vorbereitung auf die Erwachsenenwelt. Diese, so wurde oben bereits dargestellt, werde jedoch als Zielkategorie zunehmend unberechenbar (ebd.). Allerdings werden Berufsorientierung und die Berufswahl nicht mehr als Prozess verstanden, der auf die Jugendphase beschränkt ist. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass es sich dabei um einen lebenslangen Entwicklungsprozess handelt, bei dem es im Wesentlichen um die Verwirklichung eines Selbstkonzeptes geht (ebd., 42 ff.). So wird am Übergang Schule-Beruf vielmehr von einer ersten Berufswahlentscheidung gesprochen, die im Laufe der beruflichen Entwicklung entweder gefestigt, weiterentwickelt oder auch revidiert werden kann.

So gewinnt die Berufsorientierung gerade im schulischen Kontext zunehmend an Bedeutung (dazu GEW 2013). Dabei arbeiten verschiedene regionale Akteure zusammen. Dazu zählen Unternehmen, Schulen, Kammern, Berufsberatung usw. Ihr Ziel ist es, junge Menschen frühzeitig mit der Arbeitswelt in Kontakt zu bringen und sie so auf den Übergang von der allgemeinbildenden Schule in Arbeit und Beruf vorzubereiten (Famulla et al. 2008, 13). Zum einen sollen junge Menschen erkennen, dass Arbeit und Beruf wesentliche Bestandteile menschlichen Lebens sind, von denen wichtige Impulse auf die Gestaltung der eigenen Biografie ausgehen (vgl. die Beiträge in Dedering 2004; Oberliesen/Schulz 2007). Zum anderen werden sie dadurch bei der Wahl eines Ausbildungsberufes unterstützt. Sie sollen so in der Lage sein, ihr im Grundgesetz verankertes Recht auf freie Wahl des Ausbildungs- und Arbeitsplatzes wahrzunehmen (dazu Porath 2013, 20). Dafür ist die Berufsorientierung schließlich auch im Fächerkanon der Schule verankert, sei es im Fach Arbeitslehre, z. B. in Hamburg, Hessen, Bayern und Berlin, im Fach Wirtschaft, Arbeit, Technik (WAT), z. B. in NRW, oder als Wirtschaft-Recht-Technik in Thüringen. Darin geht es nicht ausschließlich um das Treffen einer Berufswahlentscheidung. Berufsorientierung meint, sich mit den Anforderungen und Werten der Arbeitswelt sowie mit der Arbeitsmarktsituation, mit den Beschäftigungsbedingungen und den Lebenslagen von Menschen in verschiedenen Berufen vertraut zu machen. Die Schüler sollen etwas über die Notwendigkeit erfahren, Arbeiten zu gehen, um den eigenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Sie lernen, dass Arbeit ein zentraler Bestandteil menschlichen Lebens und menschlicher Entwicklung ist. Sie erfahren etwas über den Wandel der Arbeitswelt und über die Risiken neuer Beschäftigungsformen.

Die Berufsorientierung ist demnach als Teil von Bildung, Persönlichkeitsentwicklung und Lebensplanung zu verstehen. Es geht dabei um die individuelle Suche nach dem eigenen Platz in der menschlichen Gemeinschaft bzw. in Gesellschaft. Arbeit und Beruf stellen dabei die zentralen Integrationsmomente dar. Eine gelingende Berufsorientierung gilt deshalb heute mehr denn je als wichtige Voraussetzung für den erfolgreichen Übergang in Ausbildung und – anschließend – in Beschäftigung. Demnach kommt ihr eine hohe berufsbildungs-, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Bedeutung zu.

3 Sinkende Ausbildungsplatznachfrage und Attraktivitätsverlust der dualen Ausbildung

Es wird deutlich, dass dem Thema Berufsorientierung nicht zuletzt in Abhängigkeit von der Situation am Ausbildungsstellenmarkt und im Hinblick auf die Situation junger Menschen am Übergang Schule-Beruf, unterschiedliche Bedeutung zukommt. In Zeiten knapper Lehrstellen, so wie es in den vergangenen Jahren der Fall war, geht es darum, die Übergangschancen in Ausbildung, insbesondere von jungen Menschen, die als sozial benachteiligt gelten, zu verbessern. Aktuell werden die Diskussionen zur Situation am Ausbildungsstellenmarkt ganz im Zeichen des demografischen Wandels, des Fachkräftemangels und der sinkenden Bewerberzahlen im dualen System geführt. Im Jahr 2013 erreichte die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge mit 530.700 einen historischen Tiefststand. Dabei sind sowohl das Ausbildungsplatzangebot, wie auch die Nachfrage nach Lehrstellen seit Jahren rückläufig. Dennoch steigt die Zahl der nicht besetzten Ausbildungsplätze stetig. Zum 30.09.2009 waren bspw. noch 17.255 Ausbildungsplätze unbesetzt (BiBB 2010, 55), zum 30.09.2013 waren es 33.534 unbesetzte Lehrstellen (BiBB 2014, 60). Genauso ist zum zweiten Mal in Folge die Zahl der unversorgten Bewerber gestiegen. Im Jahr 2011 waren zum 30.09. noch 72.319 Jugendliche ausbildungsplatzsuchend. 2013 hatten 83.564 Jugendliche keinen Ausbildungsvertrag (ebd.). Rund zwei Drittel von ihnen mündeten in alternative Angebote, wie vollzeitschulische Angebote, Berufsvorbereitungen oder andere Fördermaßnahmen ein (BiBB 2014, 59). Für den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt lässt sich diese Entwicklung als „worst-case-Szenario“ beschreiben, da das Zusammenfallen der verschiedenen Entwicklungen: das sinkende Ausbildungsplatzangebot, die sinkende Nachfrage, die steigende Zahl unversorgter Bewerber und – parallel dazu – die steigende Zahl nicht besetzter Ausbildungsstellen, den künftigen Fachkräftemangel verschärfen. Matthes und Ulrich (2014, 5) sprechen diesbezüglich von einem „Passungsproblem“ was langfristig dazu führt, dass sowohl der Fachkräftebedarf der Unternehmen, als auch der Versorgungsbedarf der Jugendlichen nicht gedeckt werden. Es sei zu befürchten, dass Betriebe, die ihre Lehrstellen über längere Zeit erfolglos am Markt anbieten, sich vom Ausbildungsgeschehen zurückziehen. Jugendliche müssten vielmehr mit verzögerten Übergängen in Ausbildung rechnen.

Was sind die Ursachen für diese Entwicklung? Die zunehmenden Versorgungsprobleme werden insbesondere auf das seit 2011 sinkende betriebliche Ausbildungsangebot zurückgeführt. Ulrich (2013) weist diesbezüglich auf enorme regionale Unterschiede in der Ausbildungsplatzversorgung hin. Einflussfaktoren seien dafür die Größenstruktur der Ausbildungsbetriebe, die Bevölkerungsdichte einer Region und ihr Tertiarisierungsgrad (ebd., 24). Für den Rückgang des Ausbildungsplatzangebots macht die DIHK-Ausbildungsumfrage einen Anpassungsprozess der Unternehmen verantwortlich. Sie würden damit die Besetzungsschwierigkeiten aus den Vorjahren antizipieren, indem sie ihr Ausbildungsstellenangebot reduzieren (DIHK 2013, 9). Anders formuliert, der Angebotsrückgang wird als Anpassungsprozess an die sinkende Bewerbernachfrage betrachtet (auch Matthes/Ulrich 2014). Parallel dazu sei auch die Zahl der öffentlich geförderten außerbetrieblichen Ausbildungsplätze zurückgegangen (ebd., 6).

Für den Nachfrage- und Bewerberrückgang wird in erster Linie der demografische Wandel verantwortlich gemacht (ebd.). Infolge dessen sinke die Zahl ausbildungsinteressierter Jugendlicher und damit das Bewerberpotenzial. Berufe mit einem weniger guten Image seien von dieser Entwicklung in besonderem Maße betroffen (ebd.).

Als Gründe für die zunehmenden Besetzungsschwierigkeiten von Ausbildungsplätzen werden neben dem demografischen Wandel auch ein steigendes Interesse an vollzeitschulischen Ausbildungsgängen, ein steigendes Studieninteresse bei Schulabsolventinnen und -absolventen (ebd.) und ein Attraktivitätsverlust der dualen Ausbildung benannt (BiBB 2013a, 75). So verzeichneten die Hochschulen in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme der Studienanfänger (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 99). 2011 war ihre Zahl erstmals genauso hoch, wie die Zahl der Ausbildungsanfänger im dualen System. 2013 mündeten sogar mehr junge Menschen in ein Studium als in die duale Ausbildung ein. Einerseits ist die Zahl der Schulabgänger mit Studienberechtigung gestiegen. Etwa die Hälfte der gleichaltrigen Wohnbevölkerung verfüge derzeit über eine Hochschulzugangsberechtigung. Andererseits ist die Zahl derjenigen gesunken, die mit einer Hochschulzugangsberechtigung in eine Ausbildung einmünden (ebd., 107). Auch das Schulberufssystem erfreut sich großer Beliebtheit. Die Gesamtzahl der beruflichen Vollzeitschüler/-innen ist zwar nur leicht gestiegen, es lässt sich aber eine deutliche Bedeutungszunahme der Berufe im Gesundheitswesen und im Erziehungswesen feststellen (ebd., 100).

In den beschriebenen Entwicklungen sind jedoch nicht nur regionale sondern auch berufsspezifische Unterschiede festzustellen. Insbesondere die Entwicklung der Zahl neu abgeschlossener Ausbildungsverträge weist auf erhebliche berufs- und berufsfeldspezifische Unterschiede hin. Die Ausbildungsstatistik des DIHK (Online unter www.dihk.de/themenfelder/aus-und-weiterbildung/ausbildung/ausbildungsstatistiken) verdeutlicht, dass die Anzahl der bestehenden Ausbildungsverträge in der Metall- und in der Elektrotechnik in den letzten beiden Jahren sogar gestiegen ist. In anderen Bereichen ist die Zahl hingegen deutlich gesunken. Besonders deutlich war dieser Rückgang im Hotel- und Gaststättengewerbe (-5.915) sowie im Handel (-5.106). Im Handwerk lässt sich bereits seit den 1990er Jahren ein kontinuierlicher Rückgang der Zahl neu abgeschlossener Ausbildungsverträge feststellen (Abbildung 1).

Abbildung 1: Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge nach Bereich (Eigene Darstellung; Datenquelle: BiBB 2014, 31; BiBB 2012a, 33).Abbildung 1: Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge nach Bereich (Eigene Darstellung; Datenquelle: BiBB 2014, 31; BiBB 2012a, 33).

Lt. Berufsbildungsbericht wurden im Jahr 1994 noch 215.107 neue Ausbildungsverträge im Handwerk abgeschlossen, 2013 waren es nur noch 142.137 neue Ausbildungsverträge. In Industrie und Handel ist erst seit dem Jahr 2008 ein Rückgang festzustellen. Insbesondere der Rückgang der Ausbildungsverträge im Handwerk wird mit einem schlechtem Image und einem Attraktivitätsverlust der Berufsausbildung in diesem Bereich begründet. Jung und von Matt (2002, 202) formulieren, dass die Abnahme der Bewerberzahlen – gemeint sind hier die Käufer eines Produkts – das „sicherste Frühwarnsystem für den Attraktivitätsverlust einer Marke“ seien. Behrens und Zempel (2012) adaptieren dies für den Bereich des Personalmarketings. Die Marke wäre in dem Fall der Beruf. Demnach deutet der Bewerberrückgang im Handwerk auch auf einen Attraktivitätsverlust des Handwerks als Ausbildungs- und Beschäftigungssektor hin.

Dass die Berufe unterschiedliche Attraktivität und unterschiedliches Image besitzen, zeigen verschiedene Studien. So z. B. die Bürgerbefragung zum öffentlichen Dienst. Sie untersucht die Wahrnehmung und das Ansehen des öffentlichen Dienstes und hinterfragt das Ansehen seiner Beschäftigten, insbesondere der Beamten, sowie einzelner Berufe (DBB 2013). Demnach werden Beamte als pflichtbewusst, verantwortungsbewusst und zuverlässig eingeschätzt. Eine Anstellung im öffentlichen Dienst und in der Verwaltung gilt als sichere Beschäftigung. Zu den angesehensten Berufen gehören – auf Rang 1 – der Feuerwehrmann, gefolgt von der/dem Kranken-/Altenpfleger, dem Arzt/der Ärztin und den Kindergartenmitarbeitern (ebd., 23).

Andere Untersuchungen, wie der Ausbildungsreport des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB 2013, 2014), verdeutlichen vielmehr, wie sich die Qualität der Ausbildung auf das Image und die Attraktivität eines Berufes auswirken können. Der Report hinterfragt die Qualität der Ausbildung im Hinblick auf die Organisation der Ausbildung im Betrieb, Belastungssituationen, Bezahlung, die Zufriedenheit der Auszubildenden und ihre betrieblichen Übernahmechancen nach der Ausbildung. Es ist naheliegend, dass die Ergebnisse des Reports das Image und die Attraktivität von Ausbildungsberufen mit prägen. So spiegelt die aus den Befragungsergebnissen resultierende Rangfolge der Ausbildungsberufe die Attraktivität der Berufe wieder. Auf den oberen Rängen sind der/die Industriemechaniker/-in und der/die Bankkaufmann/-frau, auf den untersten der/die Friseur/-in, der/die Hotelfachmann/-frau, der Koch/die Köchin und der/die Fachverkäuferin im Lebensmittelhandwerk zu finden (ebd., 6). Vermutlich übernehmen hier der/die Auszubildenden die Rolle eines Informationsträgers. Die Informationen über den Beruf, die sie kommunizieren, prägen schließlich das öffentliche Meinungsbild über diese Berufe.

Die Entwicklung der ANR, des Verhältnisses zwischen angebotenen und nachgefragten Lehrstellen (BiBB 2014, 20 ff.), stellt einen möglichen Indikator für das Image und die Attraktivität von Berufen dar (dazu Behrens/Zempel 2012, 67). Einerseits gibt es Berufe mit einem Versorgungsproblem, d.h. mit einer hohen Bewerberzahl und einer hohen Zahl erfolgloser Ausbildungsplatzbewerber. Andererseits gibt es eine hohe Anzahl ausbildender Betriebe, die ihre angebotenen Ausbildungsplätze nicht besetzen können. Dazu gehören z. B. der/die Restaurantfachmann/-frau. 30,2% der ausbildenden Betriebe dieses Berufes können die angebotenen Ausbildungsplätze nicht besetzen. Dem folgen der/die Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk (25,6%) und der/die Fleischer/-in (ebd.). Aber auch in anderen Berufen ist die Anzahl der erfolglos suchenden Betriebe vergleichsweise hoch, z. B. Bäcker/-in (22,8%) und Gebäudereiniger/-in (16,4%). Der vergleichsweise hohen Anzahl an Betrieben, die ihre Ausbildungsplätze in den genannten Berufen nicht besetzen können, steht eine eher niedrige Anzahl unversorgter Ausbildungsplatzbewerber gegenüber.

Ein anderer Indikator – neben der ANR – dafür, dass nicht alle Berufe gleichermaßen von diesem Attraktivitätsverlust und dem damit einhergehenden Bewerberrückgang betroffen sind, ist die Stellen-Bewerber-Relation (ebd., 60). Sie verdeutlicht das Verhältnis zwischen unvermittelten Bewerbern und unbesetzten Ausbildungsstellen. In den Ergebnissen zeigt der Berufsbildungsbericht erhebliche berufsspezifische Unterschiede dieser Quoten. Viele Berufe weisen einen eher niedrigen Wert auf. Auf eine/-n unversorgte/-n Bewerber/-in kommt nicht einmal eine ganze unbesetzte Stelle. Als Beispiel: in den Gartenbau- und Floristikberufen kommt auf eine/-n unversorgte/-n Bewerber/-in gerade einmal 0,3 Stellenanteile (ebd.). Erklären lässt sich dies freilich immer auch mit der Anzahl der angebotenen Lehrstellen, aber genauso mit der im Verhältnis dazu hohen Nachfrage nach Lehrstellen in diesem Beruf. Demgegenüber lassen sich aber auch Berufsfelder mit einer hohen Stellen-Bewerber-Relation finden. Dazu gehören die Berufe in der Rohstoffgewinnung und -aufbereitung (3,2 Stellen pro Bewerber), ähnlich die Reinigungsberufe (3,2) sowie die Tourismus-, Hotel- und Gaststättenberufe (1,2). Auch der Bildungsbericht 2014 hebt diese drei Ausbildungsbereiche als diejenigen mit einem Überangebot an Lehrstellen hervor (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 102).

Demnach wird der aktuelle Bewerberrückgang im dualen Ausbildungssystem, der in erster Linie mit der demografischen Entwicklung und dem veränderten Bildungsverhalten Jugendlicher begründet wird, in einigen Ausbildungsbereichen und Berufen durch ein schlechtes Berufsimage und einer geringen Attraktivität der Ausbildung zusätzlich verschärft (dazu Eberhardt/Scholz/Ulrich 2009; Kutscha 2001). Die Folge ist, dass einige Betriebe ihre angebotenen Ausbildungsplätze gar nicht mehr besetzen können. Was tun Unternehmen, um dem entgegenzusteuern?

4 Ausbildungsmarketing als Instrument zur Gewinnung von Auszubildenden

Der Rückgang der Bewerberzahlen im dualen Ausbildungssystem führt zu einem Wettbewerb der Berufe, Branchen und Unternehmen um geeignete und vor allem leistungsfähige Ausbildungsplatzbewerber. Die Unternehmen scheinen sich dabei im zunehmenden Maße darüber bewusst zu werden, dass ihr Erfolg in diesem Wettbewerb wesentlich durch ihr eigenes und durch das Image der Ausbildungsberufe beeinflusst wird. Darauf deutet nicht zuletzt die Präsenz des Themas auf Fachtagungen und Messen hin, z. B. auf der didacta 2014. Der BiBB-Kongress 2014 befasste sich ebenfalls mit dem Problem der Attraktivitätssteigerung der dualen Ausbildung.

In diesem „war for talents“ greifen die Betriebe und Branchen deshalb offenbar verstärkt auf verschiedene Instrumente und Strategien des Personal- bzw. Ausbildungsmarketings zurück (Diettrich/Jahn/Klöpfel 2014). Neben kommunikationspolitischen Maßnahmen beinhaltet das Maßnahmen zur Verbesserung der Ausbildungsqualität, die Entwicklung neuer Ausbildungsmodelle, die Neuordnung der Ausbildung und Modernisierung der Berufsbezeichnung (dazu z. B. Krewerth et al. 2004), die Erhöhung der Anschlussfähigkeit und Durchlässigkeit der Erstausbildung an weiterführende Bildungsgänge, die Erhöhung der Ausbildungsvergütung usw. Beim Ausbildungsmarketing handelt es sich demnach um ein ganzheitliches Konzept, das verschiedene Instrumente der Personalarbeit beinhaltet. Ziel ist es, damit die Attraktivität und das Image eines Ausbildungsberufes und eines Ausbildungsbetriebes zu erhöhen, um so Auszubildende zu gewinnen und zu binden (Behrens/Zempel 2012; Dietl 2003; Dietmann 1993; Haitzer 2011; Kutscha 2001). Zwar ging es im Personalmanagement schon immer um die Frage, wie geeignetes Personal gewonnen und langfristig an ein Unternehmen gebunden werden kann, allerdings rücken erst in jüngerer Zeit die Schulabsolventen als spezielle Zielgruppe zunehmend in den Fokus der Personalarbeit. Mit dem Begriff des Ausbildungsmarketings wird die Eigenständigkeit der Gewinnung und Bindung von Auszubildenden im Bereich des Personalwesens betont.

Ausbildungsmarketing beinhaltet alle Strategien und Aktivitäten, die auf die Gewinnung, Einstellung und Bindung von Auszubildenden gerichtet sind. Dazu gehören Maßnahmen der Bewerberansprache (Kommunikation), der Bewerberauswahl und der Ausbildungsorganisation. Es wird unterschieden zwischen internem und externem Marketing (Dincher 2013; Strutz 1993). Beim internen Marketing steht das vorhandene Personal im Mittelpunkt. Es geht darum, ungewollte Personalfluktuationen zu vermeiden, die Leistungsmotivation zu erhöhen und das Personal im Unternehmen zu halten. Beim externen Marketing geht es um die Personalbeschaffung (ebd.). Dabei werden Instrumente und Gedankengut des Absatzmarketings für Produkte und Dienstleistungen ins Personalwesen übertragen (dazu Dietl 2003a und b). Es geht hierbei nun um die Vermarktung des Arbeits- bzw. Ausbildungsplatzes (Dincher 2013). Dietl (2003a und b) adaptiert dafür den Marketingmix aus der Absatzwirtschaft (dazu auch Thönniß 2008):

  • die Produktpolitik: als Produkt gilt der zu besetzende Ausbildungsplatz. Produktpolitische Instrumente sind in dem Fall die Organisation der Ausbildung, der Einsatz von Lernmitteln, der betriebliche Ausbildungsablauf, Möglichkeiten der Individualisierung, z. B. die Frage der Verkürzung der Berufsausbildung, Fortbildungsmöglichkeiten oder die Übernahmechancen nach der Ausbildung.
  • die Preispolitik: gemeint ist damit die Gestaltung der Ausbildungsvergütung. Werden Zulagen oder Boni gezahlt?
  • die Kommunikationspolitik: Es geht dabei um die Darstellung des Unternehmens und des Berufs. Im Mittelpunkt der Kommunikationspolitik steht die Frage, welche Kommunikationskanäle für die Präsentation des Berufs genutzt werden. Wie werden Bewerber angesprochen?
  • die Distributionspolitik: Dabei geht es um den Vertrieb und die Absatzwege des Produkts. Speziell im Ausbildungsmarketing gehe es um die Fragen der Mobilität des Auszubildenden. Wie erreicht er oder sie den Betrieb? Nach welchen Kriterien richtet sich der Ausbildungsablauf?

Speziell die Kommunikationspolitik kann als zentraler Aspekt des Ausbildungsmarketings bezeichnet werden. Es geht dabei um die Frage, welche Informationen dem Bewerber bereitgestellt werden und welches Image damit erzeugt wird. Wittwer (2005) systematisiert diesen Ansatz in vier Säulen des Ausbildungsmarketings. Das sind Image, Ausbildungsangebot, Kommunikation und Evaluation. Dafür sind die Stärken und das Image des Ausbildungsplatzes zu analysieren. Dann ist zu entscheiden, welche Informationen über welche Kanäle kommuniziert werden und welches Image damit erzeugt werden soll. Auch die Frage, über welche Kanäle und Medien kommuniziert wird ist entscheidend. So scheint für die heutige „Net Generation“, gemeint ist die aktuelle Jugendgeneration, das Internet einer der wichtigsten Kommunikationskanäle zu sein, auch für das Ausbildungsmarketing (Müller/Zepke/Dieterle 2014).

Zwar lassen sich zahlreiche Ratgeber zum Thema Bewerbermanagement und Personalmarketing finden (z. B. Dietl 2003a; Dietl 2003b; Felser 2010; Haitzer 2011). Im Internet lassen sich verschiedene Seiten, Blogs und Plattformen zu den Themen Ausbildungsmarketing, Azubi-Recruiting, e-Recruiting, Personalmarketing, Bewerbermanagement usw. finden (z. B. www.aicovo.com; www.perwiss.de; personalmarketing2null.de; ausbildungsmarketing.com; bewerbermagnet.com usw.; Stand: 03-09-2014). Coaches und Trainer bieten dort auch Seminare und Workshops zu diesen Themen an. Aus Sicht der Berufsbildungsforschung stellt das Thema „Ausbildungsmarketing“ jedoch eher ein Desiderat dar. Darauf weist Kutscha bereits 2001 hin. Daran hat sich in den letzten Jahren auch nicht viel geändert. Nur wenige Arbeiten befassen sich mit wissenschaftlich relevanten Fragestellungen zu diesem Thema. Die meisten Arbeiten zielen auf die Optimierung von Bewerberprozessen oder Weiterentwicklung von Recruiting-Strategien. Eine Frage ist, wo sich Bewerber über Ausbildungsberufe informieren. Dahinter steht das Interesse, Kommunikationswege und Mittel zu optimieren. Fragen, z. B. zur Wirkung des Ausbildungsmarketings auf die Berufsorientierung oder inwieweit sie Berufswahlprozesse beeinträchtigen bzw. beeinflussen, wurden bislang kaum oder gar nicht untersucht.

Der vorliegende Beitrag stellt sich nun die Frage, wie einzelne Branchen bzw. Berufe ein solches Ausbildungsmarketing umsetzen. Dies soll im Folgenden, am Beispiel des Berufs Friseur gezeigt werden. Die Grundlage der weiteren Untersuchung ist insbesondere die Auswertung des Jahresberichts des Zentralverbandes des Deutschen Friseurhandwerks (ZV). Dieser Jahresbericht erscheint seit 1963. Im Rahmen der Untersuchung wurden die Ausgaben im Hinblick auf die Branchenentwicklung und im Hinblick auf Ausbildungsmarketing ausgewertet.

5 Ausbildungsmarketing im Friseurhandwerk

5.1 Imagewandel, Attraktivitätsverlust und Bewerberrückgang im Friseurhandwerk

Der/Die Friseur/-in zählt mit derzeit insgesamt 24.920 Auszubildenden zu den ausbildungsstärksten Berufen. Lange Zeit zählte der Beruf sogar zu den sog. Top-10-Berufen. D.h., er war immer unter den 10 Berufen mit den meisten neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen zu finden: 2009 bspw. auf Rang 7 mit 15.463 Neuabschlüssen (vgl. Online: http://www.bibb.de/dokumente/pdf/naa309_2009_tab67_0bund.pdf; 29-08-2014). Ähnlich wie andere Berufe auch ist das Friseurhandwerk jedoch von einem Bewerberrückgang betroffen. 2011 ist er schließlich aus der Top-10 der Ausbildungsberufe herausgefallen. Zu betonen ist, dass sich dieser Rückgang bereits über mehrere Jahre abzeichnet. Bereits zwischen 1966 und 1973 sind die Zahlen der Auszubildenden deutlich zurückgegangen, genauso Ende der 1970er und deutlicher in den 1980er Jahren (Abbildung 2). Vor allem der Anstieg zwischen 1973 und 1979 wird auf die Implementierung von Sonderprogrammen zur Förderung der Ausbildung zurückgeführt. Die Zunahme der Neuabschlüsse in diesem Zeitraum lässt sich auch mit der Einmündung der geburtenstarken Jahrgänge (Babyboomer) in die Berufsausbildung erklären. Seit Mitte der 1980er Jahre ist jedoch die Zahl der Neuabschlüsse wieder rückläufig. Seit Anfang der 1990er Jahre ist auch ein deutlicher Rückgang der Teilnehmer an der Meisterprüfung festzustellen.

Abbildung 2: Auszubildende im Friseurhandwerk 1963-2010 (Eigene Darstellung; Quelle: Jahresberichte des Zentralverbands des Friseurhandwerks 1963 bis 2012)Abbildung 2: Auszubildende im Friseurhandwerk 1963-2010 (Eigene Darstellung; Quelle: Jahresberichte des Zentralverbands des Friseurhandwerks 1963 bis 2012)

Als Gründe für den Personalverlust in den 1970er und 1980er Jahren werden die Wirtschaftskrise und Preissteigerung genannt. Diese werden u.a. als Folge der Erhöhung der Mehrwertsteuer kritisiert. Das hatte zur Folge, dass die Dienstleistungen des Friseurs seltener in Anspruch genommen wurden, was wiederum zu Betriebsschließungen und zu einem Rückgang des Personalbedarfs führte. Bis heute setzt sich der Zentralverband des Deutschen Friseurhandwerks für eine Senkung der Mehrwertsteuer im personalintensiven Friseurhandwerk ein (Online: www.kurssiebenprozent.de; 03-09-2014). Dadurch würden die Kosten für Friseurdienstleistung sinken, es würde Beschäftigung sichern und aufbauen.

Das Ergebnis war eine deutliche Zunahme der Arbeitslosigkeit in diesem Beruf. Die Berufsstatistik des IAB (Online unter http://bisds.infosys.iab.de/) verdeutlicht, dass die Arbeitslosenquoten (AL-quote) unter den Friseuren/-innen vergleichsweise hoch sind. Sie liegen mit rund 10 % über der durchschnittlichen Gesamtarbeitslosenquote des Arbeitsmarktes. Die AL-quote der Männer mit diesem Beruf beträgt sogar 14 %. Bei den sonstigen Körperpflegern (Kosmetiker/-innen, Nageldesigner/-innen usw.) liegen die AL-quoten sogar bei über 30 %. Speziell bei den Friseuren führte das schließlich zu einem Attraktivitätsverlust des Berufs.

Eine andere Entwicklung ist die Verweiblichung des Berufs. Noch bis in die 1970er Jahre galt der Friseur als ein Beruf, der eher von Männern besetzt wurde. Es lassen sich unterschiedliche Befunde darüber finden, wann dieser „Verweiblichungsprozess“ im Friseurhandwerk einsetzte. Cremer (1983) ging davon aus, dass dieser Prozess nach dem 2. Weltkrieg, ab 1948 einsetzte. Die Währungsreform und daraus resultierende niedrige Lohnabschlüsse hätten zu einer Abwanderung männlicher Gesellen aus dem Friseurhandwerk geführt. So kommt die feministische Forschung zu dem Schluss, die Feminisierung des Friseurs – ähnlich wie in anderen „Frauenberufen“ – sei das Ergebnis davon, dass der Mann den Frauen diese Arbeit übrig gelassen habe. Ein Grund dafür seien die schlechten Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung, schlechte berufliche Entwicklungsmöglichkeiten usw. So seien diese Berufe für Männer unattraktiv geworden und die Frauen konnten in diesen Berufen erfolgreich werden (Rabe-Kleberg 1987; Becker-Schmidt/Knapp 2000).

Kornher (2012) macht deutlich, dass sich bereits vor dem 1. Weltkrieg entsprechende Entwicklungen beobachten lassen, in denen die Frau den männlichen Friseur vom Markt zu verdrängen scheint. Sie macht deutlich, dass es bereits vor 1945 offenbar mehrere Gründe dafür gab, warum sich Männer zunehmend aus dem Friseur-Handwerk zurückgezogen haben. Zum einen schienen Damenfriseure am Markt erfolgreicher zu sein, nicht zuletzt durch ihr besseres Berufsimage als Künstler. Auch wurde das von Männern ausgeübte Damenfrisieren als ein Überschreiten der „Grenzen der Schicklichkeit“ betrachtet. Aufgrund der erotischen Konnotation des Haares hätten viele männliche Friseure sich zunehmend unwohl beim Frisieren der Damen gefühlt. Auch widersprach der Friseurberuf zunehmend einem in Gesellschaft zu findenden Männlichkeitskonzept (ebd., 162 ff.). Inzwischen gilt der Friseur als ein typischer Frauenberuf. Über 90% der Friseure sind weiblich. Diesen Zustand beklagt der Zentralverband des deutschen Friseurhandwerks. Er formuliert in seinem Jahresbericht (ZV 1981, 17 f.): „Es ist zu hoffen, dass sich die Zahl der gewerblichen Ausbildungsberufe, in denen weibliche Auszubildende beschäftigt werden, weiterhin erhöht, so daß nicht das Friseurhandwerk allein die großen Mengen weiblicher Auszubildender im Handwerk zu verkraften hat. (…) Ursache für die überdurchschnittlichen Abgänge im Berufsfeld Körperpflege ist die überaus starke Besetzung der Altersgruppen bis zu 25 Jahren, die aus familiären Tatbeständen aus dem Friseurberuf ausscheiden. Aus diesen hohen Abgangszahlen junger gelernter Friseurinnen resultiert eine Reihe von Problemen für das Friseurhandwerk (Fachkräftemangel, Schwarzarbeit etc.) die zu vermeiden wären, verfügte das Friseurhandwerk über mehr geübte und erfahrene männliche Mitarbeiter.“ (Jahresbericht ZV 1981, 17 f). Bis heute ringt das Friseurhandwerk darum, mehr männliche Bewerber zu gewinnen.

Auch die aktuellen Veränderungen der Branchenstruktur werden als eine Gefahr für das Friseurhandwerk betrachtet. Mit Sorge beobachtet der Zentralverband die einerseits zunehmende Entstehung von Friseurketten und Filialbetrieben, andererseits die zunehmende „Atomisierung“ der Branche, d.h. dass immer mehr Friseure den Weg in die Kleinselbstständigkeit suchen. Darin wird eine Gefährdung der typischen handwerklichen Mittelstandsstrukturen gesehen. Filialbetriebe und Kleinstunternehmer werden als Gefahr für das Preisgefüge betrachtet. Das Kleinunternehmertum wird besonders kritisch betrachtet: Sie würden „Preisdumping“ betreiben und würden durch das bestehende Steuerrecht, aufgrund ihrer geringen Steuerbelastungen (nach § 19 UStG), gegenüber dem Mittelstand bevorzugt werden. Außerdem sind sie keine Innungsmitglieder und bilden nicht aus. Insbesondere die Regelung zur steuerrechtlichen Behandlung und ihre Vergünstigungen gelten als Ursache für „wettbewerbsverzerrende und das ‚tumorartige‘ Wachstum umsatzsteuerfreier Kleinstbetriebe“ (ZV 2011, 22). Sie gelten als Nutznießer handwerklicher Gewerbestrukturen, ohne selbst einen Beitrag zu deren Entwicklung zu leisten. Schließlich werden sie auch als Schwarzarbeiter kriminalisiert. Zu bedenken ist dabei, dass viele Frauen vor allem aufgrund ihrer Beschäftigungssituation, z. B. aufgrund ihres geringen Verdienstes oder sog. prekärer Beschäftigungsverhältnisse, den Weg in die Kleinstselbständigkeit gewählt haben. So werden Kleinstselbstständigkeiten auch durch die Betriebe mit forciert, z. B. durch Geschäftsmodelle wie die „Stuhlmiete“, die erst durch Kleinstunternehmer möglich sind. Dabei werden Friseur/-innen nicht mehr als Arbeitnehmer/-innen angestellt, sondern mieten sich als Selbstständige in einen Salon ein, mit oder ohne eigenen Kundenstamm (Abbildung 3).

Abbildung 3: Anzeige „Stuhlmiete“ (aus Allgemeiner Anzeiger für Erfurt vom 03.02.2013).Abbildung 3: Anzeige „Stuhlmiete“ (aus Allgemeiner Anzeiger für Erfurt vom 03.02.2013).

Auch taucht der Friseur immer wieder in den Diskussionen zu prekären Beschäftigungsverhältnissen und Mindestlöhnen auf. In der Auszubildendenbefragung des DGB (2013) zur Qualität der Berufsausbildung ist der Beruf auf Rang 22 zu finden. Ähnlich schlecht schneidet er bei der Einschätzung der Zufriedenheit in der Ausbildung durch die Auszubildenden ab. Dort liegt er auf Platz 20 (ebd., 42). Ein möglicher Grund dafür ist die eher geringe Auszubildendenvergütung. So liegt die tarifliche Auszubildendenvergütung im Durchschnitt bei 374 € in den alten und bei 214 € in den neuen Bundesländern (BiBB 2013). Damit gehört der Friseur zu den Berufen mit der niedrigsten Ausbildungsvergütung. Andere Faktoren, die die Zufriedenheit der Auszubildenden beeinflusst haben könnten, sind die hohe Anzahl von zu leistenden Überstunden, die Unzufriedenheit mit der Organisation und fachlichen Qualität der Ausbildung sowie die schlechten Übernahmechancen nach der Ausbildung. So verwundert nicht, dass der Friseur zu den Berufen mit einer vergleichsweise hohen Anzahl Auszubildender zählt, die ihren Ausbildungsvertrag abbrechen. Die Vertragslösungsquote der Friseure liegt lt. DAZUBI bei rund 45 % (BiBB 2012b). Die Mehrzahl von ihnen setzt seine Ausbildung jedoch in einem anderen Betrieb fort. Darüber hinaus wird der Friseur als Beruf mit geringen Leistungsanforderungen betrachtet. Rund zwei Drittel der einmündenden Auszubildenden verfügen nur über einen Hauptschulabschluss. Der Zentralverband selbst kritisiert seit Jahren die abnehmende Leistungsfähigkeit der Ausbildungsplatzbewerber.

Zwar wurden nicht alle relevanten Faktoren angesprochen, die die Attraktivität und das Image des Friseurs prägen, z. B. Entlohnung, gesundheitliche Risiken, Arbeitsbelastungen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf usw. Insgesamt erscheint der Beruf des Friseurs, bei genauer Betrachtung der skizzierten Aspekte, als Ausbildungsberuf doch eher unattraktiv. Trotzdem zählt er zu den ausbildungsstärksten und – vor allem bei den Mädchen – mit zu den beliebtesten Ausbildungsberufen. Auch wenn er nicht mehr unter den Top-Ten-Berufen zu finden ist. Ein Grund für dieses doch positive Image ist, dass das Friseurhandwerk bereits seit den 1980er Jahren eine sehr intensive Imagepflege und Kommunikationspolitik betreibt, die das Bild von diesem Handwerk prägen.

5.2 Strategien des Ausbildungsmarketings im Friseurhandwerk

Trotz der beschriebenen Krisen, trotz Preissteigerungen, Betriebsschließungen, Personalabbau, Arbeitslosigkeit, geringer Ausbildungsvergütung, prekärer Beschäftigung und dem zunehmenden Wettbewerb um geeignete Ausbildungsplatzbewerber, erweist sich der Friseurberuf im Hinblick auf seine Personalstruktur lt. Zentralverband als sehr stabil. Auch unter Berufswählenden – zumindest unter den weiblichen – scheint der Beruf sehr beliebt zu sein. Bei den am häufigsten von Mädchen besetzten Ausbildungsberufen ist er aktuell auf Rang 7 zu finden. Nur wenige Lehrstellen bleiben unbesetzt (vgl. dazu www.ausbildungplus.de). Als Gründe für seine hohe Beliebtheit gelten nicht zuletzt die sehr aktiv betriebene Kommunikationspolitik und Außendarstellung des Berufs, seiner Organisation und Ausbildung, was sein Image positiv geprägt hat.

Als ein frühes Beispiel für die Entwicklung eines positiven Berufsimages kann die räumliche Etablierung des Friseurs in Salons gegen Ende des 19. Jh. betrachtet werden. Sie sollte den Friseurbesuch attraktiver machen. So sollte versucht werden, das bis dahin existierende eher negative Image des Berufes aufzuwerten. Die räumliche Etablierung und die zur gleichen Zeit erfolgende gesellschaftliche „Hygienisierung“ begründete ein völlig neues Berufsimage: Friseure arbeiteten fortan in einem sauberen Salon, der zweckmäßig, bequem und behaglich ausgestattet ist. Die Friseure selbst tragen saubere Kleidung. Verhaltensregeln und „Normen des Anstandes“ sollten ebenfalls zu diesem neuen Image beitragen (Stolz 1992, 305). Schließlich ging damit auch die Ausweitung der Aufgaben und Tätigkeiten der Friseure einher. Das und die zunehmende Technisierung erforderte eine umfassende, gründliche Ausbildung und zahlreiche Spezialisierungen der Friseure. Es erforderte Kenntnisse im kaufmännischen Bereich und in der Warenkunde, für den Verkauf von Pflegeprodukten und Drogeriewaren, es erforderte auch spezialisierte Kenntnisse der Maniküre und Schönheitspflege (einen Überblick dazu gibt Müller 1930).

Durch die Professionalisierung des Berufs, durch die Neuzuschneidung seiner Aufgabenstellungen sowie durch die Implementierung beruflicher Werte und Normen wurde versucht, das Image des Berufs und sein soziales Ansehen zu verbessern. Dies sollte vor allem durch die Aufwertung seiner Berufsausbildung erfolgen. Dafür wurden Leistungsanforderungen erhöht und wissenschaftstheoretische Inhalte der Biologie, der Chemie, der Hygienewissenschaften und der Medizin in die Ausbildung eingebunden. Begründet wurde dies mit technischem Fortschritt, neuen beruflichen Anforderungen und sich verändernden Kundenwünschen. Vergleichbare Ansätze und Überlegungen sind auch in aktuellen Debatten zu finden, z. B. in den Diskussionen zur Akademisierung der beruflichen Bildung (Kuda et al. 2012). Zwar geht es einerseits darum steigenden Anforderungen der Wirtschaft und Arbeitswelt gerecht zu werden, es geht aber auch um die symbolische Aufwertung und Attraktivitätserhöhung der Berufsausbildung.

Durch die Aufwertung der Ausbildung, insbesondere durch die Erhöhung der Leistungsanforderungen wurde auch versucht, die Struktur der Ausbildungsplatzbewerber zu steuern. Damit sollte insbesondere der hohen Zahl von Bewerbern, die nur einen Hauptschulabschluss haben, gegengesteuert werden. Ihr Anteil sei dadurch seit Beginn der 1990er Jahre zurückgegangen (ZV 2011). Auch die Novellierung der Ausbildung im Jahr 2008 und durch die Entwicklung von beruflichen Laufbahnmodellen sollte die Ausbildung zum/zur Friseur/-in für leistungsstärkere Jugendliche, für Absolventen der Realschulen, attraktiver werden. Um Frauen nach einer familienbedingten Unterbrechung der Erwerbstätigkeit die Rückkehr in den Beruf zu erleichtern bzw. ihn attraktiver zu machen, wurden Programme für Berufsrückkehrerinnen entwickelt und implementiert. Auch die Novellierung und die Entwicklung von Fortbildungsberufen sollen den Friseuren attraktive berufliche Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. Dazu gehörte bspw. die Einführung der Meisterassistenzausbildung (1999) und die Novellierung der Ausbildung zum/zur Maskenbildner/-in (2002). Diese sollten Karriere- und Entwicklungswege beschleunigen, z. B. durch die Anerkennung von Ausbildungsteilen, und – dadurch – die Durchlässigkeit der Ausbildung erhöhen.

Insbesondere der Verkauf von Körperpflegeprodukten prägt das Berufsbild des Friseurs. Es wurde gezeigt, dass der Verkauf von Drogerie- und Kosmetikprodukten bereits zu Beginn des 20. Jh. zunehmend zum Berufsprofil des Friseurs zählte. Dies intensivierte sich in den 1970er Jahren. Zwar sank aufgrund von Wirtschaftskrisen in den 1970er Jahren die Nachfrage nach Friseurdienstleistungen, dafür stieg aber die Nachfrage nach Körperpflegeprodukten. Das Friseurhandwerk greift diesen Trend auf, z. B. 1989 mit der PR-Kampagne der „Friseur zum Mitnehmen“ oder der „Friseur für den Urlaub“. Unterstützt wird dieser Trend durch die Herstellerindustrie. Der Verkauf exklusiver Haar- und Hautpflegeprodukte wird für Friseursalons zur wichtigen Einnahmequelle. Der Friseur soll den Verkauf durch seine Beratung und den Einsatz der Produkte fördern. Friseurdienstleistungen sollen durch zusätzliche Produkt- und Beratungsangebote attraktiver werden, um so ihre Nachfrage zu erhöhen. 1991 wurde dafür die Kampagne „Wir machen Trends“ gestartet (ZV 1991). 1992 werden Radio- und Fernsehspots gesendet, in denen zusätzlich eine Info-Hotline bekannt gegeben wird. 49 % der Anrufer seien männlich gewesen. Im Jahr 2002 startete bspw. die Kampagne „go ahead Friseur/-in – Beruf für Kopfarbeiter“ (ZV 2002, 44). Der Friseurberuf präsentiert sich in diesen Kampagnen immer als modernes Handwerk. Er soll den kreativen, ästhetischen und informativen Ansprüchen des Handwerks gerecht werden (ZV 2004, 31). Der Friseur wird dadurch a) zum Distributionsgehilfen der Kosmetikindustrie und b) wird ein Image erzeugt, in dem der Friseur zum trendsetzenden, kreativen Typ- und Modeberater wird.

Auch aktuell wird dieses Image durch die Kampagne „My Beauty Career“ (Online unter www.ich-bin-friseur.de) befördert. Geworben wird für die vielfältigen Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten sowie für die zahlreichen Beschäftigungs- und beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten im Beruf. Der Friseur sei ein Beruf für’s Leben, mit endlosen Möglichkeiten. Es gehe dabei um Kreativität, Mode, Style und Schönheit. Der Imagefilm der Kampagne stellt verschiedene Menschen vor, die in diesem Beruf arbeiten. Alle formulieren: „Ich bin Friseur.“ Sie sind Trainer, Coloristen, Artisten, Manager und Stylisten, Salonleiter - nicht Meister, Regionalleiter und Geschäftsführer. Sie repräsentieren möglicherweise zum einen die neuen Strukturen des Handwerks und seiner Betriebe, zum anderen die Entwicklungsmöglichkeiten im Beruf.

Abbildung 4: Friseurin, Artist, Stylist und Manager (Quelle: Imagefilm „Ich bin Friseur“; Online: www.ich_bin_friseur.de (02-09-2014)Abbildung 4: Friseurin, Artist, Stylist und Manager (Quelle: Imagefilm „Ich bin Friseur“; Online: www.ich_bin_friseur.de (02-09-2014)

Der Imagefilm präsentiert ein spezifisches Bild vom Beruf, seinen Aufgaben und der Organisation seiner Ausbildung. Darin ist der Friseur nicht nur zuständig für das Schneiden, Färben oder Formen der Haare. Er ist Künstler, er ist kreativ, er setzt damit Trends und Maßstäbe, mit denen er Mode, Look und den Style von morgen mit prägt. Der Beruf sei vielseitig, abwechslungsreich und visionär, ästhetisch und künstlerisch. Sein Arbeitsort ist nicht nur der Salon, er fährt zu Messen, zur „Hair and Beauty“ nach Frankfurt und Leipzig, zur „Top Hair“ nach Düsseldorf, zur „Fashion Week“ und anderen Veranstaltungen. Er misst sein berufliches Können mit anderen Friseuren bei deutschen und internationalen Meisterschaften. „Er erfindet sich selbst jeden Tag aufs Neue“ und stellt sich täglich neuen Herausforderungen. Der Friseur und seine Arbeit werden nicht als anstrengende, vielleicht leidvolle Erfahrung und monotone, entfremdende Tätigkeit dargestellt, bei der es um die Erfüllung von Kundenwünschen und Anforderungen geht. Im Gegenteil, die Arbeit macht Spaß, sie öffnet Räume, in denen sich das Subjekt entfalten und eigene Ideen einbringen kann. Außerdem ist sie kreativ und fördert die eigene Entwicklung. Auch andere problematische Aspekte, wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, gesundheitlichen Risiken und Beschäftigungsrisiken werden hier ausgeblendet.

6 Zusammenfassung und Fazit

Der vorliegende Beitrag versucht zu zeigen, dass das Ausbildungsmarketing als Teil des „Systems Berufsorientierung“ (Beinke 2012), im Wettbewerb der Ausbildungsgänge, Branchen und Berufe um geeignete Bewerber, zunehmend Bedeutung erlangt. Einerseits wird die Berufsorientierung als individueller Bildungs- und Entwicklungsprozess verstanden. Sie ist deshalb Teil schulischer und außerschulischer Angebote. Sie sollen schließlich die Berufswahl und den Übergang junger Menschen in die Berufs- und Arbeitswelt unterstützen. Dafür werden verschiedene Informationen bereitgestellt und die Arbeitswelt als Erfahrungsraum zugänglich gemacht.

Der vorliegende Beitrag hat versucht zu verdeutlichen, dass die Berufswahl durch das Ausbildungsmarketing massiv beeinflusst werden kann. Ausbildungsmarketing zielt primär darauf, die Berufswahlentscheidung junger Menschen zu steuern bzw. zu beeinflussen. Es geht darum, geeignete Auszubildende zu gewinnen und im Beruf bzw. im Unternehmen zu halten. Gerade in Zeiten des demografischen Wandels und des Bewerberrückgangs, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Attraktivitätsverlusts des dualen Ausbildungssystems, gewinnen Konzepte, Strategien und Instrumente des Ausbildungsmarketings deshalb zunehmend an Bedeutung. Am Beispiel des Friseurs lässt sich zeigen, wie sie das Image des Berufs beeinflussen und dadurch seine Attraktivität als Ausbildungsberuf erhöhen können. Das beinhaltet die Professionalisierung des Berufs, die Aufwertung der Ausbildung, die Entwicklung von Fort- und Weiterbildungsstrukturen, die Entwicklung eines berufsbezogenen Wertesystems, die neu Bestimmung beruflicher Aufgaben und Tätigkeitsfelder sowie die Intensivierung kommunikationspolitischer Maßnahmen, die gezielt ein bestimmtes Berufsbild und Image entwickeln und verbreiten sollen. Dabei, so wurde versucht zu zeigen, besteht jedoch die große Gefahr, dass ein eher unvollständiges, einseitiges, sogar verzerrtes Bild der Berufs- und Arbeitswelt vermittelt wird.

Auch lassen sich verschiedene kritische Punkte benennen: Das Ziel dieser „Berufsreklame“ ist es, die Attraktivität eines einzelnen Berufes oder eines Berufsfeldes zu erhöhen. Dabei wird mit Werten geworben, die so längst nicht mehr in der Arbeitswelt zu finden sind, z. B. mit sozialer Sicherheit und der Dauerhaftigkeit der Beschäftigung. Es werden berufliche Freiheitsgrade vermittelt, die in der beruflichen Praxis vermutlich nur selten oder gar nicht zu finden sind. Gerade am Beispiel des Friseurs ließe sich zeigen, dass dies kaum der arbeitsweltlichen Praxis entspricht. Gerade hier wurde auch deutlich, dass das Ausbildungsmarketing immer nur Teil eines Marketingkonzeptes ist, welches der Branche, den Unternehmen und ihren Produkten auch der Markenbildung dient. Fraglich ist, was passiert, wenn dieses berufliche Idealbild durch den Ausbildungsbetrieb nicht eingelöst wird. Beinke (2011) deutete darauf hin, dass dies möglicherweise ein Grund für viele Ausbildungsabbrüche ist.

Auch darf nicht vergessen werden, dass dieser Aufwand vor allem für die Gewinnung geeigneter, leistungsfähiger Auszubildender betrieben wird. Die Berufe und Unternehmen machen sich für die Bewerber attraktiv, die sich sonst für andere Bildungsgänge, ggf. sogar für ein Hochschulstudium entscheiden würden. Es ist die Frage, ob damit zusätzliche Selektions- oder Allokationsmechanismen in der beruflichen Bildung implementiert werden. Wird damit das bisherige Bewerberklientel der dualen Ausbildung verdrängt?

Die pädagogische Herausforderung der Berufsorientierung ist es deshalb, den Einfluss des Ausbildungsmarketings zu relativieren. Die Herausforderung besteht darin, den Einzelnen zu befähigen, sich unter Einbeziehung unterschiedlicher Quellen, dieses unvollständige Bild zu vervollständigen und ein eigenes, möglichst realistisches Bild über die Berufs- und Arbeitswelt zu entwickeln, auf dessen Grundlage er eine eigene reflektierte Berufswahlentscheidung treffen kann, bei der nicht ein konstruiertes Idealbild von Beruf im Vordergrund steht, sondern auch seine individuellen Interessen und Fähigkeiten.

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Editorial bwp@27: Berufsorientierung

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EDITORIAL zur Ausgabe 27:
Berufsorientierung

Überlegungen zur Berufsorientierung von Jugendlichen lassen sich seit Ende des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen, also bis in die Zeit der Individualisierung der Gesellschaft, der Öffnung und Ausweitung des Bildungswesens, der Liberalisierung von Handel und Gewerbe, der Auflösung von Berufsständen und der Berufswahlfreiheit. Seitdem erfüllen Initiativen und Maßnahmen zur Orientierung der Jugend auf die Arbeits- und Berufswelt verschiedene Funktionen: Einerseits sollen sie den Einzelnen bei seiner Berufswahl unterstützen, ihm Einblicke in Anforderungen und Aufgaben von Arbeit und Beruf geben und ihm dabei helfen, seinen Neigungen und Interessen entsprechende Berufsentscheidungen zu treffen. Gleichzeitig soll mit berufsorientierenden Angeboten für Jugendliche der sozialstaatlichen Verantwortung nachgekommen werden, zu der es gehört, berufliche und soziale Chancen zu eröffnen und deshalb Zugänge zu Arbeit und Beruf und soziale Teilhabe zu ermöglichen. Andererseits ist eine auf bestimmte Arbeits- und Berufsfelder gerichtete Berufsorientierung eine Voraussetzung für die Versorgung des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes mit beruflich qualifiziertem Nachwuchs und für erfolgreiche Selektions- und Allokationsprozesse im Beschäftigungssystem. Schließlich unterstützt Berufsorientierung die mit der hierarchisch gegliederten Sozialstruktur verankerte Berechtigungspolitik, die so konzipiert ist, dass ein Teil der Schulabgänger in weiterführende allgemeine Bildungsgänge übergeht, ein anderer in berufliche Bildungsgänge, welche jeweils mit unterschiedlichen Chancen beruflicher und sozialen Sicherheit bzw. des Aufstieg verbunden sind (vgl. Büchter 2013).

Obwohl also die Orientierung von Jugend auf Arbeit und Beruf genauso alt ist wie das Berufswahlprinzip, war die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit gegenüber der Berufsorientierung immer nur dann groß, wenn Abstimmungsprobleme zwischen dem Bildungs- und Beschäftigungssystem bzw. Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt aufgetaucht sind oder Steuerungen in bestimmte Bereiche (z. B. den MINT-Bereich) angestrebt wurden. Dies war beispielsweise in den 1970er/80er Jahren vor dem Hintergrund zunehmender Jugendarbeitslosigkeit der Fall. Seit den 1990er Jahren hat dann die wachsende Zahl der Jugendlichen im Übergangssystem dazu geführt, dass das Thema Berufsorientierung intensiver angegangen wurde. Aktuell ist von „Besetzungs-, Versorgungs- und Passungsproblemen“ (Matthes/Ulrich 2014) auf dem Ausbildungsmarkt die Rede, die eine Intensivierung der Maßnahmen der Berufsorientierung erforderlich machen.

Eine zentrale Rolle im Kontext der Berufsorientierung spielen seit jeher die allgemeinbildenden Schulen, insbesondere des Sekundarbereichs I. Auch das hat historische Kontinuität. Die Reichsschulkonferenz von 1920, der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen der 1950er und 1960er Jahre, der Deutsche Bildungsrat der 1960er und 1970er Jahre und aktuell die Kultusministerkonferenz (KMK) haben die Hinführung der Jugend zur Berufs- und Arbeitswelt als eine – wenn auch nicht ausschließliche – schulische Aufgabe gekennzeichnet. Dabei wird dann die systemisch-steuernde Funktion hervorgehoben, die u. a. in dieser Verortung mit der Gefahr verbunden wird, diese als eine in einer Lebensphase abzuschließende Berufswahlentscheidung zu verstehen und weniger als einen Prozess, der über die allgemeinbildende Schule hinaus fortzuführen ist bzw. von Jugendlichen nicht in der allgemeinbildenden Schule abgeschlossen werden kann, sondern vielmehr als ein Prozess verstanden werden kann, der sich über die Lebensspanne erstreckt bzw. erstrecken kann. Auch die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der Jugendlichen (53%), die eine Ausbildung abgebrochen haben, angibt, „die Ausbildung sei nicht das Richtige für sie gewesen“ (BIBB 2013, 186) weist nochmals darauf hin, dass Berufsorientierung nicht mit dem Übergang in eine Berufsausbildung als abgeschlossen betrachtet werden kann. Nicht zu unterschätzen sind inzwischen aber auch jene Angebote der Berufsorientierung im sogenannten Übergangssystem, die zwischen der Schule und der Ausbildung angesiedelt sind. Dabei ist keinesfalls ausreichend geklärt, welche Rolle Berufsorientierung in Maßnahmen des ‚Übergangssystems‘ einnimmt bzw. inwiefern Berufsorientierung als Kernaufgabe dieser Maßnahmen herangezogen werden und in welchem Verhältnis sie zu anderen Kategorien wie Verbesserung eines allgemeinbildenden Schulabschlusses, Berufsvorbereitung und -grundbildung u. Ä. steht (vgl. Kranert/Kremer/Zoyke 2013). Dementsprechend offen bleibt, wie Berufsorientierung im Übergang von Schule zu Ausbildung und Arbeit gefasst werden kann. Geht es darum, eine Berufswahl und -entscheidung zu ermöglichen, Ausbildungsvorbereitungen auf bereits erfolgte Berufswahlentscheidungen auszurichten oder notwendige berufliche Orientierungsprozesse als Anker zur individuellen Entwicklung heranzuziehen (vgl. Kremer 2012)?

Seit den letzten fünfzehn Jahre ist eine Vielzahl an Programmen und Initiativen gefördert und umgesetzt worden, um die Berufsorientierung von Jugendlichen in Schule und im Übergangssystem zu unterstützen. Hierzu zählen verschiedene BMBF-Programme (u.a. „Schule-Wirtschaft-Arbeitsleben“, „Lernen vor Ort“, „Berufsorientierung in überbetrieblichen und vergleichbaren Bildungsstätten“), Programme der Bundesagentur für Arbeit (BA) zur allgemeinen und vertieften Berufsorientierung sowie kaum noch überblickbare ESF- und Landesprogramme. Inzwischen sind einige Ergebnisse dieser Programme in Form von Bestandsaufnahmen synoptisch zusammengetragen und ausgewertet worden, die wiederum verstreut publiziert sind. Gemeinsam ist diesen Programmen, dass die Probleme in der beruflichen Orientierung der Jugendlichen gesucht werden (vgl. Büchter/Christe 2014) und so auf eine Ausbildungsstruktur ausgerichtet sind. Dabei stellt sich die Schwierigkeit, dass Maßnahmen zur Berufsorientierung i.d.R. an Gruppen ausgerichtet sind und somit ein individueller Orientierungsbedarf auf diese Gruppe hin standardisiert wird. Grundsätzlich wäre der Frage nachzugehen, wie ein ausbildungsvorbereitender Sektor im Berufsbildungssystem auszurichten ist und inwiefern Probleme mit den bestehenden Strukturen im Erziehungs- und Beschäftigungssystem verbunden sind.

Auch wenn Berufsorientierung in der aktuellen Diskussion insbesondere mit dem Übergang von der Schule in die Ausbildungs- und Arbeitswelt verbunden wird, stellt sich die Herausforderung der Berufsorientierung (und Um- bzw. Neuorientierung) für den Einzelnen an verschiedenen Stellen in Lebensverläufen (z.B. bereits im Kindesalter, in Zeiten der Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit sowie im Rahmen einer beruflichen Rehabilitation (vgl. Zoyke 2012)). Hier finden sich auch sehr unterschiedliche Formen zur Unterstützung der Berufsorientierung bzw. der Entscheidung zur Berufswahl. Unscharf bleibt hierbei u.a., inwiefern Berufsorientierung auf eine Phase ausgerichtet wird, inwiefern Berufsorientierung theoretisch gefasst werden kann oder welche Orientierungs- und Entscheidungsprozesse berücksichtigt werden sollen (z.B. Abgrenzung zur Studienorientierung).

In dieser Ausgabe von bwp@ möchten wir einen Überblick geben über aktuelle Herausforderungen in der Berufsorientierung. Über Einblicke in innovative theoretische und empirische Erkenntnisse und Befunde, anwendungsorientierte Konzepte und praktische Erfahrungen möchten wir einen Beitrag zur Forschung und Diskussion im Zusammenhang mit Berufsorientierung leisten.

Die uns eingegangen Aufsätze haben wir drei thematischen Schwerpunkten zugeordnet.

Teil A:  Strukturelle und institutionelle Bedingungen von Berufsorientierung

In diesem Teil der Ausgabe sind Beiträge versammelt, die sich mit der Frage auseinandersetzen, wie unter strukturellen und institutionellen Bedingungen und im Zusammenhang spezifischer Angebote Berufswahlprozesse von Jugendlichen verlaufen bzw. verlaufen könnten.

DIETMAR HEISLER geht in seinem Beitrag von einem Spannungsfeld zwischen Bildung und Marketing aus, innerhalb dessen sich Jugendliche für einen Beruf entscheiden sollen. Er stellt die Frage, wie durch berufs- und branchenspezifische Marketingstrategien Image und Attraktivität von Ausbildungsberufen geprägt werden, und welche Konsequenzen die Ausbildungsberufswerbung für Berufsorientierung Jugendlicher hat.

JOANNA BURCHERT, EILEEN LÜBCKE und ANDREAS SANITER untersuchen im Rahmen einer Fallstudie die Frage, ob die Einstiegsqualifizierung eine gelungene Form der Berufsorientierung im Übergangssystem darstellt. Es wird dargelegt, dass sie dazu beiträgt, sich auf den Prozess der Selbststabilisierung und beruflichen Orientierung einzulassen. Gleichermaßen wird angeführt, dass über das zugrundeliegende Praktikum eine Bindungskraft auf Seiten des Betriebs entstehen kann.

Der Beitrag „Ich muss mich noch informieren (lassen).“ Berufsorientierungsprozesse im Zusammenspiel von individuellem Handeln und Unterstützung von FRANCISKA MAHL, TABEA SCHLIMBACH und BIRGIT REIßIG geht auf individuelle Überlegungen und Strategien bei der Berufsorientierung Jugendlicher ein. Hierzu werden eigene Rollenwahrnehmungen und -erwartungen an die beratenden Akteure und Institutionen betrachtet. Es wird herausgestellt, dass die Wahrnehmungen auf die eigenen Handlungen die Rollenerwartungen an Institutionen beeinflussen.

GREGOR THURNHERR untersucht personale Faktoren, die Jugendliche beeinflussen, sich für oder gegen eine berufliche Ausbildung im angrenzenden Nachbarland zu entscheiden. Die Studie zeigt, dass Jugendliche und Lehrpersonen über Ausbildungsmöglichkeiten im Ausland kaum informiert sind. Eine berufliche Ausbildung im Nachbarland verlangt persönliche Reife und Selbstvertrauen. Zudem bestehen „Grenzen in den Köpfen“ und Befürchtungen vor unbekannten Erwartungen von Betrieben und Berufsschulen.

MONIKA MÜLLER und INGO BLAICH zeigen, wie Jugendliche berufsrelevante Informationen im Internet nutzen. Hierzu wird auf Gruppendiskussionen und einem Fragebogen zu den Nutzungsgewohnheiten neuer Medien zurückgegriffen. Im Beitrag wird der Zusammenhang zwischen individuellen Voraussetzungen und Erfahrungen und Potenzialen neuer Medien zur Unterstützung des Berufsorientierungsprozesses dargestellt. Dementsprechend zeigen sich auch Chancen und Grenzen in den Medienkompetenzen der Schüler und Schülerinnen.

Unter dem Titel „Like a Boss!“ beschäftigt sich ULRICH WEIß mit handlungsleitenden Orientierungen der Jugendlichen im Übergangssektor. Dabei wird das Streben nach Anerkennung und dessen Beeinflussung für berufliche Orientierungen aufgezeigt. Es wird vor dem Hintergrund der Anerkennungserfahrungen zur Diskussion gestellt, dass es nachvollziehbar ist, dass der Übergang in Ausbildung und Arbeit hinausgezögert wird. Hierzu werden die Bestrebungen um Anerkennung im Berufsgrundschuljahr im Rahmen einer qualitativen Studie untersucht.

Davon ausgehend, dass die Berufswahl häufig wenig fundiert und von unrealistischen Eindrücken über Anforderungen der Berufspraxis geprägt ist, nimmt ECKART DIEZEMANN in seinem Beitrag eine subjektbezogene Perspektive ein, die es ermöglicht, Konzepte der Berufsorientierung stärker an realistischen Bezugsnormen und echten Erfolgserlebnissen zu orientieren. Von diesem Standpunkt aus referiert und reflektiert der Autor beispielhaft eine aus seiner Sicht innovative, wissenschaftlich rückvermittelte Gesamtkonzeption, die diesem Ziel näher kommt.

Teil B:  Berufsorientierung als Kompetenzförderung und im Kontext individueller Entwicklung

In diesem thematischen Schwerpunkt befinden sich Beiträge, in den Kompetenzen und Kompetenzmodelle, die Grundlage bei der Unterstützung von Jugendlichen in der Berufsorientierung sein können, diskutiert werden. Besondere Bezugsmomente der ersten Beiträge sind die berufsbiographische Gestaltung vor dem Hintergrund des Lebenslangen Lernens und spezifische Arbeits(-markt-)bedingungen.  Hier geht es auch um die Frage danach, welche institutionellen Anforderungen mit berufsorientierender Kompetenzförderung erfüllt sein müssen. Weitere Aspekte der in dieser Rubrik versammelten Aufsätze sind die psychosoziale Entwicklung Jugendlicher und die Sprachentwicklung. Auch diese Beiträge werfen Fragen nach der adäuquaten Gestaltung von Berufsorientierung auf.

RITA MEYER diskutiert berufliche Orientierungskompetenz und verbindet hiermit die Notwendigkeit einer permanenten reflexiven Herstellung einer individuellen beruflichen Orientierung. Diese Bedeutung beruflicher Orientierungskompetenz wird insbesondere vor dem Hintergrund veränderter Berufsbiographien gesehen. Damit stellt sich die Herausforderung Berufsorientierung nicht nur für eine Lebensphase zu betrachten, sondern im Kontext des gesamten Lebenslaufes zu verorten.

RAPHAELA SCHREIBER und MATTHIAS SÖLL sehen die Notwendigkeit, dass berufliche Erst-, Um- und Neuorientierungsprozesse im Rahmen einer beruflichen Erstausbildung initiiert und im Sinne des lebenslangen Lernens unterstützt werden. Sie stützen sich hierbei auf eine Studie, die den Zusammenhang diskontinuierlicher Berufsbiographien, der inhaltlichen Beschaffenheit der Arbeitstätigkeit und der Berufssicherheit im Sinne eines beruflichen Identitätskonzepts operationalisiert.

SONJA BANDORSKI und FRANZ MOLZOW-VOIT gehen in ihrem Aufsatz zunächst der Frage nach, inwieweit sich in bestimmten Erwerbstätigkeits-Milieus unsichere Beschäftigungsverhältnisse entlang beruflicher Fachrichtungen abzeichnen, und welche Rolle Personenmerkmale wie z.B. Schul- und Berufsabschluss, Migrationshintergrund oder Geschlecht spielen. Für die Berufsorientierung ergibt sich hieraus die Frage, inwieweit das Wissen über die (Un-)Sicherheiten bestimmter Fachlichkeiten und damit kombinierten sozialen Lagen bei der Schwerpunktsetzung im Rahmen von Berufsorientierungsprozessen hilfreich sein kann.

GÜNTER RATSCHINSKI beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Konstrukt der Berufswahlkompetenz. Dieses wird als hierarchisches System der Meakompetenzen Identität, Adaptabilität und Resilienz definiert und in einem ökonomischen Screening-Verfahren operationalisiert. Die Wahl der Metakompetenzen mache das Verfahren anschlussfähig an den internationalen Fachdiskurs und lasse Parallelen zu vergleichbaren Konzepten der Employability und Adaptability zu.

MATTHIAS GEHRIG, NICOLE KIMMELMANN und GABY VOIGT zeigen mit ihrem Beitrag zunächst, wie Jugendliche und Lehrkräfte die Wirkung von Sprachförderung erfahren. Hieran anknüpfend formulieren sie Empfehlungen zur Gestaltung neuer bzw. Modifikation bereits existierender handlungsorientierter Kompetenzfeststellungsverfahren im Rahmen der Berufsorientierung, die Lernend en mit sprachlichen Schwierigkeiten gerecht werden können.

Teil C:  Lerntheoretische und didaktische Aspekte der Berufsorientierung

In diesem Themenfeld werden konkrete Überlegungen zur lerntheoretischen Fundierung und didaktischen Gestaltung von Berufsorientierungsprozessen vorgestellt.

JANE PORATH hat in einer einjährigen Interventionsstudie anhand von Lernaufgaben die Entwicklung von Berufsorientierung untersucht, um Rückschlüsse auf die Ausprägung und Entwicklung von Selbst- und Berufskonzepten von Schülerinnen und Schüler sowie auf die Bedeutung von Interaktionsgruppen im Berufsorientierungsprozess ziehen zu können. Ziel der Studie ist die Entwicklung und Überprüfung eines metatheoretischen Modells zur beruflichen Entwicklung.

LINDA VIEBACK und STEFAN BRÄMER stellen das Lehr-Lernarrangement ‚Praxisorientiertes Lernen (POL) vor, in welchem ökonomische Bildungsinhalte und technische Inhalte miteinander verschränkt werden. Im Zusammenspiel mit der Bearbeitung ökonomischer und technischer Aspekte einer Produktidee werden angelehnt an diesen Prozess mögliche Berufe vorgestellt. Damit soll aus dem Praxisorientierten Projekt ein Zugang zu den Berufen angeboten werden.

Im Mittelpunkt des Beitrags von MARTINA VON GEHLEN und ANNE-MARIE GRUNDMEIER werden die Konzeption und der Einsatz von didaktischem Material in Berufsorientierungsangeboten. Ziel dieses Materials ist eine handlungsorientierte Auseinandersetzung mit modernen Ausbildungsberufen im Berufsfeld Textil und Mode.

ANNA LUCHT befasst sich in ihrem Beitrag mit der Frage nach der Bedeutung von Schülerfirmen für die Berufsorientierung. Anhand einer exemplarischen Analyse einer Schülerfirma an einer Hamburger Stadtteilschule geht die Autorin der Frage nach, ob die in der Literatur beschriebenen Potenziale von Schülerfirmen ausgeschöpft werden.

CHRISTIAN STADEN rekurriert auf Anstrengungen zur Erarbeitung einer multimedialen Form des Berufswahlpasses unter dem Namen ‚Berufswahlpass-Online‘. Hierzu wird die Überführung der Print-Version in eine digitale Version über einen Design-Based Research Ansatz verfolgt. Die Ausführungen deuten die Komplexität der Studie an, so sind Bezugspunkte zur Gestaltung des Berufsorientierungsunterrichts mit dem Berufswahlpass als auch Hinweise zur digitalen Gestaltung des Berufswahlpasses und generelle Hinweise zur Verwendung digitaler Medien in der pädagogischen Praxis zu erkennen.

Die Zuordnung der Beiträge zu den einzelnen thematischen Rubriken fiel uns diesmal nicht leicht. Die Texte behandeln häufig mehrere Aspekte, weshalb sie auch anderen inhaltlichen Schwerpunkten hätten zugeordnet werden können. 

Zum Schluss noch ein herzlicher Dank

Wir möchten uns sehr herzlich bei allen Autorinnen und Autoren für die interessanten Beiträge für die Ausgabe 27 von bwp@  bedanken.

Ein besonderer Dank gilt auch diesmal unserem tollen Team der Redaktion und unserem Websupport, also Nicole NAEVE-STOSS, Franz GRAMLINGER und Sigrid GRAMLINGER-MOSER. Ohne ihre exzellente Arbeit hätten wir es nicht geschafft, Ausgabe 27 (die im Frühjahr 2015 noch beträchtlich wachsen wird) in dieser Form und in dieser Zeit online zu veröffentlichen. Darüber hinaus danken wir auch Anna Lambert für die Organisation der Abstracts-Übersetzungen ins Englische.

Karin Büchter, H.-Hugo Kremer und Andrea Zoyke
im Dezember 2014

Literatur

Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) (2013): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2013. Bonn.

Büchter, K. (2013): Soziale Ungleichheit und Berufsbildungspolitik - Oder: Gibt es einen Zusammenhang zwischen fragmentierter Zuständigkeit in der beruflichen Bildung und sozialer Ungleichheit? In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 25, 1-21. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe25/buechter_bwpat25.pdf (16-12-2014).

Büchter, K./Christe, G. (2014): Berufsorientierung: Widersprüche und offene Fragen. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (BWP), H 1, 12-15.

Kranert, T./Kremer, H.-H./Zoyke, A. (2013): Bildungsgangarbeit an Berufskollegs. Diskussionsbericht zur Bestandserhebung an den Pilot-Berufskollegs im Projekt InBig. Paderborn. Online: http://cevet.eu/fileadmin/user_upload/downloads/Diskussionsbericht_zur_Bildungsgangarbeit_Onlineversion.pdf (15.12.2014).

Kremer, H.-H. (2012): Berufsorientierung im Übergang – Überlegungen zur curricularen Gestaltung der Bildungsarbeit im Übergangssystem. In: Kremer, H.-H./ Beutner, M./ Zoyke, A. (Hrsg.): Individuelle Förderung und berufliche Orientierung im berufsschulischen Übergangssystem – Ergebnisse aus dem Forschungs- und Entwicklungsprojekt InLab. Paderborn.

Zoyke, A. (2012): Individuelle Förderung zur Kompetenzentwicklung in der beruflichen Bildung. Eine designbasierte Fallstudie in der beruflichen Rehabilitation. Paderborn.

Praxisorientiertes Lernen – Berufsorientierung als didaktische Verknüpfung technischer und ökonomischer Bildungsinhalte

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1 Einleitung

Bildung steht heute vor einem soziodemografischen Hintergrund, der durch beschleunigte Veränderungen der Lebensbedingungen, der Arbeitsmarktsituation und den Entwicklungen in der Wissensgesellschaft geprägt ist. Folgewirkungen der demographischen Entwicklungen auf die Anzahl von Schülern/innen, Auszubildende, Studierende und Absolventen/innen machen sich zunehmend bemerkbar. In Verbindung mit der allgemeinen Dynamik, den technologischen Entwicklungen und den Globalisierungsprozessen resultieren hieraus u.a. die sinkenden Interessenten/innen- und Bewerber/innenzahlen für technische Berufsausbildungen und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge sowie der gegenwärtige, vor allem von Wirtschaft und Politik beklagte, Mangel an (vor allem weiblichen) Existenzgründern und Nachwuchskräften im technischen sowie natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereich (vgl. Grüneberg/Wenke 2011, 5f.).

Gerade die nötigen Orientierungsaktivitäten für technische Berufsausbildungen und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge haben im Schulalltag der allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt einen noch zu geringen Stellenwert. Einerseits sind technische und ökonomische Bildungsinhalte sowie die Berufsorientierung fest in den Rahmenrichtlinien verankert (vgl. KMLSA 2011, 2012a-d) und sollen eine individuelle Berufsorientierung ermöglichen, jedoch sind die vermittelten Inhalte oftmals nur auf traditionelle (nicht technische) Berufsbilder ausgerichtet. Die technischen Ausbildungsberufe werden von den Schülern/innen gar nicht erst wahrgenommen, obwohl hier ein erheblicher Bedarf bei den regionalen Unternehmen besteht.

Auf der anderen Seite, sind, neben dem dringend benötigten Interesse an technischen Berufen und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen, Handlungskompetenzen im Bereich des unternehmerischen Denkens und Handelns notwendig, um in der sich wandelnden Arbeitswelt bestehen zu können (vgl. Hedke/Möller 2011, 3). Aus der einst arbeitsteiligen, hierarchisch fest strukturierten und standardisierten Arbeitsorganisation, entstehen flexible und individualisierte Formen der Arbeit. Das bedeutet, dass sich die Beschäftigten direkt mit ihren Kompetenzen in die Arbeit einbringen müssen. Es wird nach einem „Unternehmerischen Selbst“ verlangt, welches möglichst kreativ, flexibel, selbstoptimierend und eigenverantwortlich handelt (vgl. Famulla 2011, 16). Dementsprechend wird der Wunsch und die Forderung der Unternehmen deutlich, dass die Schulabgänger/innen neben ökonomischen Grundkenntnissen auch berufsrelevante Kompetenzen besitzen sollen (vgl. Hedke/Möller 2011, 3). Weitere Schwerpunkte müssen auf die Sensibilisierung für Unternehmensgründungen sowie die positive Motivation zur Selbstständigkeit und die Förderung des Unternehmergeistes gelegt werden. Damit diese Forderungen erfolgreich umgesetzt werden können, müssen Elemente der Entrepreneurship Education, welche die „... ökonomische Bildung nicht nur in den Köpfen, sondern auch in der Haltung von Jugendlichen verankert ...“ (Wiepcke 2008, 270), mehr in den Schulalltag integriert werden. Die Entrepreneurship Education „... umfasst dabei alle Bildungsmaßnahmen zur Weckung unternehmerischer Einstellung und Fertigkeiten und setzt darauf, die Beschäftigungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern zu fördern.“ (ebd.)

Auf Grundlage der Ausgangsbedingungen ist es dementsprechend unabdingbar, ein Berufsorientierungskonzept zu entwerfen, welche sowohl die technische, als auch die ökonomische Bildung berücksichtigt, um eine umfassende Berufsorientierung zu gewährleisten, damit die Schüler/innen im Sinne der Handlungsfähigkeit ihren zukünftigen beruflichen Weg selbst gestalten können.

Im vorliegenden Beitrag werden zu Beginn der theoretische Betrachtungsrahmen mit den Begrifflichkeiten Berufsorientierung und handlungsorientierte Didaktik näher eingeführt (Kapitel 2). Anschließend erfolgt die detaillierte Vorstellung des konzipierten und in der Sekundarschule umgesetzten Lehr-Lern-Arrangements „Praxisorientiertes Lernen“ zur verknüpfenden Vermittlung von technischen und ökonomischen Inhalten im Sinne einer praxisnahen Berufsorientierung (Kapitel 3). Abschließend werden die ersten Ergebnisse der Evaluation des mit Schüler/innen der Sekundarschule umgesetzten Lehr-Lern-Arrangements (Kapitel 4) und weitere Einsatzmöglichkeiten diskutiert (Kapitel 5).

2 Theoretischer Betrachtungsrahmen

2.1 Berufsorientierung

Im Allgemeinen werden unter Berufsorientierung alle Maßnahmen verstanden, die den Jugendlichen bei der Bewältigung des Übergangs von der Schule in den Beruf unterstützen (vgl. Butz/Deeken 2010; Famulla/Butz 2005; Schudy 2002; , 2).

Die aktuelle Literatur zum Thema zeigt, dass der Begriff Berufsorientierung vielfältig benutzt wird. Es existiert weder eine einheitliche Definition, noch eine einheitliche Bedeutung. Zur Eingrenzung des Begriffs werden zwei Wortdeutungen unterschieden. Die erste Bedeutung bezieht sich auf den Vorgang des sich Orientierens, im Sinne von „Zurechtfinden“. Diese Bedeutung weist dem Begriff einen prozesshaften Charakter im Sinne der Berufsfindung zu. Die zweite Bedeutung kennzeichnet Berufsorientierung als Berufswahlvorbereitung. Darunter sind alle Maßnahmen durch Schule und Berufsberatung zu verstehen, welche auf eine Orientierungs- sowie Entscheidungshilfe für die persönliche Berufswahl abzielen. Diese zwei Wortdeutungen des Begriffs Berufsorientierung werden durch Schudy, um die vier Bedeutungsvarianten „Subjektive Berufsorientierung“, „Berufsorientierung im Sinne von Berufswahlvorbereitung“, „Berufsorientierung von Bildungsinhalten und Unterrichtsmethoden“ sowie „Berufsorientierung im Sinne von arbeitsweltbezogener Allgemeinbildung“ erweitert (vgl. Schudy 2002, 9f.).

In den Projekten am Fachgebiet Aufbau- und Verbindungstechnik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg werden drei Bedeutungsvarianten der Berufsorientierung aufgenommen und innerhalb der angebotenen Unterrichtsmodule (Tabelle 3) umgesetzt. Dabei stehen die ersten beiden Module (Berufsorientierung und Bewerbungstraining) für die Facette „Berufsorientierung im Sinne von Berufswahlvorbereitung“. Die Module zielen auf eine Aneignung von Kenntnissen, Erkenntnissen, Erfahrungen und Fähigkeiten ab, die es den Schülern/innen ermöglichen, eine Entscheidung unter Berücksichtigung individueller Neigungen und aktueller Arbeitsmarktlage in Hinblick auf ihre Erstausbildung zu treffen.

Die technischen und ökonomischen Bausteine decken die Facette „Berufsorientierung im Sinne von arbeitsweltbezogener Allgemeinbildung“ ab, indem den Schülern/innen Möglichkeiten geboten werden, sich mit ökonomischen und technischen Herausforderungen der Arbeitswelt auseinanderzusetzen, welches auf eine Stärkung ihrer Handlungskompetenzen abzielt. Dabei haben die vier Module das übergeordnete Ziel, die Facette der „Subjektiven Berufsorientierung“ positiv zu beeinflussen, indem die Jugendlichen, Arbeit und Beruf als maßgebliche und unverzichtbare Elemente für ihre Berufsbiographie erkennen.

Die theoretische Betrachtung des Begriffs lässt deutlich erkennen, dass Berufsorientierung ein andauernder Prozess ist, indem Jugendlichen mit Kompetenzen ausgestattet werden müssen, die sie auf ihre späteren Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen vorbereiten. Ziel der Berufsorientierung muss es dementsprechend sein, die Handlungsfähigkeit der Schüler/innen zu fordern und zu fördern, damit sie ihre individuellen Arbeits- und Berufsbiographien selbst gestalten können. Daher gilt für die weiteren Ausführungen folgende Definition, welche die genannten Punkte kompakt zusammenfasst: „Berufsorientierung ist ein lebenslanger Prozess der Annäherung und Abstimmung zwischen Interessen, Wünschen, Wissen und Können des Individuums auf der einen und Möglichkeiten, Bedarfe und Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt auf der anderen Seite. Beide Seiten, und damit auch der Prozess der Berufsorientierung, sind sowohl von gesellschaftlichen Werten, Normen und Ansprüchen, die wiederum einem ständigen Wandel unterliegen, als auch den technologischen und sozialen Entwicklungen im Wirtschafts- und Beschäftigungssystem geprägt.“ (Famulla/Butz 2005)

2.2 Handlungsorientierte Didaktik

Neben den fachlichen Inhalten der technischen und ökonomischen Bildung im Sinne einer umfassenden Berufsorientierung, bedarf es einer Unterrichtssequenz, welche die Kompetenzentwicklung fordert und fördert. Es reicht nicht mehr aus, auf bloße fachliche Qualifikationen zu setzen. Aus diesem Grund muss den Schülern/innen die Aufgabe gestellt werden, ihre individuellen Fähigkeiten weiterzuentwickeln und selbstverantwortlich zu handeln. Daher müssen Lernprozesse so gestaltet werden, dass die Lernenden befähigt werden, selbstständig zu arbeiten. Demzufolge rückt die methodisch-didaktische Gestaltung der Lernsituationen in den Vordergrund. Die Handlungsorientierung dient als theoretische Grundlage für die Gestaltung der Lernprozesse, in denen die Schüler/innen durch selbständiges Handeln lernen. Die ökonomischen und technischen Bildungsinhalte (Theorie) werden in die Praxis transferiert (praxisorientiertes Lernen), wodurch die Schüler/innen durch aktives Tun, der Durchführung einer Handlung, und nicht nur durch gedankliches Nachvollziehen, die Lerninhalte durchführen. Die Theorie wird in der Praxis, in realen Situationen, erlebt und gelernt. Durch diesen Theorie-Praxis-Transfer werden berufliche Handlungskompetenzen gefördert.

Handlungsorientierter Unterricht „... ist ein ganzheitlicher und schüleraktiver Unterricht, in dem die zwischen dem Lehrer und den Schülern/innen vereinbarten Handlungsprodukte die Gestaltung des Unterrichtsprozesses leiten, sodass Kopf- und Handarbeit der Schüler/innen in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden können.“ (Jank/Meyer 2011, 315) Somit stehen nicht die fachlichen Inhalte im Mittelpunkt, sondern diese mit allen Sinnen zu erlernen, wobei das Lernen mit Kopf, Hand, Fuß und Herz realisiert werden soll (vgl. ebd.). Handlungsorientierter Unterricht (Tabelle 1) zeichnet sich dadurch aus, dass das Handeln des Lernenden im Mittelpunkt des Lernprozesses steht.

Tabelle 1:     Ausgewählte Merkmale des handlungsorientierten Unterrichts (vgl. Jank/Meyer 2011, 316-319)

Merkmal Beschreibung
Ganzheitlichkeit

-      Vollständige Handlung

-      Enger Praxisbezug

-      Fächerübergreifend

Aktivität der Lernenden

-      Selbstständiges Lernen

-      Verknüpfung von Kopf- und Handarbeit

-      Problemlösung

-      Interaktionsbetonte Methoden

Zielgruppenorientierung

-      Berücksichtigung vorhandener Erfahrungen

-      Berücksichtigung von Interessen

Hierbei tritt die Lehrkraft in den Hintergrund und fungiert als Moderator/in der Lernsequenz. Sie greift auf inhaltlicher Ebene nicht in das Unterrichtsgeschehen ein, sondern organisiert die Lernsituation von außen. Diese Rollenverteilung unterstützt das selbstständige Arbeiten der Schüler/innen. Durch die praxisnahen, komplexen und problemlösungsorientierten Aufgaben, werden die Schüler/innen angeregt, aktiv, konstruktiv und zielorientiert die Lerninhalte zu bearbeiten. Das bereits erworbene Wissen wird mit den neuen Lerneinheiten verknüpft. Die Aufgabenstellungen sind dabei methodisch abwechslungsreich. Im Mittelpunkt der Beurteilung stehen nicht die Ergebnisse, sondern der Weg zum Ergebnis und der Lernprozess.

Das Unterrichtskonzept zum praxisorientierten Lernen, welches am Fachgebiet Aufbau- und Verbindungstechnik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg entstanden ist, wurde auf Grundlage des handlungsorientierten Unterrichts entworfen und in der Praxis realisiert.

3 Das Lehr-Lern-Arrangement „Praxisorientiertes Lernen“

3.1 Kurzvorstellung des „Praxisorientierten Lernens“

Das Konzept des praxisorientierten Lernens im Sinne einer praxisbezogenen Berufsorientierung vereint technische und ökonomische Bildung sowie die Umsetzung in der Praxis an einem außerschulischen Lernort. Durch das Zusammenspiel dieser Bereiche, erlangen die Schüler/innen Kenntnisse über verschiedene technische Berufsbilder, direkte Einblicke in ein Unternehmen bzw. den Organisationsablauf, ökonomisches und technisches Grundwissen sowie wirtschaftsbezogene Kompetenzen, um ihre persönliche und berufliche Zukunft bewusst und aktiv gestalten zu können.

Die ökonomischen Bildungsinhalte (Entrepreneurship Education) vermitteln Handlungskompetenzen des unternehmerischen Denkens und Handelns, welche immer wichtiger in der Berufsausbildung und im späteren Berufsleben werden. Die technischen Inhalte im Sinne einer Techniksensibilisierung tragen dem Fachkräftebedarf und dem Mangel an Ausbildungsplatzbewerbern für technische Berufe Rechnung und sollen den Schülern/innen die beruflichen Perspektiven in diesen Beschäftigungsfeldern aufzeigen. Die folgende Tabelle zeigt, inwieweit sich das Konzept exemplarisch direkt in ausgewählte Kompetenzbereiche und -schwerpunkte der gültigen Fachlehrpläne der Sekundarschule in Sachsen-Anhalt einordnen lassen können (Tabelle 2).

Tabelle 2:     Exemplarische Einordnung in die Fachlehrpläne (KMLSA 2012a-d)

Fachlehrplan Kompetenzbereich/-schwerpunkt
Wirtschaft

-      Entwicklungen im Handel vergleichen und bewerten

-      Unternehmerisches Handeln erkunden und erproben

-      Berufsperspektiven erkunden und planen

Technik

-      Den Computer als Werkzeug nutzen

-      Technische Systeme beschreiben und analysieren

Geographie

-      Strukturen und Prozesse in Wirtschaftsräumen analysieren und erläutern

-      Räume unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit analysieren

-      Raumausstattung, Raumnutzung und Raumgestaltung analysieren und erläutern

Deutsch

-      Sachbezogen, situationsangemessen und adressatengerecht sprechen und zuhören

-      Sachbezogen, situationsangemessen und adressatengerecht schreiben

-      Sachtexte verstehen, reflektieren und nutzen

-      Medien verstehen, reflektieren und nutzen

Konzipiert wurde das Lehr-Lernarrangement „Praxisorientierten Lernen“ am Fachgebiet Aufbau- und Verbindungstechnik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Das Fachgebiet engagiert sich in einer Vielzahl von Projekten, Initiativen und Netzwerken zur Berufs- und Studienorientierung sowie zur technischen und ökonomischen Bildung.

Gemeinsam haben alle diese Projekte, dass sie direkt in den allgemein- und berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt durchgeführt werden, aus verschiedenen handlungsorientierten Unterrichtseinheiten bestehen, zu unterschiedlichsten Themenbereichen und praxisorientierten Kooperation mit regionalen Unternehmen durchgeführt werden (Tabelle 3).

Die handlungsorientierten Unterrichtsmodule werden sowohl direkt in den Schulen (z.B. Blockveranstaltungen, Arbeitsgemeinschaften, Projektwochen, unterrichtsintegriert) angeboten, als auch in partizipierenden regionalen Unternehmen (z.B. Unternehmerwerkstatt, Praxistag, Praktika) und direkt vor Ort an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (z.B. Praktika, Herbst-Uni, CampusDays, individuelle Schnuppertage, Zukunftstag) umgesetzt. Zusätzlich werden Lehrerfortbildungen angeboten, damit die Lehrer/innen die entwickelten Unterrichtsmodule selbstständig z.B. im Technik- oder Wirtschaftsunterricht umsetzen können. Die benötigten Materialien werden den Lehrkräften zur Verfügung gestellt.

Tabelle 3:     Themenblöcke und Unterrichtsmodule (Auszug)

1. Berufs- und Studienorientierung

1.1 Bildungswege in Deutschland

1.2 Berufsausbildung in Deutschland

1.3 Studium in Deutschland

1.4 Beruflicher Neigungstest

1.5 ...

2. Bewerbungstraining

2.1 Vorbereitungsphase

2.2 Stellensuche

2.3 Schriftliche Bewerbung

2.4 Vorstellungsgespräch

2.5 ...

3. Ökonomische Bildung

3.1 Markt und Preisbildung

3.2 Standortanalyse

3.3 Werbung und Marketing

3.4 Einnahmen und Ausgaben

3.5 ...

4. Technische Bildung

4.1 Arbeit und Produktion

4.2 Fertigungsverfahren

4.3 Information und Kommunikation

4.4 Technische Systeme

4.5 ...

3.2 Umsetzung des „Praxisorientierten Lernens“

Das Konzept „Praxisorientiertes Lernen“ fordert und fördert das eigenverantwortliche und selbstgesteuerte Lernen im Unterricht und in außerschulischen Lernsituationen. Es werden dabei formelle, also das Lernen im Unterricht und informelle Lernkontexte, außerschulisches Lernen, durch Lernaufgaben, welche im Rahmen des Unterrichts erarbeitet werden, verbunden. Im Vorfeld des praxisorientierten Lernens strukturieren Lehrer/in (Schule), Trainer/in (Universität) und Ausbilder/in (Partnerunternehmen) die einzelnen Bausteine und legen den Ablaufplan sowie Termine fest. Weiterhin müssen im Vorfeld schul- und unternehmensspezifische Rahmenbedingungen abgestimmt werden.

In kleinen Projektgruppen von maximal zehn Schülern/innen werden innerhalb der Unterrichtseinheiten ökonomische und technische Aspekte einer Produktidee bearbeitet. Nachdem die Schüler/innen die wirtschaftlichen Grundbegriffe und Abteilungen in Unternehmen erarbeitet haben, durchlaufen sie den Weg von der Produktentwicklung über die Produktionsplanung bis zur Produktherstellung und Vermarktung (Tabelle 3). Dazu wird in der Projektgruppe eine Produktidee erarbeitet (Baustein 1), um im nächsten Schritt eine technische Zeichnung anzufertigen, welche die Grundlage für die Herstellung eines Prototyps (Baustein 2) beispielsweise aus Papier bildet. Anschließend folgt die Produktionsplanung, in dem der Arbeitsablauf und die Materialbestellung erstellt werden (Baustein 3). Diese Dokumente werden den Ausbildern/innen (Unternehmenspartner/innen) zur Vorbereitung des Praxistags übermittelt. Während dieser Bearbeitungsphase werden gleichzeitig passend zum jeweiligen Arbeitsschritt technische Berufsbilder erarbeitet, wie beispielsweise die dualen Berufsausbildungen Industriemechaniker/in, Verfahrensmechaniker/in für Kunststoff- und Kautschuktechnik, Technische/r Produktdesigner/in oder Mikrotechnologe/in (Tabelle 4).

Tabelle 4:     Bausteine im Projektorientierten Lernen, Partner und Berufe

Baustein Verantwortung Mögliche Berufe (Auswahl)
1. Ideengenerierung

-      Lehrer/in

-      (Trainer/in)

-      Mediengestalter/in

-      Technische/r Produktdesigner/in

2. Prototyp

-      Lehrer/in

-      (Trainer/in)

-      Konstruktionsmechaniker/in

-      Technische/r Modellbauer/in

3. Produktionsplanung

-      Ausbilder/in

-      (Trainer/in)

-      Industriemechaniker/in

-      Produktionstechnologe/in

4. Herstellung

-      Ausbilder/in

-      (Trainer/in)

-      Mikrotechnologe/in

-      Verfahrensmechaniker/in

5. Businessplan

-      Trainer/in

-      (Lehrer/in)

-      Informatikkaufmann/frau

-      IT-System-Kaufmann/frau

Der nächste Schritt des praxisorientierten Lernens fokussiert das Herstellen der Produktidee (Baustein 4 durch die Schüler/innen ) im Partnerunternehmen. Während des Praxistags am außerschulischen Lernort (Werkstatt des Partnerunternehmens) lernen die Schüler/innen das Unternehmen sowie die Organisationsabläufe kennen und erfahren direkt in der Praxis, wie ein Produkt hergestellt wird. Die Betreuung der Schüler/innen erfolgt u.a. durch die Auszubildenden des Partnerunternehmens. Dadurch wird gewährleistet, dass die vorgestellten Berufsbilder durch Gespräche mit den Auszubildenden vertieft werden.

Den abschließenden Teil (Baustein 5) bildet das Stationenlernen „Businessplan“. Anhand des entwickelten und hergestellten Produkts werden die Stationen Finanzierung, Marketing, SWOT-Analyse, Nachhaltigkeit und Standortfaktoren durchlaufen (Tabelle 3). Dabei wird die Gruppe in Zweier-Teams geteilt, so dass jede Station durch ein Team besetzt ist. Der Abschluss bildet eine Präsentation und Reflektion der Schüler/innen sowohl über die Arbeitsergebnisse, als auch über die eigenen gemachten Erfahrungen.

In den folgenden Abschnitten werden die einzelnen Bausteine des Lehr-Lern-Arrangements „Praxisorientiertes Lernen“ vorgestellt.

3.2.1 Baustein 1+2: Ideenfindung und Prototyp

Die beiden Bausteine sind insgesamt für drei Stunden je neunzig Minuten konzipiert. Während der Einführung werden die benötigten wirtschaftlichen Begriffe, die Abteilungen eines Unternehmens und die Kooperationspartner kennengelernt. Dazu dient u.a. ein für Schüler/innen geeignetes Brettplanspiel zur Berufsorientierung. Die dadurch kennengelernten Begriffe und Abteilungen werden in einem zweiten Schritt auf das Partnerunternehmen transferiert. Bereits an dieser Stelle bietet sich an, abteilungsspezifische Berufsbilder durch die Schüler/innen erarbeiten zu lassen.

Vor der Ideengenerierung wird die Kreativität durch spezifische Übungen und Techniken gefördert. Zur eigentlichen Ideengenerierung empfiehlt sich das „Beutelspiel“. Ein beliebiger Beutel beinhaltet eine kleine Auswahl von „Krimskrams“, wie Pappteller, Schwamm, Plastebesteck, Kugeln, Klammern und ähnliches. Wichtig ist, dass genügend Fixierungsmaterial, wie Klebestreifen, Bänder, Gummis vorhanden ist. Ziel ist es innerhalb von zwanzig Minuten eine Produkt- oder Geschäftsidee pro Schüler/innen-Gruppe zu generieren. Es empfiehlt sich weiterhin, bereits den Werkstoff (z.B. GFK) des Partnerunternehmens zu nutzen. Aus der Produktidee entsteht in einem zweiten Schritt ein Prototyp. An dieser Stelle müssen mit den Schülern/innen die Maß- und Vorgaben des Partnerunternehmens (Ausbilder/in) besprochen werden. Es wird der einzusetzende Werkstoff vorgestellt und mit Hilfe problemlösungsorientierter Aufgaben näher kennengelernt. Bevor der Prototyp des Objekts aus z.B. Papier gebaut wird, muss eine technische Skizze erstellt werden. Innerhalb dieser Sequenz werden weitere technische Berufsbilder vorgestellt.

3.2.2 Baustein 3+4: Produktionsplanung und -herstellung

Diese beiden Bausteine beinhalten eine neunzigminütige Vorbereitung auf den Praxistag sowie die Durchführung im Partnerunternehmen als Tagesexkursion. Während der Vorbereitung wird eine Materialbestellung durch die Schüler/innen angefertigt und dem Partnerunternehmen gesendet, ein Produktionsplan mit den jeweiligen Arbeitsschritten erstellt sowie sich mit dem Thema Sicherheit am Arbeitsplatz befasst. Ziel ist es durch problemlösungsorientierte Aufgabenstellungen den Produktionsablauf in einem Unternehmen im Vorfeld des Praxistages zu verstehen.

3.2.3 Baustein 5: Stationenlernen „Businessplan“

Der Baustein „Businessplan“ ermöglicht den Schüler/innen mit Hilfe der Methode des Stationenlernens (auch Lernzirkel genannt) eine erste Auseinandersetzung mit den Bestandteilen eines Geschäftsplans. Das Lernen an Stationen ist eine Form des offenen Unterrichts, welches selbstorganisiertes Lernen mit einer hohen Eigenständigkeit in den Mittelpunkt stellt. Der Businessplan wird in seine Bestandteile zerlegt und von den Schüler/innen an verschiedenen Stationen selbstständig bearbeitet.

Dafür werden in einem Raum verschiedene Stationen eingerichtet (Tabelle 5), an denen verschiedene Materialien und eindeutig formulierte Arbeitsaufträge bereitliegen. Die zu lösenden Aufgaben und Materialien sind dabei didaktisch so aufbereitet, dass die Schüler/innen sich individuell mit der jeweiligen Stationsthematik beschäftigen können. An den Stationen kommen unterschiedliche Medien und Materialien (z.B. Videos, Podcasts, Expertenvortrag) zum Einsatz, um unterschiedlichen Lerntypen (z.B. visuell, audiovisuell) gerecht werden zu können. Die zeitliche Vorgabe der Stationen ist gleich und wird durch ein Klingelzeichen signalisiert. Daraufhin verlassen die jeweiligen Schüler/innen die Station, um Platz für die nachfolgende Gruppe zu machen. Im Anschluss der Stationsarbeit stellen die Schüler/innen oder Gruppen mit Hilfe einer Präsentation ihre Ergebnisse vor.

Tabelle 5:     Baustein 5: Stationenlernen „Businessplan“

Station Grundidee Material
Finanzierung Die Schüler/innen lernen verschiedene Kostenarten kennen und erkennen welche Kosten zur Herstellung ihrer Produkte eine Rolle spielen.

-      Aufgabenblatt

-      Excelarbeitsblatt

Marketing Die Schüler/innen erarbeiten das Alleinstellungsmerkmal ihrer Produktidee, entwerfen einen Produktnamen und einen Slogan.

-      Aufgabenblatt

-      Best-Practice-Videos

Wettbewerbssituation
(SWOT-Analyse)
Die Schüler/innen beurteilen die eigene wirtschaftliche Lage sowie die Entwicklungen in der eigenen Branche und entwerfen mit Hilfe der SWOT-Analyse eine geeignete Unternehmensstrategie.

-      Aufgabenblatt

-      Vortrag

Nachhaltigkeit Die Schüler/innen ermitteln anhand des „Drei-Säulen-Modells“ die möglichen Nachhaltigkeitsaspekte ihres Produkts.

-      Aufgabenblatt

-      Podcast

Standortfaktoren Die Schüler/innen lernen verschiedene Standortfaktoren kennen und führen eine Standortanalyse durch. -      Arbeitsheft

4 Evaluation des Lehr-Lern-Arrangements

Die Evaluation des vorgestellten Lehr-Lern-Arrangements „Praxisorientiertes Lernen“ garantiert, dass die gesetzten Zielstellungen, wie die Berufsorientierung für technische Berufsausbildungen, die verknüpfende Vermittlung von ökonomischen und technischen Bildungsinhalten sowie Entwicklung von Handlungskompetenzen erreicht werden. Die dabei gesetzten Ziele der Evaluation unterteilen sich in die folgenden Bereiche:

  • Evaluation der Einflussfaktoren auf die Berufswahl
  • Evaluation des Vermittlungserfolgs
  • Evaluation des Unterrichtsprozesses

Die Evaluation der Einflussfaktoren auf die Berufswahl der Schüler/innen kennzeichnet die Eruierung möglicher Aspekte, welche im Berufswahlprozess und bei der Berufswahlentscheidung eine entscheidende Rolle spielen. Die Evaluation des Vermittlungserfolgs ist charakterisiert durch die Erhebung des Wissenstandes der Schüler/innen einmal vor und einmal nach der Teilnahme am praxisorientierten Lernens. Die zwei Messpunkte mit der gezielten Wissensabfrage vor und nach Durchführung des didaktischen Konzepts und der dazwischenliegenden Intervention sollen gewährleisten, dass konkrete Rückschlüsse auf den Wissensgewinn der Schüler/innen gezogen werden können. Die Evaluation des Unterrichtsprozesses innerhalb der praktischen Umsetzung des entwickelten POL-Konzepts soll didaktische und organisatorische Frage- und Problemstellungen bei der Durchführung erfassen, um Adaptions- und Optimierungspotentiale zu eruieren, welche der Verbesserung des POL-Ansatzes dienen.

Die Erhebung der benötigten Daten innerhalb der Durchführungen des didaktischen Konzepts erfolgte anhand einer standardisierten Schüler/innen-Befragung (Fragebogen). Entsprechend der Zielformulierungen des Evaluations- und Erhebungsansatzes wurden Einzelfragen zu den entsprechenden Punkten konzipiert. Der Schüler/innen-Fragebogen bestand aus folgenden Themenkomplexen:

  • Daten der Teilnehmer/innen
  • Fragen zu Einflussfaktoren auf die Berufswahl
  • Fragen zum technischen und ökonomischen Grundwissen (Vermittlungserfolg)
  • Fragen zum Unterrichtsprozess

Gleichzeitig wurde ein standardisierter Lehrer/innen- und Ausbilder/innen-Fragebogen eingesetzt, welcher die individuellen Einschätzungen der betreuenden Lehrer/innen und Ausbilder/innen zum didaktischen Konzept „Praxisorientiertes Lernen (POL)“ erheben sollte, um diese mit den Einschätzungen der Schüler/innen vergleichen zu können.

4.1 Soziodemografische Daten

Insgesamt wurde das hier vorgestellte Lehr-Lern-Arrangement „Praxisorientiertes Lernen (POL)“ an drei Sekundarschulen in Kooperation mit drei Unternehmen in Sachen-Anhalt mit 83 Schüler/innen der neunten Klasse durchgeführt (Stand Juni 2014). Für die Auswertung der vorliegenden Stichprobe konnten 78 Fragebögen (N=78) berücksichtigt werden. Die Stichprobe setzt sich aus 42 Schülern (53,8%) und 36 Schülerinnen (46,2%) zusammen. Alle befragten Schüler/innen besuchten die neunte Klasse der Sekundarschule. Insgesamt machten 24,4% der befragten Schüler/innen keine Angaben über einen möglichen Berufswunsch. Dabei ließ sich kein großer Unterschied zwischen den befragten Jungen (23,8%) und Mädchen (25,0%) feststellen. Von den Schüler/innen, die einen Berufswunsch angaben, wählten 23,7% einen Beruf aus dem technischen Bereich. Differenziert nach Geschlecht streben 37,5% der männlichen Schüler, aber nur 7,5% der weiblichen Schüler eine duale Ausbildung in einem technischen Beruf an.

4.2 Evaluation der Einflussfaktoren auf die Berufswahl

Die Auswertung der Fragebögen hinsichtlich möglicher Einflussfaktoren auf die Berufswahl der befragten Schüler/innen zeigt, dass vor allem das Praktikum, die Eltern und das Internet einen starken bzw. sehr starken Einfluss auf die Schüler/innen haben (Tabelle 6). Über ein Drittel (34,6%) der befragten Schüler/innen gab an, dass das Praktikum sie „sehr stark“ bezüglich ihrer Berufswahl beeinflusst hat (stark: 42,3%).

Tabelle 6:     Beeinflussungsfaktoren auf die Berufswahl

Faktor sehr stark stark schwach sehr schwach Mittelwert
Praktikum 34,6% 42,3% 14,1% 9,0% 1,97
Eltern 14,1% 39,7% 29,5% 16,7% 2,49
Internet 10,3% 29,5% 33,3% 26,9% 2,77
Agentur für Arbeit 6,4% 26,9% 35,9% 30,8% 2,91
Freunde 5,1% 19,2% 42,3% 33,3% 3,04
Lehrer/in 5,1% 17,9% 41,0% 35,9% 3,08
Bekannte 3,8% 17,9% 43,6% 34,6% 3,09
Geschwister 3,8% 15,4% 26,9% 53,8% 3,31
Bekannte 3,8% 17,9% 43,6% 34,6% 3,09
Fernsehen/Radio 1,3% 6,4% 39,7% 52,6% 3,44
Zeitung 2,6% 9,0% 29,5% 59,0% 3,45

Auf dem zweiten Platz folgen die Eltern (sehr stark: 14,1%, stark: 39,7%). Die schwächste Beeinflussung auf die Berufswahl üben die beiden Faktoren Fernsehen/Radio (schwach: 39,7%, sehr schwach 52,6%) und Zeitung (schwach: 29,5%, sehr schwach: 59,0%) aus.

Differenziert nach Schülern und Schülerinnen lassen sich keine signifikanten Unterschiede innerhalb der Beeinflussungsfaktoren erkennen. Sowohl bei den Schülern als auch bei den Schülerinnen üben die Faktoren Praktikum, Eltern und Internet die größte Beeinflussung auf die individuelle Berufswahl aus. Die Faktoren Fernsehen/Radio und Zeitung weisen auch hier den geringsten Beeinflussungsgrad auf. Diese Beobachtungen werden durch die Betrachtung der Mittelwerte bestätigt (Tabelle 4). Die Faktoren Praktikum (MW: 1,97), Eltern (MW: 2,49) und Internet (MW: 2,77) weisen die kleinsten und die Faktoren Fernsehen/Radio (MW: 3,44) und Zeitung (MW: 3,45) die größten Mittelwerte auf.

Gefragt nach bereits besuchten Veranstaltungen zur Berufsorientierung gaben 89,7% der Sekundarschüler/innen an, dass sie ein Praktikum absolviert haben. Damit liegt das Praktikum deutlich vor allen anderen Veranstaltungen zur Berufsorientierung. Hier spielt die Tatsache eine Rolle, dass das Praktikum in Sachsen-Anhalt verpflichtend im Fachlehrplan geregelt ist. Auf den nachfolgenden Plätzen ordnen sich der Besuch von Berufsorientierungsmessen (67,9%) und der Girl’s/Boy’s Day (56,4%) ein.

4.3 Evaluation des Vermittlungserfolgs

Die Bewertung des Vermittlungserfolgs des konzipierten Konzepts erfolgte anhand einer Erhebung des Fachwissens der Schüler/innen durch einen standardisierten Fragebogen, welcher vor und nach dem Unterrichtskonzept „Praxisorientiertes Lernen“ durch die teilnehmenden Schüler/innen ausgefüllt wurde. Der Fragebogen bestand zum einen aus Fragen zum ökonomischen und technischen Fachwissen und zum anderen aus Fragen zum individuellen Stand der Berufsorientierung der Schüler/innen. Dabei wurden zum einen der Wissenstand der Teilnehmer/innen zu den benannten Themenkomplexen vor und nach der Durchführung erhoben und, im Sinne einer Überprüfung des Fachwissens, mit einander verglichen. Die Intention dabei war es, mögliche Rückschlüsse auf notwendige inhaltliche und methodische Anpassungen für zukünftige Durchführungen zu erhalten. Zum anderen diente die Erhebung nach der Intervention zur Leistungsüberprüfung der Schüler/innen. Die Auswertung der Fragebögen ergab, dass die Schüler/innen vor der Teilnahme am „Praxisorientierten Lernen“ deutlich schlechter abschnitten als nach der Teilnahme. Hierfür wurden aus dem Schülerfragebogen die Anzahl der Antworten mit voller Punktzahl aus dem Eingangsfragebogen mit der Anzahl der Antworten mit voller Punktzahl aus dem Ausgangsfragebogen verglichen. Tabelle 7 zeigt auszugsweise die prozentuale Gegenüberstellung der Teilnehmer/innen, die im Eingangsfragebogen die maximale Punktzahl erzielt und der Teilnehmer/innen, die im Ausgangsfragebogen die maximale Punktanzahl erreicht haben. Gleichzeitig wird dargestellt, inwieweit sich die Anzahl der vollständig richtigen Antworten prozentual verändert hat, wobei deutlich wird, dass die Anzahl der vollständig richtig beantworteten Fragen nach der Teilnahme deutlich höher lagen als vor der Absolvierung des „Praxisorientierten Lernens“.

Beispielsweise wurde die Frage nach den Akteuren im einfachen Wirtschaftskreislauf von mehr als der Hälfte der Schüler/innen (52,6%) nach der Teilnahme richtig beantwortet. Vorher war nur etwa jede/r vierte Schüler/in (26,9%) dazu in der Lage, was einer Steigerung von 25,6% entspricht. Die Untersuchung hinsichtlich geschlechtsspezifischer Unterschiede innerhalb der Ergebnisse liefert keine signifikanten Differenzen bezüglich der befragten Schüler und Schülerinnen. Die Erhebung des Vorwissens der Schüler/innen und die Evaluation des Vermittlungserfolgs zeigen, dass bestimmte Themen stärker (z.B. Markt, Dauer Berufsausbildung) bzw. schwächer (z.B. Standortfaktoren, regionale Arbeitgeber) zum fachlichen Wissen der befragten Schüler/innen gehören.

Tabelle 7:     Antworten mit Maximalpunktzahl im Eingangs- (EF) und Ausgangsfragebogen (AF) (Auszug aus den Ergebnissen)

Fragestellung EF AF AF-EF
Was bedeutet die Abkürzung GmbH? 41,0% 57,7% + 16,7%
Wer sind die Akteure im einfachen Wirtschaftskreislauf? 26,9% 52,6% + 25,6%
Was ist ein Markt? Auf dem Markt treffen sich ... 78,2% 85,9% + 7,7%
Ein steigender Preis für ein Gut bedeutet, dass ... 16,7% 25,6% + 9,0%
Nennen Sie drei Standortfaktoren. 2,6% 34,6% + 32,1%
Erläutern Sie den Unterschied zwischen Brutto- und Nettogehalt. 6,4% 17,9% + 11,5%
Unter einer Dualen Berufsausbildung versteht man, ... 65,4% 87,2% + 21,8%
Nennen Sie drei Berufsausbildungen. 30,8% 55,1% + 24,4%
Nennen Sie drei regionale Arbeitgeber. 7,7% 26,9% + 19,2%
Wie lange dauert in der Regel eine Duale Berufsausbildung? 55,1% 74,4% + 19,2%

Befragt nach der individuellen Wahrnehmung des eigenen Kenntniszuwachses, gaben 74,4% der Schüler/innen nach der Teilnahme an, dass ihre theoretischen Kenntnisse über die behandelten Aspekte in den Bereichen Berufsorientierung, technische und ökonomische Bildung verbessert haben. Dass hierzu vor allem die didaktisch-methodische Ausgestaltung des Unterrichts und somit die eingesetzten Unterrichtsmethoden beigetragen haben, gaben 83,3% der Schüler/innen an. Dieser subjektive Eindruck wurde durch die befragten Ausbilder/innen und Lehrer/innen bekräftigt. Ihren wirtschaftlichen und technischen Kenntnisstand, ihr Wissens über spätere Ausbildungswege sowie die eigenen Kompetenzen (z.B. Kommunikations-, Kreativitäts- und Präsentationsfähigkeiten) schätzte die Mehrheit der Schüler/innen nach der Teilnahme deutlich besser als vor der Durchführung ein.

4.4 Evaluation des Unterrichtsprozesses

Die Zielstellung des Konzepts „Praxisorientiertes Lernen“ im Sinne einer Berufsorientierung ist die Verknüpfung von technischen und ökonomischen Bildungsinhalten sowie die praktische Umsetzung sowohl in der Schule als auch an einem außerschulischen Lernort. Gleichzeitig werden Kenntnisse über verschiedene technische Berufsbilder, direkte Einblicke in Unternehmen sowie entsprechende Fach-, Personal- und Sozialkompetenzen (u.a. Handlungskompetenzen des unternehmerischen Denkens und Handelns) an die Schüler/innen vermittelt. Hierfür wurde die theoretische Grundlage für die Entwicklung des Lehr-Lern-Arrangements „Praxisorientiertes Lernen“ auf das methodisch-didaktische Konzept des handlungsorientierten Unterrichts gelegt (vgl. Jank/Meyer 2011, 316-319).

Befragt nach der methodischen Ausgestaltung der Unterrichtssequenz (Tabelle 8) gaben 71,8% der teilnehmenden Schüler/innen an, dass es ihnen durch das „Stationenlernen“ leichter gefallen ist, den Themenkomplex „Businessplan“ zu verstehen. Besonders hervorgehoben und positiv beurteilt wurde der Einsatz der Best-Practice-Videos (sehr gut: 41,0%, gut: 44,9%, MW: 1,77) und des Podcast (sehr gut: 39,7%, gut: 48,7%, MW: 1,74). Zugleich beurteilten 85,9% der Teilnehmer/innen als gut bis sehr gut, dass verschiedene Themenkomplexe in Gruppenarbeit erarbeitet wurden. Ähnliche Ergebnisse erzielten das eingesetzte Brettplanspiel zur Berufsorientierung (sehr gut: 37,2%, gut: 39,7%, MW: 1,90) und das Beutelspiel zur Ideengenerierung (sehr gut: 42,3%, gut: 33,3%, MW: 1,85). Fast die Hälfte der Schüler/innen empfanden es als sehr gut, dass sie die theoretischen Inhalte direkt am Lernort Unternehmen anwenden konnten (sehr gut: 46,2%, gut: 42,3%, MW: 1,69).

Tabelle 8:     Bewertung der methodischen Ausgestaltung der Unterrichtssequenz

  sehr gut gut schlecht sehr schlecht MW
Best-Practice-Videos 41,0% 44,9% 10,3% 3,8% 1,77
Podcast 39,7% 48,7% 9,0% 2,6% 1,74
Gruppenarbeit 38,5% 47,4% 7,7% 6,4% 1,82
Brettplanspiel 37,2% 39,7% 19,2% 3,8% 1,90
Beutelspiel 42,3% 33,3% 21,8% 2,6% 1,85
Lernort Unternehmen 46,2% 42,3% 7,7% 3,8% 1,69

Das didaktische Konzept „Praxisorientiertes Lernen“ mit seinem lernortübergreifenden und praxisorientierten Ansatz wird von den Teilnehmern/innen als zielführendes Lehr-Lern-Arrangement wahrgenommen, welches das Verstehen von technischen und ökonomischen Zusammenhänge erleichtert und unterstützt. Unter anderem gaben die Schüler/innen an, dass sich nach ihren subjektiven Einschätzungen ihre Fähigkeit frei vor einer Gruppe zu sprechen, verbessert hat. Über 80,0% der Teilnehmer/innen sagten, dass sich ihre technischen (trifft voll zu: 37,2%, trifft zu: 46,2%) und ökonomischen (trifft voll zu: 33,3%, trifft zu: 48,7%) Kenntnisse durch die didaktisch-methodische Unterrichtsgestaltung verbessert haben. Diese Eindrücke werden von den befragten Ausbildern/innen und Lehrern/innen bestätigt.

Zusammenfassend zeigte die Evaluation, dass das konzipierte und umgesetzte Unterrichtskonzept „Praxisorientiertes Lernen“, die mit dem didaktischen Ansatz verfolgten Leitziele, der zielgruppenspezifischen und handlungsorientierten Begleitung von individuellen Berufswahlentscheidungsprozessen, erreicht. Damit kann das vorgestellte Lehr-Lern-Arrangement einen Anteil zur verknüpfenden Vermittlung von ökonomischen und technischen Bildungsinhalten im Sinne einer praxisnahen Berufsorientierung von Schülern/innen der Sekundarschule in Sachsen-Anhalt beitragen.

5 Fazit und Ausblick

Berufsorientierung und -vorbereitung zählen an vielen allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt zu den Bestandteilen des Schulprogramms und finden sich in speziellen Konzepten zur Berufswahlvorbereitung, aber nicht immer im täglichen Unterricht, wieder. Die allgemeine Zielstellung der Berufsorientierung in Sachsen-Anhalt lassen sich mit Persönlichkeitsentwicklung, Teilhabe an der Gesellschaft sowie Berufswahlkompetenz und Ausbildungsreife zusammenfassen (vgl. KMLSA 2011). Die Aufgaben eines berufsorientierenden Unterrichts umfassen u.a., die Schüler/innen in einem umfassenden Sinne zur Arbeits-, Berufs- und Studienwahl zu befähigen, ihnen Lebenschancen zu eröffnen und diese zu erweitern, ihnen Handlungspositionen zu verdeutlichen, ihre Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu steigern sowie ihre Eigenverantwortung und Selbstständigkeit zu stärken (vgl. KMLSA 2011).

Die entwickelte und vorgestellte Unterrichtssequenz steht exemplarisch für die Verknüpfung von technischer und ökonomischer Bildung im Sinner einer praxisnahen Berufsorientierung und zielt auf eine Integration von Elementen der Entrepreneurship Education an den Lernorten Schule und Unternehmen. Weiterhin wird durch diese Bemühungen eine Techniksensibilisierung angestrebt, um dem drohenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken, indem insbesondere für technische Berufe und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge begeistert wird. Andere Betrachtungen zur Berufs- und Studienorientierung im Spannungsfeld zwischen ökonomischen und technischen Anforderungen der Arbeitswelt in Sachsen-Anhalt zeigen, dass die technischen Berufsausbildungen und die ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge in den beruflichen Zukunftsplanungen der Schüler/innen eine eher untergeordnete Rollen spielen (vgl. Brämer/Vieback/Hirsch 2012, ebd. 2013). Dies gilt insbesondere für Schülerinnen, die noch viel stärker an diese Themenfelder herangeführt werden müssen. Möglich wären hier z.B. verstärkte Marketingmaßnahmen, um die Potentiale und Entwicklungsmöglichkeiten einer beruflichen Zukunft im technischen Bereich noch stärker hervorzuheben. Die Berufsorientierungsdefinition nach Schudy (vgl. Schudy 2002, 9f.) legitimiert explizit die sowohl ökonomische als auch die technische Bildung als Teile der schulischen Berufsorientierung. Auf der einen Seite existieren in Sachsen-Anhalt bereits eine Vielzahl von Projekten und Initiativen zur Berufs- und Studienorientierung sowie zu allen Facetten des Unternehmertums, auf der anderen Seite scheint es aber so, als wenn diese in den allgemeinbildenden Schulen noch nicht richtig angenommen werden. Hier fehlen weitere aussagekräftige Untersuchungen und Längsschnittstudien zu den Erfolgen und strukturellen Auswirkungen dieser vielfältigen Maßnahmen und Initiativen an allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt. Diese ersten Ergebnisse lassen erahnen, dass, trotz der Verankerung dieser Themen in den Rahmenrichtlinien und Lehrplänen sowie im Schulprogramm, der Berufs- und Studienorientierung sowie der ökonomischen und technischen Bildung an den allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt eine noch größere Beachtung geschenkt werden muss. Dies gilt insbesondere für die technischen Berufsausbildungen und die ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge, wo der Nachwuchsbedarf am größten ist.

Damit technikorientierte Entrepreneurship-Inhalte im Sinne einer praxisorientierten Berufsorientierung einen stärkeren Einzug in die allgemeinbildende Schule erhalten können, müssen die Lehrer/innen noch stärker mit einbezogen werden. Es gilt entsprechende Fortbildungsformate für Lehrer/innen zu entwickeln, die ihnen helfen, Themen, wie Entrepreneurship, Gründerkompetenz aber auch technische Bildung und Berufsorientierung für ihre Schüler/innen kompetent und zielorientiert im Unterricht umzusetzen, um diese auf ihre spätere in Ausbildungs- und Berufsentscheidungen vorzubereiten. Das bedeutet weiterhin, dass diese Zielstellungen, die schulische praxisorientierte Vermittlung von technischem und ökonomischem Wissen voraussetzen. Hierfür müssen technische und ökonomische Bildungsinhalte eine noch stärkere Verankerung in der Lehramtsausbildung und den Fachlehrplänen finden. Wenn technische Berufsausbildungen einen neuen Aufschwung erhalten sollen, muss die technische Bildung bereits im schulischen Kontext weiter ausgebaut werden, da eine frühzeitige Sensibilisierung für technische Berufe die Chancen für die potentielle Wahl für ein technisches Berufsfeld und ein späteres ingenieurwissenschaftliches Studienfach erhöhen kann. Für eine technik- und praxisnahe Berufsorientierung ist es von entscheidender Bedeutung, kombinierte Angebote aus dem Bereich der technischen und ökonomischen Bildung zu schaffen und den Jugendlichen flächendeckend in ganz Deutschland zur Verfügung zu stellen. Hier gilt es vor allem externe Partner und außerschulische Lernorte stärker in den schulischen Bildungsprozess zu implementieren.

Zusammenfassend bedeutet dies für die Verknüpfung von technischen und ökonomischen Inhalten, dass das Erkennen und Verstehen komplexer wirtschaftlicher und technischer Zusammenhänge und Problemstellungen im Berufswahlprozess, einen gezielten Einsatz von handlungsorientierten Lehr-Lern-Arrangements bedarf (vgl. Jank/Meyer 2011, 315ff.).

Literatur

Brämer, S./Vieback, L/Hirsch, S. (2012): Berufs- und Studienorientierung als Instrument der Fachkräftesicherung. In: Friedrich, K./Pasternack, P. (Hrsg.): Demographischer Wandel als Querschnittsaufgabe. Halle-Wittenberg. 253-270.

Brämer, S./Vieback, L/Hirsch, S. (2013): Ingenieurwissenschaftliche Sensibilisierung an allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt. In: Bünning, F. (Hrsg.): Initiativen und Effekte der Berufsorientierung an Gymnasien, Real- und Förderschulen Sachen-Anhalts. Magdeburg. 77-160.

Butz, B./Deeken, S. (2010): Berufsorientierung: Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung. Bonn.

Famulla,G.-E. (2011): Weil sich die Lebenswelt ökonomisiert. Ökonomische Bildung aus Sicht der Wirtschaftsverbände. Working Paper No. 2. Bielefeld. Online: http://www.iboeb.org/famulla_oekon-bildung_wp2.pdf (04.09.2014).

Famulla, G.-E./Butz, B. (2005): Berufsorientierung. Online: http://www.swa-programm.de/texte_material/glossar/index_html_stichwort=Berufsorientierung.html (03.09.2014).

Grüneberg, J./Wenke, I.-G. (2011): Arbeitsmarkt. Elektrotechnik, Informationstechnik. Offenbach.

Hedtke, R./Möller, L. (2011): Wem gehört die ökonomische Bildung? Notizen zur Verflechtung von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Working Paper No. 1. Bielefeld. Online: http://www.iboeb.org/moeller_hedtke_netzwerkstudie.pdf (04.09.2014).

Jank, W./Meyer, H. (2011): Didaktische Modelle. Berlin.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2011): Information zu Maßnahmen der Berufsorientierung an Schulen in Sachsen-Anhalt. Magdeburg.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2012a): Fachlehrplan Sekundarschule. Wirtschaft. Schuljahrgänge 7-10. Magdeburg.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2012b): Fachlehrplan Sekundarschule. Technik. Schuljahrgänge 5-10. Magdeburg.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2012c): Fachlehrplan Sekundarschule. Geographie. Schuljahrgänge 5-10. Magdeburg.

KMLSA, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (2012d): Fachlehrplan Sekundarschule. Deutsch. Schuljahrgänge 5-10. Magdeburg.

Schudy, J. (Hrsg.) (2002): Berufsorientierung in der Schule. Bad Heilbrunn.

Wiepcke, C. (2008): Entrepreneurship Education im Fokus von Employability und Nachhaltigkeit. In: Loerwald, D./Wiesweg, M./Zoerner, A. (Hrsg.): Ökonomik der Gesellschaft. Festschrift für Gerd-Jan Krol. Wiesbaden. 267-281.

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